Alle Beiträge von Dominic Schmiedl

Coupland, Douglas – Hey Nostradamus!

_Douglas Coupland_

Douglas Coupland wurde 1961 geboren und lebt heute in Vancouver. Seinen Durchbruch feierte er Anfang der 90er mit dem Kultroman „Generation X“. Es folgten die Romane „Shampoo Planet“, „All families are psychotic“, „Miss Wyoming“ und „Girlfriend in a coma“. Neben seinen fiktionalen Romanen veröffentlichte er auch Essays und Ähnliches, so auch „American Polaroids“ oder den Fotoband „City of glass“.

_Hey Nostradamus!_

Der Roman beginnt im Jahr 1988. Wir begegnen der Ich-Erzählerin Cheryl, die uns gleich zu Beginn eröffnet, dass sie tot ist. Wie es dazu kam, erzählt sie auf den folgenden Seiten. Cheryl wohnt in Vancouver und geht noch zur High School. Sie hat einen Freund namens Jason, er geht auch zur High School, ist im Gegensatz zu ihr aber in einer sehr religiösen Familie aufgewachsen. Sie lieben sich, beide möchten miteinander schlafen, Jason will davor aber unbedingt heiraten, was sie heimlich auch tun. Cheryl wird daraufhin schwanger. Eines Tages kommt es darüber zum Streit. Am selben Tag stürmen maskierte Schüler die Cafeteria und Cheryl befindet sich mitten in einem Schulmassaker, dessen Opfer sie schließlich wird. Als sie stirbt, schreibt sie noch folgende Zeilen:

|“God is nowhere. God is now here“|

Jason beendet den Amoklauf, indem er einen der Attentäter mit einem Stein erschlägt. Ende des ersten Teils, jetzt springt die Geschichte zum Jahr 1999. Jason ist nun der Ich-Erzähler und schildert das Massaker aus seiner Sicht der Dinge. Wir erfahren eine Menge neuer Dinge; so wurde Jason beschuldigt, von diesem Attentat gewusst zu haben, weil er es schließlich auch beendet hatte. Cheryl wurde wegen ihrer Botschaft zur Heiligen hochsterilisiert und Reg, der Vater von Jason, sagte, dass sein Sohn zur Hölle fahren wird, weil dieser einen Attentäter umgebracht hätte. Egal ob er damit anderen das Leben gerettet hat, Mord bleibt Mord. Daran soll auch die Ehe von Jasons Eltern zerbrechen. Seine Noten werden schlecht und die Leute fangen an, ihn zu meiden. Zwar stellte sich die Vermutung, dass Jason am Amoklauf beteiligt war, als falsch heraus, aber ein bitterer Beigeschmack bleibt natürlich immer und so begegnet der Leser einem Jason, der seinen Glauben verloren hat, nie über den Tod seiner Jugendliebe hinweggekommen ist und versucht, irgendwie durchs Leben zu kommen. Er geht den Weg des geringsten Widerstands, folglich ist er weder auf beruflicher noch auf zwischenmenschlicher Ebene erfolgreich.
Es folgen darauf zwei weitere Kapitel, das dritte führt ins Jahr 2002, diesmal erzählt Heather, die neue Freundin von Jason. Seinen Abschluss findet die Geschichte 2003 aus der Perspektive von Reg, Jasons Vater, der nun auf der Suche nach seinem inzwischen verschollenen Sohn ist.

_Hey, LESENSWERT!_

Dieses Buch ist hervorragend, da es auf mehreren Ebenen funktioniert und die Charaktere so glaubwürdig und echt wirken. Sie sind typisch Coupland. Es sind Außenseiter, zumindest werden sie das. Trotzdem kann man sich sehr gut in sie hineinversetzen, da Coupland ihre Macken nicht überzeichnet und normal wirken lässt. Durch die Erzählperspektive findet man sich zudem in der Gedankenwelt der durchweg interessanten Charaktere wieder, was zur Identifikation beiträgt.

Thematisch spielt Religion eine ebenso große Rolle wie die Frage, ob es ein Schicksal gibt, ob alles im Leben schon vorbestimmt ist, was den Titel „Hey Nostradamus“ erklärt. Für mich steht aber im Mittelpunkt, wie ein einzelnes Vorkommnis, in diesem Fall ein Schulmassaker, das Leben so vieler Menschen für immer verändert, ihr Leben sozusagen steuert. Damit sind nicht nur die Menschen, die direkt etwas mit Cheryl zu tun hatten, gemeint, sondern auch Menschen, die sie nie kannten. Jasons Leben wurde zum Beispiel extrem durch den Tod der Jugendliebe geprägt, die Ehe seiner Eltern ging deswegen auseinander und Heather, die nie etwas mit Cheryl zu tun gehabt hat, soll trotzdem dadurch beeinflusst werden, weil sie eine Beziehung mit Jason eingeht. Man kann aber noch so vieles in diesem Roman finden; so könnte man im Zusammenhang mit den Anschuldigungen gegen Jason die Rolle der Medien diskutieren, aber auch unsere Gesellschaft im Allgemeinen, die jemanden nur aufgrund von Vermutungen verurteilt.

Kunkel, Benjamin – Unentschlossen

Wenn ein Buch als „neuer Kultroman aus New York“ angepriesen wird, dann weckt das Erwartungen an einen hippen, lässig geschriebenen Roman, der sich in Szeneclubs abspielt und jede Menge Sex und Drogen bietet. Andere „Kultromane“ wie „Less Than Zero“, „Bright Lights, Big City“ oder „Trainspotting“ sparten zumindest nicht mit solchen Dingen.

Ob ein Roman zum Kultbuch wird, muss erst die Zeit beweisen. Ein bemerkenswertes Debüt ist „Unentschlossen“ von Benjamin Kunkel aber auf jeden Fall. Auch wenn sein Name durchaus auf einen deutschen Autoren schließen lässt, handelt es sich bei ihm um einen Amerikaner. Viel erfährt man im Klappentext jedoch nicht über ihn: „Benjamin Kunkel wuchs in Colorado auf. Er schreibt für Dissent, The Nation und The New York Review of Books und ist Mitbegründer des Magazins n+1.“

Die wichtigste Information zum Autor erhält man allerdings erst, wenn man zu schmökern beginnt. Kunkel hatte eine echte „novel idea“. So stattete er seinen Protagonisten und Erzähler in Personalunion mit einer wirklich skurrilen Krankheit aus. Der 28-jährige Dwight Wilmerding leidet an Abulie, auf Deutsch chronische Unentschlossenheit. Die Krankheit gibt es wirklich. Sie bezeichnet eine krankhafte Willenlosigkeit, bei der die betroffenen Personen zwar den Wunsch nach einer Handlung haben, sich für die Durchführung dieser Handlung aber oft nicht entscheiden können. Der überaus sympathische Dwight schafft diesem Problem mit Hilfe einer Münze ab, indem er sie entscheiden lässt, ob er zu etwas Lust hat oder nicht. Auch sonst scheint sich der New Yorker nur irgendwie durchs Leben zu wuseln. Nach dem Besuch einer Elite-High-School entscheidet er sich für ein Philosophiestudium an einer kleinen Universität. Dass dieses zu keiner erfolgreichen Karriere führt, ist klar. Dafür hat es ihm die Werke des Philosophen Otto Knittel (hinter dem sich Heidegger verbirgt) näher gebracht, aus denen der Erzähler des Öfteren Zitiert.

