Arthur Conan Doyle – Der Daumen des Ingenieurs (Sherlock Holmes 19)

Watsons Fall: In der hydraulischen Presse gefangen

Der junge Ingenieur Victor Hatherley befindet sich in finanziellen Schwierigkeiten und entschließt sich daher, einen äußerst mysteriösen – und nächtlichen – Auftrag anzunehmen. Als er am nächsten Morgen wieder zu sich kommt, fehlt ihm einer seiner Daumen … (Verlagsinfo)

Der Autor

Sir Arthur Conan Doyle lebte von 1859 bis 1930 und gelangte mit seinen ca. 60 Erzählungen um den Meisterdetektiv Sherlock Holmes zu Weltruhm. Dabei begann der Mediziner, der eine eigene Praxis hatte, erst 1882 mit dem Schreiben, um sein Einkommen aufzubessern. Neben mystischen und parapsychologischen Themen griff er 1912 auch die Idee einer verschollenen Region (mit Dinosauriern und Urzeitmenschen) auf, die von der modernen Welt abgeschnitten ist: „The Lost World“ erwies sich enorm einflussreich und wurde schon 13 Jahre später von einem Trickspezialisten verfilmt. Schon 1913 ließ Doyle eine Fortsetzung unter dem Titel „The Poison Belt“ (dt. als Im Giftstrom, 1924) folgen.

Hinweis: Jede einzelne SHERLOCK-HOLMES-Erzählung ist auf der englischen Wikipedia gewürdigt worden. Ein Blick lohnt sich: http://en.wikipedia.org/wiki/The_Adventure_of_the_Engineer%27s_Thumb. Alle Originaltexte finden sich hier, zuweilen illustriert: http://www.artintheblood.com/text/alphabetical.htm.

Marc Gruppe ist der Autor, Produzent und Regisseur der erfolgreichen Hörspielreihe GRUSELKABINETT, die von Titania Medien produziert und von Lübbe Audio vertrieben wird.

1: Im Schatten des Rippers
2: Spuk im Pfarrhaus
3: Das entwendete Fallbeil
4: Der Engel von Hampstead
5: Die Affenfrau
6: Spurlos verschwunden
7: Der Smaragd des Todes
8: Walpurgisnacht
9: Die Elfen von Cottingley
10: Der Vampir von Sussex / Das gefleckte Band / Der Fall Milverton / Der Teufelsfuß (Neuausgabe)
11: Das Zeichen der Vier (4/2014, Neuausgabe)
12: Ein Skandal in Böhmen (4/2014)
13: Der Bund der Rotschöpfe (5/14)
14: Eine Frage der Identität (9/14)
15: Das Rätsel von Boscombe Valley (10/14)
16: Der blaue Karfunkel
17: Die fünf Orangenkerne
18: Der Mann mit der entstellten Lippe
19: Der Daumen des Ingenieurs

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen

Joachim Tennstedt: Sherlock Holmes
Detlef Bierstedt: Dr. John Watson
Janina Sachau: Mary Marston
Regina Lemnitz: Mrs. Hudson
Victor Hatherley: Patrick Bach
Lysander Stark: Lutz Mackensy
Elise: Arianne Borbach
Mr. Ferguson: Andreas Mannkopff
Inspektor Abberline: Christian Stark
Stationsvorsteher: Peter Reinhardt
Kutscher: Hasso Zorn

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden in den Planet Earth Studios und Titania Studios statt. Alle Illustrationen – im Booklet, auf der CD – trugen Ertugrul Edirne und Firuz Askin bei. Auf dem Titelbild ist deutlich der schwer gefährdete Daumen des Ingenieurs zu sehen.

Handlung

An Dr. Watsons Wohnungstür klopft es. Ein Schaffner der Eisenbahn vom nahen Paddington-Bahnhof bringt einen jungen Mann zur Behandlung. Der Ingenieur Victor Hatherley hat eine verwundete Hand: Der Daumen wurde abgetrennt. Rechtzeitig ist es ihm gelungen, die Blutung zu stoppen. Doch was der Schaffner einen „Unfall“ nennt, bezeichnet Hatherley als Mordanschlag. Das ist natürlich ein Fall für Sherlock Holmes.

Hatherley berichtet Holmes und Watson, dass er mutterseelenallein auf diesem Planeten lebt und sich sein Brot mit Beratungsarbeiten und dergleichen verdient. Eines Tages kam ein Mann in sein Büro in der Victoria Street und tat sehr geheimnisvoll. Er stellte sich als Oberst Lysander Stark vor: Hatherley könne 50 Pfund in einer Nacht verdienen, sofern er Diskretion bewahre und kommende Nacht nach Iford in Berkshire hinauskomme. Dort solle er eine hydraulische Presse untersuchen. Nach etwas Hinundher willigte Hatherley ein. Die Sache kam ihm seltsam vor, aber er brauchte das Geld.

