Arsen Rewazow – Der schwarze Gral

Das geschieht:

Josif Mesenin ist Inhaber einer kleinen und erfolglosen Werbeagentur in Moskau. Da ihm die Bank wegen überfälliger Kredite im Nacken sitzt und er als Repräsentant des ‚neuen‘, globalisierten Russlands einem krummen Geschäft nie abgeneigt ist, lässt sich Mesenin auf ein seltsames Geschäft ein: Der ‚Geschäftsmann‘ Fedor Podgorelzew beauftragt ihn, die Begriffe „Deir-el-Bahari“, „Calypsol“ und „Einsamkeit“ sowie die Zahl „222461215“ möglichst oft in allen Medien zur Erwähnung zu bringen, ohne dass die Presse darauf aufmerksam wird.

Da die Bezahlung gut ist, akzeptiert Mesenin, obwohl er keinen Sinn in dieser Anordnung sieht. Neugierig recherchiert er selbst und bringt in Erfahrung, dass Deir-el-Bahari der Standort eines Totentempels der altägyptischen Pharaonin Hatschepsut sowie Stätte eines Geheimordens – der Haten – war. Calypsol ist ein Betäubungsmittel, das als rauschgiftähnliches Halluzinogen missbraucht werden kann.

Mesenins Nachforschungen werden unterbrochen, als einer seiner besten Freunde, der Chemiker Ilja Donskoj, einem grässlichen Mord zum Opfer fällt. Da er durch ihn, der für einen Pharmakonzern tätig war und sich auf die Herstellung von Rauschgiften verstand, von dem Medikament namens Calypsol weiß, glaubt Mesenin, dass es zwischen Donskoj und Podgorelzew eine Verbindung gibt. Als Donskojs Ehefrau Selbstmord begeht, lassen sich auch Mesenins Freunde Anton Epstein und Matwej Bugajew überzeugen. Gemeinsam will man das Rätsel lösen.

Leider werden die weltweit immer noch sehr aktiven Haten auf das neugierige Trio aufmerksam. Sie ziehen hinter den Kulissen die Fäden, zerstören Mesenins Leben – und schaffen sich einen hartnäckigen Gegner, der sich unerwartet störrisch zeigt und den ungleichen Kampf einfallsreich aufnimmt …

Die Welt als Spielplatz geheimer Sekten

Nein, wir dürfen Dan Brown nicht allein dafür verantwortlich machen. Wirr gesponnene und schlicht geschriebene Verschwörungsgarne gab es schon vor den „Illuminati“ und dem „Sakrileg“. Sie haben seither natürlich stetig an Zahl zu- und an Qualität abgenommen, denn Trittbrettfahrer aus allen Ländern dieser vermeintlich von Geheimgesellschaften gesteuerten Erde haben das Thema dankbar aufgegriffen.

In der Regel benötigen diese Autoren nur rudimentäre historische Kenntnisse, die sie auch bei ihren Lesern voraussetzen dürfen. Einige Rätsel werden durch exotische Scheußlichkeiten aufgepeppt, mit denen ebenso ahnungslose wie publikumswirksam gestaltete Alltagsmenschen konfrontiert werden. Es schließt sich eine (mehr oder weniger) atemlose Hetzjagd über den Globus an, bis genanntes Rätsel gelöst ist und sich Helden und Munkelmänner im Großen Finale gegenüberstehen. Ein Repräsentant des Vatikans ist mindestens so unentbehrlich wie eine schöne Frau, die – der Mystery-Thriller schafft sich seine eigene Realität – durch die Flucht erotisch mächtig aufgeheizt wird.

Auch „Der schwarze Gral“ bedient sich der meisten der beschriebenen, sowie weiterer, nicht aufgelisteter Elemente. Arsen Rewazow nutzt als schriftstellerischer Neuling zusätzlich die Folie des populären Verschwörungs-Spektakels; der Autor stammt aus der Werbung, wodurch es ihm doppelt leicht fällt, die Brosamen aus dem Mystery-Teig zu fischen.

