Alle Beiträge von Eva Schuster

Kornbichler, Sabine – Nur ein Gerücht

Vor fünf Jahren hat Carla Bunge ihren Lebenstraum verwirklicht: Sie ist von München aufs Land gezogen und hat einen alten Reiterhof gepachtet. Mittlerweile ist sie mit Reitstunden und einer Reihe Pensionspferden gut ausgelastet und genießt einen guten Ruf. In Sachen Beziehung allerdings ist sie abweisend. Das bekommt auch ihr bester Freund Christian zu spüren, der ganz in der Nähe ein Hotel betreibt und schon seit langem mehr für sie empfindet.

Am Tag des fünfjährigen Jubiläums des Hofes erfährt Carla einen Schock. Der Besitzer Herr Pattmann kündigt ihr völlig überraschend den Pachtvertrag und will, dass sie innerhalb der nächsten Wochen verschwindet. Offenbar hat er ein lukrativeres Angebot für den Hof erhalten und sucht einen Vorwand, um Carla zu vertreiben. Plötzlich häufen sich die unangenehmen Vorfälle auf dem Hof. Gegenstände verschwinden, falsches Futter liegt auf der Weide, jemand kündigt in Carlas Namen die Heulieferung.

Carla ist verzweifelt, denn die Vorfälle schaden ihrem Hof zunehmend. Natürlich hat sie Herrn Pattmann im Verdacht, aber er ist nicht der Einzige. Da ist auch Melanie, die Schwester ihres früheren Klassenkameraden Udo, dem Carla trotz seines kürzlichen Todes seine früheren Quälereien nicht verzeihen will. Melanie hat Rache geschworen, zumal sie Carla als Konkurrenz für ihren eigenen Hof sieht. Und dann ist da noch Carlas alte Schulfreundin Nadine, die nach langer Funkstille in Christians Hotel auftaucht und mit ihm anzubändeln scheint. Carla muss sich nicht nur gegen den oder die Unbekannten wehren, die sie zu ruinieren versuchen, sondern sich auch noch mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, die sie schon lange verdrängt hat …

_Ein bisschen Thriller_ und ein bisschen Frauenroman ist dieses Werk von Sabine Kornbichler, und das Ergebnis ist solide, wenn auch nicht ohne Schwächen.

|Spannende Handlung|

Schon früh gewinnt die Handlung an Brisanz, als Carla beim Besuch des Hofbesitzers völlig überraschend die Kündigung erhält. Als fadenscheinige Begründung gibt er „unredliches Verhalten“ an, ohne es näher zu begründen. Carla ahnt zwar bereits und wird bald von ihrem Anwalt darin bestätigt, dass die Vertragskündigung haltlos ist. Aber sie wird die Angst dennoch nicht los, zumal Herr Pattmann in den nächsten Tagen und Wochen bei jeder Begegnung auf der Kündigung beharrt und zeigt, dass dies nicht nur eine Laune von ihm war.

Fast gleichzeitig taucht Melanie auf, Schwester von Carlas ehemaligen Klassenkameraden Udo, und sorgt ebenfalls für Probleme. Udo gehörte zur Schulzeit einer berüchtigten Clique an, die Carla die „glorreichen Fünf“ nennt, die es sich zum Ziel machten, Schwächere über Jahre hinweg zu hänseln und zu quälen. Carla mit ihrer skandalösen Familiengeschichte, die im weiteren Verlauf näher beleuchtet wird, plus dem damaligen Übergewicht bot eine hervorragende Zielscheibe und litt jahrelang unter den Quälereien. Jetzt ist Udo tot, Selbstmord als Folge von Rufmord, und Carla soll zur Beerdigung kommen. Aber trotz des Selbstmords kann sie dem toten Udo sein damaliges Verhalten nicht verzeihen und Melanie schwört Rache – zumal sie selbst einen Hof führt und Carla als Konkurrenz sieht.

Von da an häufen sich die Vorfälle auf dem Bungehof, die Carla in Verruf bringen und Misstrauen unter ihren Kunden säen. Herr Pattmann hat ein Motiv, Melanie ebenso, und doch kann Carla zunächst nichts nachweisen und traut so manche Aktion keinem von beiden zu. Gespannt verfolgt der Leser, wie sich die Vorfälle verdichten und Carla hilflos ihrem eigenen Rufmord zusehen muss. Um den Täter zu entlarven, ist sie bereit, selbst zweifelhafte Dinge wie einen Einbruch auf sich zu nehmen, und natürlich fesselt den Leser die Frage, wer genau hinter welchen Taten steckt.

|Sympathische Hauptfigur|

Carla Bunge ist kein besonders vielfältiger oder origineller Charakter, aber doch sympathisch und eine Protagonistin, mit der sich der Leser weitgehend identifizieren kann. Sie ist stolz auf ihren beliebten Reiterhof, den sie in jahrelanger Arbeit mühsam auf die Beine gestellt hat. Ihr besonderer Liebling ist Oscar, das Problempferd aus schlechter Haltung, das nur zu Carla Vertrauen gefasst hat und ihr in schweren Zeiten immer Kraft spendet. Erst allmählich erfährt man die Hintergründe über ihren Vater, zu dem sie seit zwanzig Jahren keinen Kontakt hat. Man erfährt zunächst nur, dass sie jeden Kontakt ablehnt, auch als sie hören muss, dass er im Sterben liegt. Dann enthüllt sich das Drama, das seinerzeit dazu beitrug, dass sie in der Schule gehänselt und zur Außenseiterin wurde, sodass ihre Mutter schließlich mit ihr fortzog. Neben der Kriminalhandlung um den anonymen Rufmörder und Saboteur gewinnt dieser Handlungsstrang zunehmend an Bedeutung.