Mit verbundenen Augen wurde Hatherley ab Iford an die zwölf Meilen mit einem geschlossenen Pferdekarren übers Land gefahren, bis sie an einem Haus ankamen, wo eine junge Frau ihnen mit einer Lampe leuchtete. Kaum war Stark kurz weg, warnte die junge Frau Hatherley eindringlich, so schnell wie möglich zu verschwinden, denn sein Leben sei in Gefahr. Zu spät! Schon kam Mr Fergusons, Stark Kompagnon, ins Zimmer und führte Hatherley zur hydraulischen Presse, die so groß war, dass man hineingehen kann. Man befand sich dann zwischen Boden, Presskolben und dünnen hölzernen Seitenwände.

Hatherley, der Mann vom Fach, findet den Schaden natürlich sofort: ein verfaulter Dichtungsring. Und wegen dieser Lappalie hat man ihn geholt? Deshalb stellt er ein paar neugierige Fragen, die gar nicht gut ankommen. Die zwei Gentlemen Stark und Ferguson verschließen die Tür zur Presse und setzen die Maschine in Gang! Hatherley soll zerquetscht werden. Es ist offensichtlich ein Anschlag auf sein Leben.

Nur unter Verlust seines Daumen, den ihm Stark abhackte, gelang es ihm, der Todesfalle zu entkommen. Hätte die junge Frau ihm nicht das Leben gerettet, könnte er jetzt nicht Sherlock Holmes um Hilfe bitten. Wer um Himmels willen waren diese Leute und was trieben sie nur im schönen England?

Mein Eindruck

Hier spielt der Autor mit den Tücken falscher Wahrnehmung und Schlussfolgerung. Holmes hat natürlich den richtigen Riecher und durchschaut, worum es im Grunde geht. Bemerkenswert ist an den Verbrechern, dass es sich wieder einmal um Ausländer handelt, wie schon in „Der Mazarin-Stein“ und „London im Nebel“.

Der Technik-Laie wundert sich natürlich, dass es eine hydraulische Presse geben kann bzw. konnte (vor über 100 Jahren), in die ein Mann hineinspazieren kann, der dort eingeschlossen wird. Aber es wird auch gesagt, dass es nur zwei solche Riesenmaschinen gegeben habe – falls das nicht eine Falschinformation ist, die Stark Hatherley gab, um ihn irrezuführen. Stark ist auf geradezu paranoide Weise auf Verschwiegenheit bedacht.

Ein weiteres Rätsel umgibt den genauen Standort des Anwesens, in dem sich die mysteriöse Presse befindet. Holmes weist Hatherley darauf hin, dass seine Distanzangabe von zwölf Meilen nicht stimmen kann, denn, wie er selbst beobachtete, war das Pferd noch völlig frisch, und wie hätte das sein können, wenn es bereits sechs Meilen auf dem Weg zwischen Anwesen und dem Bahnhof Iford zurückgelegt hatte? Nein, das Haus steht wahrscheinlich direkt in Iford selbst oder in unmittelbarer Nachbarschaft.

Hatherley, Watson und Inspektor Abberline sind von den Socken. Darauf hätten sie auch selbst kommen können! Und so ist es: Als sie sich Iford nähern, sehen sie bereits ein großes Feuer lodern – die Verbrecher haben ihre Spuren verwischt. Nur die Feuerwehr findet noch ein verkohlten abgetrennten Daumen…

Die Geschichte besteht vor allem aus Hatherleys spannend inszenierter Irrfahrt nach Iford und ins Haus der Verbrecher. Holmes‘ Kombinationsgabe wird daher kaum gefordert. Die Verbrecher sind längst über alle Berge. Aber immerhin erfahren wir zum Schluss, dass es sich um eine Bande von Falschmünzern handelt, die billiges Amalgam für echtes Silber ausgaben und damit ihren Reibach machten. Im Hörspiel ist übrigens an keiner Stelle die Rede davon, dass es sich um Ausländer handle.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Dr. Watson nimmt die Stelle des zweifelnden gesunden Menschenverstandes gegenüber Holmes ein, welcher ein getriebener Junkie der Vernunftarbeit zu sein scheint. Watson ist der Gemütsmensch, ein Jedermann mit dem Herz auf dem rechten Fleck.