Viel reden, wenig sagen

Folgerichtig hält sich Rewazow dicht an Bekanntes. Die Orte, die seine Helden im Laufe der Geschichte aufsuchen, findet man im Lebenslauf des Verfassers wieder. Wie Josif Mesenin leitet auch Arsen Rewazow eine Werbeagentur in Moskau. Dies gewährleistet eine genaue Ortskenntnis, die dem Roman sichtlich zugute kommt. Moskau selbst ist eine interessante Kulisse; Rewazow schildert die Stadt als moderne Megalopolis mit Wurzeln, die tief in eine zwielichtige Vergangenheit greifen.

Schon hier lässt sich eine Unart fassen, der Rewazow später noch ausgiebiger – und ausführlicher – huldigt: Er verliert sich gern in Beschreibungen, Rückblenden und Anekdoten, die mit der Handlung nichts zu tun haben. Man kommt nicht umhin zu argwöhnen, dass der Autor auf diese Weise Seiten schinden will. Zumindest im Mittelteil scheint er nicht recht zu wissen, was er uns eigentlich erzählen will. Eine wilde Hatz muss heutzutage offenbar durch die passende Musik untermalt werden; jedenfalls widmet Mesenin der Suche nach dem entsprechenden Score auffällig viel Raum.

Angesichts der gewählten Thematik gehören Zwischenstopps in Rom (bzw. dem Vatikan) und Israel zum Pflichtprogramm. Dort wird tief gegraben und mit jener Leichtigkeit, die den realen Geschichtsforscher stets mit Neid (oder Wut) erfüllt, neues Wissen zu Tage gefördert, auf dessen Basis die Jagd fortgesetzt werden kann. Sie führt weiter nach Japan und in ein Zen-Kloster, worüber lieber nicht allzu intensiv nachgedacht werden sollte: Die alten Religionen zerfließen für die Autoren der Dan-Brown-Fraktion zu einer Art Brei, dessen Bestandteile sich gern mischen. Auf diese Weise werden ungewöhnliche, d. h. historisch fragwürdige aber unterhaltsame Orden und Sekten ausgebrütet.

Diese Welt ist nicht genug

Wobei ‚Religion‘ auch Deckmantel für ‚geheimes‘ Wissen ist. Das alte Ägypten ist stets ein gern gewählter Hafen, der sich rückwärts auf das weite Meer einer historisch wie archäologisch glücklicherweise ungesicherte Vorzeit öffnet, die der jeweilige Autor nach Belieben gestalten kann. Da fällt es leicht, eine später untergegangene Hochkultur zu kreieren, der bereits gelang, was später wieder in Vergessenheit geriet. Es muss nicht immer Atlantis sein; Außerirdische sind zwar gestattet aber nicht unbedingt erforderlich. Wichtig ist, dass einige Vertreter der ins Spiel gebrachten Hochkultur überlebten und das erworbene Wissen überlieferten.

Hier tauchten sie nach Rewazows Willen am Hof der Pharaonin Hatschepsut auf, die im 15. vorchristlichen Jahrhundert Ägypten regierte. Sie nannten sich „Haten“ und bastelten weiter an ihrem Jahrtausendplan, der nichts Geringeres als die Zerstörung der Erde vorsah – und vorsieht, denn solche Orden verfügen über einen bemerkenswert langen Atem.

Rewazow fällt sogar eine Begründung dafür ein, dass die Haten über Jahrtausende nichts zustande brachten, als im Dunkel der Geschichte zu munkeln sowie hin und wieder einen neugierigen Zaungast abzumurksen: Sie meinen es ernst mit der Zerstörung, denn nur auf diese Weise laden sie ihr privates Paralleluniversum mit Energie auf. Sobald die diesseitige Apokalypse in Schwung gebracht ist, schlucken die Haten ihr Calypsol und wechseln ins Jenseits über, wo sie sich neuen Zielen widmen dürften. Doch erst in der Gegenwart existieren die technischen Möglichkeiten, die Erde aus dem All zu tilgen.

Drei naive Musketiere

Man kann verstehen, dass Josif, Anton und Matwej eine ganze Weile brauchen, bis dieser monumentale Plan in ihre Hirne gesickert ist. Sie sind typische Repräsentanten einer historisch oder überhaupt eher oberflächlich interessierten und auf die Gegenwart fixierten Generation. Noch ist der Untergang der Sowjetunion sogar ihnen noch im Gedächtnis, weshalb die neuen Freiheiten umso intensiver genutzt und missbraucht werden.