Weiterere sympathische Charaktere sind Franz Lehnert, der sie wieder mit ihrem Vater zusammenführen will und der dafür ein besonderes Motiv besitzt, sowie Carlas beste Freundin Susanne, die als Hauswirtschafterin bei Christian tätig und außerdem eine engagierte Hobby-Astrologin ist, die bei jeder Gelegenheit die aktuelle Sternenkonstellation analysiert. Eine langzeitig rätselhafte Figur ist Nadine, Carlas ehemals beste Schulfreundin, die als Neuling genauso unter den Hänseleien zu leiden hatte. Nach ihrem Umzug aber brach Carla den Kontakt vollständig ab, um ein neues Leben beginnen zu können. Jetzt taucht Nadine auf einmal wieder auf – als Hotelgast von Christian, der ihr auffallend viel Zeit widmet. Carla wird den Verdacht nicht los, dass Nadine etwas mit ihrem Besuch bezweckt, und muss sich mehr mit ihrer Vergangenheit befassen, als ihr lieb ist.

|Ein paar Schwächen|

Zunächst fällt störend auf, dass der Leser zwar von Anfang an demonstriert bekommt, dass Carla Christians Avancen ablehnt, aber keinen rechten Grund dafür erfährt. Sie findet ihn durchaus anziehend, beharrt aber auf ihrer Ablehnung gegenüber Beziehungen, ohne dass es wirklich plausibel wird, vor allem, als sie gekränkt reagiert, nachdem sich Christian plötzlich Nadine widmet. Zum anderen ist Carla in der Endphase des Romans etwas zu naiv; der Leser ahnt deutlich früher, wer hinter den Taten steckt und welches Motiv dafür verantwortlich ist. Da ist es fast schon ärgerlich, dass sie die Zusammenhänge nicht durchschaut.

Etwas enttäuschend sind auch die Enthüllungen, weshalb Carla mit ihrem Vater gebrochen hat. Man kann zwar gut verstehen, dass sie die Demütigungen der Schulzeit noch heute als starke Belastung empfindet, aber ihr Groll gegen den Vater scheint nach all der Zeit übertrieben. Bevor man erfährt, was er sich geleistet hat, glaubt man, dass er vielleicht ihre Mutter geschlagen oder gar sie selbst missbraucht habe. Als sich dann herausstellt, was tatsächlich passiert ist, klingt es nicht sehr glaubwürdig, dass Carla zwanzig Jahre lang nichts mit ihm zu tun haben wollte und sich nicht darum kümmert, ob er überhaupt noch lebt.

Alles in allem darf man an das Buch keine zu hohen Erwartungen stellen. Es ist ein Unterhaltungsroman, der sich leicht lesen lässt und durchaus spannend ist, aber nicht weiter im Gedächtnis bleibt. Eine ideale Urlaubslektüre, allerdings nach dem Lesen schnell abgehakt und für eingefleischte Thrillerfans gewiss zu seicht.

_Als Fazit_ bleibt ein solider Unterhaltungsroman, der sich am besten für Frauen eignet, die sich ein bisschen Spannung und leichte Lektüre wünschen. Das Thema ist interessant und die Handlung über weite Strecken fesselnd, die Protagonistin sowie einige Nebencharaktere sind recht sympathisch. Das Bild trüben ein paar Unstimmigkeiten in Carlas Sichtweise und ihre Naivität gegen Ende, zudem ist der Anspruch nicht besonders hoch. Kann man lesen, muss man nicht.

_Die Autorin_ Sabine Kornbichler wurde 1957 in Wiesbaden geboren. Sie studierte zunächst VWL und arbeitete als Texterin und PR-Beraterin. Seit 1998 lebt sie als freie Autorin in Düsseldorf. Ihr Werk umfasst Romane und Kurzgeschichten. Weitere Bücher von ihr sind: „Majas Buch“, „Klaras Haus“, „Steine und Rosen“, „Vergleichsweise wundervoll“, „Annas Entscheidung“, „Im Angesicht der Schuld“ und „Der gestohlene Engel“.

http://www.sabine-kornbichler.de/
http://www.knaur.de/

_Sabine Kornbichler auf |Buchwurm.info|:_

[„Im Angesicht der Schuld“ 2561
[„Der gestohlene Engel“ 4680

Poe, Edgar Allan / Gruppe, Marc – Untergang des Hauses Usher, Der (Gruselkabinett 11)

Baltimore, 1845: Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit Philipp Belfield und Roderick Usher zusammen zur Schule gingen. Jetzt erreicht Philipp ein Brief seines Jugendfreundes, in dem dieser ihn dringend um einen Besuch bittet. Philipp kommt dem Wunsch gern nach und reist auf den abgelegenen Stammsitz der Familie Usher, der in einem Sumpfland liegt. Er freut sich auf das Wiedersehen, doch schon die Ankunft verläuft merkwürdig.

Der Butler Briggs, den Philipp noch aus früheren Tagen kennt, ist sehr erstaunt über seinen Besuch, denn Roderick hat nichts angekündigt. Damit nicht genug, es wird grundsätzlich seit Jahren kein Besuch im Hause Usher empfangen, sodass die Einladung sehr ungewöhnlich ist. Dazu bittet Briggs Philipp inständig, jedes laute Geräusch zu vermeiden. Die Fenster sind verhangen, die Uhren abgestellt.

Philipp begegnet zunächst Madeline, Rodericks Zwillingsschwester, die ihn gar nicht wiedererkennt und hysterisch bittet, sie zu befreien. Nur langsam beruhigt sie sich und Philipp ist froh, als er endlich zu Roderick gebracht wird. Entsetzt sieht er, dass sein Freund in einem dunklen Zimmer sitzt und sehr elend aussieht. Roderick erklärt ihm, dass ihn ein altes Familienleiden befallen hat, das ihn zur extremen Empfindsamkeit verdammt. Jedes Geräusch und jeder Lichtstrahl quälen seine empfindlichen Sinne. Nur Philipps Gegenwart könne ihm ein wenig Zerstreuung verschaffen. Außerdem behauptet er, dass Madeline dem Wahnsinn nahe sei. Philipp solle ihren Worten auf keinen Fall glauben. Madeline wiederum warnt Philipp vor Roderick und glaubt, sie sei in Lebensgefahr …

_Edgar Allan Poes_ schauerromantische Erzählung aus dem Jahr 1839 bietet eine ideale Vorlage für die Reihe „Gruselkabinett“, die mit viel Mühe klassische Werke der unheimlichen Literatur für Hörer ab dem Jugendalter umsetzt.

|Freie Umsetzung|

Der Kern der Erzählung ist natürlich unverändert geblieben, aber die Vertonung hat einige Anpassungen vorgenommen. Der Butler Briggs existiert nicht in der Vorlage, auch gibt es dort mehr als einen Diener, während im Hörspiel Briggs betont, dass er der einzige verbliebene Bedienstete ist, was den unheimlichen Charakter verstärkt. Madelines Rolle ist in der Vorlage deutlich kleiner, der Ich-Erzähler begegnet ihr erst später, er spricht kaum mit ihr und auch ihre eindringliche Warnung fällt weg, ebenso wie die eindrucksvolle Szene in der Familiengruft. Dass in der Vorlage fast nur der Ich-Erzähler spricht, musste fürs Hörspiel natürlich ohnehin angepasst werden. Insgesamt sind die Veränderungen sehr zu begrüßen, da sie behutsam eingesetzt werden, ohne den Sinn der Vorlage zu entstellen.

|Spannung und Atmosphäre|

Alles beginnt bereits unheilvoll mit dem seltsamen Brief des ehemaligen Jugendfreundes, der fast verzweifelt klingt und schon früh andeutet, dass den Ich-Erzähler Philipp eine schwere Zeit erwartet. Das einsam gelegene Anwesen, der steife, ahnungslose Butler und die verhangenen Fenster beschwören rasch eine intensive düstere Atmosphäre herauf, sodass man der Handlung gebannt folgt. Obwohl als Kammerspiel inszeniert und mit nur sehr wenigen Figuren ausgestattet, wird der Hörer durchweg gefesselt von den offenen Fragen, die sich erst kurz vor Schluss beantworten.

Spannung versprechen vor allem die widersprüchlichen Angaben Rodericks und Madelines. So wie Philipp ist auch der Hörer selbst hin- und hergerissen in der Entscheidung, wem von beiden zu trauen ist und wer womöglich an Wahnvorstellungen leidet. Da ist die hysterische Madeline, die Philipp dringend ermahnt, ihrem Bruder nicht zu glauben, die ihn anfleht, sie aus dem Haus fortzubringen, und ihm in der unterirdischen Gruft ein furchtbares Familiengeheimnis anvertraut. Und da ist auf der anderen Seite Roderick, der sehr glaubwürdig von seiner kranken Schwester erzählt, sodass Philipp zu Recht nicht sagen kann, wem man eher trauen darf. Die Handlung verläuft geradlinig und spitzt sich gleichmäßig zu, ehe sie den brisanten Höhepunkt erreicht. Für Dramatik ist reichlich gesorgt und auch der Gruselfaktor kommt nicht zu kurz.

Der Ich-Erzähler Philipp eignet sich, auch wenn man nicht viele Informationen über ihn erhält, gut als Identifikationsfigur für den Hörer. Er präsentiert sich als offener, sympathischer junger Mann, der sich anfangs ganz unvoreingenommen auf seinen alten Jugendfreund freut und anschließend von den Ereignissen immer mehr überfordert wird. Obwohl er die Geschichte rückblickend erzählt, nimmt er nicht zu viel von der Entwicklung der Geschehnisse vorweg. Madeline und Roderick hinterlassen gemischte Gefühle – Madeline erweckt Mitleid, nachdem sie das grausige Familiengeheimnis erzählt hat, und Roderick ebenso aufgrund seiner Krankheit. Dennoch wagt man nicht, ihnen gänzlich zu vertrauen, vor allem, da sie stets unberechenbar bleiben.

|Gute Sprecher|

Oliver Feld spricht den jungen Ich-Erzähler sehr sympathisch und passt zu dem offenen, humorvollen Philipp Belfield. Seine Stimme kennt man vor allem aus der Titelrolle der Serie „Seinfeld“ und als Dr. Carter in „Emergency Room“. Tobias Kluckert wiederum spricht überzeugend den düsteren Roderick Usher. Er wirkte bereits öfter in der |Gruselkabinett|-Reihe mit, so in „Der Freischütz“ und in „Frankenstein“. Ansonsten synchronisierte er vereinzelt Filme und Serien mit Gerard Butler, Joaquin Phoenix und Kevin McKidd. Claudia Urbschat-Mingues ist eine sehr häufig gewählte Synchronsprecherin, unter anderem als deutsche Stimme von Angelina Jolie und Jennifer Connelly. Zu ihr passen ausdrucksstarke Rollen, allerdings liegt sie mit der Theatralik der hysterischen Madeline teilweise schon hart an der Grenze zum Übertriebenen. Umso schöner sind die musikalischen Untermalungen, die angenehm dezent gehalten sind.

|Kaum Schwächen|

Abgesehen von Kleinigkeiten ist die Umsetzung sehr gelungen. Dazu gehört etwa die ein wenig zu schwülstige Sprache. Natürlich wird hier der Vorlage gefolgt, denn Edgar Allan Poe ist für diese Schnörkeleien bekannt, trotzdem hätten die Dialoge ein bisschen weniger gestelzt gestaltet werden können. Der zweite kleine Punkt ist, dass Philipp ein bisschen zu unbedarft auf die seltsamen Ereignisse im Hause Usher reagiert. Schon allein das Verhalten des Butlers und dessen dunkle Andeutungen hätten ihn sehr misstrauisch machen müssen, und es dauert ein Weilchen, ehe er seine Naivität ablegt.

