Anstiftung zum Selberdenken. Interview mit Ralf Isau

Ralf Isau (c) Isabelle Grubert
Ralf Isau (c) Isabelle Grubert

Buchwurm.info: Lieber Ralf, wie geht es Dir? Wo bist Du?

Ralf Isau: Danke, mir geht es gut. Ich bin gerade überall und nirgendwo. Kürzlich hat mich das „Haus der Technik“ in Essen zum Botschafter für den Deutschen Weiterbildungspreis ernannt. Mitte März ging es zur Buchmesse nach Leipzig. Und im Mai fliege ich nach Südkorea. Ich darf am Changwon International Children’s Literature Festival 2013 teilnehmen. An der Uni von Changwong halte ich eine Vorlesung zur deutschen Kinder- und Jugendliteratur im Allgemeinen sowie der Phantastik von Michael Ende und Ralf Isau im Besonderen. Anschließend geht es zum Goethe-Institut nach Seoul. Du siehst, ich bin ein Globetrotter in Sachen Literatur.

Manche Leser kennen Dich und Deine zahlreichen Werke noch nicht. Stell Dich doch bitte ein wenig selbst vor.

Ich bin Baujahr 1956, in Berlin geboren. Seit 30 Jahren lebe ich mit meiner Frau Karin in der Nähe von Stuttgart. (Eine ausführliche, mit Fotos dokumentierte Biografie findet sich unter der URL http://www.isau.de/vita.html.) Bücher der Phantastischen Literatur veröffentliche ich seit 1994. Alles begann mit dem „Drachen Gertrud“, einem Kinderbuch, das ich Michael Ende schenkte. Es hat ihm gefallen und er empfahl mich seinem Verlag. Seitdem sind fast 40 Bücher entstanden, fast alle im Genre der Phantastik. Viele davon wurden ins Ausland verkauft, in 14 verschiedene Länder. Mein neuer All-age-Roman „Die Masken des Morpheus“ erscheint am 18. März beim Verlag CBJ. (Mehr zum Roman ist unter http://www.isau.de/werk/masken.html nachzulesen.)

Wie würdest Du deine thematische Ausrichtung beschreiben bzw. worum geht es Dir beim Erzählen?

Ich schreibe über Themen, die mich interessieren. Viele Romane haben einen historischen Hintergrund, der von Ereignissen der jüngeren Geschichte, wie etwa dem Fall der Berliner Mauer, bis in die Antike reicht. „Die Masken des Morpheus“ etwa spielt 1793, als die Französische Revolution Europa umkrempelte.

Auch wissenschaftliche Themen und Wertefragen interessieren mich. Der rote Faden, der sich durch mein Werk zieht, ist das Anstiften zum Selberdenken. Das verlernt man leichter als gedacht, wenn man sich durch die Massenmedien alles vorkauen lässt. Indem ich bekannte Ereignisse und Erkenntnisse aus neuen Perspektiven beleuchte, erweitere ich den Blickwinkel meiner Leser. Das macht mir Spaß.

Ist das Erzählen für junge Leser anders als das für erwachsene Leser? Kannst du Beispiele nennen?

Ja. Junge Leser sind kritischer. Erwachsene haben oft den Ehrgeiz, ein Buch unbedingt zu Ende lesen zu wollen. Die jungen Leser hingegen werfen es in die Ecke, wenn nicht auf den ersten Seiten der Funke überspringt. Auch in der Wahl der Hauptfiguren oder der Art des Erzählens gibt es Unterschiede. Meistens sind die Protagonisten der Jugendbücher selbst Jugendliche oder junge Erwachsene. Die Verlage sehen es auch nicht ungern, wenn die Geschichte Hilfestellung bei der Orientierung in einer zunehmend unübersichtlichen Welt gibt. Nur muss man da sehr vorsichtig sein. Nichts vergrault Leser und Rezensenten mehr als ein erhobener Zeigefinger.

Bekommst du in irgendeiner Form Leserresonanz, z. B. bei Lesungen? Wie reagieren die meisten Leser auf deine Geschichten und was wollen sie wissen?

Ich bekomme eine Menge Resonanz, sowohl bei Lesungen als auch durch E-Mails. Manche schicken mir Fotos von sich oder kleine Urlaubsmitbringsel. Die überwältigende Mehrheit reagiert sehr positiv. Auf nicht wenige Leser wirken meine Romane inspirierend. Eine hat sich zu einem Archäologiestudium anregen lassen. Etliche sind kreativ tätig geworden. Eine japanische Leserin ist nach der Lektüre meines Romans „Das Museum der gestohlenen Erinnerungen“ von Tokio nach Berlin geflogen und hat das Ischtar-Tor im Pergamonmuseum bestaunt – das, so behaupte ich, in die phantastische Welt Quassinja hinüberführt. Noch am selben Tag flog die Leserin wieder nach Japan zurück.

Was die Leser wissen wollen? Alles! Da ist wirklich nichts ausgenommen. Erstaunlich viele verfassen eigene Geschichten und wollen wissen, wie man einen Roman schreibt.

Wer sind deine LieblingsautorInnen? Bitte beschränke dich auf dreiJ

Ich habe keine. Alle Autoren, die ich besonders schätze, haben auch Bücher geschrieben, die ich weniger schätze. Ich beurteile daher jedes Werk für sich. Im Spitzenfeld liegen Bücher von Michael Ende, Tolkien und David Eddings.

Was sind Deine liebsten Freizeitbeschäftigungen (falls du Freizeit hastJ)?

Tatsächlich habe ich wenig Freizeit, sodass ich meist das Angenehme mit dem Nützlichen verbinde. Ich lese sehr gerne, reise des Öfteren, interessiere mich fürs Kino und besuche gerne Museen. Viel zu selten spiele ich Gitarre.

Wagen wir einen Ausblick. Woran arbeitest Du gerade? Wann erscheint Dein nächstes Buch? Worum geht es darin?

Derzeit arbeite ich an einem Projekt mit dem Arbeitstitel „Das Allerweltshaus“. Es geht um ein Haus, das sich über die ganze Welt erstreckt. Warum ist es uns noch nicht aufgefallen? Weil es meistens unsichtbar ist. Wir wundern uns nur, warum so oft Menschen völlig unerwartet von der Bildfläche verschwinden. Man kennt das ja: Er wollte nur kurz Zigaretten holen und kam nie wieder. Wahrscheinlich ist „er“ im Allerweltshaus verschwunden. Das wächst und wuchert, indem es den Zeitgeist unserer Welt in sich aufnimmt. Ein Geschwisterpaar verirrt sich ins Allerweltshaus und erlebt ziemlich verrückte Sachen. Mehr verrate ich noch nicht.

Die nächste Neuerscheinung ist, wie schon erwähnt, „Die Masken des Morpheus“ (s. o.). Die Geschichte beginnt im London des Jahres 1793, im Schatten der Westminster Abbey. Beiläufig berührt ein alter Mann, der sich Mister M. nennt, den jungen Artisten und Puppenspieler Arian Pratt. Plötzlich findet sich der Siebzehnjährige in dem Fremden wieder – die zwei haben die Körper getauscht.

Und was noch schlimmer ist: Die kleinste Berührung reicht und Arian wechselt, ob er will oder nicht, mit anderen den Leib. Er ist jetzt ein Swapper. Zu allem Übel hält ihn eine Bande von Gaunern für den Alten und versucht ihn umzubringen. Arian verbündet sich mit einer jungen Swapperin namens Mira, obwohl er der ebenso schönen wie geheimnisvollen Rothaarigen misstraut.

Unterdessen flieht der Seelendieb in Arians fleischlicher Hülle nach Frankreich. So beginnt für die Jugendlichen eine abenteuerliche Parforcejagd durch ein Europa, das einem Pulverfass mit brennender Lunte gleicht. Auf den französischen Schlachtfeldern ist das Leben keinen Pfifferling mehr wert und in den Städten sterben täglich Menschen unter dem Fallbeil.

Je öfter Arian in fremde Körper schlüpft, desto mehr verändert er sich. Auf spannende Weise geht es in dem Roman also auch um die großen Fragen, die sich vor allem junge Leser stellen mögen: Wer bin ich? Wo komme ich her? Und wer werde ich morgen sein? Arian muss sich die Antworten erkämpfen. Sein Gegenspieler ist mächtig, uralt und unendlich wandlungsfähig. Nur wer die vielen Masken des Morpheus durchschaut, kann ihn bezwingen.

Du hast letztes Jahr eine Texter-Agentur mit dem Namen „Phantagon“ gegründet. Wie kam es zu dem Projekt?

Phantagon ist eine Agentur für Textentwicklung und Sprachkultur. Seit meinem Roman „Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte“ beschäftige ich mich mit einer Entwicklung, die ich als „Spracherosion“ bezeichne. Unserer Sprache geht die Vielfalt verloren. Nehmen wir nur die Gebrauchstexte: Internetseiten, Anzeigen, TV- und Funkspots usw. Viele sind grottenschlecht. Sie langweilen ihr Publikum und erfüllen damit den Tatbestand der Beleidigung. Ihnen (und der Unehrlichkeit) verdankt die Werbung ihren schlechten Ruf.

