Der Mord an einem Straßenverkäufer entpuppt sich als erpresserischer Schachzug in einem Intrigenspiel, dessen Betreiber menschenunwürdige aber lukrative Geschäfte sichern wollen … – Auf ihre Spur setzt sich in seinem 19. Fall Inspektor Pitt, der wie üblich von seiner klugen Gattin Charlotte unterstützt wird: schwulstreicher „Lady Thriller“ vor historisierender Kulisse; Gefühle werden zelebriert, bis der durchaus überzeugende Plot unter einer dicken Seifenschaumschicht erstickt.
Das geschieht:
London, Juni 1891: Im vornehmen Stadtteil Bedford Square wird vor dem Haus des Generals Brandon Balantyne die Leiche des Straßenverkäufers Albert Cole entdeckt; er wurde mit dem berühmt-berüchtigten stumpfen Gegenstand erschlagen. Der Mord fällt in die Zuständigkeit von Oberinspektor Thomas Pitt von der Polizeiwache Bow Street. Balantyne ist ihm nicht unbekannt, hat er ihn doch bereits während der Ermittlungen in zwei früheren Mordfällen kennengelernt.
Bei der Leiche wird eine wertvolle Schnupftabaksdose aus dem Besitz des Generals sichergestellt. Pitt mag trotzdem nicht an einen einfachen Diebstahl und einen anschließenden Streit um die Beute glauben, denn wieso ist die Dose nicht mit dem Mörder verschwunden? Balantyne scheint ihm verdächtig, doch dieser Spur nachzugehen erfordert allerfeinstes Fingerspitzengefühl: Die Angehörigen der Oberschicht sind in der Ära Königin Victorias quasi sakrosankt. Darüber hinaus würde selbst der Hauch eines Verdachtes, sei er nun gerechtfertigt oder nicht, den Betroffenen mitsamt seiner Familie ins gesellschaftliche Aus zu stoßen.
Niemand weiß dies besser als Kapitän John Cornwallis, der als stellvertretender Polizeipräsident Pitts unmittelbarer Vorgesetzter ist. Er wird seit kurzem erpresst; eine heldenhafte Rettungstat aus Marinetagen sei gar nicht von ihm begangen worden, heißt es – ein weiterer Fall, um den sich Pitt diskret kümmern muss, zumal seine Gattin Charlotte, die auf freundschaftlichem Fuß mit General Balantyne steht, von diesem ins Vertrauen gezogen wird: Auch er hat ein Erpresserschreiben ganz ähnlichen Inhalts wie Cornwallis erhalten!
Pitts Nachforschungen führen zu vier weiteren Opfern, alles einflussreiche Männer in hohen Positionen. Seltsamerweise erhebt der Erpresser keinerlei Geldforderungen; er scheint es eher zu genießen, Schrecken zu verbreiten. So hat bereits einer dieser Unglücklichen Selbstmord begangen. Doch hinter dem bösen ‚Spiel‘ stecken durchaus finanzielle Interessen. Der Inspektor kommt einer Verschwörung auf die Spur, deren Nutznießer alle Hebel in Bewegung setzen, auch ihn, den lästigen Störenfried, außer Gefecht zu setzen …
Vergangenheit = kriminelle Exotik
Der 19. Thomas-&-Charlotte-Pitt-Roman präsentiert wie gehabt eine historisierende Kriminalgeschichte aus dem London des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Hinter der genretypischen Handlung um einen Mord und seine Aufklärung tritt einmal mehr das Drama einer Gesellschaft hervor, deren Regeln, einst definiert als Leitlinien, die das Zusammenleben erleichtern sollten, sich im Laufe der Zeit in Würgestricke verwandelt haben, die alle zwischenmenschlichen Beziehungen überwuchern und zu ersticken drohen. Für Anne Perry ist das Leben stets ein tödlicher Kampf Schein gegen Sein, ausgetragen in viktorianischer Kulisse: Zeit und Ort sind im Grunde nebensächlich.
Auch die Handlung ist nicht besonders spezifisch und könnte praktisch zu jedem beliebigen Zeitpunkt zwischen 1800 und 1900, wenn nicht sogar früher oder später spielen. Perry setzt historische Realität nur sparsam und zudem erstaunlich ungeschickt ein; sämtliche Bezüge zu tatsächlichen Ereignissen des Jahres 1891 wirken ausgesprochen aufgesetzt.
Ungeachtet dessen wirkt der Plot zunächst gut erdacht und wird spannend umgesetzt. Leider weicht Perry im letzten Kapitel ziemlich abrupt und logisch schwer nachvollziehbar von der zuvor kunstvoll gesponnenen Verschwörung in höchsten Regierungskreisen ab. Stattdessen wird die Geschichte konventionell und wenig überzeugend in einem Finale aufgeklärt, das zudem schamlos auf die Tränendrüse drückt und zu schlechter Letzt plump mit einem melodramatischen, an ein mittelalterliches Gottesurteil erinnernden Knalleffekt schließt.