_Als Fazit_ bleibt eine gelungene Hörspielumsetzung von Edgar Allan Poes Erzählung, die mit guten Sprechern, intensiver Atmosphäre und viel Spannung aufwarten kann. Die Veränderungen gegenüber der Vorlage sind sehr sinnvoll und ändern nichts am Kern der Geschichte. Von ganz kleinen Punkten abgesehen eine sehr empfehlenswerte Folge.

_Sprechernamen:_

Philipp Belfield: O. Feld
Roderick Usher: T. Kluckert
Madeline Usher: C. Urbschat-Mingues
Briggs: K. Eichel

_Der Autor_ Edgar Allan Poe lebte von 1809 bis 1849. Der amerikanische Schriftsteller gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Kriminal- und Horrorliteratur. Zu seinen bekanntesten Werken zählen „Die Morde in der Rue Morgue“, „Metzengerstein“, „Die Grube und das Pendel“, „Die Maske des Roten Todes“ und das Gedicht „Der Rabe“.

|Originaltitel: The Fall of the House of Usher, 1845
60 Minuten auf 1 CD|

Home – Atmosphärische Hörspiele


http://www.luebbe-audio.de

_Das |Gruselkabinett| auf |Buchwurm.info|:_

[„Carmilla, der Vampir“ 993 (Gruselkabinett 1)
[„Das Amulett der Mumie“ 1148 (Gruselkabinett 2)
[„Die Familie des Vampirs“ 1026 (Gruselkabinett 3)
[„Das Phantom der Oper“ 1798 (Gruselkabinett 4)
[„Die Unschuldsengel“ 1383 (Gruselkabinett 5)
[„Das verfluchte Haus“ 1810 (Gruselkabinett 6)
[„Die Totenbraut“ 1854 (Gruselkabinett 7)
[„Spuk in Hill House“ 1866 (Gruselkabinett 8 & 9)
[„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ 2349 (Gruselkabinett 10)
[„Untergang des Hauses Usher“ 2347 (Gruselkabinett 11)
[„Frankenstein. Teil 1 von 2“ 2960 (Gruselkabinett 12)
[„Frankenstein. Teil 2 von 2“ 2965 (Gruselkabinett 13)
[„Frankenstein. Teil 1 und 2“ 3132 (Gruselkabinett 12 & 13)
[„Die Blutbaronin“ 3032 (Gruselkabinett 14)
[„Der Freischütz“ 3038 (Gruselkabinett 15)
[„Dracula“ 3489 (Gruselkabinett 16-19)
[„Der Werwolf“ 4316 (Gruselkabinett 20)
[„Der Hexenfluch“ 4332 (Gruselkabinett 21)
[„Der fliegende Holländer“ 4358 (Gruselkabinett 22)
[„Die Bilder der Ahnen“ 4366 (Gruselkabinett 23)
[„Der Fall Charles Dexter Ward“ 4851 (Gruselkabinett 24/25)
[„Die liebende Tote“ 5021 (Gruselkabinett 26)
[„Der Leichendieb“ 5166 (Gruselkabinett 27)
[„Der Glöckner von Notre-Dame“ 5399 (Gruselkabinett 28/29)
[„Der Vampir“ 5426 (Gruselkabinett 30)
[„Die Gespenster-Rikscha“ 5505 (Gruselkabinett 31)
[„Jagd der Vampire. Teil 1 von 2“ 5730 (Gruselkabinett 32)
[„Jagd der Vampire. Teil 2 von 2“ 5752 (Gruselkabinett 33)
[„Die obere Koje“ 5804 (Gruselkabinett 34)

Fielding, Joy – Katze, Die

Die alleinerziehende Mutter Charley ist Journalistin und mit ihrer humorvoll-frivolen Kolumne „Charlotte’s Web“ erfolgreich, auch wenn sie oft Kritik für die oberflächlichen Themen einstecken muss. Überraschend erhält sie einen Brief der verurteilten Mörderin Jill Rohmer, die drei Kinder brutal ermordet haben soll und in der Todeszelle sitzt. Jill entpuppt sich als Fan von Charley und bietet ihr exklusiv ihre Geschichte an, damit Charley ein Buch schreiben kann. Dabei will Jill, die im Prozess die Aussage verweigerte, angeblich eine ganz neue Sicht der Geschehnisse offenbaren.

Charley ist zunächst entsetzt und angewidert, lässt sich aber dennoch auf ein Treffen ein, begleitet von Jills Anwalt Alex Prescott. Wider Willen findet sie Jill sogar sympathisch und sehr viel harmloser als gedacht. Nach einigem Zögern erklärt sie sich schließlich bereit, das Buch zu schreiben. Jill will ihr in Briefen und persönlichen Interviews ihr Leben erzählen, und Charley ist trotz ihrer Vorbehalte gespannt auf die Enthüllungen.