Zweiten beobachte ich mit Besorgnis einige Entwicklungen am Buchmarkt, darunter die zunehmende Fokussierung auf Bestseller. Dieser Wandel ist Gift für die kreative Freiheit der Berufsautoren. Bei einigen brechen die Einnahmen dramatisch weg, sodass sie sich neu orientieren müssen. Bei Phantagon möchte ich beide Problemfelder zusammenführen, frei nach der Devise Minus mal Minus ergibt Plus.

In unserer Agentur können Autoren ihrer großen Leidenschaft frönen: dem Schreiben. Sie erhalten sich die finanzielle Unabhängigkeit, um weiterhin gute Bücher zu schreiben. Und weil sie Wortjongleure sind, fördern sie auch noch die deutsche Sprachkultur. In unserem Portfolio auf http://phantagon.com findet man die ganze Bandbreite unserer Leistungen. Sie reicht von Biografien und Imagebüchern bis zu PR-Artikeln, Werbetexten und Content für Internetseiten.

Hinweis: Alle Hervorhebungen im Text stammen von Redakteur Michael Matzer.

(Foto: Isabelle Grubert)

Bibliografie der Veröffentlichungen:

BÜCHER:

1. Der Drache Gertrud 1994,
2000
2. Die Träume des Jonathan Jabbok (Neschan I) 1995
3. Das Geheimnis des siebenten Richters (Neschan II) 1996
4. Das Lied der Befreiung Neschans (Neschan III) 1996
5. Das Museum der gestohlenen Erinnerungen 1997
6. Das Echo der Flüsterer 1998
7. Das Netz der Schattenspiele 1999
8. Der Kreis der Dämmerung, Teil 1 1999
9. Der Kreis der Dämmerung, Teil 2 2000
10. Der Kreis der Dämmerung, Teil 3 2001
11. Der Kreis der Dämmerung, Teil 4 2001
12. Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte 2002
13. Der Silberne Sinn 2003
14. Die unsichtbare Pyramide 2003
15. Die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz 2003
16. Der Leuchtturm in der Wüste 2004
17. Der Herr der Unruhe 2004
18. Das gespiegelte Herz (Die Chroniken von Mirad I) 2005
19. Die Galerie der Lügen 2005
20. Der König im König (Die Chroniken von Mirad II) 2006
21. Das Wasser von Silmao (Die Chroniken v. Mirad III) 2006
22. Die Dunklen 2007
23. Minik – An den Quellen der Nacht 2008
24. Der Mann, der nichts vergessen konnte 2008
25. Der Tränenpalast (Phantanauten I) 2008
26. Metropoly (Phantanauten II) 2008
27. Lachen machen (Erstausgabe japanisch) 2008
28. Der Schattendieb 2009
29. Der Feuerkristall (Phantanauten III) 2009
30. Messias 2009
31. Der verbotene Schlüssel 2010
32. Die zerbrochene Welt (Berith I) 2011
33. Feueropfer (Berith II) 2011
34. Das Geheimnis der versteinerten Träume 2011
35. Weltendämmerung (Berith III) 2012
36. »Die Masken des Morpheus« 2012

Und hier die Anthologiebeiträge:

Veröffent-
lichungs-
datum
Artikel, Buchtitel Beitrag v. R. Isau Verlag
1999 Kinder, wie die Zeit vergeht: 150 Jahre Thienemann Textauszug aus Das Museum der … K.H. Thienemann
1999 Für die Menschen aus Stadt und Land: Das Literarische Gewand Der glückliche Kastanienbaum Druck OVR Ravensburg
März 2000 Das große Vorlese Buch Der König der Bäume K.H. Thienemann
März 2002 Das neue große Vorlesebuch Der Junge, der das Nordlicht stahl K.H. Thienemann
Herbst 2007 Flammenflügel : Fantastische Drachengeschichten Das versteinerte Herz Random House (cbj-Verlag)
15. Januar 2008 Das große, dicke Vorlese Buch Der König der Bäume (2000) K.H. Thienemann
23. April 2008 Ich schenk dir eine Geschichte. Reisen in fantastische Welten. Der König der Bäume (überarbeitete Fassung) Random House (cbj-Verlag)

Angaben des Autors; ohne Gewähr (d. Red.)