Rewazow versucht sich in der Schöpfung möglichst massenkompatibler Figuren. Ein abenteuerlustiger Gelehrter ist nicht darunter; es ist der Faktor ‚Gewöhnlichkeit‘ der für zusätzliche Spannung sorgen soll: Unsere ‚Helden‘ verfolgen nicht nur eine Spur. Sie werden bald gejagt. Dass sie nicht wissen, wer ihnen ans Leben will, erhöht ihre Angst.

Hinzu kommt die genretypische Allgegenwärtigkeit der Munkelmänner. Politik, Verwaltung, Justiz, Polizei, Wirtschaft: Überall sitzen Haten an den Schalthebeln der Macht. Auch das organisierte Verbrechen ist von ihnen unterwandert. Aus den Schatten heraus manipulieren sie Josifs Identität, denn selbstverständlich gebieten die Haten auch über die digitale Welt. Sie zerstören seinen Ruf, löschen sein Konto, stellen ihn als Strolch und Terroristen hin. Das lässt die Frage aufkommen, wieso eine Macht, die so global ist, es nicht längst geschafft hat, die Welt in den Abgrund zu stürzen. Wiederum gilt: Solche Fragen rühren an der Logik unserer Geschichte – und die ist sehr empfindlich!

Lerne lesen, ohne nachzudenken!

Man muss sich schon auf die Eindimensionalität eines Geschehens einlassen, das paradoxerweise die ganze Welt als Spielplatz benutzt. Nur auf diesem Niveau ist auch glaubwürdig, dass Schaf Josif plötzlich zum Wolf mutiert, der den Haten nicht nur ständig Schnippchen schlägt, sondern ihnen empfindliche Schläge versetzen kann.

Ein „schwarzer Gral“ taucht übrigens in der gesamten Geschichte nirgendwo auf. Auch sonst bemüht der klugerweise anonym bleibende Autor des deutschen Klappentextes lieber seine Fantasie, statt Rewazows Roman tatsächlich zu lesen; wie sonst könnte er (oder sie?) über unsere überforderten ‚Helden‘ so faseln: „Sie sind jung und unwiderstehliche Gewinnertypen: die Kinder des modernen Moskau.“

„Einsamkeit-12“ lautet die Übersetzung des Originaltitels. Er mag nicht so viel hermachen, doch „Einsamkeit“ gehört immerhin zu den Wörtern des Rätsels. Wenn man dessen Lösung mit dem Fund des Grals gleichsetzt, mag auch der deutsche Titel seinen Sinn erhalten. Josif und seine Freunde verhalten sich jedenfalls wie Parzival und seine Gefährten: Die Suche wird zur Sucht, der selbst Lebensgefahr keinen Einhalt bietet.

Ob Rewazow selbst so tief in der Literaturgeschichte nach einem Anker für seinen Roman gesucht hat, bleibt offen. Er hat ‚seinen‘ Mystery-Thriller geschrieben und spürt anscheinend keinen Drang, diesem weitere Garne anzuschließen – eine Eigenschaft, die Rewazow definitiv vom üblichen Populärliteraten unterscheidet. Für sein Werk gilt dies nur bedingt. Zwar erfreut der deutlich spürbare Versuch, allzu ausgefahrene Klischees zu meiden oder gar mit ihnen zu spielen. Die Story selbst ist bekannten Mustern aber zu stark verhaftet, um insgesamt mehr als Lektüredurchschnitt zu bieten.

Autor

Geboren wurde Arsen Anatoljewitsch Rewazow 1966. Er studierte Medizin in Moskau, schwenkte zur Psychologie um und promovierte in Israel. Später zurückgekehrt nach Moskau, leitet Rewazow wie sein ‚Held‘ Mesenin (aber mit deutlich größerem Erfolg) die Agentur „Internet Media House Russia“, die auf den An- und Verkauf von Reklamezeiten spezialisiert ist. „Der schwarze Gral“ blieb bisher sein einziger Roman.

Taschenbuch: 511 Seiten
Originaltitel: Odinočestvo-12 (Moskau : Ad Marginem Press 2005)
Übersetzung: Anna Serafin
www.randomhouse.de/blanvalet

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