Zur gleichen Zeit aber treffen wiederholte E-Mails bei ihr ein, die sie bedrohen. Der anonyme Schreiber beschimpft sie als Schundschreiberin und kündigt gar die Ermordung ihrer Kinder an. Charley informiert die Polizei und hofft, dass es sich nur um einen Wichtigmacher handelt. Während sie sich langsam auch auf privater Basis Alex Prescott annähert, enthüllt Jill, dass sie von ihrem Ex-Geliebten „Jack“ zur Beihilfe am Mord gezwungen worden sei. Nur aus Angst habe sie seine Identität bisher verschwiegen. Charley fürchtete zunehmend, dass „Jack“ wirklich existiert – und es vielleicht sogar auf sie und ihre Kinder abgesehen hat …

_Die Ausgangslage_ ist recht typisch für Joy Fieldings Werke: Eine Frau mit Kindern und familiären Problemen gelangt in eine bedrohliche Situation und muss schließlich um ihr Leben fürchten. Trotzdem handelt es sich hier um einen ihrer besseren Romane, der sich in einigen Punkten vom Einheitsbrei abhebt.

|Weitgehend spannend|

Im Gegensatz zu manch anderem Werk von Joy Fielding gibt es hier keine Ich-Erzählerin, und somit muss man zumindest theoretisch auch um das Leben der Protagonistin bangen. Bis dahin ist es aber ein langer Weg, denn zunächst liegt der Fokus auf Jill Rohmers Enthüllungen. Als scheinbar fröhliche und kinderliebe Babysitterin hatte sie bei den beiden Familien angeheuert und ihre Schützlinge kurz hintereinander entführt, brutal misshandelt und qualvoll getötet. Die Beweise sind erdrückend: DNA-Spuren an den Körpern, kein Alibi und Tonbänder, die nicht nur die Schreie der Kinder, sondern auch Jills Stimme enthalten.

Dennoch hat Charley nach kurzer Zeit schon Zweifel, ob Jill nicht vielleicht nicht die Haupttäterin war. Nicht nur, dass sie viel mädchenhafter und harmloser erscheint, als sie es sich vorgestellt hätte, sie findet sie beinah sympathisch, und es klingt immer glaubwürdiger, dass sie nur aus Angst vor ihrem psychopathischen Exgeliebten vor Gericht geschwiegen hat; auch ihr Anwalt ist von „Jacks“ Existenz überzeugt. Je tiefer Charley in Jills Leben eintaucht, desto stärker fühlt sie sich hin- und hergerissen. Einerseits traut sie Jill die schrecklichen Morde nicht zu, andererseits gibt es auch belastende Aussagen ihrer Familie und Exfreunde, und so ist es für den Leser spannend zu verfolgen, was man noch alles über Jill erfährt.

Im weiteren Verlauf sorgen die Drohmails für Brisanz. Es verdichtete sich der Verdacht, dass „Jack“ hinter ihnen steckt – aber handelt er gegen Jills Wissen und Willen oder stachelt sie ihn womöglich dazu an? Oder ist es womöglich doch nur ein wutentbrannter Leser, der sich, wie nicht wenige andere, an ihren intimen Themen und dem flapsigen Schreibstil stört? Die Polizei kommt mit ihren Ermittlungen auch nicht weiter, da die Mails natürlich von verschiedenen öffentlichen Computern kommen.

|Interessante Charaktere|

Charleys Privatleben wird ein sehr großer Raum in der Handlung gewidmet. Da ist zum einen das zerrüttete Familienverhältnis. Vor über 20 Jahren verließ ihre Mutter Elizabeth die Familie, weil sie ihre Liebe zu Frauen entdeckte und mit ihrer Freundin nach Australien zog. Jetzt ist sie zurück und hofft auf einen Neuanfang, doch außer Charley ist keine ihrer beiden Schwestern und auch weder ihr Bruder Bram noch ihr Vater zu einem Treffen bereit. Immer wieder versucht Charley zu vermitteln, auch wenn sie selbst ihrer Mutter noch nicht ganz verziehen hat, scheitert aber, zumal sie ebenfalls kein allzu gutes Verhältnis zum Rest der Familie besitzt.

Nächster Punkt sind ihre Schwierigkeiten mit Männern. Charley ist unverheiratet und bisher kein Typ für lange Beziehungen, auch wenn sie zu den Vätern ihrer beiden Kinder ein recht gutes Verhältnis hat. Im Verlauf der Handlung lässt sie sich mit Alex Prescott ein, was Jill mitbekommt und merkwürdig reagieren lässt, und auch ein weiterer Mann spielt eine zunehmend wichtige Rolle. Jills Schilderungen ihrer Kindheit werfen in Charley zudem die Frage auf, inwieweit Psychopathen von ihrer Umwelt geformt werden. Zwischenzeitlich ertappt sie sich dabei, die Geschichten von Inzest und Gewalt in der Familie beinah als Entschuldigung zu sehen, obwohl sie andererseits genau weiß, dass keine Erfahrung einen Menschen zwingend zu einem Mörder macht.

|Ein paar Schwächen|

Zum einen dürfte es vor allem eingefleischte Thrillerfans stören, dass Charleys Familienprobleme beinah einen größeren Raum einnehmen als die eigentliche Spannungshandlung. Es gibt viele Szenen, in denen gestritten wird, Charley sich an ihre Kindheit erinnert, vergeblich versucht, Treffen zu arrangieren, und man sich natürlich auch ausspricht und versöhnt, inklusive dem typisch amerikanischen „Ich liebe dich“, das sich Kinder und Mutter zuhauchen.

Da vergisst man zeitweise beinahe, dass es eigentlich um eine Mörderin geht und nicht um ein Familiendrama. Zum anderen kommt das Finale etwas überhastet; wie aus dem Nichts heraus schweben Charleys Kinder in Gefahr, und im Vergleich zur vorher ausufernden Handlung verläuft alles sehr schnell, beinah so, als hätte die Autorin eine gewisse Seitenzahl als Maximum vorgegeben gehabt. Die Identität des Täters ist nicht so überraschend, wie es sein sollte, weniger wegen geschickter Andeutungen – davon gibt es nämlich zu wenige -, sondern eher, weil es zum konventionellen Thriller-Schema passt. Vor allem wer schon mehrere Joy-Fielding-Romane gelesen hat, dürfte nicht wirklich überrascht werden. Letzter störender Punkt ist der Zufall, der es Charley ermöglicht, herauszufinden, wer hinter den E-Mails steckt und ihre Kinder bedroht. Ein Beweis fällt ihm im Wortsinn direkt in die Hände, was den hastigen Verlauf des Finales noch verstärkt – ein bisschen mehr Einfallsreichtum wäre schön gewesen.

