Am Anfang stand eine alt-orientalische Geschichte, von der wohl viele schon einmal gehört haben, nämlich die von Jakob und Esau. Die beiden waren Zwillinge, doch erblickte Esau als erster das Licht der Welt und durfte so als Erstgeborener gelten. Wie es in traditionellen Gesellschaften üblich ist, hatte er damit Anspruch darauf, vor dem jüngeren Jakob bevorzugt zu werden. Doch Gott liebte Jakob und hasste Esau. Esau wurde sein Erstgeburtsrecht am Ende für ein Linsengericht abgelistet und durch eine Täuschung segnete der blinde Isaak Jakob, den er für Esau hielt. Dumm gelaufen für Esau. Wie aber konnte es sein, dass Gott ihn hasste? Warum hasste er ihn? Der wirkmächtigste der Apostel, Paulus, der dem Christentum ganz wesentlich sein Gepräge gab, hat im Brief an die Römer ausdrücklich klargestellt, dass Jakob nicht aufgrund etwaiger Vorzüge von Gott geliebt wurde, genauso wenig wie der Herr Esau nicht verwarf, weil dieser etwa mit einem besonderen Makel behaftet gewesen wäre.
Der Mensch mag tun, was er will, die Gnade Gottes kann er sich nicht verdienen. Über dreihundert Jahre später stellte der gewaltigste der spätantiken Kirchenlehrer, Augustinus von Hippo, erneut Betrachtungen über den Fall Esau an. Wie konnte Gott ihn hassen, als er noch gar nicht geboren war? War dies nicht eine grobe Ungerechtigkeit? Augustinus verhandelte das Problem innerhalb eines Korpus von Schriften, die den Namen Verschiedene Probleme, an Simplician tragen. Der greise Simplician, den die Jakobsgeschichte tief beunruhigte, erhoffte von dem Kirchenlehrer Aufschluss über die als dunkel empfundenen Worte, die Paulus darüber verloren hatte. Augustinus machte sich ans Werk. Heraus kam eine Schrift, die nicht nur einen radikalen Bruch mit allem bedeutete, was Augustinus früher selbst gelehrt hatte, sondern nachgerade einen Schlussstrich unter das Bildungskonzept der Antike setzte. Kurt Flasch hat verdienstvollerweise diesen Text in kommentierter Form, der er den Titel Logik des Schreckens gab, dem deutschen Lesepublikum wieder zugänglich gemacht. Ich möchte das Buch im Folgenden vorstellen.
Der Inhalt
Der sehr informativen Einführung des Herausgebers Kurt Flasch folgt zunächst die einschlägige Stelle aus des Apostels Paulus Römerbrief, in der er das Problem um Jakob und Esau verhandelt. Anschließend kann der Leser sich auf 93 Seiten (man beachte, daß der Text hier doppelsprachig, nämlich lateinisch und deutsch, wiedergegeben wird, es sind also eigentlich erheblich weniger) mit der Position des Augustinus vertraut machen. Daran schließen dann noch eine 58 Seiten starke Betrachtung unter dem Titel „Streitfragen“, Hinweise auf Texte und Literatur sowie ein Nachwort an. Soweit zur Gliederung. Warum hasste Gott Esau und warum liebte er Jakob? Augustinus legt großen Wert darauf, im Anschluss an Paulus klarzustellen, dass dies keinesfalls eine Frage des Verdienstes war. Wie sagte doch Paulus? „So kommt es also nicht auf den Wollenden oder Laufenden an, sondern auf den sich erbarmenden Gott.“ Nachdrücklich bemüht sich Augustinus darum nachzuweisen, dass der Unterschied in beiden Behandlungungen nicht mit einer unterschiedlichen Disposition beider erklärt werden kann. Beide kamen aus dem Samen eines Mannes, beide wurden zur gleichen Zeit geboren, der eine nur unwesentlich später als der andere, so dass die Scharlatane und Horoskopersteller schweigen mögen. Wenn gleiche Ursachen gleiche Wirkungen zeitigen, so sollte man erwarten, dass beide von Gott gleich behandelt werden. Doch Gott wollte es anders. Man darf aber nicht glauben, dass des einen Glück und des anderen Leid aus ihrer Natur gefolgert werden dürfe. Aus der Beschaffenheit der Brüder ihr späteres Schicksal abzuleiten, bedeutete ja schlussendlich, Wohl und Wehe der beiden ihnen selbst zuzuschreiben. Es ist aber falsch, das unterschiedliche Schicksal der Zwillinge etwa mit Gottes Vorherwissen erklären zu wollen. Dieser Lesart zufolge sah Gott die Güte Jakobs und die Schlechtigkeit Esaus voraus und eben in diesem Vorauswissen gründete sein Ratschluss. Der Segen fiele dann auf Jakob, weil er es verdiente. Doch wir Menschen verdienen nur eines: den Tod.
Da wir alle von Adam abstammen, der sündigte, sind wir auch alle schuldig. Wir alle sind Sünder und die Strafe trifft uns zu Recht. Alles was Gott schuf, ist gut, gewiss. Oder war es vielmehr, denn die Sünde verdarb uns und so auch Esau. Gott hasst nicht Esau als Mensch, also nicht einfach, indem er kreatürlich ist, denn Gott hasst nicht seine Schöpfung. Er hasst in Esau die Sünde. Dieser hat also keinerlei Anlass, sich zu beklagen. Indem sich Gottes Zorn über ihn ergießt, wird ihm sein Recht. Warum aber wird Jakob verschont? Ist dies nicht ungerecht? Nein, so Augustinus, es ist Gnade. Von Rechts wegen hätte Jakob genauso verworfen werden müssen wie Esau, doch Gott erbarmt sich seiner. Die Gnade aber hebt das Recht nicht auf, sie schafft keinen Präzedenzfall, auf den ein anderer Verurteilter sich berufen dürfte. Es ist also alles in Ordnung.
Mein Eindruck
Peter Sloterdjik hat in der Einleitung zu seinem Buch Die schrecklichen Kinder der Neuzeit Augustinus als den „Hysteriker von Hippo“ bezeichnet. In der Tat, Augustinus dachte alles gleichsam schrill, er war von eruptivem, heftigem Temperament, er liebte das Extreme. Eine Zeit lang war er Manichäer gewesen, bevor er sich vollends dem Christentum in die Arme warf, und Spuren seines Manichäismus schlagen in seiner Gnadenlehre wieder durch. Die Gnadenlehre von 397 war ein radikaler Bruch mit allem, was Augustinus vorher gelehrt hatte. Und sie war mehr als das. Wenn wir dem Herausgeber Kurt Flasch folgen wollen, dürfen wir im Anschluss an ihn vielleicht sogar feststellen, dass mit dieser Schrift die Antike zu Ende ist. Ein Ideal der Antike war das des Menschen, der durch Kontrolle seiner Affekte und durch Hinwendung zu etwas Höherem selbstbestimmt zur Weisheit gelangt. Damit ist es nun vorbei. Es ist das gesamte Konzept der Selbstbestimmung, das von Augustinus zur Seite gewischt wird. Im Unterschied zu seiner eigenen früheren Schrift De servo arbitrio (Über den freien Willen) wird nun auch die letzte Entscheidung dem Menschen genommen und Gott gegeben. Der Mensch, so hatte der Nordafrikaner in De servo arbitrio noch gelehrt, ist wenigstens insofern frei, als es an ihm ist, zu glauben und damit den ersten Schritt zu seinem Heil zu tun. In radikaler Anlehnung an Paulus´ rhetorische Frage „Denn was hast du, was du nicht empfangen hast?“ wird jetzt betont, auch der Glaube komme zunächst von Gott.
Der Mensch, so will es Paulus und so will es Augustinus, soll sich nicht rühmen, alles, was er hat, hat er von Gott. Augustinus denkt Gott platonisierend als unveränderlich. Sein Platonismus schießt hier mit seinem Paulus-Verständnis zusammen. Wenn die Werke der Menschen Einfluß auf Gottes Wahl hätten, unterläge er einer Art Wechselwirkung mit seinen Geschöpfen, eine Vorstellung, die Augustinus offensichtlich fernhalten will. Natürlich taucht hier ein Problem auf, das die katholische Theologie in weiten Teilen nicht nur in den Augen von Protestanten schwer belastet. Es kann der Gott der Philosophen nicht der Gott der Bibel sein. Augustinus bemüht eine philosophische Argumentationsweise. Dabei muß er jedoch Begriffe und Konzepte verwenden, die, eingespannt in seine theologischen Absichten, ihren wohlbestimmten Sinn verlieren. Wir mögen vielleicht noch ausknobeln können, wie eine Wahl stattfinden kann, die nicht in der Zeit stattfindet. Doch spätestens, wenn wir uns dem Begriff der Gerechtigkeit zuwenden, müssen wir urteilen, daß des Kirchenlehrers Auffassung selbiger ausgesprochen bizarr ausfällt. Dass Gott seine Gnade einer kleinen Schar von Auserwählten vorbehält, während der Rest des „Sündenklumpens“, der die Menschheit in den Augen des Nordafrikaners ist, zu ewiger Verdammnis verurteilt wird, hat mit Gerechtigkeit in meinen Augen wenig zu tun. Augustinus bemüht sich, unser Alltagsverständnis von Gerechtigkeit irgendwie mit seiner düsteren Sichtweise zusammenzuzwingen, doch im Grunde genommen bedeuten seine Hinweise auf Gottes unerforschlichen Ratschluss, dass er den Boden einer rational nachvollziehbaren Argumentation verlassen hat.
