Es ist 1798 und aus dem gefrorenen Fluss Kennebec in den USA wird eine Leiche geborgen. Doch, obwohl die Jahreszahlen den Roman in der Historie verorten, scheint die Stimme der starken Protagonistin einer Frau von heute zu gehören: selbstbewusst, lebenserfahren, herzlich und mit einem starken Gerechtigkeitssinn. Tatsächlich hat man schon auf den ersten Seiten das Gefühl, dass es sich bei der berufserfahrenen Hebamme um eine echte Frau aus Fleisch und Blut handelt, was das umfangreiche Nachwort auch bestätigt. Demnach basieren Dreiviertel der Fakten des berührenden Romans auf dem Tagebuch von Martha Ballard, einer Hebamme aus dem 18. Jahrhundert.
In dem Werk, das in dem halben Jahr zwischen dem Zufrieren des Flusses und dem Aufbrechen des Eises im Frühling angesiedelt ist, geht es aber dann nicht nur um Geburten, sondern vor allem auch um die Vergewaltigung von Marthas Freundin Rebecca mit dem dazugehörigen Gerichtsprozess und all den Ungerechtigkeiten, unter welchen man in dieser Zeit als Frau in einer von Männern dominierten Siedlergesellschaft zu leiden hatte. Dabei will man als Leser gar nicht glauben, dass Vergewaltigungen derart an der Tagesordnung waren, wie es einem der Roman leider nicht fälschlicherweise suggeriert.
Lawhon vermittel ein anschauliches Bild des vor allem von Jahreszeiten, Hausarbeiten, Kindererziehung und hier auch dem Job geprägten Lebens einer Frau, die selbst schweres Unrecht und Verluste erlitte hat. Glücklicherweise hat sie jedoch einen verständnis- und liebevollen Mann an ihrer Seite, der sie vor allem das Lesen und Schreiben lehrte, wodurch die Erfahrungen der wahren Martha Ballard als Tagebuch die Jahrhunderte überdauern konnten. Natürlich musste es ein paar Modifizierungen geben, damit die Kriminalgeschichte um den Mord eines der Vergewaltiger Rebeccas und die frei erfundene Bestrafung des zweiten schließlich in den Zeitraum des gefrorenen Flusses passte. Aber auf diesem Weg fügen sich die Befreiung der Bewohner Hallowells aus der Schockstarre des Verbrechens und die des Flusses vom Eis künstlerisch zusammen.
Das stabile Hardcover aus dem Adrian Verlag fällt optisch vor allem durch den Druck auf dem Schnitt auf, der das Umschlagbild mit seinem winterlichen Motiv um den Silberfuchs ergänzt, der im Roman als Glücksbringer und Schutzpatron Marthas fungiert. Außerdem zeigt die lange Schnittseite Auszüge aus den Tagebuchnotizen, welche das Thema Schrift und Schreiben aus dem Buch heraustragen. Eine gute Idee, denn das geschriebene Wort spielt im Roman eine tragende Rolle, da Marthas Tagebuch zum Beispiel als wichtiges Zeugnis im Gerichtsprozess auftritt, und Schrift auch als Kommunikationsmittel mit Marthas stummen Sohn dient. Durch das Schreiben kann sich hier vor allem eine Frau mehr Gehör verschaffen als durch das gesprochene Wort, welches ohne die Bestätigung eines Mannes in der sich gerade erst konstituierenden amerikanischen Gesellschaft keinen rechtlichen Wert hat. Mit Hilfe dieser ansprechenden Aufmachung wird der Roman äußerlich abgerundet.
Abschließend bleibt zu sagen, dass „Der gefrorene Fluss“ kein Buch ist, das man mal einfach so wegliest. Obwohl es streckenweise wie ein Pageturner wirkt, muss man es oft wieder aus der Hand legen, denn zu unerhört sind die Begebenheiten, zu wütend wird man auf die Umstände, in welchen die Figuren, die man sich so lebhaft vorstellen kann, leben, zu empörend sind die Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren. Und doch fesselt das Buch seine Leser und die Figuren lassen einen sowohl während des Leseprozesses als auch danach nur langsam wieder los.
Hardcover: 448 Seiten
ISBN 13: 978-3985852277
Adrian & Wimmelbuchverlag
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