_Als Fazit_ bleibt ein insgesamt solider Frauenthriller über eine Journalistin, die in Kontakt mit einer verurteilten Kindermörderin gerät. Die Handlung ist weitgehend spannend, die Charaktere sind nicht uninteressant, allerdings überwiegen zeitweise die privaten Probleme gegenüber dem Thrilleraspekt und das Ende kommt zu plötzlich und ist ein wenig konstruiert. Leicht zu lesen und unterhaltsam, aber kein Highlight.

_Die Autorin_ Joy Fielding, geboren 1945 in Toronto, Kanada, hatte bereits in ihrer Kindheit großes Interesse am Schreiben. Vor ihrer Karriere als Schriftstellerin studierte sie englische Literatur und arbeitete eine Weile als Schauspielerin. 1991 gelang ihr mit dem Roman „Lauf, Jane, lauf“ der internationale Durchbruch. Seitdem landen ihre Frauenthriller regelmäßig auf den Spitzenpositionen der Bestsellerlisten. Weitere Werke sind u. a. „Sag Mammi goodbye“, „Ein mörderischer Sommer“, „Schlaf nicht, wenn es dunkel wird“ und „Tanz, Püppchen, tanz“.

|Originaltitel: Charley’s Web
Übersetzung: Kristian Lutze
477 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-442-31154-5|
http://www.joyfielding.com
http://www.goldmann-verlag.de

_Joy Fielding auf Buchwurm.info:_

[„Schlaf nicht, wenn es dunkel wird“ 556
[„Träume süß, mein Mädchen“ 4396
[„Nur der Tod kann dich retten“ 4933

McCammon, Robert R. – Unschuld und Unheil

1964 in der Kleinstadt Zephyr in Alabama, tiefster Süden der USA: Der zwölfjährige Cory verbringt hier eine bislang idyllische Kindheit. Seine besten Freunde sind der pummelige Ben, der nachdenkliche Johnny und der draufgängerische Davy, nicht zu vergessen natürlich Corys geliebter Hund Rebell. Eines Morgens begleitet Cory seinen Vater auf dessen Tour bei der Milchauslieferung. Am düsteren See Saxon’s Lake schießt plötzlich ein Auto aus dem Wald an ihnen vorbei und stürzt hinein. Corys Vater springt hinterher und versucht, den Fahrer zu retten, doch vergeblich. Tatsächlich ist der Mann bereits tot, sein Gesicht von Schlägen gezeichnet, eine Schlinge um den Hals und an das Lenkrad gekettet. Corys Vater kann nicht verhindern, dass der Wagen mitsamt der Leiche im See unrettbar versinkt.

Der einzige Hinweis auf den Toten ist eine seltsame Tätowierung, die Corys Vater erkannt hat, doch der Sheriff findet keinen passenden Vermissten. Cory hat während der Rettungsaktion seines Vaters eine Gestalt am Ufer gesehen, die eine grüne Feder verloren hat, und ist überzeugt davon, dass diese Person darin verwickelt ist. Auch sein Vater hat das Erlebnis nicht verkraftet. Immer stärker plagen ihn Alpträume und die Frage, ob der Mörder aus ihrer behüteten Stadt kommt.

Nicht nur die Suche nach der Gestalt mit der Feder begleitet Cory in diesem Sommer. Da sind auch die unheimlichen Legenden über Old Moses, das Ungeheuer aus Saxon’s Lake, die geheimnisvolle uralte Voodoo-Lady aus dem Schwarzen-Viertel, schlicht „die Dame“ genannt, deren Visionen Cory noch manches Mal helfen werden, seine erste Kurzgeschichte und ein nächtlicher Campingausflug mit seinen Freunden, der ihn einem Geheimnis gefährlich nahe bringt. Zwischen all den schönen Erlebnissen lauert der Tod, und Cory spürt bald, dass er das Schicksal des Toten im See klären muss, um sich und das Leben seines Vaters zu retten …

_Das Ende der idylllischen Kindheit_ hat mit Werken wie Stephen Kings „Es“ und „Die Leiche“ („Stand by me“), Ray Bradburys „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ sowie Dan Simmons „Sommer der Nacht“ großartige Werke der modernen Literatur hervorgebracht, und besonders die Kombination mit Horror erzielt diesen wunderbaren Effekt, den auch „Unschuld und Unheil“ voll für sich beanspruchen kann.

|Dichte Atmosphäre, gelungene Charaktere|

Robert R. McCammon gelingt es großartig, eine verzaubernde Stimmung zu kreieren. Nicht erst im Nachwort, in dem sich der Autor bei allen möglichen Schauspielern und Autoren bedankt, wird offenkundig, dass er sich bei Corys Kindheit stark von seiner eigenen beeinflussen ließ, denn immer wieder werden typische Bücher, Zeitschriften, Filme und TV-Serien der sechziger Jahre erwähnt. Von Anfang an wird der Leser hineingesogen in die beschauliche Kleinstadt Zephyr, in welcher der damals zwölfjährige Cory eine behütete Kindheit führt. Es ist ein verschlafenes Städtchen, in dem sich die Bürger untereinander gut zu kennen glauben und das doch in jenem Sommer eine Vielzahl von Geheimnissen preisgibt.