Große Gefühle = gewaltiger Schwulst
Missmut erregt darüber hinaus wie immer bei Anne Perry die Figurenzeichnung, deren Eindimensionalität besonders in den Nebenrollen auf die typische Verknüpfung von Elementen des Mystery-Thrillers mit denen der Gaslicht-Romantik hinweist. Allerdings weiß die Autorin dieses Mal in etwa die Balance zu halten und verliert sich nicht in den gesellschaftskritischen Holzhammer-Allegorien der späten William Monk/Hester Latterly-Romane.
Neben Thomas und Charlotte Pitt treten in „Schatten über Bedford Square“
Wachtmeister Samuel Tellman und Gracie Phipps, das Hausmädchen. Es sind Anne Perrys erste Figuren, die der zeitgenössischen Unterschicht entstammen. Während ihr mit Tellman, dem einfachen Polizisten, der die gesellschaftlichen Schranken nicht als von Gott gegebenes Schicksal hinnehmen mag, ein vielschichtiger Charakter gelungen ist, kann Gracie als allzu theatralische Mischung aus Wolfskind und Lumpenprinzessin mit Herz, Schnauze und auch noch Köpfchen weniger überzeugen. Da sich zwischen Tellman und Gracie seit einiger Zeit zarte Bande entspinnen, scheint Perry zudem mit der ihr eigenen Kitschigkeit die Liebes- und Lebensgeschichte der Pitts im Milieu der Unterprivilegierten nacherzählen zu wollen.
Weiterhin setzt Perry Gefühlsregungen so in Szene, als gälte es einen Stummfilm zu drehen: „[Pitt] sah Balantyne aufmerksam an, konnte auf dessen Zügen aber keine erkennbare Veränderung wahrnehmen. Weder presste er die Lippen aufeinander, noch umschatteten sich seine Augen.“ Hätte dieser Verdächtige die Tat begangen, wäre ihm im Perry-Reich der großen Gesten vermutlich Rauch aus den Ohren gestiegen, auf dass noch der dümmste Leser den Braten rieche …
Bd. 1 = Bd. 19 = Bd. ?
Die Übersteigerung der simpelsten Gemütsregungen ins Theatralische wirkt rasch ermüdend und schlägt ins Lächerliche um. So beginnen sich nach einem recht verheißungsvollen Auftakt bald Ernüchterung, dann Langeweile und schließlich milder Zorn (stärkere Gefühle weiß die Autorin nicht zu erwecken) einzustellen.
Womöglich übertreibt es Anne Perry, die ihre Feder schneller zieht als ihr Schatten, mit ihrer Arbeitswut. Statt mit fabrikgleicher Präzision jährlich je einen Pitt und Monk/Latterly-Roman auszustoßen – wozu weitere, serienunabhängige Geschichten kommen -, sollte sie, was die Tiefe ihrer Geschichten angeht, zumindest den Versuch wagen, in die zweite Dimension vorzustoßen …
Autorin
Anne Perry wurde am 28. Oktober 1938 als Juliet Marion Hulme in London geboren. Da sie an Tuberkulose erkrankte, verließ die Familie England und ließ sich im weit entfernten aber klimatisch gesünderen Neuseeland nieder. Hier lernte sie die gleichaltrige Pauline Parker kennen. Da sich eine aus zeitgenössischer Sicht ungehörige Nähe zwischen den beiden Mädchen entwickelte, sollten sie getrennt werden. Am 22. Juni 1954 brachte Juliet zusammen mit Pauline deren Mutter um.
1959 wurde Juliet aus der Haft entlassen. Als Nach Anne Perry führte sie – erst in Kalifornien, später wieder in England – ein unauffälliges Leben. Sie begann zu schreiben, wobei ihre Manuskripte lange Jahre abgelehnt wurden. Erstmals veröffentlicht wurde 1979 der im viktorianischen England angesiedelte Kriminalroman „The Cater Street Hangman“ (dt. „Der Würger von der Cater Street“). Dies war gleichzeitig der erste Roman der erfolgreichen Serie um den Polizeibeamten Thomas Pitt; sie wird bis heute fortgesetzt. 1990 begann Perry die ebenso gut verkaufte Serie um den Privatermittler William Monk, der gemeinsam mit der Krankenschwester Hester Latterly seine Fälle löst. Daneben veröffentlichte sie weitere Serien sowie jährlich einen Weihnachtsroman.
Der an sich angenehme Ruhm sorgte allerdings dafür, dass Perrys Vorleben bekannt und publizistisch ausgeschlachtet wurde. Auf ihrer Website bleibt dieses Thema verständlicherweise ausgespart. Anne Perry lebt und arbeitet im Fischerdorf Portmahomack in den schottischen Highlands.
Taschenbuch: 477 Seiten
Originaltitel: Bedford Square (London : Hodder Headline Book PLC 1999)
Übersetzung: K. Schatzhauser
www.randomhouse.de/heyne
E-Book: 1504 KB
ISBN-13: 978-3-641-14039-7
www.randomhouse.de/heyne
Der Autor vergibt: