anonym / Färberböck, Max / Rohrbach, Günter – Anonyma. Eine Frau in Berlin (Hörspiel)

_Bescheidene Umsetzung: Besser den Film sehen!_

Das Original-Hörspiel zum Film von Max Färberböck, der seit dem 23. Oktober 2008 in den Kinos gezeigt wird.

April 1945. Die Rote Armee marschiert in Berlin ein. In einem halb zerstörten Wohnhaus werden die Frauen Opfer von Vergewaltigungen. Eine von ihnen ist ANONYMA (Nina Hoss), einst Journalistin und Fotografin. In der Not fasst sie den Entschluss, sich einen russischen Offizier zu suchen, der sie beschützt. Und es geschieht, worauf sie am wenigsten gefasst war: Es entsteht eine Beziehung zu dem Offizier (Evgenij Sidikhin), die sich wie Liebe anfühlt, wäre da nicht die Barriere, die sie bis zum Ende Feinde bleiben lässt. (Verlagsinfo)

_Die Macher_

|Autorin: anonym|. Alle Zitate aus: „Anonyma. Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juni 1945.“ © Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2003.

|Regisseur Max Färberböck|

Der Absolvent der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) sammelte erste Erfahrungen am Theater, u. a. als Regieassistent von Peter Zadek am Schauspielhaus in Hamburg. Es folgten Theaterinszenierungen in Heidelberg, Köln, Italien und Argentinien, bevor er mit drei Folgen von „Der Fahnder“ (1990) seine Fernseharbeit begann. Er schrieb und inszenierte die bei Publikum und Presse gleichermaßen erfolgreichen, preisgekrönten TV-Movies „Schlafende Hunde“ (1992) sowie „Einer zahlt immer“ (1993) und schuf 1993 die Fernsehfigur „Bella Block“ und realisierte zwei Folgen: „Die Kommissarin“ (1994), für die er mit dem Adolf Grimme Preis in Gold ausgezeichnet wurde, und „Liebestod“ (1995). Mit „Aimée und Jaguar“ (1999) gab Färberböck dann sein überaus erfolgreiches Kinodebüt. Das von Günter Rohrbach produzierte Drama eröffnete 1999 die Internationalen Filmfestspiele Berlin und erhielt eine Nominierung für den |Golden Globe|. Seinen Hauptdarstellerinnen Juliane Köhler und Maria Schrader brachte „Aimée und Jaguar“ den |Silbernen Bären|, den |Bayerischen Filmpreis| und den |Deutschen Filmpreis| als Beste Darstellerinnen ein.

Max Färberböcks zwei Jahre später realisierter Fernsehfilm „Jenseits“ gewann 2001 den Fernsehpreis des SWR und wurde beim Internationalen Fernsehfestival von Monte Carlo mit zwei |Goldenen Nymphen| ausgezeichnet. Der Kinofilm „September“ (2002), der bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes in der Reihe |Un Certain Regard| Premiere feierte, war eine unmittelbare Auseinandersetzung Färberböcks mit den Folgen des 11. Septembers 2001 in Deutschland.

|Produzent Günter Rohrbach|

Nach seinem Studium der Germanistik und Philosophie mit anschließender Promotion war Günter Rohrbach vor allem als Filmkritiker tätig. Ab 1961 arbeitete er beim WDR, wo er ab 1965 Fernsehspielchef und ab 1972 auch Unterhaltungschef war. Von 1979 bis 1994 war er Geschäftsführer der |Bavaria-Film| in München und seit 1992 nebenamtlich tätig als Abteilungsleiter und Honorarprofessor an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in München. Seit 1994 arbeitet er als freier Produzent. Neben zahlreichen Fernsehspielproduktionen produzierte Günter Rohrbach über 40 Kinofilme und wurde dafür vielfach ausgezeichnet, darunter mit mehreren Bundesfilmpreisen und Bayerischen Filmpreisen, dem Adolf-Grimme-Preis, zwei |Goldenen Kameras| sowie Nominierungen für den |Oscar| und den |Golden Globe|.

Zu seinen Produktionen zählen Filme wie Rainer Werner Fassbinders „Berlin Alexanderplatz“ (1980), Wolfgang Petersens „Das Boot“ (1981), Peter Zadeks „Die wilden Fünfziger“ (1982), Hajo Gies „Schimanski – Zahn um Zahn“ (1985), Dominik Grafs „Die Katze“ (1987) und „Die Sieger“ (1994), Peter Timms „Go, Trabi, go“ (1991), Helmut Dietls „Schtonk!“ (1992), Rainer Kaufmanns „Die Apothekerin“ (1997) und „Kalt ist der Abendhauch“ (1999), Jan Schüttes „Fette Welt“ (1998), Max Färberböcks „Aimée & Jaguar“ (1999) und Hermine Huntgeburths „Die weiße Massai“ (2005) und „Effi“ (2008). Seit 2003 zeichnet er an der Seite von Senta Berger als Präsident der |Deutschen Filmakademie| verantwortlich.

|Musik: Zbigniew Preisner|

Der polnische Komponist Zbigniew Preisner erlangte Weltruhm durch seine langjährige Zusammenarbeit mit dem 1996 verstorbenen Regisseur Krzysztof Kieslowski. Preisner gewann 1994 einen |César| für seine Musik zu Kieslowskis „Drei Farben: Rot“, 1996 bekam er einen weiteren |César| für seine Musik zu Jean Beckers „Eliza“. 1997 wurde Zbigniew Preisner bei den Berliner Festspielen mit dem |Silbernen Bären| für die Musik zu dem dänischen Film „The Island on Bird Street“ (Regie: Soren Kragh-Jacobsen) ausgezeichnet. Des Weiteren komponierte er u. a. für drei Filme von Agnieszka Holland, „Der Priestermord“ (1988), „Hitlerjunge Salomon“ (1990) und „Der geheime Garten“ (1993). 1992 schrieb er die Musik zu Louis Malles „Das Verhängnis“.

Die Erzählerin: Ursula Illert

_Handlung_

|Zitat: ANONYMA, Montag, 23. April 1945, 9 Uhr früh
„Beim Bäcker hieß es, die Russen stünden nun bei Weißensee und Rangsdorf. Im Rangsdorfer Strandbad habe ich oft gebadet. Ich spreche es versuchsweise laut vor mich hin: ‚Die Russen in Rangsdorf‘. Es will nicht zusammenklingen. Im Osten heute feurig roter Himmel, endlose Brände.“|

Es sind die letzten Tage des Krieges, April 1945 in Berlin. Im Keller eines halb zerstörten Wohnhauses kauern die Menschen und warten. Sie haben die Bombennächte überstanden und auch den Artilleriebeschuss. Die meisten von ihnen sind Frauen und sie ahnen, was sie erwartet. Der Einmarsch der Roten Armee in Berlin steht unmittelbar bevor.

Da ist die stets hilfreiche Witwe (Irm Hermann), da sind die lebenslustigen Schwestern Bärbel (Jördis Triebel) und Greta (Rosalie Thomass), die ältere Buchhändlerin (Katharina Blaschke), die Likörfabrikantin (Maria Hartmann), deren Mann sie einer Jüngeren wegen sitzen ließ, das lesbische Liebespaar Steffi (Sandra Hüller) und Lisbeth (Isabell Gerschke), die resolute Achtzigjährige (Erni Mangold), das verzweifelte Flüchtlingsmädchen (Anne Kanis), da sind Mütter mit ihren Kindern und auch ein paar ältere Männer, aus denen der Krieg alle Kraft herausgesogen hat.

Vor allem aber ist da die knapp dreißigjährige Anonyma (Nina Hoss), dereinst Journalistin und Fotografin. Sie wird die Ereignisse der nächsten Tage für ihren Lebensgefährten Gerd (August Diehl) festhalten, der vor Jahren an die Ostfront verschwand.

|Zitat: ANONYMA, Sonntag, 13. Mai
„Über Berlin läuten die Glocken zum Sieg der Alliierten. Irgendwo steigt in dieser Stunde die berühmte Parade, die uns nichts angeht. (…) Liebe? Die liegt zertreten am Boden. Und stünde sie wieder auf, so würde ich ständig darum bangen, fände keine Zukunft darin, wagte nie mehr, Dauer zu erhoffen. (…) Trotzdem reizt das dunkle und wunderliche Abenteuer des Lebens. Ich bleibe schon aus Neugier dabei; und weil es mich freut, zu atmen und meine gesunden Glieder zu spüren.“|

Es werden Tage der Schrecken und widersprüchlichsten Erfahrungen. Anonyma wird, wie die meisten Frauen, von den Siegern mehrfach vergewaltigt. Doch sie taugt nicht zum Opfer. Mit Mut und dem unbedingtem Willen, ihre Würde zu verteidigen, fasst sie einen Entschluss. Sie wird sich „einen Wolf“ suchen, einen russischen Offizier, der sie vor den anderen schützt. Als Gegenleistung wird sie mit ihm schlafen – freiwillig. Und es geschieht, worauf sie am wenigsten gefasst war: Der höfliche, melancholische Offizier Andrej (Evgeny Sidikhin) weckt ihr Interesse, ja, es entsteht eine Beziehung, die sich wie Liebe anfühlt. Und doch schwindet nie die Barriere, die beide nicht vergessen lässt, dass sie feindlichen Lagern angehören.

Auch die anderen Frauen entwickeln ihre Strategien, mal schnoddrig, mal unterwürfig, auf kleine Vorteile bedacht. Und es zeigt sich, dass auch die sowjetischen Soldaten nach menschlicher Nähe verlangen. Sie nisten sich ein in diesem zerbombten Haus. Und schließlich werden Sieger und Besiegte sogar das Ende des Krieges zusammen feiern. Denn etwas vereint sie doch: Sie sind – nach einem langen Krieg – dem Tod entronnen.

|Zitat: ANONYMA, Freitag, 27. April 1945, Tag der Katastrophe, wilder Wirbel – notiert
Samstag Vormittag
„Es begann mit Stille. Allzu stille Nacht. Gegen Mitternacht meldet Fräulein Behn, daß der Feind bis an die Schrebergärten vorgedrungen sei und die deutsche Linie bereits vor uns liege. Ich konnte nicht einschlafen, probierte in Gedanken mein Russisch aus, übte Redensarten, von denen ich annahm, daß ich sie nun verwenden könnte. (…) Gegen 18 Uhr ging es los. Einer kam in den Keller, Bullenkerl, stockbesoffen, fuchtelte mit seinem Revolver herum und nahm Kurs auf die Likörfabrikantin. Die oder keine. Er jagte sie mit dem Revolver quer durch den Keller, stieß sie vor sich her zur Tür. Sie wehrte sich, schlug um sich, heulte – als plötzlich der Revolver losging. Der Schuß hallte wischen die Balken, in die Mauer, ohne Schaden anzurichten. Darob Kellerpanik, alle springen auf, schreien …

Da haben sie mich. Die beiden haben hier gelauert. Ich schreie, schreie … Hinter mir klappt dumpf die Kellertür zu. Der eine zerrt mich an den Handgelenken weiter, den Gang hinauf. Nun zerrt auch der andere, wobei er mir seine Hand so an die Kehle legt, daß ich nicht mehr schreien will, in der Angst erwürgt zu werden. Beide reißen an mir, schon liege ich am Boden. Aus der Jackentasche klirrt mir etwas heraus. Es müssen die Hausschlüssel sein, mein Schlüsselbund. Ich komme mit dem Kopf auf der untersten Stufe der Kellertreppe zu liegen, spüre im Rücken naßkühl die Fliesen. Oben am Türspalt, durch den etwas Licht fällt, hält der eine Mann Wache, während der andere an meinem Unterzeug reißt, sich gewaltsam den Weg sucht.“|

|ANONYMA, von Samstag, 16. Juni, bis Freitag, 22. Juni 1945
„Ich habe Gerd inzwischen meine Tagebuchhefte gegeben (es sind drei Kladden voll geworden). Gerd setzte sich eine Weile drüber hin, gab mir dann die Hefte zurück, meinte, er könne sich nicht durchfinden durch mein Gekritzel und die vielen eingelegten Zettel mit den Steno-Zeichen und den Abkürzungen. ‚Was soll denn das heißen?‘ fragte er und deutete auf Schdg. Ich mußte lachen: ‚Ja, doch natürlich Schändung.‘ Er sah mich an, als ob ich verrückt sei, sagte nichts mehr.“|

Für seine „Verbrüderung mit dem Feind“ wird der Major strafversetzt, kurz nachdem Anonymas Gatte Gerd aus dem Krieg heimgekehrt ist. Doch schon nach zwei Tagen hält er nicht mehr aus, aus ihren Notizbüchern über von all dem zu erfahren, was sie und die anderen Frauen getan haben. Voll Abscheu verschwindet er ins Nirgendwo.

_Anmerkungen_

|Anmerkungen von Günther Rohrbach, Produzent des Films:|

Es ist das letzte große Tabu des II. Weltkriegs. Bis heute gibt es, auch in der Wissenschaft, darüber nur wenige Veröffentlichungen, kein Standardwerk, keine verlässlichen Zahlen. Hunderttausende Frauen sind vor allem im Osten Deutschlands in den letzten Kriegswochen vergewaltigt worden. Manche Schätzungen bewegen sich zwischen einer und zwei Millionen, zuverlässig sind sie nicht. Wie sollten sie auch, denn kaum jemand hat darüber öffentlich gesprochen, am wenigsten die Frauen selbst. Sogar in den Familien gab es so etwas wie einen Schweigebann. So groß wie das Leid war die Scham, auch und gerade dem eigenen Mann, den eigenen Kindern gegenüber.

Soweit sich die Wissenschaft überhaupt dem Thema näherte, stützte sie sich auf die wenigen schriftlichen Zeugnisse, die ihr zugänglich waren. Historiker arbeiten nach Aktenlage. Mündliche Recherchen sind ihnen fremd. So waren es Journalisten wie Erich Kuby („Die Russen in Berlin 1945“) und vor allem die Filmemacherin Helke Sander, die die fundiertesten Beiträge zum Komplex der Vergewaltigungen geliefert haben. Helke Sanders Film „Befreier und Befreite“ erschien Anfang der 90er Jahre zusammen mit dem gleichnamigen Buch. Ergänzend zu zahlreichen persönlichen Zeugnissen wird hier erstmals auch versucht, den bestürzenden Umfang der Ereignisse mit Zahlen zu unterlegen. Gegenüber der Methodik dieser Ermittlung mag es Zweifel geben, unzweifelhaft ist aber, dass es hier um eine Größenordnung geht, deren erfolgreiche Verdrängung durchaus skandalös genannt werden kann. In den Kriegen der Männer waren die Frauen seit jeher eine mehr oder weniger selbstverständliche Beute. Heute nennt man das Kollateralschäden. Daran hat sich, folgt man den Berichten aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus dem Irak oder Afghanistan, bis in unsere Gegenwart hinein nichts geändert. Dennoch war das Ausmaß der Vergewaltigungen von 1945 extrem und beispiellos.

Die Tabuisierung dieser Ereignisse hat viele Gründe. Der wichtigste: Die eigene schwere Schuld hat es den Deutschen jahrzehntelang schwer, ja unmöglich gemacht, sich auch mit jenen Verbrechen der Nazizeit und des Krieges zu beschäftigen, bei denen sie sich selbst als Opfer sehen konnten. Diese Haltung war im Nachkriegsdeutschland weitgehend unumstritten. Erst in letzter Zeit hat man, nicht ohne kritische Begleitgeräusche, damit begonnen, in diesem oder jenem Falle eine andere Perspektive zuzulassen. Zweifellos hat es auch eine Rolle gespielt, dass bei den Vergewaltigungen die Täter vor allem Soldaten der Roten Armee waren, die Opfer Bürger der DDR. Es war gerade in der DDR politisch nicht opportun, die Befreier mit einem solchen Makel zu belasten. So war es eine große Ausnahme, wenn Bert Brecht in seinem Arbeitsjournal unter dem Datum vom 25.10.1948 mit aller Vorsicht und im Bemühen um Gerechtigkeit folgendes schrieb:

|[Zitat] „immer noch, nach den drei jahren, zittert unter den arbeitern, höre ich allgemein, die panik, verursacht durch die plünderungen und vergewaltigungen nach, die der eroberung von berlin folgten. In den arbeitervierteln hatte man die befreier mit verzweifelter freude erwartet, die arme waren ausgestreckt, aber die begegnung wurde zum überfall, der die siebzigjährigen und die zwölfjährigen nicht schonte und in voller öffentlichkeit vor sich ging. Es wird berichtet, dass die russischen soldaten noch während der kämpfe von haus zu haus, blutend, erschöpft, erbittert, ihr feuer einstellten, damit frauen wasser holen konnten, die hungrigen aus den kellern in die bäckereien geleiteten, die unter trümmern begrabenen ausgraben halfen, aber nach dem kampf durchzogen betrunkene horden die wohnungen, holten die frauen, schossen die widerstand leistenden männer und frauen nieder, vergewaltigten vor den augen von kindern, standen in schlangen an vor häusern usw …“ [Zitat Ende]|

Nicht zuletzt waren es die Frauen selbst, die eine Auseinandersetzung mit diesem Thema verhinderten, weil sie kein Interesse daran hatten, mit dem, was sie trotz allem auch für ihre Schande hielten, erneut konfrontiert zu werden. Auch in der von dem Historiker Rolf-Dieter Müller im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegebenen zehnbändigen Gesamtdarstellung des II. Weltkriegs werden die Vergewaltigungen nur beiläufig behandelt. Auch hier keine Zahlen – man beschränkt sich auf die pauschale Formulierung „Hunderttausende“ und resigniert vor der Unmöglichkeit einer zuverlässigen Quantifizierung mit dem Begriffspaar „zahllos und namenlos“.

|Anonyma|

Wann immer freilich in den vergangenen Jahrzehnten die Verbrechen an den Frauen im Berlin des Jahres 1945 zum Thema wurden, hat man sich nicht zuletzt auf die Tagebuchaufzeichnungen der Anonyma unter dem Titel „Eine Frau in Berlin“ berufen. Sie sind bis heute die einzige authentische Veröffentlichung, die es über die Massenvergewaltigungen des letzten Krieges gibt. Es ist bezeichnend, dass die Autorin ihren Namen auch Jahrzehnte nach den geschilderten Vorgängen nicht genannt hat. Wir haben ihren Wunsch, auch über den Tod hinaus anonym zu bleiben, respektiert, obwohl der Name an anderer Stelle inzwischen öffentlich geworden ist.

Es hat Versuche gegeben, die Authentizität dieses Dokumentes in Zweifel zu ziehen. Überzeugend waren sie nicht. Ein Gutachten Walter Kempowskis hat sie im Übrigen widerlegt. Die Ereignisse selbst sind ohnehin unumstritten.

Die Anonyma hat in der Zeit vom 20. April bis 22. Juni 1945 in Berlin Tagebuch geführt und diese Aufzeichnungen unter Anleitung ihres Mentors Kurt W. Marek (dem berühmten „C. W. Ceram“ bei |Rowohlt|) erstmals 1954 in New York in englischer Übersetzung veröffentlicht. Das Buch wurde auf Anhieb ein großer Erfolg. Nach etwa einem Dutzend weiterer ausländischer Ausgaben erschien das Buch Ende der 50er Jahre auch in Deutschland – und blieb weitgehend unbemerkt. Zu kurz war damals noch der Abstand, zu frisch waren die Wunden. Ohnehin war man in jenen Jahren vor allem damit beschäftigt, die Ereignisse des II. Weltkriegs möglichst aus dem kollektiven Gedächtnis zu verdrängen.