Corys Kindheit lädt zum Identifizieren ein, sowohl für jene, die ähnliche Erinnerungen haben, als auch für solche, die davon träumen. Cory ist ein in vielerlei Hinsicht typischer Junge kurz vor seinem zwölften Geburtstag, der Abenteuer liebt, Gruselfilme schaut, spannende Bücher verschlingt, mit seinen Freunden durch die Natur streift, Baseball spielt und per Fahrrad durch Zephyrs Straßen prescht. Dazu liebt er es, Geschichten zu erzählen, die andere Menschen trösten oder ablenken und in diesem Sommer wird er eine ganz besondere Kurzgeschichte schreiben.

Besonders faszinierend sind die vielen kleinen Zwischenspiele, die der Autor in die Haupthandlung, die sich um den Toten im See dreht, einflechtet: Da sind die Übernachtung bei Corys Freund Ben, die ihm mehr über dessen Eltern verrät, als ihm lieb ist; der lispelnde Nemo, der Neuling in der Stadt, hinter dessen schmächtigem Körper sich ein ungeahntes Talent verbirgt; das Hochwasser, in dem Cory das legendäre Monster Old Moses leibhaftig zu Gesicht bekommt; Corys Hund Rebell, dem ein trauriges und doch zugleich schönes Schicksal bevorsteht; da sind die Schulschläger Gordo und Gotha, die zum ersten Mal Gegenwehr erleben; der Ku-Klux-Clan, der sein Unwesen treibt; Miss Grace und ihr verrufenes Vergnügungshaus; die junge Frau im Wald, die Cory zum ersten Mal ins Schwärmen bringt; und da ist der Jahrmarkt, dessen angebliche Saurierattraktion noch für eine Menge Aufruhr in Zephyr sorgen wird. Viele der Episoden scheinen unabhängig von der Haupthandlung zu bestehen, kleine Momente im Leben eines Jungen, der zum ersten Mal das Leben der Erwachsenenwelt schmeckt, aber die meisten fügen sich im Nachhinein sehr gut ins Gesamtbild ein. Manche Szenen bringen den Leser zum Trauern oder gar zum Weinen, dann wieder sorgen Corys Abenteuer, die Neckereien unter den Freunden und sein lakonischer Tonfall beim Erzählen seiner Erinnerungen für witzige Augenblicke.

Die bemerkenswerteste Nebenfigur ist „die Dame“, eine schwarze Lady von 106 Jahren, die von der schwarzen Bevölkerung wie eine Königin verehrt und von der weißen überwiegend misstrauisch beäugt wird. Sie gilt als Voodoo-Zauberin, die aber eine der wenigen in der Stadt ist, die schon früh das nahende Unheil spüren. Ihre prophetischen Träume handeln vom Toten im See, und Cory ahnt, dass er der Dame nicht nur vertrauen kann, sondern auch ihre Hilfe zwingend braucht, um das schreckliche Geheimnis des Mordes zu lösen, das seinen Vater zunehmend quält. Von ihr erhält er auch ein neues Fahrrad als Geschenk, das nicht nur imposant aussieht und ob seiner Schnelligkeit zu Recht von Cory den Namen „Rakete“ erhält – sondern bei genauem Hinsehen glitzert ein goldenes Auge in seinem Scheinwerfer, das Rad lenkt gelegentlich eigene Wege, und wer es unbefugt anfasst, kann sich schon mal eine Bisswunde einfangen. Zephyr ist voll an skurrilen Originalen wie die altjüngferlichen Miss Blue und Miss Green Glass in ihren Farbgewändern, der liebenswerte Sonderling Vernon Thaxter, der dank seines mächtigen Vaters unbehelligt stets nackt durch die Straßen läuft, Corys cholerischer Großvater Jaybird und der alte Mr. Cathcoate, der angeblich einmal Revolverheld Wyatt Earp das Leben rettete.

|Spannung bis zum Schluss|

Bei allen netten Anekdoten und Abschweifungen steht immer die Frage nach dem Toten im See und dessen Mörder im Hintergrund, der höchstwahrscheinlich aus dem beschaulichen Zephyr stammt. Die einzigen Hinweise sind die Tätowierung des Ermordeten mit einem geflügelten Totenkopf, die aber bislang zu keiner Identifizierung führte, und die grüne Feder, welche die Gestalt im Mantel, die den Unfall beobachtete, verlor und die Cory sorgsam aufbewahrt. Er schweigt über diesen Fund, denn er befürchtet zu Recht, damit nicht ernst genommen zu werden, hält aber unentwegt die Augen offen.

Nach und nach steigert sich die Spannungskurve, die sich nicht nur darum dreht, wer der Unbekannte war, warum er ermordet wurde, wer sein Mörder ist, sondern auch darum, ob Cory und sein Vater als einzige Zeugen ins Visier des Täters geraten. Mehrfach scheint es, als habe Cory einen begründeten Verdacht, doch erst kurz vor Schluss enthüllen sich alle schrecklichen Umstände um die Tat in einem überstürzten Finale. Die Auflösung des Mordes führt viele Jahre zurück in die Vergangenheit, die Identifizierung des Mörders bestürzt nicht nur Cory, sondern auch den Leser, doch sie passt in das bittersüße Gesamtbild des Romans, in dem sich Erleichterung und Trauer immer wieder die Hand geben.

|Kaum Schwächen|

Nur wenig lässt sich an diesem großartigen Werk kritisieren, etwa dass manche der angerissenen Episoden wider Erwarten nicht mehr fortgeführt werden. Manche Personen, die einem in den kleinen Abweichungen begegnen, tauchen später nicht mehr auf, höchstens in Corys Gedanken. Das ist besonders schade, weil Cory in einem Epilog, als er dreißig Jahre später mit seiner Ehefrau nach Zephyr zurückkehrt, die Entwicklung einiger Menschen aus der Stadt Revue passieren lässt, und man sich unweigerlich wünscht, er hätte dabei noch mehr Personen bedacht. Ein kleines bisschen konstruiert ist außerdem das spektakuläre Finale, bei dem Cory und sein Vater gleichzeitig unabhängig voneinander die richtigen Schlüsse ziehen. Natürlich ist der Roman grundsätzlich nichts für ungeduldige Leser, die eine temporeiche Handlung bevorzugen, sondern in erster Linie auf eine intensive Atmosphäre bedacht.