Sherlock

Es gibt mehrere Hauptfiguren, die auch stimmlich herausragen. Am besten gefällt mir Joachim Tennstedt als Sherlock, denn was er in diese Figur hineinlegt, ist sehr sympathisch und humorvoll – so als würde ein strahlender John Malkovich völlig entspannt aufspielen (liegt’s am Koks?). Holmes‘ einziger Fehler ist seine Ablehnung des weiblichen Geschlechts oder vielmehr des Umgangs mit dessen Vertretern. Das soll aber weniger an latenter Homosexualität liegen, als vielmehr an seiner Abneigung gegen jede Art von emotionaler Sentimentalität.

Aber Holmes ist auch ein ausgezeichneter Schauspieler und engagierter Boxer. Ab und zu treibt er sich als aktiver Detektiv in Londons Sauwetter herum und kehrt völlig ausgehungert ins Hauptquartier zurück. Dann darf Mrs. Hudson, die auch hier moralisches Zentrum auftritt, ihm Essen kredenzen. Mampfend nuschelt Tennstedt, was er als Holmes unternommen hat. Danach steckt er sich vernehmlich ein Pfeifchen an und spricht dem kräftigen Tee zu, den er mit seinem Freund teilt.

Watson

Dr. John Watson, 36, ist das genaue Gegenteil seines Freundes: jovial, höflich, frauenfreundlich und durchweg emotional, außerdem glücklich verheiratet. Leider sind seine logischen Schlüsse von dementsprechend unzulänglicher Qualität. Das war zu erwarten. Seine wachsende Liebe gilt seiner Frau Mary Morstan, die selbst ein patentes Frauenzimmer zu sein scheint. Sie eröffnet das Hörspiel, indem sie Watson, der gerade beim Rasieren ist, einen neuen Patienten ankündigt – einen Mann ohne Daumen…

Hatherley & Co.

Patrick Bach hat eine große Rolle bekommen, um Hatherley zu spielen. Er machte einen einwandfreien Eindruck: nicht zu ahnungslos, aber auch nicht zu forsch und autoritär. Diese autoritäre Härte ist Lutz Mackensy wie auf den Leib geschneidert, denn er spricht den paranoiden Verbrecher Lysander Stark mit glaubwürdiger Härte.

Die Musik

Das Intro, eine Art flott-dezente Teemusik, bildet den heiter-beschwingten Auftakt des Hörspiels und deutet die häusliche Idylle des Heims von Dr. Watson an. Von einem Score im klassischen Sinn kann keine Rede mehr sein. Hintergrundmusik dient nur dazu, eine düstere oder angespannte Stimmung zu erzeugen, und zwar nur dort, wo sie gebraucht wird.

Die Geräusche

Eine schier unglaubliche Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer. Papierrascheln, klappernde Teetassen, knisterndes Kaminfeuer, das Rumpeln des Zuges, das Pfeifen der Lok, Kutschen & Pferde – all diese Samples setzt die Tonregie zur Genüge ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen zu vermitteln.

In der dramatischen Szene in der Presse wird das hämische Lachen der Verbrecher mit der Verzweiflung Hatherleys gegenübergestellt, und die Szene, in der bereits knarrendes Metall das Herunterfahren der Presse signalisiert, mündet in ein lautes Krachen, als er die Holzvertäfelung eintritt – der Weg in die Freiheit, zurück ins Leben.

Das Booklet

Im Booklet sind die Titel des GRUSELKABINETTS verzeichnet sowie Werbung für den verstorbenen Illustrator Firuz Askin zu finden. Die letzte Seite zählt sämtliche Mitwirkenden auf.

Nr. 100: Lovecraft: Träume im Hexenhaus
Nr. 101: M.R. James: Verlorene Herzen

Unterm Strich

Insgesamt ist es eine recht spannende, weil über weite Strecken rätselhafte Holmes-Episode, und zwei lange Rückblenden machen den Großteil der Handlung aus. Aber detektivische Hörer mit Scharfsinn werden den Braten schon frühzeitig riechen und sich fragen, was denn die Verbrecher, die Hatherley den Daumen raubten, eigentlich im Schilde führten. Die Auflösung dieses Rätsels folgt recht spät, so wie es sich gehört. Somit ist auch der Spannungsbogen, der schon ganz am Anfang gebaut wird, ganz schön lang.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen.

Die Sprecherriege für diese neue Reihe ist höchst kompetent und renommiert zu nennen, handelt es sich doch um die deutschen Stimmen von Hollywoodstars wie John Malkovich (Tennstedt) und George Clooney (Bierstedt). Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für spannende Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars Clooney und Malkovich vermitteln das richtige Kino-Feeling.

Audio-CD: ca. über 46 Minuten Spieldauer
Info: The thumb of the engineer, 1892
ISBN 978-3-7857-5122-0

www.titania-medien.de

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