Wir sollten auch nicht annehmen, dass Augustinus´ Lesart des Paulus die einzig richtige sei. Paulus dürfte mit seiner Exegese der Geschichte von Jakob und Esau eher die Absicht gehabt haben, zu verdeutlichen, warum Gott nicht länger die Juden als sein Volk betrachte, sein Segen vielmehr nun allen gelte, sofern sie sich bekehren ließen – was eben nicht nur Judenchristen, sondern auch ehemalige Heiden einschloss. Augustins Darstellung des Römerbriefes ist eine Interpretation, und zwar eine, die verkündete, was in dieser Radikalität noch nie gesagt worden war. Hat Augustinus vielleicht die christliche Botschaft zu Ende gedacht? Bereits in der jüdischen Religion gibt es die Vorstellung der zehn Gerechten, die nicht wissen, daß sie es sind – eben weil sie sonst selbstgerecht wären. Ich persönlich bekenne, insofern vom Christentum geprägt worden zu sein, als mir Menschen, die sich noch nie selbst etwas vorzuwerfen hatten, immer ein leises Grauen (manchmal auch eine Art Ekel) einflößen.
Augustinus mag der Meinung gewesen sein, dass seine Gegner, etwa Pelagius oder Julianus von Eclanum, die die Sünde als individuelle Verfehlung, d.h. stets konkret dachten, im Grunde genommen behaupten müssten, der Mensch könne sich durch freien Willen ganz der Sünde entledigen. Das aber ist für den Kirchenlehrer vollkommen unmöglich. Wem wollen wir Recht geben? Doch wir müssen uns, selbst wenn wir den Anhängern des freien Willens in Sachen Sünde nicht folgen wollen, nicht bedingungslos auf die Seite des Augustinus stellen. Dass wir einen selbstgerechten Menschen im Allgemeinen ablehnen, bedeutet nicht die Zustimmung zu der These, die Mehrheit aller Menschen sei der Exekution zu überantworten. Augustinus behauptet ausdrücklich, die Seligen, die in den Himmel aufgenommen würden, würden von da aus der Qual der Verdammten zusehen.
Es scheint mir nicht übertrieben zu sagen, hier kehrten ih theologischem Gewand die römischen Zirkusspiele wieder. Es war eine Theologie des Schreckens, die der späte Augustinus vertrat. Die Kirche hat sich mit diesem Erbe denn auch schwer getan und es in Bezug auf des Bischofs Gnadenlehre bald so genau nicht mehr wissen wollen. Ein mittelalterlicher Mönch, der Augustinus sehr genau las und mit Nachdruck behauptete, Gott wolle nicht nur die Seligkeit der Auserwählten, sondern auch die Höllenqual der Verdammten, wurde von der Kirche lebenslänglich eingekerkert. Offensichtlich bekam die Kirche es angesichts dieses Teils von Augustinus´ Werk streckenweise selbst mit der Angst zu tun.
Über den Autor
Augustinus von Hippo, auch: Augustinus von Thagaste, Augustin oder (wohl nicht authentisch) Aurelius Augustinus (* 13. November 354 in Tagaste, auch: Thagaste, in Numidien, heute Souk Ahras in Algerien; † 28. August 430 in Hippo Regius in Numidien, heute Annaba in Algerien) war neben Hieronymus, Ambrosius von Mailand und Papst Gregor dem Großen einer der vier lateinischen Kirchenlehrer der Spätantike und ein wichtiger Philosoph an der Schwelle zwischen Antike und Frühmittelalter. Augustinus war zunächst Rhetor in Thagaste, Karthago, Rom und Mailand. Unter dem Einfluss der Predigten des Bischofs Ambrosius von Mailand ließ er sich 387 taufen; von 395 bis zu seinem Tod 430 war er Bischof von Hippo Regius. (Quelle: Wikipedia)
Über den Herausgeber
Kurt Flasch, geb. am 12. März 1930 in Mainz, ist ein bedeutender Kenner spätaniker und mittelalterlicher Philosophie. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen für sein Werk, so den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und den Kuno-Fischer-Preis der Universität Heidelberg für seine Cusanus-Biographie. Der ehedem gläubige Autor bekennt sich mittlerweile zum Atheismus.
Mein Fazit
Wir dürfen die christliche Lehre nicht mit der Elle des Werkes von Augustinus messen. Er war ein Interpret der christlichen Lehre, und zwar ein radikaler. Seine Gnadenlehre ist ein starkes Stück. Nach Beendigung der Lektüre mag sich der Leser, wie es Kurt Flasch eingangs des Kapitels „Streitfragen“ formuliert, verwundert an die Stirn fassen und fragen Was habe ich da gelesen? Trotzdem rate ich zum Experiment und verleihe vier Sterne.
Hardcover: 304 Seiten
Originaltitel: Logik des Schreckens
ISBN-13: 3-87162-024-6
Dieterich´sche Verlagsbuchhandlung
Der Autor vergibt: