Alle Beiträge von Christopher Bunte

Barker, Clive / Hernandez, Gabriel – Dieb der Zeit, Der

Wer kennt Alice im Wunderland nicht? Kleines Kind stolpert in ein Traumreich und erlebt Abenteuer. Seit Lewis Carroll wurde dieses Thema vielfach kopiert und variiert. Der kürzlich bei |Ehapa| erschienene Band „Der Dieb der Zeit“ ist im Prinzip darauf zurückzuführen. Die dazugehörige Pressemitteilung möchte der Geschichte zwar gerne nachsagen, dass sie das Fantasy-Genre revolutioniere, aber das ist eindeutig zu hoch gegriffen. Dennoch: „Der Dieb der Zeit“ ist keine langweilige Kopie, sondern eine interessante Variation eines altbekannten Themas. Und irgendwie hat schließlich alles seine Vorgänger.

Anstelle von Alice begegnet dem Leser der zehnjährige Harvey Swick. Er steht nicht vor einem Kaninchenbau, sondern vor einer Mauer. Den Weg hierher hat ihm der ominöse Rictus gezeigt, ein hagerer Kerl mit Zwicker, Taschenuhr und Zylinder. Er sagt, dass hinter der Mauer ein Paradies für Kinder läge, in dem alle Wünsche wahr würden und jeder Tag ein Fest sei. Als Ausweg aus seinem langweiligen Leben kommt Harvey diese Gelegenheit sehr recht.

Harvey macht einen Schritt nach vorne, dringt durch die Mauer und findet sich in einem Traumreich wieder. Was er sieht, entspringt allerdings nicht seiner eigenen Phantasie, sondern der eines anderen. Mister Hood ist der Erbauer und hat hier ein Ferienhaus allererster Güte errichtet. Nachdem Harvey die beiden Kinder Lulu und Wendell und die Köchin Mrs. Griffin kennen gelernt hat, merkt er schnell, dass mit dem Traumreich etwas nicht in Ordnung ist. Was bei Alice die Spiegelung ihres Innenlebens und Unterbewusstseins war, wird bei „Der Dieb der Zeit“ zu einem Instrument des Bösen. Alles ist Blendwerk. Mister Hood und sein Monster-Quartett Rictus, Jive, Marr und Carna verfolgen finstere Pläne, denen seit Jahrhunderten ahnungslose Kinder zum Opfer fallen. Harvey will daran etwas ändern.

Vielleicht liegt hier der größte Schwachpunkt der Geschichte. Was als wunderbare reflexive Spiegelung beginnt, endet schließlich in einem schnöden Kampf Gut gegen Böse. Harvey streitet gegen Hood, und wir ahnen schon, wer gewinnen wird. Nicht, dass das keinen Spaß machen würde, aber ein wenig flach kommt es einem trotzdem vor. Ein weiterer Schwachpunkt liegt in der Feinarbeit bei der Gestaltung des Plots. Die Geschichte läuft rund, aber vielleicht ein wenig zu glatt. Liebevolle Einzelheiten wie die blaue Katze oder Carnas Reißzähne gibt es zwar, doch sie werden nicht als Träger der Handlung verwendet. Die Details sind austauschbar, nur Kolorit, kein essenzieller Bestandteil der Geschichte.

Die Folge ist eine gewisse Distanz zwischen Leser und Geschichte. Das ist schade und hätte nicht sein müssen, zumal die grafische Umsetzung von Gabriel Hernandez so exzellent ist, dass ein entsprechender Inhalt dazu gepasst hätte. So hat die Geschichte von Clive Barker ihre Stärken und Schwächen. Lesenswert, aber nicht unbedingt empfehlenswert.

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Bilal, Enki – Bilal – Rendezvous in Paris

|Rote Fliegen, Fußball und Gehirnimplantate – nur ein paar Details aus »Rendezvous in Paris«, dem neuen Werk von Enki Bilal. Optisch wie inhaltlich ist der Band ein schwerer Brocken. Aber Unterhaltung auf hohem intellektuellen Niveau ist man von dem französischen Altmeister ja gewohnt. Mögen muss man das nicht.|

Mit »Rendezvous in Paris« erscheint der dritte Band von Enki Bilals phantastischer Science-Fiction-Trilogie, die 1998 mit »Der Schlaf des Monsters« ihren Anfang nahm. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die drei Waisen Nike Hatzfield, Leyla Mirkovic und Amir Fazlagic. Alle drei wurden zur Zeit des Bürgerkriegs in Sarajewo geboren. Seitdem verbindet sie auf geheimnisvolle Weise ein gemeinsames Schicksal.

In großen Panels und kurzen Episoden erzählt Bilal die Geschichte der drei Waisen weiter. Wir schreiben das Jahr 2027. Nike Hatzfield existiert inzwischen zweimal. Einmal ist er wirklich, einmal ist er das Replikat des wahnsinnigen Künstlers Optus Warhole. Eine Existenz von ihm liegt auf dem Mars, eine andere befindet sich auf der Erde. Bilals erzählerischer Fokus liegt auf dem irdischen Nike Hatzfield, wahrscheinlich das künstliche Duplikat. Er steht in den Diensten des wahnsinnigen Künstlers Holeraw, der wiederum ein jüngeres Replikat von Optus Warhole selbst ist. Verwirrt? Es geht noch weiter.

Leyla Mirkovic wird entführt und findet sich in der Gewalt der beiden Wissenschaftler Martha Saparadorn und Jeffrey Koulikov wieder. Gemeinsam mit Leyla wollen sie das Geheimnis der Adler-Stätte lüften, einer merkwürdigen Ruinenanlage, die schon im zweiten Band [»32. Dezember« 2313 eine wichtige Rolle spielte. Die Oberhäupter der Weltreligionen sind zum Jahreswechsel spurlos in diesen Ruinen verschwunden. Ein kosmisches Spektakel? Oder bloß eine verrückte Idee von Optus Warhole? Man war sich nicht sicher. Jetzt gibt es Hinweise auf den Verbleib der Vermissten, nämlich Leylas Träume. Saparadorn und Koulikov eröffnen ihr, dass sie ein Gehirnimplantat besitzt, mit dem sie Kamerasequenzen empfangen kann. Ihre Träume sind in letzter Zeit sehr greifbar, das war ihr auch schon aufgefallen. Sie träumte vom Mars und von ihrem alten Freund Nike Hatzfield. Eine Sonde überträgt Bilder von ihm direkt in ihre Träume. Im Hintergrund: Die beinernen Überresten der vermissten Religionsoberhäupter. Die Spur führt also zum roten Planeten.

Verwirrt? Es geht noch weiter. Bilals Vorrat an extravaganten Ideen geht offensichtlich nicht so schnell zur Neige. Bleibt noch Amir Fazlagic. Aus ihm wurde der dritte Torwart einer internationalen Fußballmannschaft, die auf einem umgerüsteten Flugzeugträger lebt und trainiert. Wo früher das Rollfeld war, präsentiert sich nun der Rasenplatz. Manager der Mannschaft ist der Unternehmer Branko. Er hat den Bürgerkrieg in Jugoslawien miterlebt und weiß von Nikes, Leylas und Amirs gemeinsamer Vergangenheit. So weit ein paar kurze Worte zum Inhalt von »Rendevouz in Paris«. Amirs mutierte Frau Sascha, der Todesrülpser über Bangkok oder die roten Spionfliegen des toten Warhole bleiben dabei noch unerwähnt. Aber, wie gesagt, extravagante Ideen gehen Bilal nicht so schnell aus.

Für eingefleischte Fans von Enki Bilal ist »Rendevouz in Paris« sicherlich ein Muss. Immerhin zwei Jahre musste man hierzulande auf den dritten Teil der Trilogie warten. Allerdings ist damit noch nicht Schluss, die Reihe geht weiter. Ein vierter Band ist angekündigt. Wann er erscheint, steht in den Sternen. So bleibt das Ende von »Rendezvous in Paris« offen, unabgeschlossener noch als »32. Dezember«. Eigentlich ist nichts geklärt. Wie Verlorene geistern die drei Hauptfiguren durch die öde und traurige Welt des Jahres 2027 auf der Suche nach – was eigentlich? Sie begegnen sich nicht, berühren sich nur irgendwie in weiter Ferne, da, wo alles diffus wird und man nichts mehr erkennt. Melancholie und Technik, ein kaltes und hartes Verständnis von Beziehungen und Kunst kreuzen sich und formen ein wirbelndes Episodenwirrwarr. Als Leser verliert man leicht den Überblick. Vielleicht bringen mehrmalige Lektüre und der vierte Band der Trilogie etwas Licht ins Dunkel. Nichtsdestotrotz wünscht man sich, Bilal würde es seinen Lesern ab und zu etwas leichter machen.

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Miller, Frank – Sin City 7 – Einmal Hölle und zurück

[„Sin City 2: Eine Braut, für die man mordet“ 1904
[„Sin City 3: Das große Sterben“ 1953

|Frank Millers Epos über den dunklen Großstadttraum »Sin City« geht in die letzte Runde. Überleben und Sterben liegen hier nah beieinander. »Einmal Hölle und zurück«, der siebte Band der Reihe, erschien im November 2006 bei Cross Cult, wie gewohnt in edler und robuster Aufmachung.|

Sicherlich, »Sin City« ist ein Meisterwerk des amerikanischen Comics. Der Hard-boiled-Siebenteiler von Frank Miller wird viel gelesen und viel gelobt. Die Themen sind hinlänglich bekannt: Gewalt, Sex, Kriminalität, Korruption und nochmals Gewalt. »Sin City« ist nicht bloß eine Stadt, sondern ein dunkler Kosmos. Zahllose verlorene Gestalten ringen hier um Macht und Geld, immer nahe am Abrund der menschlichen Seele. Es tobt der ewige Kampf zwischen böse und noch böser. Aber was bleibt übrig, wenn man das mythische Setting einmal außer Acht lässt, die Oberfläche durchstößt?

Die Handlung von »Einmal Hölle und zurück« ist recht simpel. Der Kriegsveteran Wallace lernt die Schauspielerin Esther kennen. Er zeigt ihr sein Appartement, danach gehen sie zusammen etwas trinken … Es dauert nicht lange und die beiden verlieben sich ineinander. Eingefleischte Sin-City-Leser wissen, dass Miller solche Sentimentalitäten gerne kurz hält. So überrascht es kaum, dass die Liebesgeschichte unmittelbar nach dem ersten Kuss auch schon wieder zu Ende ist. Wallace spürt einen Schmerz im Nacken und greift verwundert nach hinten. Er zieht einen Narkosepfeil heraus, bevor er kraftlos auf dem Asphalt zusammenbricht. Ein Krankenwagen braust heran. Mit verschwommenem Blick nimmt Wallace wahr, wie ein fieser Doktor und dessen muskulöser Handlanger aussteigen. Die beiden finsteren Gestalten packen Esther, schleudern sie in das Auto und verschwinden in der Nacht. Wallace lassen sie einfach liegen, leblos, aber nicht tot. Ein großer Fehler, wie sich bald herausstellen wird. Denn so kurz die Begegnung mit Esther war, so stark sind auch Wallace‘ Gefühle für sie. Hilfesuchend wendet er sich an die Polizei, um seine Geliebte wiederzufinden. Dass er jedoch von den Gesetzeshütern nicht viel erwarten kann, hatte er beinahe schon geahnt. Also muss er die Sache selbst in die Hand nehmen. Je weiter sich Wallace bei seinen Nachforschungen die Nahrungskette hocharbeitet, desto mehr stinkt die ganze Sache. Eine einfache Entführung ist das nicht. Eine Verschwörung ist im Gange, in die Polizei, Ärzte und einige verdammt attraktive Killerinnen verwickelt sind. Nur mit Hilfe alter Militärfreunde gelingt es Wallace, etwas Licht in diese finstere Angelegenheit zu bringen. Wenn er nur diese rosafarbenen Engelchen aus seinem Kopf kriegen könnte …

Am Anfang der Geschichte ist nicht ganz leicht zu erkennen, ob sich Millers Augenmerk auf Wallace oder Esther konzentriert. Spätestens nach der Entführung jedoch ist klar, wer bei »Einmal Hölle und zurück« im Mittelpunkt steht. Es ist Wallace, der Kriegsveteran, der kaum genug Geld hat, um seine Wohnung zu bezahlen. Die Zeiten, in denen es um Leben und Tod ging, glaubte er ein für allemal hinter sich gelassen zu haben. Bis er Esther kennen lernt. Ihrer Entführung folgt ein Faustkampf nach dem nächsten. Die Luft wird bleihaltig. Oberflächlich betrachtet ist Wallace einer von den Guten, wenn es sowas in »Sin City« überhaupt gibt. Er legt sich mit einem übermächtigen Feind an, widersteht den süßen Einflüsterungen formvollendeter Killerinnen und versaut sich’s nebenbei kräftig mit der Polizei. Verliebt und völlig selbstlos gibt er alles für Esther auf und zieht in einen Krieg. Oder?

Man kann die Geschichte auch anders lesen. Es ist ein bisschen merkwürdig, warum Wallace sich für eine Fremde so ins Zeug legt, die er nur einmal geküsst hat. Denn die Suche nach der Entführten bedeutet zugleich Abschied von ruhigeren Zeiten. Seit Wallace auf das Abstellgleis geschoben wurde, dämmert er so vor sich hin. Der Krieg ist vorbei, hinter sich gelassen hat er ihn aber nicht. Das Kämpfen liegt ihm noch im Blut. Er lebt in dürftigen Verhältnissen und arbeitet als Zeichner. Er fertigt Nacktzeichnungen an für vulgäre Verleger, um irgendwie über die Runden zu kommen. Dafür hasst er sich selbst. Sein Orden liegt in einer Schublade, bloß ein Stück Blech. Vielleicht nimmt er Drogen, um die Nutzlosigkeit seines Daseins zu vergessen. Als Esther entführt wird, bietet sich ein willkommener Ausweg aus seiner Frustration. Fast müsste Wallace dankbar für die Entführung sein. Mit der Frau oder großer Liebe hat das nicht viel zu tun. Endlich hat er wieder einen Grund zu kämpfen. Er sucht seinen persönlichen Krieg und findet ihn. Als Gegner stehen ihm ein finsterer Pharmakonzern sowie ein Colonel und dessen Killerbrigade gegenüber. Das Schlachtfeld ist eröffnet, es kann losgehen.

Wer scharfe Kurven und bissige Dialoge mag, ist bei »Einmal Hölle und zurück« genau richtig. Den Leser erwartet schnörkellose und knallharte Action, eine rasante Tour tief hinein ins Herz der Finsternis. Aber unter der Oberfläche der Handlung schlummert noch mehr als schnöde Schießereien und Kämpfe bis aufs Blut. Millers neuere Arbeiten lesen sich nicht nur deshalb so wunderbar, weil sie das Adrenalin auf Hochtouren bringen. Die ihnen anhaftende Faszination rührt von dem bewussten Umgang mit der dargestellten Gewalt her. Die stilisierte Brutalität macht es möglich, die Geschichte auch von einer anderen, kritischen Seite zu betrachten. Man könnte Wallace als einen Helden bezeichnen, sicherlich, das wäre einfach. Er könnte aber auch ein kriegssüchtiger Wahnsinniger sein, der bloß einen Anlass sucht, um mal wieder kräftig aufzuräumen. Nirgendwo spiegelt sich Millers Kunstfertigkeit besser wider als in dieser Ambivalenz. Vielleicht liegt hier auch das Geheimnis verborgen, durch das sich »Sin City« von zahllosen anderen Comics abhebt.

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Willingham, Bill / Buckingham, Mark – Fables 1 – Legenden im Exil

|Um »Fables« wurde im Vorfeld eine Menge Wind gemacht. Das Erscheinen der deutschen Erstausgabe führte in der Fangemeinde zu erleichtertem Aufatmen. Endlich! Es gibt wieder Vertigo/DC-Produkte. Seit die deutschen Lizenzen von Speed zu Panini gewechselt waren, rumorte es in Chats, Fanzines und Foren. Jetzt ist klar: Nicht nur die alten Serien werden wiederbelebt, sondern auch neue gestartet. Panini macht ernst.|

Das Interesse an |Vertigo| ist verständlicherweise groß. Das |DC|-Label richtet sich mit seinem Programm an erwachsene Leser und sucht neue Themen fernab des abgegriffenen Superhelden-Kosmos zu etablieren. Anspruchsvoll, aber nicht langweilig, könnte das Motto der |Vertigo|-Serien lauten. Da geben sich Thriller wie »100 Bullets«, Horror-Western wie »Preacher« oder Science-Fiction-Szenarios wie »Planetary« ein munteres Stelldichein. Mit »Fables« öffnet sich nun ein neues Türchen ins |Vertigo|-Universum.

Die Geschichte spielt in New York. Aufgeregt und außer Atem reißt Jack die Tür zum Büro von Bigby Wolf auf. Etwas Schreckliches ist geschehen. Rose Red wurde ermordet … Na ja, jedenfalls sieht es ganz so aus. Ihre Wohnung ist voller Blut, die Leiche verschwunden. Wolf lehnt sich zurück und zieht an einer Zigarette, während Jack vor seinem Schreibtisch fast zusammenbricht. Sieht ganz so aus, als würde ein neuer Fall auf ihn warten.

Sheriff Bigby Wolf ist eine der Hauptfiguren des ersten |Fables|-Bandes. Schnell gesellt sich eine zweite an seine Seite, Snow White, die Assistentin des Bürgermeisters. Sie ist eine entschlossene Karrierefrau, er ein unrasierter Underdog. In Teamarbeit versuchen die beiden gegensätzlichen Charaktere, das Verschwinden von Rose Red aufzuklären.

»Fables 1 – Legenden im Exil« ist eine solide Detektivgeschichte. Es geht um Macht und Geld, ein bisschen vielleicht auch um Liebe und Gewalt. Wer jetzt allerdings einen Thriller oder ein explosives Actionszenario erwartet, liegt falsch. Die Geschichte spielt vor einem phantastisch-urbanen Hintergrund. »Fables« ist Urban Fantasy, ein bunter Mix aus Märchen, Mythen und Fabelwesen, angesiedelt in einer Großstadt. Neben dem Bösen Wolf, Schneewitchen und Rosenrot sind noch der Froschkönig, die böse Hexe und viele andere Märchenfiguren mit von der Partie. Sie wurden aus ihrer europäischen Heimat vertrieben und leben nun unerkannt im New Yorker Exil, genannt Fabletown.

Die Idee ist nicht neu. Die Verschmelzung von phantastischen Elementen mit städtischem Alltag ist aufregend und populär. Serien wie »Sandman«, »Die Bücher der Magie« oder »Courtney Crumrin« zeugen bereits davon. »Fables« könnte also ein großer Wurf sein, schließlich hat die Serie einen Haufen |Eisner Awards| abgeräumt.

Leider ist der erste Band ein wenig enttäuschend. Autor Bill Willingham entwickelt auf der einen Seite eine saubere Kriminalhandlung, auf der anderen Seite einen sauberen Fantasy-Hintergrund. Die beiden Elemente finden jedoch nicht zueinander. Oder mit anderen Worten: Die Suche nach Rose Red würde auch prima ohne Fabelwesen und Märchen funktionieren. Sie ist irdisch und unphantastisch. Die auf dem Cover groß angekündigte Stadt der Märchen- und Sagenfiguren entpuppt sich als schnödes Bühnenbild für einen durchschnittlichen Kriminalplot.

Die Bildwelten von Lan Medina passen zum Inhalt. Im krassen Gegensatz zu den wundervollen Covern ist die Zeichenart im Inneren konservativ und glatt. Ruhige Puppengesichter und ruhige Panels bestimmen das Gesamtbild. Nur hin und wieder, in Rückblenden, hat sich Medina zu einer etwas gewagteren Seitenführung hinreißen lassen mit Splashpages und verschnörkelten Rahmen.

Trotz der Fantasy-Geschichte, die eigentlich gar keine ist, und trotz der langweiligen Bildwelten fällt ein wichtiges Detail positiv auf, nämlich die Charaktere. Sicher, irgendwie sind es für den Mainstream geeignete Stereotypen. Sie wirken jedoch ausgesprochen lebendig und grenzen sich klar voneinander ab. So tragen die Figuren den Leser über die solide Handlung und das märchenhafte Bühnenbild hinweg.

Zum Schluss gelingt es Bigby Wolf und Snow White herauszufinden, was mit Rose Red geschehen ist. Die Gemeinde von Fabletown kann aufatmen, der Fall ist gelöst. Der erste Band von »Fables« geht zu Ende, weitere werden folgen. Und das ist gut so. Denn Bill Willingham beherrscht das Grundspiel der Szenarios. Gut gearbeitet ist »Fables 1« ohne Zweifel. Aber zum Fliegen reicht es noch nicht. Denn ein wenig träumen möchte man schließlich, wozu sind Märchen sonst da? Vielleicht hat Willingham sich ja gerade erst warm gemacht.

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Busiek, Kurt (Autor) / Nord, Cary (Zeichner) – Conan 2 – Der Gott in der Kugel und andere Geschichten

Conan der Barbar ist eine Legende. Und er geht wieder in Serie. Seit kurzer Zeit verstricken Kurt Busiek und Cary Nord den wilden Cimmerier in neue Abenteuer. Nach dem fabelhaften [ersten Band 2840 kommt nun die Fortsetzung: »Der Gott in der Kugel«. Was Autor und Zeichner angefangen haben, entwickeln sie konsequent weiter. Zwar kein Höhenflug, dafür aber ein wasserdichtes Fantasy-Spektakel. Dämonen und Gemetzel inklusive, denn schließlich ist es Conan.

In den Dreißigerjahren erfand der Texaner Robert E. Howard die Figur Conan: Ein wilder Barbar aus dem Norden, der seine Heimat verlassen hat, um die Länder der Welt zu bereisen. Er stolpert von Abenteuer zu Abenteuer, und sein Schwert und seine Fäuste leisten ihm dabei gute Dienste. Conan ist seitdem zu einer Legende geworden. Klassische Fantasy-Literatur kann nicht mehr ohne ihn gedacht werden. In den letzten Jahren haben sich Comicautor Kurt Busiek und Zeichner Cary Nord an eine Neufassung des Helden gewagt. Im ersten Band »Die Tochter des Frostriesen« sahen die Leser eine frische und lebendige Neuinterpretation des Barbaren. Busieks und Nords großer Verdienst ist es, Conan den Cimmerier ins Heute transportiert zu haben, ohne ihn anstauben oder albern wirken zu lassen.

So hinreißend der erste Band war, so gespannt durfte man auf den zweiten sein. Es würde schwer werden, das Lesegefühl von »Die Tochter des Frostriesen« zu übertrumpfen, denn kaum etwas ist spannender als der gelungenen Neuentwicklung einer alten Figur beizuwohnen. Der nächste Schritt würde nicht einfach werden.

Der zweite Band setzt sich erneut aus mehreren, miteinander verflochtenen Haupt- und Nebenhandlungen zusammen. Will man die beiden wichtigsten Erzählstränge nennen, kommt man auf »Der Gott in der Kugel« und »Der Ibis und die Schlange«. Im ersten Teil reist Conan in die nemedische Stadt Numalia, um sich als Dieb zu versuchen. Dort leben viele reiche Händler, so auch der fettleibige Kallian Publico. Conan lässt es sich nicht nehmen, nachts in dessen Schatzhaus einzusteigen. Kaum hat er das fremde Gemäuer betreten, stolpert er jedoch über Kallians Leiche. Sie ist noch warm. Schnell sind Wachen zur Stelle, die Conan des Mordes bezichtigen.

Im zweiten Teil des neuen Conan-Bandes tritt der Barbar in die Dienste des Ibis-Priesters Kalanthes. Er begleitet ihn als Söldner auf seiner Reise in die Stadt Hanumar. Kalanthes will dort mit Hilfe uralter, namenloser Götter einen mächtigen, bösartigen Zauberstein vernichten. Thoth-Amon, der finstere Priester des Schlangengottes Set, hat jedoch etwas dagegen. Er hätte den Zauberstein gerne für sich. Mit allen Mitteln versucht er, die Vernichtung des Artefakts zu verhindern. Als sich die Ereignisse zuspitzen, muss Conan erkennen, dass auch er inzwischen in die Fehde der beiden Priester verwickelt ist.

Wer nun in dem zweiten Conan-Band zu viele textlastige Ränkespiele und Debatten vermutet, liegt falsch. Denn Conan bleibt Conan. Zwar ist er nicht ungeschickt oder dumm, aber Probleme löst er vorzugsweise auf eine Weise: Mit dem Schwert.

Obwohl die Handlungen in ihrer Wiedergabe oberflächlich erscheinen, sollte man sich nicht täuschen lassen. Den Geschichten von Busiek haftet eine beeindruckende Komplexität an, die Howards Grundlage nur gerecht wird. Denn Conan bezeichnet mehr als nur eine einzelne Figur. Der Name steht für ein ganzes Fantasy-Universum. So entsteht fast beiläufig ein detailliertes Bild des fiktiven Landes Nemedia, durch das Conan reist. Ein wenig mehr Stadtansichten wären sicherlich wünschenswert gewesen. Hyperborea aus Band 1 bleibt nach dem Lesen plastischer in Erinnerung als Numalia oder Hanumar.

Zurück zur Eingangsfrage: Was kommt nach der (Neu-)Entwicklung des Helden? Busieks Antwort lautet: Die Entwicklung seiner Gefährten und Gegner. »Der Gott in der Kugel« konzentriert sich nicht mehr so sehr auf die Charakterisierung Conans, sondern nimmt ihn zurück zugunsten anderer Figuren in seinem Umfeld. Im Hinblick auf die Fortführung der Serie scheint dieser Schritt sehr sinnvoll. Und der Leser ist dankbar. Conan kennen wir jetzt schließlich. Jetzt müssen neue, starke Charaktere her, zwischen denen er sich bewegen kann. Insgesamt vier werden davon in »Der Gott in der Kugel« präsentiert: Janissa die Witwenmacherin, die Knochenfrau, der Ibis-Priester Kalanthes und der Set-Priester Thoth-Amon. Letzterer wird Conan-Fans noch als der spätere Erzfeind des Barbaren in Erinnerung sein.

Der zweite Conan-Band »Der Gott in der Kugel« ist eine runde Sache. Die beiden enthaltenen Geschichten sind detailverliebt, actionreich und spannend. Sie öffnen dem Leser ein Fenster in die phantastische Welt des Barbaren Conan. Da möchte man gar nicht so schnell wieder zurückkehren. Der Anfang der Serie wurde konsequent weitergedacht. Es wurde viel Wert auf die Gestaltung der zukünftigen Gegner und Gefährten gelegt, was sich in den kommenden Bänden hoffentlich auszahlen wird. Dabei tritt die Titelfigur im Vergleich zum ersten Band ein wenig in den Hintergrund. Notwendigerweise wirkt die Geschichte dadurch zersplitterter, das euphorische Hochgefühl von »Die Tochter des Frostriesen« bleibt leider aus. Neueinsteigern ist daher der erste Band eher zu empfehlen. Alle anderen Fans des wilden Cimmeriers werden ihre Freude an dieser neuen Dosis Fantasy-Abenteuer haben.

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Reinhard Kleist – Cash – I see a darkness

Spätestens seit »Walk the Line« im Kino lief, kann man guten Gewissens von »Cashmania« reden. Franz Dobler verwendet diese Vokabel in seinem Vorwort zu Reinhard Kleists Comicbiographie »Cash – I see a darkness«. Cashmania. Ein Ausdruck für die allgemeine Begeisterung, die Johnny Cash posthum zuteil wird. Der schwarze Highwayman, Mister Ring-of-Fire, hat es in die Popkultur geschafft. Fast möchte man von Kult sprechen, wäre das Wort nicht so abgegriffen.

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Abuli, Enrique Sánchez / Bernet, Jordi – Torpedo 1

Wer nur für fünf Cent Ahnung hat, was in den Regalen hiesiger Comicdealer steht, der weiß, dass auch Erwachsene gerne Comics lesen. Völljährig zu sein und Bildergeschichten zu mögen, wurde in den Fünfzigern vielleicht noch als eine Charakterschwäche getadelt. Heute ist es alltäglich. Trotzdem hat man es als erwachsener Comicleser manchmal nicht leicht, Material zu finden, das dem eigenen Gusto entspricht. Zum Glück gibt es |Cross Cult|. Das kleine, aber feine Label aus Asperg nimmt die Wünsche des älteren Lesepublikums aufs Korn. Die Verleger scheinen es sich auf die Fahne geschrieben zu haben, gleichsam gute Unterhaltung, anspruchsvolle Geschichten und tolles Artwork zu bringen. Mit der Veröffentlichung des ersten Bandes von »Torpedo« – pünktlich zur Frankfurter Buchmesse 2006 – bleiben sie ihrer Linie treu.

Dabei sind die Geschichten um den Mafiakiller Luca Torelli, genannt »Der Torpedo«, keine Neuheit mehr, sondern schon über fünfundzwanzig Jahre alt. 1980 erschien die erste Episode in dem spanischen Magazin »Creepy«. Daraus entwickelte sich in den Folgejahren eine Serie, die 1986 zu höchsten Ehren gelangte und in Angoulême den Preis für das Beste Album abräumte. Auf Deutsch erschien »Torpedo« zuletzt 1988 bis 1991 bei |Carlsen|, zunächst als Album, dann als Taschenbuch. Die Reihe blieb unvollendet und geriet allmählich in Vergessenheit. Inzwischen sind einzelne Ausgaben kaum noch zu bekommen. Freunde des brutalen Mafiakillers dürfen nun aufatmen. Bei |Cross Cult| erscheint in fünf Bänden das Gesamtwerk. Der erste Band enthält fünfzehn »Torpedo«-Episoden in Schwarzweiß, die jeweils zwischen sechs und zehn Seiten lang sind.

Schauplatz der Handlung ist New York im Jahr 1936. Hauptfigur Luca Torelli ist ein eleganter Killer der Mafia, gerade kultiviert genug, um zu wissen, dass in Spanien Bürgerkrieg herrscht. Er ist ein vornehmer Schlächter im Nadelstreifenanzug, ein hartgesottener Killer, wie er im Buche steht. An seiner Seite wird dem Leser von Episode zu Episode das ganze bestehende Repertoire an Mafia-Stereotypen vorgeführt. Die Anziehungskraft der »Torpedo«-Storys geht dabei nicht so sehr von den einzelnen Plots aus. Sie sind ein wenig absehbar, wie zu erwarten bei Kompositionen aus Stereotypen. Der Leser erlebt, wie Torpedo gut bezahlte Aufträge erledigt. Manchmal macht er sich selbst zum Auftraggeber, hin und wieder gibt es Rückblenden in seine Vergangenheit. Immer geht es hart zur Sache, blutig und gnadenlos.

Vielleicht rührt die Anziehungskraft dieser Serie von dem non-charmanten Charakter Luca Torelli selbst her. Torpedo ist alles andere als der perfekte Schwiegersohn. Kein Saubermann, kein aalglatter Held, sondern ein Mistkerl. Er zögert nicht, seinen besten Freund oder seine Lieblingshure zu ermorden. Er schießt einem Mann in den Rücken, tötet einen Polizisten und vergreift sich an einer verheirateten Frau, weil sie ihn nicht bezahlen kann. Als Leser fühlt man sich merkwürdig angezogen und abgestoßen zugleich. Damit reiht sich Torpedo ein in die Reihe schräger Hauptfiguren bei |Cross Cult|, die nicht im Mainstream liegen, sondern Ecken und Kanten haben. Gut so, denn als erwachsener Leser wünscht man sich erwachsene Charaktere. Und man muss ja nicht jeden sympathisch finden.

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Busiek, Kurt (Autor) / Nord, Cary (Zeichner) – Conan 1 – Die Tochter des Frostriesen und andere Geschichten

Man durfte beim Anblick des neuen Conan-Comics durchaus skeptisch sein. In den Dreißigerjahren verstrickte Robert E. Howard seinen barbarischen Archetypus erstmals in Abenteuer und hauchte ihm Leben ein. Seitdem haben sich zahllose Fantasy-Autoren bemüht, Conan gerecht zu werden und Howards Grundton zu treffen. Inzwischen wird der Barbar aus Cimmeria als klassischer Vertreter des Genres gehandelt, der nicht hinter Gandalf und Konsorten zurücktreten muss. Ein gewisse Meisterschaft im Erzählen darf also erwartet werden, wenn sich ein neuer Autor mit Conan dem Barbaren auseinander setzt.

Erinnerungen an die guten, alten Conan-Comics aus den Siebzigerjahren kehren zurück (»Savage Sword Of Conan«). Rauhe Panels in Schwarzweiß, teilweise so konventionell, dass man meinen konnte, die Zeichner der »Illustrierten Klassiker« hätten ihre Finger im Spiel gehabt. Die Mischung aus klassischem Stil und rauer Oberfläche passt gut zu Conan und gab den Klang der Geschichten optisch treffend wieder. Noch heute macht es Spaß, die alten Sachen zu lesen.

Die Bildwelten des neuen Zeichners Cary Nord sprechen da eine ganz andere Sprache. Sehr farbenfroh und glatt, lassen sie Gedanken an Spider-Man und andere Strumpfhosenträger erwachen. Das gibt der anfänglichen Skepsis weiteren Nährboden. Hinzu kommt der neue Conan-Autor Kurt Busiek, der sich bisher vornehmlich im Superhelden-Universum herumgetrieben hat. »X-Men«, »Daredevil«, »Marvels« – und jetzt Conan? Kann das gut gehen? Ausgerechnet Busiek und Nord sollen dem wilden Cimmerier neues Leben einhauchen?

Zugegeben: Mit der Gestaltung der Hintergründe hat Cary Nord es nicht so. Aber irgendetwas trübt das anfängliche Urteil. Beim genauen Hinsehen sind seine Zeichnungen nicht so glatt, wie sie zunächst erscheinen. An den Rändern schleicht sich eine gewisse Unschärfe ein. Der Strich wird unruhig und nervös, ungeduldig und wild. Als wolle er aus den Bahnen ausbrechen. Ebenso Busieks Geschichte. Anfänglich plätschert eine ruhige, kleine Fantasy-Erzählung so dahin. Der Leser ist dabei, als Conan die Aesir kennen lernt und hilft, ihr Dorf gegen die feindlichen Vanir zu verteidigen. Eine kleine Intrige, eine kleine Liebelei, eine blutige Prügelei mit einem Eisriesen – bis dahin eine durchaus unterhaltsame Comic-Lektüre, aber nicht mehr.

Doch spätestens, als die längere Episode in Hyperborea beginnt, ahnt der Leser, dass Busiek nicht unter der Last des Conan-Universums stöhnt und ächzt, sondern dass er die notwendige Ruhe aufbringt, um die phantastische Welt auszubreiten, die einst von Robert E. Howard erdacht wurde. Direkt vor den Augen des Lesers, ganz locker, so dass es fast unbemerkt bleibt, definiert Busiek Conan neu, gibt seinem Charakter Gestalt, wie es für den ersten Band einer Reihe angemessen ist. Conan als Rächer, Conan als Kämpfer, Conan als Liebender und treuer Freund – alle wichtigen Facetten das Fantasy-Barbaren kommen vor, frisch und lebendig inszeniert.

Die anfängliche Skepsis ist verflogen. Nachdem Conan mit seinen Verrätern kurzen Prozess gemacht hat, ist die Geschichte bald vorbei. Man schlägt den Comic zu und bleibt noch einen Augenblick gebannt sitzen. Wild und phantastisch war der Strudel, der einen auf Conans Schulter durch Hyperborea gespült hat. Und man fletscht mit den Zähnen: Der nächste Band kommt erst im November!

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Pak, Greg / Tocchini, Greg – 1602 – Die neue Welt (100 % Marvel 23)

Neil Gaiman ist ein hervorragender Geschichtenerzähler. Mit »1602 – Die neue Welt« tritt Greg Pak nun in seine Fußstapfen. Die neue und farbenfrohe Miniserie von |Marvel| verpufft jedoch. Was da Siedler, Superhelden und Dinos im frühneuzeitlichen Roanoke so treiben, lässt den Leser kalt.

Entgegen der Gewohnheit, dass im Superhelden-Universum alles immer gigantischer, bunter und ausgeflippter werden muss, schaltet |Marvel| mit »1602« einen Gang zurück. Das Leserauge freut sich über Abwechslung. Statt Hochhausschluchten oder Raumstationen dient die junge Siedlung Roanoke als Hauptort der Handlung. Eine kleine Anzahl Hütten, ein paar Siedler im besten Pilgrim-Look und ein paar Indianer – fertig ist das Setting von »1602«.

Nun gut, ganz so einfach ist es nicht. Es fehlen schließlich noch die Superhelden. Die grundsätzliche Idee von »1602« folgt dem inzwischen altbekannten Motto »Alte Helden in neuem Gewand«. Die Idee ist ganz erfrischend, Spider-Man, Hulk und Ironman in die frühe Neuzeit zu versetzen, als Amerika noch Kolonie war, als noch niemand den Dollar kannte und als die ersten Stars-and-Stripes noch genäht werden mussten.

Erfinder dieses Paralleluniversums war Neil Gaiman (Sandman, Die Bücher der Magie), seines Zeichens begnadeter Comicautor und Schriftsteller. In einer achtteiligen Miniserie (100 % Marvel 4 und 6) erzählte er die Geschichte, wie Captain Marvel an den Anfang des 17. Jahrhunderts geschleudert wurde und die Realität veränderte. Durch seinen Zeitsprung schuf er eine neue Zeitlinie: Colonization goes Superhero. Ach ja, und die Dinosaurier leben noch.

Mit »1602 – Die neue Welt« hat Gaiman bestenfalls noch so weit zu tun, dass er die Weichen für das neue |Marvel|-Universum gestellt hat. Was Greg Pak und Greg Tocchini mit ihrer fünfteiligen Fortsetzung geschaffen haben, ist nur noch mäßig unterhaltsam. Irgendwie beschleicht den routinierten Comicleser das Gefühl, einem Produkt aus der Retorte gegenüberzustehen. Da wird ein Eingangskonflikt angerissen, der am Ende aufgelöst wird. Da werden verschiedene Nebencharaktere eingeführt, und einer nach dem anderen entdeckt seine übernatürlichen Kräfte. Schließlich kommt es zu einem großartigen Zusammenstoß zwischen den Engländern und den Indianern, einem Showdown mit viel Feuerwerk. Die Superhelden geben ihr Bestes, und am Ende bekommt sogar noch der fiese König James im fernen England auf die Mütze.

»1602 – Die neue Welt« leidet daran, dass es den Leser bis zur letzten Seite darüber im Unklaren lässt, wohin die Geschichte eigentlich will. Es fällt schwer, einen Hauptprotagonisten auszumachen. Ständig springt das Auge hin und her, ohne zu wissen, was es eigentlich suchen soll. Die frühe Neuzeit dient dabei als Lokalkolorit, nicht mehr. Was nach dem Lesen übrig bleibt, ist das vage Gefühl, dass Autor Grag Pak selbst nicht genau wusste, was er eigentlich mitteilen wollte. Und wer nichts zu sagen hat, sollte besser schweigen.

Felden, Thorsten / Meininghaus, Jan – Signum Mortis – Erinys

|Das Lack-und-Leder-Weibchen Erinys dient dem Musikmagazin |Sonic Seducer| als Maskottchen. Comicstrips in Zeitungen nicht unähnlich, tritt sie dort einmal im Monat auf und unterhält die Leser mit düsterem Gerede. Der kürzlich bei |Ehapa| erschienene Sammelband „Signum Mortis“ stellt den gegenwärtigen Höhepunkt der Serie dar. Man fragt sich allerdings, ob das wirklich sein musste.|

„Schwarz ist eigentlich keine Farbe.“ Meine Kunstlehrerin war immer recht penibel. Sie wusste, dass ich die Farbe mochte und häufig schwarze Kleidung trug. Während ich pinselte, genoss ich die Vorstellung, dass meine Hose und mein Pullover streng genommen gar keine Farbe hatten, sondern sich irgendwie abhoben. Die ihnen innewohnende Verneinung machte sie meiner Ansicht nach zu etwas Besonderem. Was ich übersah: Innen und Außen sind zwei verschiedene Dinge.

Vermutlich geht es Thorsten Felden und Jan Meininghaus mit ihrem Werk „Signum Mortis – Erinys“ ähnlich. Auf jeden Fall hat ihre Hauptfigur eine Affinität zu Schwarz. Erinys, eine junge Frau mit schweren Stiefeln, enger Lederhose und einem Lackoberteil, wandert in den Straßen einer namenlosen Stadt umher. Sie bewegt sich im Niemandsland zwischen Leben und Tod, weiß nicht so recht, woher sie kommt und wohin sie geht. Der Name Erinys erinnert nicht umsonst an die Erinyen, jene griechischen Rachegöttinnen, die überall dort auftraten, wo zu Unrecht Blut vergossen wurde.

Erinys Existenz ist ein merkwürdiger Schwebezustand, der das ganze Album über anhält. Obwohl Nebenfiguren wie die Gerichtsmedizinerin oder der Kommissar auftauchen, ist sie weitgehend mit sich selbst beschäftigt. Sie befindet sich in einer inneren Isolation und ist auf der Suche nach sich selbst. Auf ihrer Reise begegnet sie urbanen Bösewichtern wie dem Kinderschänder oder dem Drogendealer. Durch eine Berührung an der Stirn entzieht sie ihnen das Leben.

Die Geschichte wendet sich an einen pubertären Leser, gaukelt Tiefgang vor und bleibt dabei Teil der Oberfläche, die sie eigentlich durchbrechen will. Erinys ist ein Trendprodukt. Seelenlos und distanziert tritt die Protagonistin dem Leser entgegen. Von emotionaler Anteilnahme kann da keine Rede sein, die Spannung bleibt auf der Strecke. Auf gleiche Weise dümpelt der visuelle Teil des Werks vor sich hin. Die Seiten sind als Kollagen und Bilderfolgen gestaltet, überzeichnet und von dunklen Tönen geprägt. Originell oder einprägsam kann man diese Arbeit nicht nennen.

Schlagen wir den Bogen zurück zum Anfang. Schwarz ist eigentlich keine Farbe. Und „Signum Mortis – Erinys“ ist eigentlich keine tiefgreifende Geschichte über Leben und Tod und den Sinn der Welt, obwohl die Autoren diesen Eindruck gerne erwecken würden. Eigentlich ist der Band eine Foto-Love-Story, allerdings nicht für die Pop-Hörer der |Bravo|, sondern für die Gothic- und Metal-Freunde des |Sonic Seducer|. In Erinys geht es zwar nicht um Dreiecksbeziehungen und den ersten Koitus, aber die Qualitäten ähneln sich. Nichts Besonderes, eben in Schwarz.

Hearn, Lian – Schwert in der Stille, Das (Der Clan der Otori – Band 1)

Sushi, Manga und Toyota – Japan ist längst in Europa angekommen. Auch die Britin Lian Hearn ist fasziniert von dem fernen Inselreich im Pazifik. Der Leidenschaft für die fernöstliche Welt entsprang das Jugendbuch „Das Schwert in der Stille“, der erste Teil ihrer dreibändigen Fantasy-Saga.

„Das Schwert in der Stille“ spielt „in einem imaginären Land in einer feudalen Epoche“, so die Autorin im Vorwort ihres Romans. Hearns Hauptfigur ist der jugendliche Takeo aus dem abgelegenen Bergdorf Mino. Sein friedliches Leben nimmt ein jähes Ende, als sein Heimatort von dem finsteren Clan der Tohan ausgelöscht wird. Bauernhöfe brennen, die Einwohner werden von wilden Kriegern niedergemäht, niemand soll überleben.

Nur durch einen Wink des Schicksals gelingt es dem Jungen zu entkommen. Er flüchtet direkt in die Arme eines anderen Kriegers und fürchtet schon, dass nun sein letztes Stündlein geschlagen hat. Der Fremde – groß, kräftig und bewandert im Umgang mit der Klinge – stellt sich als Shigeru vor, Lord der Otori. Er ist ein erklärter Feind des Hauses Tohan und tötet Takeos Verfolger ohne viel Federlesens.

Shigeru nimmt sich des heimatlos gewordenen Jungen an und geht mit ihm in die Residenzstadt Hagi. Dort lernt Takeo ein völlig neues Leben am Hof des großen Clans kennen. Schnell muss er begreifen, dass das friedliche Dasein auf dem Land jetzt ein Ende hat. Die Auseinandersetzungen der großen Häuser fordern ihm einiges an Raffinesse und Anstrengung ab, um im steten Intrigenspiel nicht unterzugehen. Ungeachtet der Gefahren sieht er mit Ruhe und Geduld dem Moment entgegen, sich für den Mord seiner Eltern zu rächen. Dabei wollte er nie zu einem Mörder werden.

Hearns Schreibstil ist unterhaltsam und kurzweilig, leider jedoch wenig pointiert und nur mäßig spannend. Wer dem Geist des feudalen Japans auf die Spur kommen möchte, findet zwischen den Buchdeckeln nur geringe Befriedigung. Man spürt, dass es eine Europäerin ist, die über ein Land schreibt, dessen Spiritualität sie nur ungenügend wiedergeben kann. Es fehlt an Details, die die Geschichte lebendig machen. Stattdessen beschleicht einen hin und wieder das Gefühl, einem spröden Gedankenkonstrukt gegenüberzustehen. „Das Schwert in der Stille“ ist ein solider Fantasy-Roman, geeignet für den Strandkorb oder die U-Bahn. Den Leser fesseln kann er allerdings nicht.

Die beiden nachfolgenden Bände „Der Pfad im Schnee“ und „Der Glanz des Mondes“ sind ebenfalls im |Carlsen|-Verlag erschienen.

http://www.otori.de

Moore, Alan / Lloyd, David – V wie Vendetta

|Eigentlich schreibt Alan Moore gar keine Comic-Szenarios. Seine in den Achtzigerjahren entstandene Geschichte »V wie Vendetta« ist vielmehr eine Studie über den Faschismus. Sie gilt bis heute als ein Meilenstein der Comic-Literatur. Darin ist es einer kleinen Gruppe machthungriger Männer gelungen, die Kontrolle über England zu erringen.|

»V wie Vendetta« spielt in einem fiktiven England Ende der Neunzigerjahre. Ein begrenzter Atomkrieg hat dazu geführt, dass das Land im Chaos versank. Im Zuge der allgemeinen Misere wurde der Ruf nach einer starken Hand laut, um die Probleme in den Griff zu bekommen und die englische Nation zurück zu alter Größe zu führen. So gerieten die Faschisten auf den Plan.

Das alles ist inzwischen Vergangenheit. Die Gegenwart, in die Moore den Leser versetzt, spielt diverse Jahre nach der Krise und der Zeit der Neuordnung. Die Verhältnisse haben sich beruhigt. Viele Details der Handlung lassen vermuten, dass sich Moore beim Schreiben am Nationalsozialismus und dem Dritten Reich orientiert hat. Er möchte zeigen, dass Faschismus und Totalitarismus auch in anderen Ländern als in Deutschland entstehen können, sie also ein allgemeines Problem sind.

Dabei sieht zunächst alles nach einem gewohnten Superhelden-Szenario aus. Ein ominöser Mann mit Maske tritt auf und tötet Männer der Geheimpolizei, als diese sich an einem Mädchen vergreifen wollen. Wenige Minuten später explodiert das Parlamentsgebäude. Die Machthaber und das Volk erfahren: »V« war hier und hat dem Regime den Krieg angekündigt.

Der Held, dessen Identität lange im Dunkeln bleibt, hat politische Absichten. Diese Motivation ist ungewöhnlich, wenn man im Schema üblicher Superhelden-Szenarios bleibt. Ungewöhnlich ist ebenfalls, dass der Held nicht gegen einen Schurken kämpft, sondern gegen ein System. Er möchte England die Freiheit zurückgeben und steht anarchistischen Staatsvorstellungen nahe. In diesem Zusammenhang gehört Vs Selbstgespräch mit der Statue der Justitia zu den eindrucksvollsten Szenen der Geschichte. Er kündigt ihr seine Liebe, kritisiert ihre Blindheit und Sprunghaftigkeit, um schließlich zu gestehen: Es gibt eine andere Frau in meinem Leben – und ihr Name lautet »Anarchie«.

Die Atmosphäre der Zeichnungen wird ihrem Inhalt gerecht. David Lloyd zeigt uns keine überstilisierte Welt der »Guten und Bösen«, in der physikalische Gesetze bloß ungefähre Richtwerte sind, sondern er wählt eine realistische Darstellung in ruhigen Panels. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Figuren. Bei der Umwelt operiert er mutig mit Schatten und schwarzen Flächen.

Alan Moores Hauptaugenmerk liegt auf den einzelnen Figuren, ihren persönlichen Absichten und Abgründen. Er fragt nach der Verantwortung jedes Einzelnen. Obwohl der Leser hin und wieder wittert, dass er es mit einer konstruierten Kopfgeburt zu tun hat, gelingt es Moore jedoch immer wieder, diesen Eindruck zu zerstreuen. Er traut seinen Figuren etwas zu und lässt sie die Handlung tragen. Was eine besondere Qualität von »V wie Vendetta« ausmacht, ist der Umstand, dass Moore nicht in Kategorien von »Gut und Böse« denkt, sondern stets durchaus beide Seiten der Medaille im Blick hat. Sicherlich keine leichte Unterhaltung, aber ein außergewöhnlich anspruchsvoller Comic.

Seit dem 16. März läuft die Verfilmung der Wachowski-Brüder (»Matrix«) mit Natalie Portman und Hugo Weaving in den deutschen Kinos.

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Rob-Vel / Jijé / Franquin u.a. – Fantasio und das Phantom

|Spirou und Fantasio sind papiergewordene Geschichte. Nach der Neuauflage der Gesamtausgabe präsentiert Carlsen nun das Sonderalbum „Fantasio und das Fantom“. Legendäre Kleinode und Wendepunkte aus knapp siebzig Jahren wurden hier zusammengefasst. Dabei erlebt der Leser weitaus mehr als eine Sammlung heiterer Detektiv- und Abenteuergeschichten. Diverse Zeichnergenerationen haben versucht, den französischen Comic-Helden ihren Stempel aufzudrücken.|

In Frankreich sind Spirou und Fantasio eine Institution. Sie sind älter als Asterix und Lucky Luke. Sie begründeten die Ecole Marcinelle (benannt nach dem Sitz des Verlages Dupuis) und prägten maßgeblich den europäischen Comic. Obwohl sich frankobelgische Comicalben seit einiger Zeit auf dem Rückzug befinden, hält der Hamburger Carlsen Verlag dem cleveren Pagen Spirou und seinem zerstreuten Kompagnon Fantasio die Treue. In den letzten Jahren legte man die 44-bändige Gesamtausgabe neu auf, so dass heute wieder alle Abenteuer in deutscher Sprache erhältlich sind. Zum Abschluss erschien das Sonderalbum Spirou und das Fantom, das eine Reihe amüsanter Kurzgeschichten enthält.

Der Leser erlebt auf der ersten Seite die „Geburt von Spirou“, in welcher der Direktor des Hotels Mücke einen Pagen sucht. Jung soll er sein, pfiffig und agil. Wegen Ermangelung eines geeigneten Bewerbers wendet sich der Direktor an einen Maler. Dieser zeichnet den gewünschten Pagen kurzerhand auf eine Leinwand und haucht ihm Leben ein. Spirou war geboren.

Weitere acht Kurzgeschichten folgen. Sie veranschaulichen die Entwicklung der Serie. Bald ist Spirou nicht mehr allein unterwegs. In der Detektivgeschichte „Fantasio und das Fantom“ ist das bekannte Team bereits ein Herz und eine Seele. Außerdem taucht erstmals das Eichhörnchen Pips auf, das heutzutage aus der Serie nicht mehr wegzudenken ist. Schließlich kommen der Bürgermeister und der Graf von Rummelsdorf hinzu.

Jenseits der Figuren erlebt die Serie auch eine inhaltliche Entwicklung. Die Boxergeschichte „Spirou und Floh“ ist angelehnt an die amerikanischen Vorbilder der Tramp-Storys. Bei „Fantasio und das Fantom“ handelt es sich um eine Detektivgeschichte, die hinführt zu den späteren Abenteuergeschichten. Der Leser kann beobachten, wie sich der charakteristische Charme und der Humor der Reihe entfalten.

Wer noch niemals etwas von Spirou und Fantasio gelesen hat, kann guten Gewissens mit dem Sonderband anfangen. Die neun Episoden veranschaulichen den Facettenreichtum der Serie und machen Lust auf mehr. Auch treue Fans der beiden französischen Abenteurer finden hier einen Leckerbissen. Die Sammlung halbvergessener Kleinode sorgt vor, denn Lesehungrige müssen sich fortan gedulden. Neue Bände werden nicht mehr im Zwei-Wochen-Takt erscheinen, sondern länger auf sich warten lassen. Mit „Flut über Paris“ (Band 45) ergreift eine neue Zeichnergeneration die Feder. Ob die Zeichner Jean David Morvan und José-Luis Manuera ihren berühmten Vorgängern Franquin und Fournier das Wasser reichen können, wird sich zeigen.

„Fantasio und das Phantom“ enthält:
Die Geburt von Spirou (Rob-Vel, 1938)
Spirou und Floh (Rob-Vel, 1942-43)
Fantasio und das Fantom (Jijé, 1946)
Weihnacht im Urwald (Franquin, 1949)
Fantasio und der Siphon (Franquin, 1957)
Fantasio und die ferngesteuerten Rollschuhe (Franquin, 1957)
Ferien in Broceliande (Fournier, 1973)
Der Solar-Fanta-Schrauber (Nic Broca, 1980)
Stählerne Herzen (Chaland, 1982)

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Bilal, Enki – Bilal – 32. Dezember

|Enki Bilal gehört seit Jahren zu den Großen der französischen Comic-Szene. Sein Zyklus »Legenden der Gegenwart« und die Geschichten um Alexander Nikopol und Jill Bioskop haben ihn zu einem der tonangebenden Zeichner der achtziger und neunziger Jahre gemacht. Nach einem kurzen Blick auf Bilals Biographie werden an dieser Stelle zwei seiner Comic-Alben vorgestellt, die vor einiger Zeit auf Deutsch im |Ehapa|-Verlag erschienen sind: »Exterminator 17« und »32. Dezember«.|

Enki Bilal wurde am 7. Oktober 1951 in Belgrad geboren. Als er zehn Jahre alt war, beschlossen seine Eltern, nach Frankreich auszuwandern. Die Familie fand in Paris ein neues Zuhause. Schon früh entdeckte Bilal seine Faszination für das Zeichnen. Mit einer seiner Arbeiten gewann er 1971 einen Talentwettbewerb für Nachwuchszeichner, den die Jugendzeitschrift »Pilote« veranstaltet hatte. Es folgte eine erste Veröffentlichung in Heft 645 von »Pilote«. Nach diesem ersten Erfolg blieb Bilal dem Magazin viele Jahre lang treu verbunden. In den siebziger Jahren schrieb und zeichnete er für »Pilote« viele kleine Szenarios. Er entwickelte dabei seine so genannte Runzeltechnik und übte sich in Direktkolorierung, was damals noch eine eher ungewöhnliche Methode war.

Ebenso wichtig wie die Ausbildung seines Zeichentalents in jenen Tagen war wohl Enki Bilals Bekanntschaft mit Pierre Christin. Der langjährige Szenarist wollte politische Themen aufgreifen und konnte Bilals Hang zu Monstren und phantastischen Halbwesen nicht so recht teilen. Doch aus der gemeinsamen Arbeit dieses ungleichen Paares erwuchs der fünfteilige Zyklus »Legendes d’Aujourd’hui« (dt.: Legenden der Gegenwart), der in der Zeit von 1975 bis 1983 entstand. Bilal und Christin widmeten sich hier gesellschaftlichen Themen. Die Geschichten waren geprägt von einem stets skeptischen Blick auf die Machtstrukturen der Politik. Später kamen phantastische Einflüsse hinzu, die auf Bilals Konto gingen. Der grob als »Polit-Fiction« zu umschreibende Zyklus stellt Bilals erstes großes Werk dar und brachte ihn (trotz gewisser inhaltlicher Schwächen) voran in die erste Liga der französischen Comickünstler.

Wem Enki Bilal seitdem noch kein Begriff war, lernte ihn spätestens durch seinen zweiten Zyklus kennen. Der dreiteilige Nikopol-Zyklus, begonnen 1980, entstand allein unter Bilals Federführung. Sowohl als Autor als auch als Zeichner setzte er mit dem ersten Band »La foire aux Immortels« neue Maßstäbe. Die Geschichte teilt Seitenhiebe in Richtung von Politik, Kirche und Gesellschaft aus. Nicht zuletzt ist es ein phantastisches Science-Fiction-Abenteuer. Zeichnerisch ist Bilals Freude an offenen Formen, an großen Panels und an grafischer Ganzheitlichkeit kaum zu übersehen. Jede Seite ein Kunstwerk, könnte man seinen Anspruch formulieren.

_Exterminator 17_

Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Bei |Ehapa| erschien vor kurzer Zeit das Album »Exterminator 17« (frz.: Exterminateur 17), das Bilal 1976/77 mit dem Szenaristen Jean-Pierre Dionnet schuf. Das SF-Szenario stellt eine Präambel zu der späteren gleichnamigen Reihe dar und beleuchtet die Vorgeschichte der Hauptfigur, des Androiden Nummer 17. Es geht dabei um einen Kriegsandroiden der Generation 17, ein altes Modell, das zerstört werden soll. Sein Erfinder und Konstrukteur richtet es jedoch so ein, dass seine Seele bei seinem Tod auf die menschliche Maschine überwechselt. Fortan ist Exterminator 17 ein Android mit der Seele seines Erfinders, mit einem Bewusstsein seiner Selbst und mit Lebenswillen. Ein Rebell unter den Maschinen. Aus Angst vor einer Revolution machen die Menschen Jagd auf ihn.

Veröffentlicht wurde die Geschichte zum ersten Mal in dem ambitionierten SF-Comic-Magazin »Metal Hurlant« (Heft 13). Wer andere Arbeiten von Enki Bilal kennt, muss sich über »Exterminator 17« wundern. Gleichförmig angeordnete Panel, zusammenhanglose Bildsprünge, langweilige Hintergründe – weder Form noch Inhalt von »Exterminator 17« können überzeugen. »Exterminator 17« ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein schlechtes Szenario negativ auf die Zeichenqualität auswirkt. Was Enki Bilal später zu »Exterminator 17« zu sagen hatte, unterstützt diesen Eindruck: „Die ersten zehn Seiten hatten mich noch interessiert, aber plötzlich hakte ich die Sache komplett ab. Ich habe die Geschichte dann ohne Enthusiasmus zu Ende gezeichnet. Rein automatisch.“

_32. Dezember_

Ganz anders sieht es bei dem Album »32. Dezember« aus. Hier ist alles wieder da, was man als Leser des Nikopol-Zyklus geschätzt hat. Mutige, offene Bildformen, Direktkolorierung, unter der die einzelnen Linien zu verschwinden drohen, ein abwechslungsreicher Gesamteindruck. Durch unzählige grafische Gegensätze entsteht ein spannendes Werk: Kleine Panels stehen gegen große, farbige Doppelseiten gegen nahezu farblose, haargenau Details gegen unklare Eindrücke. Und nicht nur optisch ist Bilals »32. Dezember« ein außerordentlich empfehlenswertes Comic-Album. »32. Dezember« ist der zweite Teil einer Trilogie, die 1998 mit dem Band »Der Schlaf des Monsters« (frz.: Le Sommeil du Monstre) begann. Bilal wendet sich mit dieser dritten großen Arbeit wieder dem Medium Comic zu, nachdem er eine ganze Weile im Filmgeschäft aktiv war.

In »32. Dezember« erzählt Enki Bilal die Geschichte von Nike, Amir und Leyla, die in den neunziger Jahren als elternlose Säuglinge in den Ruinen von Sarajewo gefunden wurden. Inzwischen ist viel Zeit vergangen, über dreißig Jahre. Sie haben noch gelegentlich Kontakt miteinander. Auf unterschiedlichen Wegen schlagen sie sich durch die Welt des Jahres 2026. Es treffen also wieder Science-Fiction und persönliche Abgründe aufeinander. »32. Dezember« ist jedoch weitaus mehr. Themenschwerpunkte des Bandes sind Kunst und Religion. Optus Warhole, ein weltweit legendärer Künstler, kennt kein Maß und keine Form mehr. Er ist radikal bis zum Äußersten, schreckt vor inszenierten Massenmorden nicht zurück. Die Menschheit ist seine Leinwand, formbar. Bilal selbst sagt: „Manipulation ist das zentrale Thema meiner Bücher, was auch immer andere dazu sagen.“ Von diesem Standpunkt aus wird auch der Bogen zur Religion ersichtlich. Die kürzlich irgendwo in der Wüste entdeckte Adler-Stätte stellt die Führer aller Religionen vor neue Fragen über den Ursprung der Menschheit. Sind die phantastischen Relikte echt oder nur ein weiterer Spielstein in dem allumfassenden Werk von Optus Warhole? Die bezaubernde Melancholie, die Bilals Werke auszeichnet, ist in »32. Dezember« voll da. Eine schwer greifbare Seelenzerrüttung der Hauptfiguren, Grausamkeit und phantastische Höhenflüge treffen sich hier und formen ein facettenreiches Ganzes. »32. Dezember« bleibt nicht unpersönlich, und der Leser kommt nicht umhin, zu deuten und selber Überlegungen anzustellen. Ein herrlicher Comic, einhundert Prozent Enki Bilal, ein Album zum Immer-wieder-Lesen.

Wann der dritte Teil der Trilogie erscheint, ist noch nicht bekannt.

Kirkman, Robert / Moore, Tony – Gute alte Zeit (The Walking Dead 1)

Mit Zombies hat der Szenarist Robert Kirkman Erfahrung. Derzeit läuft in den USA seine Miniserie |Marvel Zombies|, in der Spiderman & Co zu blutrünstigen Untoten mutieren. In Deutschland startete Anfang 2006 seine Serie |The Walking Dead|, ein lupenreines Zombie-Szenario. Abseits der soliden Story brilliert hier Zeichner Tony Moore und enthebt das Zombie-Genre der schmuddeligen B-Klasse.

Als Rick Grimes aus dem Koma erwacht, ist er allein. Er liegt in einem sterilen Krankenzimmer, in einem dünnen Kittel, eine Infusion am Arm. Wie lange er schon hier ist, weiß er nicht. Das Letzte, woran sich der junge Polizist erinnern kann, ist ein Schusswechsel auf einer Landstraße. Ein geflohener Häftling hat ihn angeschossen, danach wurde die Welt um ihn herum schwarz. Rick ruft nach einer Schwester, doch es regt sich nichts. Totenstille, wie auf einem Friedhof. Verunsichert verlässt er sein Krankenbett. Sein Gefühl sagt ihm, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Die Flure des Krankenhauses sind wie leergefegt. Als er die Tür zur Cafeteria aufstößt, beginnt ihm zu dämmern, dass sich Furchtbares während seines Komaschlafs ereignet hat. Die Welt ist nicht mehr, wie sie war: In der Cafeteria geben sich verfaulte Leichen ein Stelldichein. Hungrig stürzen sie sich auf den Eintretenden.

Autor Robert Kirkman wirft den Leser in ein lupenreines Zombie-Szenario à la |Night of the Living Dead|. Der Familienvater und Polizist Rick Grimes erwacht inmitten der Apokalypse. Nach einem längeren Einstieg, in dem sich unser Held mit den Umständen arrangiert und sich ausrüstet, bricht Rick nach Atlanta auf, weil er dort seine Frau Lori und seinen Sohn Carl vermutet. Nach kurzen Abenteuern in der von wandelnden Leichen bevölkerten Großstadt trifft er auf Glenn, einen ehemaligen Pizzaboten, der mit anderen Überlebenden in einer kleinen Enklave am Rand der Stadt lebt. Hier findet er seine Familie wieder. Der wirklich spannende Teil der Geschichte beginnt eigentlich erst jetzt. Die Überlebenden sehen sich dem übermächtigen Heer der Zombies gegenüber und müssen in dieser Situation Entscheidungen treffen, ohne sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen.

Kirkman liegt richtig, wenn er das Augenmerk nicht auf die Zombies, sondern auf den Polizisten Rick und die anderen Überlebenden lenkt. Ungefähr fünfzehn Menschen leben in der kleinen Enklave aus Zelten, Autos und einem Wohnmobil. Alle kommen aus durchschnittlichen Verhältnissen, sind Mechaniker, Anwaltsgehilfin oder Schuhverkäufer. Eine Gruppe von Jedermännern, die jetzt tagtäglich um ihr Leben fürchten müssen. Zank und Auseinandersetungen sind da vorprogrammiert. Die eigentliche Bedrohung sind nicht die Zombies, auch wenn es zunächst den Anschein haben mag. Auch nicht die Sorge um Lebensmittel hält die Handlung auf Trab. In Wirklichkeit ist es das Beziehungsgeflecht in der Enklave, in dem die Überlebenden bestehen müssen.

Kirkman vermischt in |The Walking Dead| geschickt Elemente von Seifenopern mit dem Horror- und Action-Genre. Hinzu kommt das hervorragende Artwork von Tony Moore. Wie bei der Geschichte liegt auch bei den Zeichnungen der Schwerpunkt auf den Figuren. Sehr detailliert, mit feinen Linien und klarer Bild- und Panelanordnung setzt Moore das Zombie-Abenteuer in Szene. Unschwer lässt sich erkennen, was für eine unglaubliche Arbeit in diesem Band steckt. Insbesondere der Realismus bei der Gestaltung der Zombies verdient Beachtung. Für die lebenden Toten studierte der Zeichner eigens die Bilder von Leichen unterschiedlichen Verwesungsgrades.

|The Walking Dead| ist vielschichtig und funktioniert auf mehreren Ebenen, ohne allzu sehr ins Phantastische abzudriften. Solide Unterhaltung mit gesellschaftkritischem Unterton, grafisch hervorragend in Szene gesetzt von Tony Moore. Der zweite Band der Serie, „Ein langer Weg“, erscheint voraussichtlich zum Comic-Salon Erlangen im Juni 2006.

http://www.cross-cult.de

Uderzo, Albert – Gallien in Gefahr (Asterix 33)

|Wer kennt das Paar nicht? Der Kleine und der Dicke, alias Asterix und Obelix. In ihrem neuen Abenteuer „Gallien in Gefahr“ teilt Albert Uderzo Seitenhiebe in Richtung des Superhelden-Genres aus. Die charakteristische Eigenständigkeit seiner beiden Helden scheint ihn schon lange nicht mehr zu interessieren.|

Hat man einmal einen gewissen Status an Popularität erreicht, gibt es kein Zurück mehr. Asterix und Obelix bilden da keine Ausnahme. Sie sind Ikonen unserer Zeit. Im ewigen Kampf mit den Römern stehen sie für Herzlichkeit und Lebensfreude, für Eigenständigkeit und Individualität.

Inzwischen schert sich Albert Uderzo nicht mehr um den Charme und die Liebenswürdigkeit seiner beiden gallischen Helden. Seit Szenarist und Miterfinder René Goscinny 1977 gestorben ist, hat der Zeichner auch die inhaltliche Federführung übernommen. Die einst so unterhaltsame und avantgardistische Serie befindet sich auf dem Rückzug und hat dabei im letzten Sommer einen weiteren Tiefpunkt angesteuert.

Während die frankobelgischen Kollegen Spirou und Fantasio immer wieder versuchen, den Spagat zwischen Tradition und Modernisierung zu meistern, haben die Verlagsherren von Asterix und Obelix jeglichen Anspruch aufgegeben. Die traurige Lesewirklichkeit des neuen Bandes sieht so aus: Das berühmte gallische Dorf wird von Außerirdischen heimgesucht. Fliegende Klone im Superhelden-Kostüm schweben über dem so lieb gewonnenen gallischen Dorf. Angeführt wird die Truppe von Tuun, einer außerirdischen Mischung aus Schlumpf und Pumuckl. Er ist auf der Suche nach dem Zaubertrank, um sich gegen eine andere, bösartige Alienspezies zur Wehr zu setzen. Kurzum: Die Ideen sind aus – es lebe die Trotzdem-Veröffentlichung.

Aber nicht so voreiligt. Nehmen wir einmal an, Uderzo hätte wirklich ein Interesse daran, den knubbeligen Lila-Alien Tuun vom Stern Tadsyweni ins Asterix-Universum einzuführen. Was abseits dieser Extravaganz bleibt, ist eine über alle Maßen geistlose Handlung. Eigentlich geht es nur um die Frage, wer wem kräftig auf die Schnauze haut. Nebenbei werden alle signifikanten Markenzeichen der Serie hintereinander abgefrühstückt. Asterix, sonst ein Freund raffinierter Winkelzüge und Tricksereien, benimmt sich wie ein cholerischer Hamster im Laufrad. Denn trotz des Zaubertranks waren Asterix und Obelix niemals Berserker. Schlagdraufundschlus war nicht ohne Grund der Name eines römischen Legionärs.

Das neue Asterix-Abenteuer ist eigentlich gar kein Asterix-Abenteuer. Es hat sich seine Seele nicht verdient und straft seine Titelfiguren hart ab. Ebenso wie den Leser, der einfach nicht vergessen kann, wie die beiden frechen Gallier einst Cäsar die Lorbeeren vom Kopf stahlen.

http://www.asterix.de
http://de.asterix.com
http://www.ehapa-comic-collection.de

Kazumi, Yuana – Skydream Song

|Mana blickt aus dem Fenster. Vor ihr zieht sich eine Schlucht aus Hochhäusern dahin. Autos drängen sich auf den Straßen, eine Polizeisirene ertönt – Alltag in einer Großstadt. Nur der Himmel ist ungewöhnlich. Graue Rechtecke breiten sich bis zum Horizont aus. Eine gigantische Deckenplatte hängt über allem. Kein Wunder, denn die namenlose Stadt in Yuana Kazumis „Skydream Song“ liegt unter der Erde.|

Das neue Leben hier unten unterscheidet sich gar nicht so sehr von dem alten oben. Die Menschheit hat es einmal wieder geschafft, sich selbst an den Abgrund der Zerstörung zu treiben. Ein Krieg hat den Planeten verseucht. Den Überlebenden blieb nur eine Wahl, der Rückzug unter die Erde. Mana ist hier aufgewachsen. Obwohl es ihr gut geht und sie eigentlich alles hat, sehnt sie sich nach etwas Höherem. Sie hat noch nie in ihrem Leben Sonnenlicht oder den Himmel gesehen.

Nicht jeder hängt solchen Träumen nach. Wer sich realistisch gibt, hat die Hoffnung auf eine Rückkehr an die Erdoberfläche längst aufgegeben. So auch ihr Vater Kunio. Er hält solche Gedanken für sinnlos und töricht. Allerdings gibt es auch andere in Manas Umfeld, die die Sehnsucht nach dem Himmel teilen. Da ist zum Beispiel ihr Großvater, ein Wissenschaftler, der nach einem Weg hinauf ans Tageslicht forscht. Und nicht zuletzt der engelsgleiche Android Ciel. In ihm soll die Erinnerung an alte Zeiten schlummern. Sein wunderschöner Gesang lässt darauf schließen.

Als Ciel beschuldigt wird, Manas Großvater und ihre Eltern getötet zu haben, kommt die Geschichte ins Rollen. Das Mädchen selbst glaubt an die Unschuld ihres Androiden, sogar noch, als sich herausstellt, dass er ein gefährlicher Killerroboter aus dem Krieg ist. Ciel flüchtet. Er versteckt sich in dunklen Seitenstraßen, wo ihn das Mädchen Iku aufgreift. Sie und ihre Freunde sehnen sich ebenfalls nach dem Himmel. Gemeinsam versuchen sie, ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen.

Der neue One-Shot von |Carlsen| enthält zwei Geschichten der jungen Mangaka Yuana Kazumi: „Skydream Song“ und „Planet der blühenden Sterne“. Im ersten und längeren Teil dreht sich alles um den Androiden Ciel und seine Freunde, die den Himmel suchen. Im zweiten Teil ist die Hauptfigur sein Widersacher R, ein Android gleichen Typs. Beide Storys hängen eng zusammen. Sie ergänzen sich und bilden quasi Vorder- und Rückseite derselben Medaille. Kazumis Erzählstruktur zeichnet sich durch Tempo und Sprunghaftigkeit aus.

Das Aussehen der Figuren ist ausgesprochen konform. Große Augen, schmale Gesichter, wirres Haar. Schön anzusehen, aber eben nicht besonders innovativ oder einprägsam. Hinzu kommt eine innerliche Leere der Figuren, denn aufgrund der schnellen Erzählweise bleibt kaum Zeit für eine eingehende Charakterisierung. Mitfiebern lässt es sich da schwer.

Die Suche nach dem Himmel ist in Wahrheit eine Metapher für die Suche nach dem Glück. Die Jungen wollen etwas, was die Alten nicht mehr verstehen. Der Wunsch nach Freiheit spielt die tragende Rolle. Allerdings gestaltet Yuana Kazumi dieses Begehren ausgesprochen zaghaft. Von Revolution ist wenig zu spüren. Eine gute Abenteuergeschichte ist „Skydream Song“ nicht, dafür ist sie nicht spannend und lebhaft genug. Ein facettenreiches Sinnbild ist sie auch nicht, dafür fehlen Variationen des Themas. Die Suche nach dem Himmel wird so lange hin und her gewendet, bis sie niemanden mehr richtig interessiert. Zurück bleibt Verwirrung. Und der Rat, lieber etwas anderes zu lesen.

Günther, Christian / Djurdjevic, Marko – Degenesis

|Die Gasmaske: Ein Symbol für die moderne Idee der Apokalypse. Dahinter schlummert der Schrecken eines alles verheerenden Weltenbrandes, so erlebt in zwei Weltkriegen. Kaum verwunderlich, dass die Gasmaske zu einer Ikone des Endzeit-Genres wurde. Das Endzeit-Rollenspiel „Degenesis“ macht da keine Ausnahme.|

Gasmasken wurden zum ersten Mal im Ersten Weltkrieg eingesetzt. Seitdem hat sich dieses Schutzinstrument zu einem ästhetischen Symbol fern seiner kriegstechnischen Bedeutung entwickelt. Als künstlerisches Mittel transportiert die Gasmaske Eindrücke von Hoffnungslosigkeit, Tod und Zerstörung. Ein Mensch, der eine Gasmaske trägt, wirkt entstellt und unmenschlich. Jeder ahnt: Das Ende ist nah. Hinter dem Symbol schlummern die Angst und der Schrecken eines alles verheerenden Weltenbrandes, so erlebt im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Beinahe mischt sich der Gasmaske eine religiöse Bedeutung bei. Humoristisch könnte das Gerät allenfalls von Monty Python eingesetzt werden. Die Gasmaske taugt als Symbol für die moderne Idee der Apokalypse. Kaum verwunderlich, dass sie zu einer Ikone des Endzeit-Genres wurde. Das Endzeit-Rollenspiel Degenesis bildet da keine Ausnahme. Die Welt hinter der Gasmaske – könnte ein Untertitel lauten.

Degenesis spielt in einer fünfhundert Jahre entfernten Zukunft. Weder Glaskuppeln noch Magnetschwebebahnen prägen die Landschaft. Kein hohes politisches Gremium sorgt für Frieden und Wohlstand auf der Welt. Die Zivilisation ist am Ende. Besser: Sie war am Ende. Sie ersteht gerade wieder neu aus der Asche des Weltenbrandes. Eine Reihe von Asteroiden schlug auf der Erde ein, seitdem herrschte Dunkelheit. Die neue Welt im 26. Jahrhundert gleicht einem Kaleidoskop menschlichen Elends. Die meisten Trümmer des Urvolks sind längst zu Staub zerfallen. Zwar versucht der Kult der Chronisten, die Vergangenheit anhand alter Artefakte zu rekonstruieren, doch ihr Bemühen gleicht einer Farce. Angesichts des täglichen Überlebenskampfes streiten sich die Kulte und Kulturen Europas lieber um die Tage, die da kommen werden, als um ihre Vergangenheit. Gekämpft wird mit rauen Methoden, es gilt das Recht des Stärkeren. Am Rande von Eis, Kratern und Urwäldern glänzt jenseits des Mittelmeeres das Reich Africa. Scheu klopft dort die Zivilisation wieder an die Pforten der Menschheit, erste neue Städte und Regierungen haben sich gebildet. Über all dem schwebt, bedrohlich und mysteriös, der Homo degenesis, eine kollektive Lebensform, die sich über Europa ausbreiten und alles in ihren Bann ziehen will.

Die _Entwicklung_ von Degenesis begann vor über sechs Jahren. In der Schublade von Christian Günther lagen die ersten Entwürfe für ein apokalyptisches Rollenspiel. Dunkel und skurril, glaubhaft und gut spielbar sollte es sein. Unter dem Titel „Endzeit-Europa“ waren erste Eindrücke im Internet zu bestaunen. Im Jahre 2001 gelang „Degenesis“ dann der Sprung in die Profi-Arena. Aus dem Fan-Projekt war ein erstes gedrucktes und im Fachhandel erhältliches Produkt geworden: Der Einsteigerband „Ein Stern wird fallen“ enthielt Kurzregeln und eine kleine Kampagne. Die Basis für eine Weiterentwicklung war gelegt. 2004 erschien schließlich das Grundregelwerk unter der Federführung von Christian Günther und Marko Djurdjevic. Optisch wie inhaltlich konnte das neue Spielsystem überzeugen. Inzwischen präsentiert der eigens gegründete Verlag |Sighpress| die zweite Auflage des Grundregelwerks von „Degenesis“. Im Jahr 2005 erschien das Quellenbuch „Justitian“. Weitere Hintergrundbände und Szenarien sind geplant.

Der _Aufbau_ des umfangreichen Grundbuches gliedert sich in vier große Kapitel. Unter „Primal Punk“ erlebt der Leser eine lebendige Einführung in die Welt von „Degenesis“. Er erfährt in groben Zügen, worum es geht und welche Völker (Kulturen) und Professionen (Kulte) es gibt. Dass an dieser Stelle noch nicht alle Geheimnisse gelüftet werden, ist ein Pluspunkt und fördert das Lesevergnügen. In dem zweiten Kapitel „KatharSys“ geht es etwas trockener zur Sache. Hier werden die grundsätzlichen Spielmechanismen erklärt: Charaktererschaffung, Würfelproben, Kampf, Charakterentwicklung und Heilung. Das dritte Kapitel „Almanach“ beschäftigt sich mit der verfügbaren Hardware: Drogen, Waffen, Munition und Fahrzeuge. Die Geheimnisse der Welt verbergen sich im vierten Kapitel „Sperrzone“. Hinzu kommen Informationen über Gegner, Psychonauten und Tipps für die Gestaltung eines Spielabends.

Die _Regeln_ von „Degenesis“ basieren auf zehnseitigen Würfeln (W10). Die Charaktererschaffung ist unkompliziert und dauert nicht länger als 30 Minuten. In einem Kaufsystem entscheidet der Spieler, welche angeborenen Attribute seiner Figur er fördern und welche erlernten Kenntnisse er steigern will. Hinzu kommen einige Daten zu Waffen, Rüstungen und Spezialisierungen. Damit ist der Charakter auch schon fertig und einsatzbereit. Besonders schön: Mit der regeltechnischen Entwicklung einer Figur geht auch die inhaltliche Ausarbeitung einher. So genannte Prinzipien (z. B. Einzelgänger, Gier oder Stolz) geben Richtlinien für das Rollenspiel der Figur an.

Die _Gestaltung_ von „Degenesis“ verdient besondere Erwähnung. Der schwarzweiße Band präsentiert detaillierte Darstellungen von Figuren und Gegenständen. Außerdem werden die Seiten immer wieder von archaischen Zeichen, Tintenklecksen und Brandspuren unterbrochen. Inhalt und Layout ergänzen sich so wechselseitig und verdichten die Atmosphäre beim Lesen.

„Degenesis“ beeindruckt mit Vielfalt, simplen Regeln und einer komplexen Welt, die auf mehreren Ebenen funktioniert. Das Grundbuch ist gleichermaßen ein spannendes Lesevergnügen als auch ein solides Rollenspiel. Die Autoren beweisen, dass das Endzeit-Genre unzählige mögliche Zugänge erlaubt und nicht so starr und einseitig ist, wie gemeinhin angenommen wird. Die Wahl fällt schwer, ob man seine Spielgruppe aus einem unterirdischen Bunker ans Tageslicht führen will, ob man sie bei einer Reise durch Europa auf die Psychonauten stoßen lässt oder ob man sie im Rahmen einer einzelnen Kultur in Abenteuer verstrickt. Wer ein Fantasy-Setting vermutet, das lediglich von rostigen Pistolen und Gasmasken durchdrungen ist, liegt falsch. Bei „Degenesis“ herrscht ein tolles Gleichgewicht zwischen archaischer Barbarei und Science-Fiction. Die durchgedrehten Ideen, die hinter den Psychonauten, den Sporen und den Erden-Chakren schlummern, bieten auch Rollenspiel-Veteranen Neues. Also: Gasmaske anlegen und los!

http://www.degenesis.de

Gaiman, Neil – Coraline – Gefangen hinter dem Spiegel

|Wenn es draußen regnet, rückt die Welt in die Ferne. Wirklichkeit und Phantasie verlieren sich fast aus den Augen. Wer im Spätherbst Geburtstag hat, weiß, was gemeint ist. Während Schulkameraden Grillfeste veranstalteten, saß man bei schlechtem Wetter drinnen und war mit sich selber beschäftigt. Nach innen gekehrt. Die Hauptfigur in dem neuen Buch von Neil Gaiman ist ein Mädchen namens Coraline Jones. Auch sie wüsste, was gemeint ist.|

Coraline liebt es, sich nach Innen zurückzuziehen, in ihre Phantasie. Wenn es draußen regnet, wenn sämtliche Videos schon angeguckt und wenn alle Bücher schon gelesen sind, dann wird es langweilig. Ihr Vater sitzt den ganzen Tag am Schreibtisch und arbeitet. Ihre Mutter ist entweder unterwegs oder hat etwas Wichtiges zu tun. Missmutig sitzt sie am Fenster und beobachtet, wie die Regentropfen am Glas hinunterlaufen. In ihrer Phantasie ist es besser. Dort ist irgendwie alles aufregend.

Für Coraline hat die Realität schon nach wenigen Tagen an Glanz verloren. Obwohl sie und ihre Eltern erst vor kurzem in das alte Haus eingezogen sind, gibt es hier nicht mehr viel Neues zu entdecken. Den alten Tennisplatz hinterm Haus, den verwilderten Garten und das Brunnenloch kennt sie schon. Die beiden alten Schauspielerinnen Miss Spink und Miss Forcible und ihre weißen Terrier kennt sie schon. Den verrückten Herrn, der angeblich einen Mäusezirkus trainiert, kennt sie schon. Und die Sommerferien dauern sechs Wochen, das ist verdammt lange für ein kleines, aufgewecktes Mädchen.

Das einzige Ding, was Coralines Interesse noch weckt, ist die Tür in der guten Stube. In der Küche hängt ein alter, schwerer Schlüssel, mit dem sie sich öffnen lässt. Dahinter ist eine Mauer, hinter der eine andere, leer stehende Wohnung liegt. Angeblich jedenfalls. So recht mag Coraline den Erklärungen ihrer Mutter nicht glauben. Für das Mädchen wird die Tür zur Grenze, die sich in jeder Aliceonade verbirgt, zum Kaninchenbau, zum Schrank nach Narnia oder zur Unendlichen Geschichte auf den Knien von Bastian Balthasar Bux. Ihre Vorstellungskraft hat endlich ein Loch in der Wirklichkeit entdeckt, durch das sie schlüpfen kann. Was Coraline hinter der Tür findet, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Nur so viel: Es wird unheimlich.

Neil Gaiman beschäftigt seit Jahren nur ein Thema: das Verhältnis von Wirklichkeit und Phantasie. Seine berühmte Comic-Serie „The Sandman“ kündet ebenso davon wie die Romane „Sternwanderer“ und „Niemalsland“. Für Gaiman ist die Phanatsie ein essenzieller Teil der menschlichen Existenz. Er ist ein Träumer, der sich mit seinem Werk trotzig in den rauen Wind von Rationalität und Sachlichkeit stellt. Als Autor sind Träume sein Metier, und es ist ein wahres Glück, dass er immer wieder zauberhafte, sehr persönliche Lesejuwelen ersinnt. Coraline ist ein gutes Beispiel dafür. Als wolle er uns zwischen den Zeilen zuflüstern: Hört nicht auf zu träumen.

http://www.neilgaiman.com

Miller, Frank – Sin City 3: Das große Sterben

|Shelley versucht, cool zu bleiben. Draußen steht ihr Ex-Freund Jack. Er ist betrunken und hämmert gegen die Tür. Hoffentlich verschwindet er wieder. Reinlassen kann sie ihn nicht. Schließlich ist ihr neuer Lover Dwight hier, das gäbe eine Katastrophe. Man ahnt: Mit „Das große Sterben“ erwartet uns eine rasante Achterbahnfahrt durch die Abgründe von Sin City. Frank Millers dunkler Traum geht weiter.|

Shelley stehen Schweißperlen auf der Stirn. Die Barfrau weiß nicht so recht, was sie tun soll. Sich auf Jack einzulassen, war ein Fehler. Plötzlich steht er in ihrer Küche, begleitet von vier Kumpanen, die den Kühlschrank durchstöbern. Die Situation wird brenzlig. Jack fackelt normalerweise nicht lange, wenn er etwas will. Als Jackie-Boy zum Pinkeln geht, reißt Dwight der Geduldsfaden. Shelleys neuer Lover ist ein durchtrainierter Detektiv und nimmt die Dinge gerne selbst in die Hand.

Kaum hat Jack seine Hose geöffnet, packt Dwight den Macho, bedroht ihn mit einem Rasiermesser und macht ihm klar, dass er Shelley in Ruhe lassen soll. Er drückt Jack auf Tauchstation in die Kloschüssel. Bevor der jähzornige Ex untertaucht, stößt er eine Warnung aus: „Du machst einen Fehler, Mann, einen großen Fehler!“ Dwight wird eine ganze Weile brauchen, um dahinter zu kommen, was Jack gemeint hat. Da ist es allerdings bereits zu spät. Die Karre muss erst gründlich gegen die Wand gefahren werden, damit die Geschichte richtig losgeht. Oder gehören das Vorspiel und der harte Aufprall schon dazu?

Die Luxus-Ausgabe von Frank Millers Meisterwerk „Sin City“ ist ihr Geld wert. Hardcover, dickes Papier, guter Druck – da schlägt das Herz des Comicfreundes höher. Lediglich am Textlektorat könnte noch gefeilt werden, denn hin und wieder schleichen sich Fehler im Lettering ein. Wie schon in den vorherigen Bänden würzt der Herausgeber |Cross Cult| die Lektüre mit einigen Extras. So finden sich bei der dritten Ausgabe eine Bildergalerie am Anfang und am Ende des Bandes.

Frank Miller peitscht die Handlung voran wie ein irrsinniger Fuhrknecht. Wie Filmstreifen ziehen die schwarzweißen Bilderfolgen am Auge des Lesers vorbei. Vulgär und blutrünstig geht es zur Sache. Millers Visionen einer überzeichneten Großstadt, durchsetzt von übersteigerter Gewalt, machen „Das große Sterben“ zu einem wahrhaften Adrenalinschub. Da ist es zu verzeihen, dass die Charaktere manchmal etwas zweidimensional und stereotyp wirken. Noch hat die Freiwillige Selbstkontrolle die deutsche Comicindustrie nicht in hohem Maße erfasst. Wenn es einmal so weit kommt, müsste der Verlag für das Cover von Sin City ein Etikett entwerfen. For adults only oder Explicit comic kämen in Frage.

http://www.cross-cult.de/