Es war allerdings nicht nur der Inhalt, der die Leser abschreckte, sondern vor allem der Ton, in dem die Anonyma ihre Erlebnisse verarbeitet hatte. Er ist frei von jeder Larmoyanz, kein Opfer-Pathos, kein Mitleidsappell. Anonyma schildert diese Wochen des Grauens und der Verfolgung selbstbewusst und mit jener schnoddrig sachlichen Kühle, die so typisch ist für die Berlinerin. Sie hat sich nicht unterkriegen lassen, so wenig wie viele der Frauen in ihrer Umgebung, ihr Überlebenswille war groß und stark. Und sie hat sich auch nicht gescheut, sich zu prostituieren, wenn anders das Weiterleben nicht gewonnen werden konnte.

Aber genau das, ihre Bereitschaft, das scheinbar Unmögliche zu tun, mit kühner Entschlossenheit die Gesetzlichkeiten der bürgerlichen Moral zu ignorieren und es auch noch trotzig niederzuschreiben, hat die deutschen Zeitgenossen der 50er Jahre empört. Ihr Bild von der deutschen Frau ließ nichts anderes zu als den Opfergang, im Zweifel bis zum Letzten.

Als Hans Magnus Enzensberger zu Beginn dieses Jahrhunderts das Buch wieder aufgriff und es in seiner „Anderen Bibliothek“ veröffentlichte, war die Resonanz überwältigend positiv. Befördert vom Enthusiasmus der Kritiker enterte das Buch auf Anhieb die Bestsellerlisten. Erneute Veröffentlichungen in zahlreichen Ländern waren die Folge.

|Der Film|

Der Film stellt sich dem Thema in seiner ganzen Komplexität, das heißt, er erzählt keine Opfergeschichte. Er verschweigt also nicht, wer in diesem Krieg die Angreifer, wer die Täter waren. Es ist kein Film über arme deutsche Frauen und böse russische Soldaten. Dennoch weicht er den harten Fakten nicht aus. Das ist ein schmaler Grat, auf dem er sich bewegt, aber es ist möglich, weil die Anonyma für sich selbst die mutige Entscheidung getroffen hat, kein Opfer sein zu wollen. Sie hat uns überdies die Chance gegeben, das zu vermeiden, was in vergleichbaren deutschen Filmen immer wieder geschieht, dass nämlich die Hauptfiguren aus dem politischen Kontext der Nazizeit herausgelöst und ideologisch entschuldet werden.

Wir haben uns dem Problem gestellt, dass die Anonyma ein Teil des Systems war. „War ich selber dafür? Dagegen?“, schreibt sie in ihrem Tagebuch, „Ich war jedenfalls mittendrin und habe die Luft eingeatmet, die uns umgab und die uns färbte, auch wenn wir es nicht wollten.“ Sie war Journalistin, da hatte sie nicht viele Möglichkeiten, den Ansprüchen derer zu entkommen, die dieses Land regierten. Sie hat Texte geschrieben, wie sie damals geschrieben wurden, auch von Journalisten, die später den demokratischen Geist der Bundesrepublik repräsentierten.

Wir haben uns auch bemüht, den russischen Soldaten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie waren zum großen Teil einfache Bauern, denen man dieses reiche Deutschland als Beute versprochen hat, als Ausgleich für erlittenes Leid. Kein anderes Volk hat auch nur annähernd so viele Opfer gebracht. Von den über 50 Millionen Toten des II. Weltkriegs waren mehr als die Hälfte Bürger der Sowjetunion.

Den Rahmen des Films bilden die Vergewaltigungen und die mutige Selbstbehauptung, mit der eine Gruppe von Berliner Frauen versucht, damit umzugehen. In seinem Kern aber erzählt der Film eine hochdramatische Geschichte zweier Menschen, die Feinde sind und die dennoch ein starkes Gefühl füreinander entwickeln. Wir stützen uns dabei auf vorsichtige Andeutungen der Tagebuchautorin, erlauben es uns aber, darüber hinauszugehen.

„Der Krieg verändert die Worte“, sagt Anonyma zu ihrem Beschützer, „Liebe ist nicht mehr das, was es war.“ Als am Ende Gert, ihr Mann, zurückkehrt, erleben wir das wahre Drama dieser Geschichte. Die Frauen haben, jedenfalls in ihrer Mehrheit, ihre Verletzungen tapfer ertragen. Es waren die Männer, die es nicht schafften.

_Mein Eindruck_

Was die Inhaltsangabe und Rohrbachs Anmerkungen verschweigen, sind die verräterischen Aktionen auf beiden Seiten. Der Major, Andrej, verbrüdert sich mit dem Feind und wird dafür strafversetzt – Sibirien. Aber zuvor kam es zu einem schweren Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen der Russen durch die Bewohner des Hauses, in dem Anonyma lebt.

Alle Deutschen sollten selbstverständlich ihre Waffen abgeben. Doch Anonyma hat in ihrer Dachwohnung einen jungen deutschen Soldaten geduldet, der bewaffnet war und Essen von den Russen stahl. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn durch Verrat nach Sibirien zu schicken. Doch Petka, ihr erster „Kavalier“, durchsuchte das Haus bis zum Dach auf der Suche nach einem weiblichen Ersatz für die vorenthaltene Anonyma. Er stößt auf das schlesische Flüchtlingsmädchen, das zur Freundin des jungen deutschen Soldaten geworden ist. Der Soldat schießt auf den russischen Gegner, der sich an dem Mädchen vergreifen will.

Alles fliegt auf, und das ganze Haus muss Sanktionen der Russen erdulden. Nun hat der Rivale des Majors, Oberleutnant Andropov, Oberwasser und nutzt die Chance, ihn auszubooten und versetzen zu lassen. Für das Verstecken des deutschen Soldaten muss sich Anonyma Vorwürfe von ihren deutschen Mitbewohnern anhören, sogar von Eckart, dem alten Volkssturmangehörigen.

Verrat ist eben auf beiden Seiten zu finden und meist durch das definiert, was dem jeweiligen Machthaber nützt. Die Frauen mussten sich durch dieses moralische Minenfeld hindurchlavieren. Anonyma will nicht zur Beute aller werden und stellt sich unter den Schutz eines einzigen dieser „Wölfe“, des Majors. Sie hintergeht ihn, indem sie verschweigt, wen sie in der Dachwohnung beherbergt. Da sie selbst aber machtlos ist, kann sie niemanden wirklich schützen. Es kommt zur Katastrophe.

Aber sie wird überleben. Sie erinnert an die Deutsche Lena Brandt in Soderberghs Film [„The Good German“,]http://www.powermetal.de/video/review-1044.html der auf dem Roman „In den Ruinen von Berlin“ von Joseph Kanon beruht. Gerade die Deutschen haben dafür einige Redensarten erfunden. „Not kennt kein Gebot“ und „Nach dem Fressen kommt die Moral“.

Doch der Film ist nicht zynisch oder kaltschnäuzig inszeniert, sondern steht auf der Seite der Menschen, nicht auf jener der Geschichtsschreibung oder irgendeines Systems. Deshalb nimmt er keine Verurteilungen vor. Das fand ich sehr positiv. Allerdings sind viele Szenen ohne Dialoge geschrieben, sondern wurden für Blicke und Gesten inszeniert. Dies wird dem Hörspiel zum Verhängnis …

_Die Inszenierung des Film-Hörspiels_

Mehr als einmal gibt es lange Szenen in diesem Film, in denen kaum ein Wort gesprochen wird. Kennt der Hörer den Film noch nicht, muss er sich Gesten, Mienen und Blicke vorstellen. Das fällt schwer in einem Film, der so von Emotionen getragen ist wie dieser. Mehrmals habe ich die Machart des Films mit [„Die Welle“]http://www.powermetal.de/video/review-1622.html verglichen. Dort gibt es aber wesentlich mehr Dialoge, da sich der ganze Film um Kommunikation und Gemeinschaft dreht.

Eigentlich sollte es in „Anonyma“ ebenfalls darum gehen, doch es fehlen die Worte. Und wenn es sie mal gibt, dann an den entscheidenden Stellen in russischer Sprache. Einer der entscheidenden Nachteile des Hörspiels besteht im Fehlen von Untertiteln. Entscheidende Stellen des interkulturellen Dialogs – Anonyma spricht ja auch russisch! – gehen so verloren.

Alle diese Mankos könnte die Erzählstimme auffangen – tut sie aber nicht. Die Aufgabe der Erzählstimme besteht vielmehr darin, Gedanken wiederzugeben, also sehr Intimes, sowie geschichtliche Zusammenhänge, also sehr Allgemeines. Dazwischen liegt die Sphäre des Films, mit den genannten Leerstellen.

Am meisten geärgert hat mich die entscheidende Szene zwischen Anonyma und dem heimgekehrten Gatten Gerd. Wir hören jede Menge Möbelrücken, Poltern und Kratzen – möglicherweise versucht er, in der Dachwohnung sein früheres Fotoatelier einzurichten. Diesem galt seine erste Frage an seine Frau, nicht etwa ihrem Wohlbefinden. Die Musik steigert sich zu dramatischen Dimensionen, doch immer noch fällt kein Wort, was doch auf die Dauer etwas unbefriedigend ist. Ob sie nun miteinander schlafen oder nicht – wir können es uns nur vorstellen. Und das ist viel zu wenig, wie sich herausstellt.

|Sound & Geräusche|

Bei einem Film-Hörspiel kann man auch einen anständigen SOUND erwarten. Der wird zum Glück auch geliefert, wenn auch nicht in DD 5.1, sondern nur in Stereo. Das reicht aber völlig aus, um gewaltige Explosionen und Granateinschläge sowie Gewehr-Salven im Wohnzimmer oder Kopfhörer des Zuhörers losdonnern zu lassen. Ich bin selbst mehrmals zusammengezuckt, mir wurde mulmig im Magen. Erst angesichts dieser Gewalten kann man sich den Überlebenskampf in den Berliner Häuserschluchten einigermaßen vorstellen.

|Musik (Original-Score)|

Der Score von Zbigniew Preisner ist klassisch instrumentiert. Er muss mit leisen Tönen gegen die Geräusche des Überlebenskampfes ankommen. Vielfach ist ein leises Piano zu hören, auch eine junge russische Solosängerin und eine Sopranistin, die eine Kantilene singt. Einmal spielt der „Major“ Andrej selbst am Piano eine schöne Melodie, vielleicht Chopin. Am besten gefielen mir die Stellen, in denen es dramatischer und flotter zuging; dann spielt das ganze Orchester mit. Ob der Komponist auch für die russische Party- und Tanzmusik zuständig war, kann ich nicht sagen.

Der Abspann und Ausklang wird von einem einzelnen Piano bestritten, das mit seinem Klang die verschwindende Erinnerung charakterisiert, auch wenn diese noch so schmerzhaft und traurig sein mag. Dieser Ausklang dauert immerhin fast 120 Sekunden lang.

_Unterm Strich_

Man sollte vor dem Hören dieser Produktion meiner Ansicht nach den Film gesehen haben. Als Appetizer taugt das Hörspiel ebenso wenig wie als Souvenir. Die Geschichte an sich wird zwar deutlich und klanglich anschaulich dargestellt, aber das Fehlen von Erzählkommentaren (und Untertiteln) an entscheidenden Stellen hat mich mehr als einmal geärgert und frustriert. Der Preis von knapp 20 €uronen ist erheblich zu hoch für diese bescheidene Leistung.

Dennoch habe ich keinen Zweifel, dass dies ein wichtiger Film für deutsche Zuschauer ist und wesentlich zur Aufklärung über ein dunkles Kriegskapitel beiträgt. So wie „Die Welle“ über das Entstehen des Faschismus aufgeklärt hat, so erhellt „Anonyma“ das bestehende Verhältnis zwischen Deutschen und Russen. (Man lese dazu die Anmerkungen von Produzent Rohrbach.)

|120 Minuten auf 2 CDs
ISBN-13: 978-3-8218-6300-9|
http://www.eichborn-lido.de
http://www.anonyma.film.de