Eine Anstellung hat Dwight schließlich in dem Pharmakonzern Pfizer gefunden, doch dort wird er gekündigt. Die WG, in der er mit seinen drei Slackerfreunden wohnt, steht ebenfalls kurz vor der Auflösung. Höchste Zeit also, um ein paar Entscheidungen zu treffen. Sein Mitbewohner und Medizinstudent Dan weiß auch schon Abhilfe: Abulinix soll die Wunderwaffe gegen chronische Unentschlossenheit sein und Dwight stellt sich bereitwillig als Proband zur Verfügung. In der Zwischenzeit hat er sich mit Hilfe seiner Münze dazu entschlossen, seine alte Schulfreundin Natasha in Ecuador zu besuchen. In einer neuen Umgebung auf die neue Willensstärke warten, das ist sein Plan. Dieser wird aber gleich wieder durcheinander gebracht: In Ecuador angekommen, verschwindet Natasha und Dwight muss mit ihrer Freundin Brigid vorliebnehmen. Anstatt durch den Großstadtdschungel muss sich Dwight nun durch den Urwald kämpfen.

Von der Hochburg des Kapitalismus wechselt das Geschehen also in ein Land, das stark an dessen Folgen zu leiden hat. Der Ton des Buches ändert sich auf subtile Weise, immer überdeckt von der komisch-lockeren Sprache des Protagonisten. Dieser Wechsel wurde vielerorts kritisiert, vielleicht auch, weil die Themenbandbreite mit scheinbar jedem Kapitel weiter anwächst. Aus „Unentschlossen“ hätte gut ein über 500 Seiten langer Schmöker werden können. So wird das Thema 9/11 mal eben im Vorbeigehen gestreift. Dwight und seine Freunde haben den traurigsten aller New Yorker Tage im Ecstasyrausch einfach verschlafen. Doch es tut sich noch mehr auf. Da wäre die komplizierte Beziehung zu den Eltern (sein Vater scheint ihn wie einen Hund zu sehen) und die noch viel verworrenere Beziehung zu seiner Schwester Alice. Von der lässt er sich nicht nur psychoanalytisch untersuchen, es gibt auch inzestuöse Gefühle zwischen beiden. Wirklich ausgebaut wird dieses Thema jedoch nicht von Kunkel. Stattdessen mutiert der Roman, oder besser dessen „Held“, im equadorianischen Urwald mehr und mehr zu einem „demokratischen Sozialisten“. Zwischen Dwight und seiner Begleitung entwickelt sich zudem eine Liebesbeziehung. Beides findet seinen Ausbruch in einem wirklich grandios erzählten psychedelischen Drogentrip mit Adam und Eva Romantik.

Was nimmt man also von diesem postmodernen Bildungs- und Coming-of-Age-Roman mit? Erst eimal eine wirklich unterhaltsame Geschichte, die dank der (zum Teil auch mal derben) Situationskomik mehr als nur einen Lacher kreiert. Zum anderen portraitiert Kunkel einen jung gebliebenen Endzwanziger im Zusammenspiel mit dessen komplexer Umwelt. Dwight wurde sicherlich nicht mit Abulie ausgestattet, um dieser eher unbekannten Krankheit Gehör zu verschaffen. Sie mutiert vielmehr zu einer Metapher, die das Dilemma eines weiten Teils der westlichen Gesellschaft thematisiert. Mit einer unbegrenzten Zahl an Alternativen ausgestattet, fällt es nicht nur dem Protagonisten schwer, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Am leider weniger gelungenen Ende der Erzählung muss der Leser feststellen, das es nicht unbedingt die Unentschlossenheit Dwights war, die ihn in eine Krise stürzte, sondern vielmehr die Passivität, mit der er ihr begegnete. Das Warten auf eine Entscheidung, in diesem Fall auf das Wirken eines Medikaments (was im Übrigen ein weiterer Schlag gegen die amerikanische Mentalität, alle psychischen Probleme mit einem Medikament lösen zu wollen, ist), ist das eigentliche Problem. Wenn Dwight glaubt, die Wirkung von Abulinix zu spüren, wird er aktiver – und siehe da: Auf einmal weiß er, was er will.

In der New York Times fragte man „Wer hat Angst vor Holden Caulfield?“, dem Helden aus Salingers „Der Fänger im Roggen“. Dwight Wilmerding sicherlich nicht, auch wenn man auf den etwas kitschigen Epilog gerne verzichtet hätte. Hollywood wird das sicherlich nicht stören.

Graf, Ric – iCool. Wir sind so jung, so falsch, so umgetrieben

Jedes Jahr beglückt uns die deutsche Literaturlandschaft mit einem neuen Gesicht in den Zwanzigern. Was mit Alexa Hennig von Lange und Benjamin von Stuckrad-Barre Ende der Neunziger seinen Anfang nahm, ist Leserealität geworden. Die jungen Wilden bestechen immer mit frechen Büchern zu letztendlich belanglos gewordenen Themen. Sie wecken auch Hoffnungen, die dann bitter enttäuscht werden. Erinnert sich noch jemand an Benjamin Lebert?

Ein ähnliches Buch wie dessen „Crazy“ hat jetzt ein einundzwanzigjähriger Berliner geschrieben. Ric Graf heißt er. Vor zwei Jahren hat er sein Abitur gemacht und vertrieb sich die Zeit danach mit Praktika, unter anderem bei Christoph Schlingensief, sowie mit zahllosen Partys. Ein Buch hat er auch geschrieben: „iCool“. In diesem kann man von Grafs Erfahrungen aus dem Zeitraum von Silvester 2004 bis Ende 2005 lesen. Es ist also kein Roman, vielmehr ein autobiografischer Text geworden. Nach der Lektüre von „iCool“ muss man allerdings feststellen, dass er nicht allzu viel erlebt hat.

Ric Graf nimmt uns mit in die pulsierende Partymetropole Berlin: Wir sitzen in den In-Cafés am Prenzlauer Berg und schlürfen Latte Macchiato oder stürzen in irgendwelchen Elektroclubs ab. Es wird viel geplaudert, geschluckt und die Nase hochgezogen. Ric Graf versucht, eine Generation zu portraitieren, der es an nichts mangelt, außer an Entscheidungsfreudigkeit und Idealismus. „Generation Praktikum“ nennt er sie in einem der besseren Momente des Buches, das sich insgesamt wie die Kolumne eines Berliner Szenemagazins liest.

Doch was bedrückt diese Generation? Während der Latte-Macchiato-Gespräche kommen viele Freunde Grafs zu Wort. Man redet vom Wunsch, berühmt zu sein, seinen Weg im Leben zu finden, über Sex und die nächste Party. Doch es ist nicht alles oberflächlich. Es zeigt sich, dass die Generation Praktikum trotz aller Mobilität und Möglichkeiten sich letztendlich nach Liebe und Sinn sehnt. Die Diskrepanz zwischen den eigenen Vorstellungen am Leben (wenn man denn welche hat) und den Erwartungen der Eltern macht schwer zu schaffen und führt auch zum Scheitern: Ein Freund Grafs begeht nach abgebrochener Entziehungskur Selbstmord.

Es gibt aber auch Momente, an denen man glaubt, dass dieses Buch gar nicht für diese Generation geschrieben wurde. Zwar nimmt Ric Graf selbstbewusst das Wort „uns“ in den Mund und signalisiert damit, für sie zu sprechen, aber wenn er Begriffe wie Metrosexualität, Klingeltöne, Reality TV und Idole wie Shakira oder Pete Doherty erklärt, dann verstärkt sich der Eindruck, dass Graf eher zu der Elterngeneration spricht. Diese wird schockiert sein: Orientierungslosigkeit, Drogen und Sex in allen Lebenslagen werden auf offene Ohren stoßen.

Ebenfalls negativ auffallend ist das zum Teil altkluge Daherreden Grafs. Die Weisheit, dass jeder seine Jugend genießen sollte, und die Erkenntnis, dass Menschen unter dem Druck der Medien leiden und auf ihr Äußeres reduziert werden, ist längst nicht neu. Die Erzählweise könnte auch frischer, eben jugendlicher sein. Die Dialoge mit den Altersgenossen wirken doch sehr geschliffen und längst nicht so spritzig, wie man sie bei Hennig von Langes „Relax“ bestaunen durfte. Richtig ärgerlich wird das Buch dann, wenn ein Besuch bei Benni angekündigt wird und schließlich nur von Dennis geredet wird. Hier hat nicht nur der Autor, sondern auch das Lektorat schlampig gearbeitet.

Nun sollte ich als Rezensent nicht verschweigen, dass ich wie Graf zum Jahrgang 1985 gehöre. In der Gesamtheit der 200 Seiten habe auch ich mich wiedergefunden. Graf schafft es, wesentliche Probleme dieser Generation anzuschneiden. Es fehlt an Initiative und Idealismus, von einer Jugendbewegung ist keine Spur. Er vermisst diese ebenso wie ich. Doch für die präsentierten Erkenntnisse muss ich dieses Buch nicht lesen. Schön ist jedoch, dass Andere im selben Dilemma zwischen Party und Zukunft stecken. Leider unterhält mich das Buch auch nicht, weshalb ich eine Empfehlung für all jene aussprechen kann, die Eltern dieser Generation sind oder Zwanziger, die dringend nach Identifikation suchen. Vielleicht werden sie fündig werden, denn sicher ist auch, dass Graf bei der sich in unzählige Subkulturen teilenden Jugend nicht für alle sprechen kann.

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Wei Hui – Marrying Buddha

Wei Hui ist wohl Chinas bekannteste Schriftstellerin. Die 31 Jahre alte Chinesin hat mir ihrem Debüt „Shanghai Baby“ (in Deutschland 2001 veröffentlicht) für einen handfesten Skandal gesorgt. In ihrer chinesischen Heimat fiel der Roman bei der Zensur durch, da er pornografisch und dekadent sei. Das Verbot im eigenen Land ließ Leser in anderen (westlichen) Ländern aufhorchen, „Shanghai Baby“ avancierte zu einem weltweiten Bestseller, in China bleibt das Buch jedoch verboten.

Nun erschien der zweite Roman der Chinesin, es ist eine Fortsetzung zu „Shanghai Baby.“ Wieder ist Coco die Protagonistin und Ich-Erzählerin, die den Leser in sympathischer Weiser an ihrem für chinesische Verhältnisse skandalösen Liebesleben teilhaben lässt. Stärker noch als bei „Shanghai Baby“ hat man diesmal das Gefühl, dass die Distanz zwischen Coco und Wei Hui eine nur sehr geringe ist. Coco hat wie ihre Erschafferin einen in China verbotenen Roman namens „Shanghai Baby“ geschrieben und ist nach New York gezogen. Dort verliebt sie sich in den Japaner Muju, eine tiefe Beziehung entwickelt sich und die alles andere als traditionsbewusste Coco denkt über Heirat, Familie und ihre Wurzeln nach. Schon komisch, dass dies gerade in New York passiert, aber wie der Leser erfährt, scheinen New York und Shanghai kulturell gar nicht so weit voneinader entfernt zu sein. Ein interessanter Punkt an diesem Roman ist der zuweilen faszinierende Vergleich zwischen beiden Metropolen. Dabei zeichnet die Autorin wie schon in ihrem Debüt das Bild eines Shanghais, das immer kapitalistischer und hedonistischer wird und wo der Widerstand der alten Tradition schwindet. So schreibt sie von New Yorks Chinatown: |“Die Chinatowns in Übersee sind wie alte Güterzüge, die langsam mit ihrer Fracht aus alten chinesischen Traditionen und Erinnerungen dahinrattern. Im Gegensatz dazu ist China ein Hochgeschwindigkeitszug, der mit seiner sich entwickelnden Marktwirtschaft in atemberaubender Geschwindigkeit vorwärtsrast.“|

Zentrales Thema ist jedoch nicht die Kultur zweier Städte im Vergleich, sondern die Liebe und alles, was dazugehört. So glücklich Coco mit ihrem Muju in New York auch ist, spannend ist das natürlich noch nicht. „Marying Buddha“ ist aus der Retrospektive geschrieben. Obwohl der überwiegende Teil in New York spielt, ist die Protagonistin schon längst aus New York zurückgekehrt und die Beziehung zu Muju scheinbar vorbei. Coco zieht es nach Putuo, einer kleinen Insel mit buddhistischen Tempeln. Auf dieser Insel wurde sie geboren und dort sucht sie Ruhe, lässt ein Jahr New York Revue passieren. Schritt für Schritt entblättert sie die Liebesgeschichte zwischen Muju und sich mit allen erotischen Details, bis sie bei einer Lesereise die Beziehung zerbröckeln lässt. In Spanien trifft sie auf Nick, einer New Yorker Zufallsbekanntschaft, der sie kaum zu widerstehen vermag. In Argentinien besucht Muju sie bei ihrer Lesereise. Angesichts der hoffnungslosen Situation in Argentinien und der mit aufkeimenden Problem konfrontierten Beziehung dürfte die Ortswahl der Autorin alles andere als ein Zufall gewesen sein. Nach der Lesereise kehrt Coco allein nach Shanghai zurück. Als sie schwanger wird, weiß sie schließlich nicht. von wem.

„Marrying Buddha“ ist ein flottes Buch und verfolgt den so erfolgreichen Stil von „Shanghai Baby“ weiter. Jedem Kapitel hat die Autorin Zitate vorangestellt; dass sich da Zitate aus buddhistischen Lehrbüchern mit Zitaten aus „Sex and the City“ abwechseln, ist bezeichnend. Der Roman schwebt anders als das Debüt zwischen dem bunten und aufregenden Leben pulsierender Metropolen und der Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln, thematisch gibt es also einen Unterschied zwischen beiden Büchern. Genau dieser Unterschied in Kombination mit Huis VIP-Status dürfte auch dazu geführt haben, dass man zumindest diesen Roman in China frei kaufen kann. Zum Thema Verbot äußert sich die Protagonistin, die ja dasselbe Schicksal wie Wei Hui erträgt, ausgiebig im dreizehnten Kapitel. Hier sind die autobiografischen Züge des Romans natürlich auch am deutlichsten. In New York hat Coco ein Stipendium der Ostasienabteilung der Columbia University angenommen. Als zu einer Veranstaltung alte chinesische Autoren anreisen, wird deutlich, was Wei Hui und ihre vom Staat gestützten Kollegen trennt: Alter und Geschlecht. Etwas verletzt und ein bisschen feministisch klingt sie, wenn sie schreibt: |“Nicht ein einziger machte Anstalten, sich freundlich mit mir zu unterhalten. Mein Englisch, die mehreren hundert Dollar, die ich in Form von Kleidung an mir trug, ja selbst die Pickel in meinem Gesicht, all das war unverzeihlich für sie. Nichtsdestotrotz hatten sie mir im Geiste vermutlich schon mehrmals die Kleider vom Leib gerissen.“ |

Stellen wie diese sind die bestechendsten an dem Roman, ebenso wie die interessanten Vergleiche zwischen Amerika und China. Leider ist die Liebesgeschichte nicht ganz so faszinierend; zwar bieten sich immer mal wieder interessante Gedanken zum Thema Nummer eins, doch wirklich mitreißend ist der „Roman über Lust und Leidenschaft“ dann doch nicht, unterhaltsam aber allemal.

Hennig von Lange, Alexa – Warum so traurig?

Der sympathische Lockenkopf Alexa Hennig von Lange legt dieser Tage mit „Warum so traurig?“ seinen neuen und vielleicht besten Roman vor. Die 1973 geborene Hannoveranerin trat erstmals als „Bim Bam Bino“-Moderatorin in den Neunzigerjahren in Erscheinung. Von der Moderation wechselte sie aber bald in ihren Traumberuf, der Schriftstellerei. Ihr bisher größter Erfolg wurde dann auch gleich das Debüt „Relax“ (1997). Seitdem kamen fast jährlich neue Veröffentlichungen hinzu, darunter das weniger überzeugende „Ich bin’s“ (1999), das mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnete „Ich habe einfach Glück“ (2001), „Woher ich komme“ (2003), „Erste Liebe“ (2004) sowie einige Kinderbücher.

Mit „Warum so traurig?“ kehrt Hennig von Lange einerseits zu ihren Wurzeln zurück, anderseits präsentiert sie sich wie auch schon in „Woher ich komme“ als gereifte Schriftstellerin und Persönlichkeit. „Warum so traurig?“ ist eine Art Fortsetzungsroman des Bestsellers „Relax“. In diesem Roman berichtete die Autorin von einem Paar Anfang zwanzig im Rausch der wilden Neunzigerjahre. Das junge Paar war nicht nur im Liebes-, sondern auch im stetigen Drogenrausch. Die 90er sind jetzt vorbei, Elisabeth, die in „Relax“ nur als „die Kleine“ auftauchte, ist Anfang dreißig und mit ihrem Arbeitskollegen Philip verheiratet. Wie es im Klappentext des Buches treffend zusammengefasst wird, berichtet „Warum so traurig?“ vom Aufwachen, der großen Ernüchterung nach der wilden Jugendzeit.

In der Ehe von Philip und Elisabeth kriselt es. Der Alltag hat sich eingeschlichen und die Erotik zwischen beiden ist eingeschlafen. Während Elisabeth dieses Thema anzusprechen versucht, blockt Philip diese Gespräche ab. Generell wird zwischen beiden wenig geredet, der kurze Trip nach Lissabon, über den sich die Erzählzeit erstreckt, kann dies auch nicht ändern. Vielmehr legt er diese Schwächen noch weiter offen. Elisabeth hatte gar keine Lust auf diese Reise, hält dies aber zurück. Sie ist zur Zeit mit anderen Dingen beschäftigt. Während er sie durch Lissabon schleift, ist sie tief in ihren Gedanken versunken, versucht ihre eigene Vergangenheit zu entschlüsseln. Dabei tauchen immer wieder ihre letzten beiden Beziehungen zu Chris, welcher am Ende von „Relax“ stirbt, sowie Markus, mit dem sie später zusammen war, auf. Auch Philip spielt in diesen durch den früheren massiven Drogenkonsum der Protagonistin bruchstückhaften Erinnerungen eine Rolle. Sie erinnert sich daran, wie es mit beiden angefangen hat und versucht so (vergeblich) den Zauber der ersten Begegnung, der ersten Berührung wieder aufleben zu lassen. „Mein Kopf ist voll von unsortierten Bildern, zusammengeklebt von einander bekämpfenden Gefühlen,“ stellt sie müde fest.

Der in die Beziehung eingekehrte Alltag ist nicht das einzige Problem der beiden. Schnell erfährt der Leser, dass beider Leben in unterschiedliche Richtungen verlaufen. Sie ist noch mit der Vergangenheit beschäftigt, hat Sehnsüchte und den Wunsch Mutter zu werden; er will nicht auf die Gedankenspiele seiner Frau eingehen und Kinder will er schon gar nicht. Welche Folgen das für die Ehe haben kann, deutet sich an, als man ein befreundetes Ehepaar in Lissabon besucht. Melissa und Rene haben Kinder, und wie sich zeigt, war Philip mit Melissa einmal zusammen. Als Elisabeth nach dem Trennungsgrund fragt, antwortet Philip kühl: „Sie wollte Kinder haben.“

Doch da ist noch mehr, und instinktiv sucht Elisabeth in ihrer Erinnerung danach. Der Leser ahnt, dass die Erinnerung auch die Entscheidung in der Gegenwart bringen wird.

Hennig von Lange zeichnet mit ihrer einfachen und klaren Sprache gefühlvoll das Scheitern einer noch jungen Ehe nach. Während die Gegenwart die Tatsachen abbildet, werden die Ursachen dafür durch die Erinnerungen der Protagonistin zu Tage gebracht. Immer wieder dringt Vergangenes an die Oberfläche und bringt so ein weiteres Teil des Puzzles zum Vorschein. Die Autorin hat es solcherart geschafft, dieser ruhigen, reflektierenden Erzählungen ein erhebliches Maß an Spannung mitzugeben, was den Leser in einem Zuge durch den Roman treibt. Dieses Entknoten der Vergangenheit hat sie in „Woher ich komme“ schon geübt, hier hat sie es zur Perfektion gebracht. „Warum so traurig?“ verfügt auch über die weiteren Zutaten, die einen Hennig-von-Lange-Roman immer lesenswert machen. Wieder wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt und es ist wohl die beste Eigenschaft der Autorin, die Gedankengänge der Protagonistin und die Charaktere selbst nachvollziehbar und glaubhaft darzustellen. Sie kreiert die Figuren nicht nur, sie fühlt sich auch in sie hinein, und so geht der Leser vollkommen in der Gedankenwelt und im Blickwinkel der Erzählerin auf.

„Warum so traurig?“ ist das vielschichtigste Buch der Autorin. Mit wenigen Worten stellt sie einen tief greifenden Konflikt dar. Sie bringt die erwachsene Erkenntnis zu Papier, dass die zweifellos vorhandene Liebe zwischen zwei Menschen doch nicht reicht, um eine dauerhaft glückliche Ehe zu führen. Sie zeigt auch, dass Narben Zeit zum Heilen brauchen, die ständige Flucht in die Drogen hat die Wunden nur noch vergrößert. Geradezu zerbrechlich wirkt die Protagonistin, die panische Angst vor dem Tod und dem Vergessen hat. Panisch sagt sie zu ihrem Mann „Liebling, ich werde mein Gedächtnis verlieren!“ Die Angst vor Gedächtnisverlust ist ein wiederkehrendes Motiv in dieser Erzählung und wirkt wie eine Metapher für den Verlust der Jugend, denn „Warum so traurig?“ ist auch ein Abschied von der Jugend. Traurig stellt Elisabeth fest: „So golden und sexy, wie wir es uns erträumten, wird es nie wieder werden.“

Merkel, Rainer – Gefühl am Morgen, Das

Mit „Das Gefühl am Morgen“ legt Rainer Merkel seinen zweiten Roman vor. Für sein Erstlingswerk „Das Jahr der Wunder“ erhielt er 2001 den Literaturförderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung. Er hat sich also viel Zeit für den Nachfolger gelassen, der erstaunlicherweise mit 150 Seiten Umfang auch recht kurz ausfällt.

Auf dem Buchumschlag wird „Das Gefühl am Morgen“ als Liebesgeschichte, die zwischen „Rausch und Zögern schwankt“, angepriesen. Doch die Erzählung als bloße Liebesgeschichte abzutun, wäre leichtfertig, denn einerseits ist das hier keine normale Liebesgeschichte, von der man Leichtigkeit und Pathos erwartet. Zumdem steckt hier noch mehr drin: „Das Gefühl am Morgen“ ist, wie es in der neueren deutschen Literatur doch häufig vorkommt, eine Erzählung, die sich mit dem Thema der 68er Generation und deren Folgen auseinandersetzt. Der „Held“ der Geschichte, Lukas, ist wie seine Partnerin Laura Kind von Eltern eben jener Generation, wobei man über die Familienzustände Lauras nichts erfährt. Generell wird der Leser hier in vielen Dingen im Unklaren gelassen. Der auktoriale Erzähler heftet sich ganz an Lukas und gibt trotzdem nicht alles wieder. Lange Ausflüge in die Gedankenwelt gibt es ebenso wenig wie Beschreibungen von Äußerlichkeiten.

Kennen gelernt haben sich die zirka 20-Jährigen auf einem langen Gang im Westberliner (die Erzählung spielt in den Achtziern) Studentenwohnheim Schlachtensee. Er war fasziniert von dem seltsamen Rhythmus ihrer Bewegungen, sie trat daraufhin ohne Grund in sein Zimmer. Man verbrachte die Nacht zusammen und kam nicht mehr voneinander los. Doch etwas stimmt da nicht: Wer an Liebe denkt, der denkt an Leichtigkeit, nervöses Kribbeln und Albernheiten. Die fehlen hier. Träge wirken beide, sie geht nicht gern aus, denn „das ist doch Zeitverschwendung“, er versucht sie zu beeindrucken, doch die gestelzten und konstruierten Sätze wirken fehl am Platz.

Das im Titel verwendete Wort „Gefühl“ wirkt im Hinblick auf diese Beziehung fast schon zynisch. In seiner Trägheit wirken die beiden Charaktere taub; sich als Leser in die Protagonisten „einzufühlen“, ist fast eine Unmöglichkeit. In Merkels Bemühungen, das Ganze vage zu halten, wirkt die Geschichte doch etwas konstruiert und aufgesetzt. Die Flachheit der Charaktere und die ständige Unklarheit über die Situationen (ob Lebens- oder Liebessituation der Protagonisten) stört den Lesefluss zusätzlich. „Das Gefühl am Morgen“ ist ein anstrengendes Vergnügen. Doch wer sich müht, wird tatsächlich auch belohnt. Je weiter die Geschichte fortschreitet, desto klarer wird, dass Merkel hier mehr im Auge hatte als eine bloße Liebesgeschichte. Bald kommt Lukas` Vater, ein hoch angesehener Psychoanalytiker, hinzu. So wird dem Leser die Tür zu einer interessanten Familienwelt geöffnet, zumindest einen Spalt weit. Denn auch hier wird keine Klarheit gegeben. So heißt es, dass Lukas‘ Mutter in Kalifornien lebt, mit seinem Bruder. Der Kontakt zur Mutter ist jedoch nur sporadisch, auch das Verhältnis von Vater und Mutter wird nicht aufgelöst. So bekundet der Vater zwar seine Zuneigung, lebt aber in Berlin und scheint gelegentlichen Affären auch nicht abgeneigt zu sein. Zudem scheint die Mutter den in Kalifornien lebenden Bruder zu überfordern, sie reist umher, scheint gesundheitliche Probleme zu haben und verprasst ungehemmt Geld.

Die Beziehung zwischen Lukas und seinem Vater ist eine sehr interessante. Der Sohn scheint eine gewisse Abneigung zu haben, sagt zu Laura, dass er ihn nur analysiere und für eine „Idee“ halte. Was das zu bedeuten hat, bleibt ungewiss. Feststeht, dass der Sohn in absoluter Abhängigkeit zu seinem Geldgeber steht. Der ist auch ganz spendabel, gibt Geld und psychologische Ratschläge freigiebig, was nichts daran ändert, dass auch diese Beziehung kalt bleibt.

Es ist eine schemenhafte Welt, in die uns Merkel hier entführt. Die Achtzigerjahre, die in den letzten Jahren ein Comeback erlebten, wirken hier alles andere als berauschend. Einschläfernd, ermüdend und trist ist das Bild, das man von der Welt und den Protagonisten bekommt. Geradezu lethargisch lässt Merkel seinen Lukas durch diese Welt stolpern, ohne Ziel und Energie. Er studiert Ethologie, ohne zu wissen, welchen Sinn das hat. Er scheint auf etwas zu warten, doch letztendlich verpasst er auch die Gelegenheit zu schätzen, was er hat. So zerbricht die Beziehung schließlich an der ungeplanten Schwangerschaft Lauras. Die bemerkt während eines Spaziergangs: „Wir laufen in die falsche Richtung.“ Einen anderen Weg zu gehen, das fällt aber keinem von beiden ein.

„Das Gefühl am Morgen“ ist eine interessante Erzählung, die aber Geduld braucht und es leider auch verpasst, den Leser zu unterhalten. Dafür lässt sie ihn auch noch nach der letzten Seite lange nachdenken, und das nicht nur über die Liebe.

Langer, Adam – Crossing California

„Crossing California“ ist das Debüt des im Jahre 1967 geborenen Amerikaners Adam Langer. Der Journalist, Bühnenautor und Filmproduzent lebt in New York, stammt aber aus Chicago. In dieser Stadt hat er auch, anders als es der Titel vermuten lässt, seine rund 600 Seiten lange Erzählung angelegt.

„Crossing California“ entführt den Leser in das Chicago anfang der Achtzigerjahre und beleuchtet das Leben dreier Familien in einem jüdisch geprägten Viertel. Die Wasserstroms, Wills und Rovners sind drei Familien, deren Wege sich immer wieder im dem Viertel, das von der California Avenue durchzogen wird, kreuzen. Die California ist eine besondere Straße, denn sie teilt die obere von der unteren Mittelschicht. Westlich der Straße wohnen die Rovners. Vater Michael ist Arzt, seine Frau Ellen Psychologin. Die Tochter Lana wird von der unterkühlten Mutter als penetrant, ehrgeizig und mäßig intelligent eingeschätzt. Ihr älterer Bruder Larry träumt von einer jüdischen Rockkarriere und sexuellen Abenteuern. Etwas weiter östlich wohnen die Wasserstroms. Vater Charlie erzieht seine Töchter Jill und Michelle nach dem Tod der Frau allein. Noch weiter östlich lebt die Afro-Amerikanerin Deidre Wills mit ihrem Sohn Muley. Sie leben in ärmlichen Verhältnissen und das, obwohl Muleys Vater Carl Silverman in Los Angeles Karriere als Plattenproduzent gemacht hat. Deidre verweigert jedoch jeden Kontakt zwischen Muley und seinem Vater sowie jegliche finanzielle Unterstützung.

Zwei Jahre lang begleitet man diese zehn Protagonisten durch ihr Viertel. Abwechselnd widmet sich der allwissende Erzähler den Charakteren, die allesamt mit sich hadern und allzu menschliche Entwicklungen durchmachen müssen. Ellen und Michael Rovners Ehe ist am Ende, beide schlafen in getrennten Betten, sie sehnt sich nach einem Leben allein, er nach sexuellen Abenteuern mit einer Kollegin. Auch bei der Familie Wasserstrom ist eine Menge los: Michelle will Schauspielerin werden, verbringt ihre Freizeit mit Alkohol, Gras und Sex, während die jüngere Schwester Jill im Stillen gegen scheinbar alles rebelliert. Charlie verliert seinen Job bei einem Fast-Food-Restaurant durch einen bissigen Artikel der Journalistin Gail, in die er sich prompt verliebt. Daraus ergeben sich viele kleine Konflikte, meist aus tragikomischen Zufällen heraus. Der Star unter den unterschiedlichen Handlungssträngen ist jedoch die zarte Liebesbeziehung zwischen den Teenagern Muley und Jill, zwischen denen es einfach nicht so recht klappen will, trotz jedes noch so rührenden Annäherungsversuches Muleys.

An dieser Stelle gelangt man aber auch zu den Problemen des Romans. Die vielen Charaktere und Handlungsstränge machen es dem Leser schwer, sich in das Gefüge einzulesen. Ähnlich verhält es sich mit den vielen Ortsbeschreibungen, da hilft auch die abgedruckte Landkarte des Viertels nicht, im Gegenteil: Das Nachschauen in der Karte oder dem Jiddisch-Glossar am Ende des Buches stören den Lesefluss zusätzlich.
Was diesem vielversprechendem Debüt ebenso fehlt, ist die Fähigkeit des Autors, seine Charaktere messerscharf zu charakterisieren, zudem wahrt der Erzähler eine zu große Distanz zu den Charakteren, was das Identifikationspotenzial für den Leser deutlich nach unten korrigiert. Nichtsdestotrotz hat der Roman seine bestechenden Momente, die Annäherungsversuche zwischen Jill und Muley bieten einige davon. Adam Langer bringt aber noch weitere interessante Aspekte in seine Erzählung ein; so versteht er es blendend, die Geschichte der Achtzigerjahre in seine Handlungen einzubinden und möglichst authentisch in seinen Schilderungen zu wirken. Um so bedauernswerter ist es da, dass es ihm aufgrund seiner schwammigen und distanzierten Schreibweise nicht gelingt, den Leser an dieses Buch zu fesseln, so wie es seinen amerikanischen Kollegen John Irving oder Jeffrey Eugenides immer wieder glückt.

Gundermann, Bettina – Lysander

_Von Menschen, die verloren haben._

„Lysander“ ist der zweite Roman der Autorin Bettina Gundermann, Jahrgang 1969. Geboren wurde sie in Dortmund, den ersten Roman „Lines“ legte sie 2001 vor. Lysander heißt auch der Protagonist der Erzählung, in der Bettina Gundermann zuweilen die Atmosphäre eines Gruselmärchens verbreitet, die Rolle des bösen Wolfs übernimmt hier aber das Leben selbst.

Unterteilt wurde die 152-seitige Erzählung in zwei Kapitel. Das erste umfasst nur drei Seiten und schildert als Prolog die widrigen Umstände, unter denen der Protagonist in Form eines Antihelden das Licht der Welt erblickt. Mit „Lysander wurde im Dreck geboren“ wird der Roman begonnen, es folgen Sätze wie „Seine Mutter schwitzte, stank, japste und schrie“ oder „Sie sprach kein Wort zu ihrem Kind, sie trug es wie eine schwere Last, nicht einmal schaute sie ihr Baby an, überprüfte, ob noch Leben in ihm sei. Fast hätte sie es einfach fallen lassen auf ihrem Weg.“ Dem Säugling kommt von der ersten Minute seines Leben keine Liebe entgegen, versteckt im Wald gebärt die Mutter, will es am liebsten dort zurücklassen und zündet es schließlich an. Aber Lysander hat Glück, sollte man denken, denn er wird gerettet und zu einem kirchlichen Kinderheim gebracht.

Dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen, wird das Leben für das entstellte Kind zur Qual. Die Erzieherinnen wissen nicht mit ihm umzugehen, die anderen Kinder im Heim lachen es aus, vergraben es einmal sogar im Schnee. Lysander zieht sich in sich selbst zurück und lauscht der Melodie in seinem Kopf, die immer da ist, wenn es regnet. Als er geboren wurde, regnete es auch. Er versteckt sich tagsüber im Keller, spricht kaum, denn niemand spricht mit ihm.

Eines Tages reicht es dem gehänselten Kind und es rammt sich frustriert eine Gabel in die Stirn. Er überlebt unbeschadet, wird als Gefahr für sich und andere aber in ein Heim für psychisch gestörte Kinder überwiesen. Auch da lacht man ihn aus, außer Riccardo. Der ist „Hässlichkeit gewöhnt“ und wird zum besten und einzigen Freund Lysanders.

Die Freunde teilen ein gemeinsames Schicksal, sie haben beide im Spiel des Lebens verloren und keine Aussicht auf Besserung. Riccardo musste im Kindesalter mit ansehen, wie seiner Mutter Augen und Zunge aus dem Gesicht geschnitten wurden. Sie starb daran, der Vater wurde verrückt. Riccardo kommt zu einer neuen Familie, er entwickelt sich nach außen gut, seine neue Mutter ist stolz auf ihn, bis er auf einem Jahrmarkt das Feuer eröffnet und mehrere Menschen durch seine Hand sterben. Jetzt hat auch er niemanden mehr und muss ins Heim.

Als sie erwachsen sind, können sie das Heim verlassen. Lysander kommt ein Jahr vor seinem Freund raus. Der freute sich schon auf die Freiheit, Lysander hatte Angst vor ihr. Was will er auch damit? Andere Menschen haben Angst vor ihm. Bis Riccardo aus dem Heim entlassen wird, geht Lysander keinen Schritt vor die Tür, zeigt sich niemandem und überlebt nur durch die Vorfreude auf seinen einzigen Freund. Als der wieder da ist, geht es Lysander aber nur für kurze Zeit besser. Riccardo geht nach draußen, so oft wie es geht. Besorgt sich einen Job und viele Frauen, die seine innere Leere ausfüllen sollen. Dem Leser wird schnell klar, dass sie beide hässlich sind: Lysander von außen, Riccardo von innen.

Lysander fühlt sich schnell im Stich gelassen, ist trotz der Wohngemeinschaft mit Riccardo einsam. Der schenkt ihm schließlich ein Klavier, damit Lysander die Melodien in seinem Kopf spielen und Riccardo das Leben weiter in sich aufsaugen kann.

Bald kommt eine dritte Person ins Spiel. Kira liegt stark blutend auf der Straße, als sie Riccardo bei seinen nächtlichen Streifzügen findet und sich verliebt. In ihr sieht er etwas, das ihm helfen kann, die unsterbliche Leere seiner Seele zu füllen, die schwere Melancholie seiner selbst mit ihrer „Leichtigkeit“ zu füllen. Lysander zeigt sich ihr nicht, sorgt mit seinem berührenden Klavierspiel aber dafür, dass Kira sich in Riccardo, der das Spiel als das Seine ausgibt, unsterblich verliebt.

Sie heiraten, Lysander bleibt allen zurück. Er spielt nicht mehr auf dem Klavier, die Melodien kommen nicht mehr zu ihm, er vereinsamt abgeschnitten von der Außenwelt. Auch Riccardo geht es immer schlechter, Kiras Liebe kann ihn nicht vor Angst und düsteren Gedanken retten. Ein finsterer Schatten legt sich über beide und begleitet sie bis zum unvermeidbaren Ende.

„Lysander“ ist eine Geschichte von Menschen, die das Glück einfach nicht finden können und stattdessen in den eigenen Untergang marschieren. Es ist auch eine Geschichte, die den Leser mit ihrer schonungslosen Gestaltung überrollt. Sie überzieht den Leser mit ihrer kalten aber kurz vor dem Überschwappen stehenden Gefühlswelt. Die Sätze sind kurz und klar, beschönigen nichts und legen den Schmerz einer gefühllosen Welt offen, so dass ihn jeder sehen kann. Der allwissende Erzähler taucht nach Belieben in die Gedanken und Erinnerungen der Personen ein und gibt alles so wieder, als würde es ihn nicht berühren. Und so hat der Leser auch nach der Lektüre an diesem originellen wie auch hervorragenden Roman zu knabbern.

Hennig von Lange, Alexa – Erste Liebe

Alexa Hennig von Lange legt mit „Erste Liebe“ die Fortsetzung ihres Erfolgsromans [„Ich habe einfach Glück“ 987 aus dem Jahr 2002 vor. Die 1973 geborene Hannoveranerin zählt seit der Veröffentlichung ihres Debüts „Relax“ (1997) zu den erfolgreichsten Autorinnen ihrer Generation.
Desweiteren erschienen „Ich bin’s“, „Mai 3D“, [„Woher ich komme“ 962 und ihr aktuelles Kinder- und Jugendbuch „Mira reichts“.
Für „Ich habe einfach Glück“ erhielt sie den Jugendliteraturpreis 2002. „Erste Liebe“ erschien im September 2004.

Irgendwann in den 90ern trifft man Lelle und ihre chaotische Familie aus „Ich habe einfach Glück“ wieder. Inzwischen hat sich einiges getan, zwei Jahre sind vergangen, Lelle ist jetzt 17 und auf Rat ihrer Therapeutin von zu Hause weggezogen. Jetzt lebt sie in einem kleinen Zimmer, das sich an das Büro des Vaters anschließt.
Ihr erster Freund Arthur ist weg, der baut jetzt in Simbabwe Lehmhäuser und lächelt als groß kopiertes Foto von der Wand auf Lelle herab. Natürlich macht sie das etwas wehmütig, doch Lelle ist tapfer, so gibt sie sich zumindest, obwohl die Tränen des Öfteren mal hervorschießen. Aber es ist Besserung in Sicht: Auf der Party ihrer sonst langweiligen Freundin Tessi lernt sie den Rocker Marcel kennen und verliebt sich augenblicklich in ihn.

In ihrer Familie ist noch alles beim Alten, die ältere Schwester Gotsch ist eifersüchtig auf Lelle, weil die das Zimmer bekommen hat und nicht sie. Sie wechselt auch immer noch ihre Liebschaften wie ihre Unterwäsche und mit Selbstmord droht sie auch noch, wenn sie sich wie so oft ungerecht behandelt und ungeliebt fühlt. Der Vater geht Konfrontationen nach wie vor aus dem Weg und wenn sich das nicht verhindern lässt, bekommt er einen cholerischen Anfall. Die Mutter versucht vergeblich, das Ganze zusammenzuhalten, scheint sich in der Zukunft aber schon ohne ihren Berni zu sehen. Die Konfrontation scheint sie anders als in „Ich habe einfach Glück“ jedenfalls nicht mehr zu scheuen.

„Erste Liebe“ ist ein Buch, das zu Beginn vor allem von zwei Dingen lebt: Zum einen die Soap-Frage: Wie ging es nach „Ich habe einfach Glück“ weiter?, und zum anderen durch die gewohnt flüssige, leichte und authentische Jugendsprache, mit der die Autorin ihren Charakteren Leben einhaucht. Die sind dem Leser auch inzwischen ans Herz gewachsen, da „Erste Liebe“ die Trilogie („Lelle“, „Ich habe einfach Glück“) um Lelle vorerst abschließt. Demzufolge kennt der Leser die Protagonistin schon sehr gut, was bei der Entwicklung der Story natürlich viel Zeit spart. Trotzdem macht Hennig von Lange den Einstieg für Leser, die die ersten beiden Teile nicht kennen, leicht: Lelle gewährt ab und an Einblicke in ihre Vergangenheit, indem sie von einschneidenden Erlebnissen ihrer Jugend berichtet oder Beispiele für das Fehlverhalten ihrer Familie anführt. Für den mit dem Stoff vertrauten Leser kommen diese Punkte alles andere als ungelegen, frischen sie die Erinnerung doch noch mal auf und nehmen dabei kaum Platz weg.

Trotzdem hat der Roman auch seine Schwächen, die vor allem in der Handlung liegen, in der Lelle den Leser, den sie in ihrer lockeren Art mit „Leute“ auch anspricht, hineinzuziehen versucht. Die Familienproblematik ist aus den vorhergehenden Romanen schon bestens bekannt und gibt nicht mehr so viel Neues her. Zur Geschichte kommen lediglich zwei neue Aspekte hinzu: Zum einen das langsame Abnabeln von der immer präsenten Familie, der Anfang vom Abschied der Kindheit. Da Lelle nun aber doch noch täglich von ihren Eltern umgeben ist und sie mit 17 noch gar nicht so alt ist, kommen diese Aspekte etwas zu kurz. Aber da ist ja noch die „Erste Liebe“ oder vielmehr die zweite, Marcel. Der bringt einen völlig neuen Punkt mit in Lelles Leben: Den ersten Sex und den daraus folgenden inneren Konflikt, da sie ja eigentlich noch mit Arthur zusammen ist.

Leider hält sich Alexa Hennig von Lange mit diesen Dingen ebenfalls nicht lange auf und so ist nach drei Tagen Erzählzeit der Roman nach 158 Seiten beendet und wirkt dadurch viel zu flüchtig, was durch die lockere Erzählsprache nur begünstigt wird. Trotzdem bleibt „Erste Liebe“ ein sehr unterhaltsamer Roman, der den Zauber der Jugend für kurze Zeit aufleben lässt.

Hennig von Lange, Alexa – Ich habe einfach Glück

Alexa ist Hannoveranin, im Jahre 1973 geboren. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1997, die Rede ist vom Bestseller „Relax“. Danach folgten die mehr oder weniger guten Romane „Mai 3D“ und „Ich bin’s“. „Ich habe einfach Glück“ erschien 2002 und wurde mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Wir kennen Alexa aber auch aus dem TV. So moderierte sie eine lange Zeit die Kindersendung „Bim Bam Bino“ und tauchte schon einige Male bei Harald Schmidt auf. Wer diese Auftritte gesehen hat, wird Alexa kennen, da es mit ihr doch sehr lustig und skandalös zuging.
Mittlerweile ist Alexa übrigens mit Autor Joachim Bessing verheiratet und Mutter zweier Kinder.

_Über Magersucht, Sexentzug und Neurosen_

Alexa Hennig von Lange nimmt uns in „Ich habe einfach Glück“ mit in eine deutsche Vorstadtidylle. Wir lernen eine nach außen hin völlig normale und intakte Familie kennen. Protagonistin und Ich- Erzählerin ist die 15 Jahre junge Lelle. Ihre Schwester ist Gotsch, steht nach Aussage ihrer kleinen Schwester „auf rumbumsen“ und grenzt sich weitgehend aus der Familie aus. Sie fühlt sich ungeliebt, zertrümmert gerne mal ihre Geige und droht der Familie mit Selbstmord. Außerdem hasst sie ihren Vater, der sich geschickt aus allem raushält und nach der Arbeit schnell im Keller verschwindet, um Schuhe zu putzen. Die Mutter macht in dieser neurotischen Familie keine Ausnahme. Sie hat panische Angst vor Bakterien, zwingt ihre Kinder sich umzuziehen, wenn sie von draußen ins Haus kommen, da die Kleidung von Bakterien verseucht sein könnte. Auch sonst hat sie größtenteils Angst. Angst, dass sich Gotsch umbringt oder einfach abhaut, was sie schön öfters getan hat, oder sie verfolgt Lelle bis an die Klotür aus Angst, deren Magersucht könnte zur Brechsucht werden. Seit Kurzem verspürt sie auch immer ein Stechen in der linken Brust, in der Hoffnung, die Kinder würden weniger anstrengend sein, wenn sie mit Herzinfarkt droht.
Einen Handlungsstrang in diesem Minenfeld zu kreieren, ist nicht schwer, und so bringt Hennig von Lange den von den von Eltern als „Stricher“ bezeichneten jugendlichen Nachbarn Arthur mit ins Spiel und lässt Gotsch ohne Nachricht verschwinden. Lelle nimmt die Suche gemeinsam mit ihrem Schwarm Arthur auf.

_Macht das Lesen dieses Buches glücklich?_

Alexa Hennig von Lange schildert hier eine eigentlich brisante Situation aus den Augen eines 15-jährigen Mädchens. Natürlich passiert das in der Sprache der Jugend, völlig unverblümt und zum Teil auch unreflektiert. Deshalb könnte dem einen oder anderen der Sinn des Romans abhanden kommen und dieser einfach als Unterhaltungslektüre abgetan werden. Hinter dem Ganzen verbirgt sich natürlich ein tieferer Sinn. So verhindert Lelle durch ihre Essstörung das Frauwerden, abgemagert ist sie, der körperliche Reifeprozess verzögert. Zudem äußert sie öfters den Wunsch, so dünn zu werden, dass sie einfach verschwindet. Sicherlich um dem Kontrollzwang der überführsorglichen Mutter zu entkommen. Die läuft dem Kind ständig hinterher und liegt ihm mit den Worten „Iss was, sonst fällst du noch tot um!“ ständig in den Ohren. Sie setzt sich mit dem Kind nicht normal auseinander, sucht kein richtiges Gespräch. Der Vater bekommt davon natürlich nichts mit, wenn er nach der Arbeit gleich in den Keller flüchtet, „Mama“ beschwert sich darüber natürlich: „Papa will nicht mehr mit mir Kuscheln“. Man macht sich Gedanken, was die anderen aus der Nachbarschaft über sie denken, der Schein muss gewahrt werden. So ist es geradezu ironisch, dass der Schwarm von Lelle, Arthur, als Asi und Chaot abgetan wird. Sind es doch die Verhältnisse in der eigenen Familie, die chaotisch sind. Völlig zerstört ist da Verhältnis zwischen Gotsch, die sich schon völlig von der Familie entfremdet hat und in Wutausbrüchen auch gerne mal was kaputtschlägt. Mit ihrem Vater hat sie gar nichts am Hut. In einem Brief wollte sie ihm die Meinung sagen, der hat den Brief ungeöffnet weggeschmissen. Dies ist bezeichnend, es finden keine anständigen Gespräche statt, immer nur sehr oberflächlich. Mit dem Vater gibt es keine Kommunikation, die Mutter nervt die Kinder mit ihren Neurosen und den Bemühungen, nach außen hin als heile Familie zu wirken.
Eigentlich ist das alles doch ziemlich tragisch, trotzdem ist die Komik allgegenwärtig, und so ist die Lektüre von „Ich habe einfach Glück“ herrlich unterhaltsam, lustig, aber auch spannend. Seinen Zweck erfüllt der Roman, wenn man am Ende feststellt, dass alle Familien ihren ganz eigenen Knall haben und alles gut ist, solange sich alle lieb haben.

Hennig von Lange, Alexa – Woher ich komme

Alexa Hennig von Lange ist die wohl schillerndste unter den jungen Autorinnen Deutschlands. So jung ist die 1973 in Hannover geborene, ehemalige „Bim Bam Bino“-Moderatorin aber auch nicht mehr. Inzwischen lebt sie nach langem Aufenthalt in Berlin mit ihrem Mann und den zwei Kindern wieder in Hannover.
Literarisch ist man 1997 auf sie aufmerksam geworden, ihr Debüt „Relax“ hielt sich lange in den Bestsellerlisten und bestach durch die authentische und schonungslose Jugendsprache der Autorin. Wie es so häufig ist, wurden die folgenden Romane „Ich bin’s“ und der Tagebuchroman „Mai 3D“ zu echten Enttäuschungen und ließen am Talent des Rotschopfes zweifeln. Zurück zu alter Stärke hatte sie zum Glück mit dem Jugendbuch „Ich habe einfach Glück“ im Jahre 2001 gefunden, für das sie schließlich mit dem Jugendliteratur-Preis ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschienen „Erste Liebe“ und „Mira reicht’s“ 2004. Die Erstausgabe zu „Woher ich komme“ wurde 2003 veröffentlicht.

Die Handlung des 100 Seiten kurzen Romans ist gar keine. Die 30-jährige, namenlose Protagonistin fährt mit ihrem Vater ans Meer, wie es die Familie jeden Sommer getan hat. In der Gegenwart hält man sich aber nicht lange auf, auf den gesamten Text bezogen nur wenige Seiten. Es ist ein stiller und träger Ausflug, den Vater und Tochter hier unternehmen. Das Meer, der Ort, zu dem es die Beiden gezogen hat, ist der Ort der Erinnerungen, die wie Schatten immer wieder, meist nur kurz, an der Oberfläche erscheinen.
Jede Erinnerung ist nur wenige Sätze lang, bricht so unvermittelt, wie sie aufgetaucht ist, ab und wird von einer anderen abgelöst. Die Protagonistin geht in Gedankensprüngen ihre Kindheit durch. Diese ist auf den ersten Blick eine glückliche. Man erfährt, dass sie einen kleinen Bruder hatte, der im Sommer, immer wenn die Familie zum Urlaub ans Meer gefahren ist, Geburtstag hatte. Liebevoll, fast poetisch werden Situationen dieser Sommertage geschildert, aber es klingt auch viel Wehmut darin an. Eines Sommers wird die Familie während des geliebten Sommerurlaubs für immer auseinander gerissen. Bei einem Spaziergang im Watt wird man von der Flut überrascht. Die Protagonistin kann sich an den Strand retten und muss zusehen, wie nur ihr Vater aus dem Wasser zurückkehrt.
Es tun sich inmitten dieser tragischen Gegebenheit und Schilderungen einer oberflächlich normalen und glücklichen Kindheit aber auch noch weitere düstere Abgründe auf. So zum Beispiel die Affäre der Mutter mit dem Nachbarn.

„Woher ich komme“ ist ein ruhiges und schlichtes, so zerbrechlich wie die Erinnerungen der Protagonistin wirkendes Buch. Es ist ebenfalls eine authentische Erzählung. Die Erinnerungen wurden ausgezeichnet von der Autorin gestaltet und angeordnet. Die von der Protagonisten erinnerten Dinge liegen schon mehr als ein Jahrzehnt zurück. Durch diesen Umstand wirken sie auf den Leser oft unklar und schemenhaft, an einigen Stellen aber bemerkenswert detailliert. Es sind meist die schönen Erinnerungen, wie die tiefe Verbundenheit mit dem Bruder oder Gesten der Mutter, die sich in das Gedächtnis eingebrannt haben, die präzise und emotional berührend wiedergegeben werden.
Angesichts der letztendlich mehr als tragischen Kindheit verbergen sich viele Dinge im Kopf der Protagonistin, die sie scheinbar noch nicht für sich abschließen konnte. Durch die räumliche Nähe zu diesen Erinnerungen (das Meer) brechen sie unweigerlich und geballt hervor. So wird es für den Leser schwierig, diese in einen Kontext einzuordnen, denn sobald sich Klarheit anbahnt, wird eine Erinnerung von der anderen abgelöst. Zeitliche und räumliche Sprünge folgen dabei aufeinander, bis sich das Angedeutete gegen Ende des Romans mehr und mehr entblättert, aber immer noch viel Raum für die Fantasie des Lesers lässt.
„Woher ich komme“ ist kein Buch, das sich mit der dramaturgischen Entwicklung einer Handlung oder der von Charakteren aufhält. Die Handlung ist die Vergangenheit, und die muss sich der Leser schon selbst erarbeiten. Wer sich darauf einlässt, kann einige gute Stunden mit einem höchst interessanten und für die Autorin außerordentlich erwachsenem Buch verbringen.

|Leseprobe| aus der Taschenbuchausgabe Februar 2005, Seiten 9/10.

»Meine Mutter und ich sahen, wie sich der Priel mit Wasser füllte, und der Sand war nicht mehr da, und mein Vater war weit draußen, hörte unsere Rufe nicht, und der Himmel war blau. „Lauf so schnell du kannst!“ Meine Mutter schubst mich in die Richtung, in der sie den Strand vermutet, und das ist die richtige Richtung, und ich renne so gut es geht, im feuchten Sand, und Mama versinkt in die andere Richtung, in Richtung meines Vaters, meines Bruders. Der war klein und wusste von nichts. Ging an Papas Hand und hatte uns zugewinkt. Die Sonne stand über uns, flirrend, keine Wolken, einfach nur Himmel und sehr viel Raum. Zwischen Mama und mir, zwischen mir und meiner Familie wurde der Abstand immer größer.
Mein Vater kam allein zurück.«