_Als Fazit_ bleibt ein wunderbarer Roman, der Kindheitserinnerungen mit Horror und Thriller mischt und definitiv zu den besten Horrorwerken der Moderne zählt. Die Handlung ist vielschichtig, die Charaktere sind originell und bei aller Skurrilität authentisch dargestellt, die Geschichte besticht durch dichte Stimmung, in der sich lustige und traurige Momente ausgewogen abwechseln. Abgesehen von sehr kleinen Mängeln ist „Unschuld und Unheil“ ein rundum gelungener Roman, der sich trotz seines enormen Umfangs sehr schnell liest und im Gedächtnis bleibt.

_Der Autor_ Robert R. McCammon, Jahrgang 1952, studierte zunächst Journalismus in seiner Heimat Alabama, ehe er 1978 mit „Ball“ seinen ersten Horror-Roman veröffentlichte. Weitere Werke folgten rasch, und ab den achtziger Jahren standen sie regelmäßig auf den Bestsellerlisten und gewannen Preise wie den |Bram Stoker Award|. 1992 zog sich McCammon vom Schreiben zurück, nachdem Verleger andere Genres nicht akzeptieren wollten. 2008 veröffentlichte er aber die Fortsetzung zu einer neuen Serie und widmet sich damit zumindest partiell wieder dem Schreiben. Für „Unschuld und Unheil“ erhielt er den |Bram Stoker Award| und den |World Fantasy Award|. Zu seinen Werken zählen u. a. „Das Haus Usher“, „Nach dem Ende der Welt“, „Botin des Schreckens“ und [„Tauchstation“. 261

|Originaltitel: Boy’s Life
Aus dem Amerikanischen von Ute Thiemann
797 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-89996-070-9|
http://www.robertmccammon.com
http://www.area-verlag.de

Mooney, Chris – Missing

Winter in Belham: Die sechsjährige Sarah will unbedingt auf den Hügel zum Schlittenfahren, obwohl es ihre Mutter Jess verboten hat. Ihr Vater Mike lässt sich überreden und begleitet sein Töchterchen auf den Hang. Während er in ein Gespräch verwickelt wird, darf Sarah mit ihrer Freundin Paula losziehen. Kurz darauf verlieren sich die Mädchen aus den Augen – und Sarah ist verschwunden. Mike sucht verzweifelt im aufkommenden Schneesturm nach seiner Tochter, findet aber nur ihre Brille, ohne die sie hilflos ist. Auch die Polizei kann Sarah nicht finden. Der einzige Zeuge ist der elfjährige Jimmy, der gesehen hat, wie ein Mann Sarah an der Hand nahm.

Fünf Jahre später: Sarah ist immer noch verschwunden, die Ehe ihrer Eltern inzwischen zerbrochen. Mike hat den Verlust nicht verkraftet und kämpft mit Alkoholproblemen, während seine Frau ein neues Leben beginnt. Der ehemalige Priester Francis Jonah steht seit Jahren unter Tatverdacht, doch stichhaltige Beweise für eine Anklage gab es nie. Mike ist überzeugt davon, dass Jonah schuldig ist, und hofft insgeheim immer noch, dass Sarah lebt.

Doch Francis Jonah ist schwer krebskrank und liegt im Sterben, die Ärzte geben ihm nur noch Tage oder maximal wenige Wochen. Mike versucht alles, um ihn zu einem Geständnis zu bringen, ehe er sein Geheimnis womöglich ins Grab nimmt. Obwohl Jonah stets seine Unschuld beteuerte, sprechen die Indizien gegen ihn und für Mike läuft die Zeit ab …

_Entführte Kinder_ sind ein gern gewähltes und dankbares Thema für Thriller, gewährleisten sie doch eine emotional aufgeladene Handlung, die den Leser gleichzeitig fesselt und rührt. Chris Mooney legt hier einen soliden Thriller vor, der zwar keine Höchstbewertung verdient, aber allemal gute Unterhaltung bietet und vor allem schnell und leicht zu lesen ist.

|Spannende und bewegende Handlung|

Bis kurz vor Schluss heißt es Rätsel raten, wer für Sarahs Verschwinden verantwortlich ist und ob sie vielleicht noch lebt. Mikes Suche zeigt all seine Verzweiflung und nicht enden wollende Hoffnung und ist besonders mitreißend, weil er nahezu auf sich allein gestellt ist. Seine Exfrau hat das Verschwinden der Tochter halbwegs akzeptiert und fängt ein neues Leben ohne ihn an, die Polizei reagiert ihm zu lethargisch auf neue mögliche Hinweise, seine Freunde raten ihm dazu, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Für Mike ist es ein Kampf gegen Windmühlen, denn er kann es nicht akzeptieren, Sarahs Schicksal womöglich nie zu erfahren.

Trotz aller Indizien, zu denen im Verlauf der Handlung noch einige mehr kommen, ist der Leser unschlüssig in der Entscheidungsfrage, ob wirklich Francis Jonah hinter Sarahs Verschwinden steckt. Der schwerkranke Mann ist auch angesichts des Todes zu keinem Geständnis zu bewegen, was gerade in Anbetracht seiner Vergangenheit als Geistlicher ungewöhnlich wirkt. Mike kommt mehrfach in Versuchung, Selbstjustiz an ihm zu verüben, obwohl er nach einem Angriff bereits unter strengsten Bewährungsauflagen steht. Seine Suche nach Sarah rührt unweigerlich an, ist aber auch überwiegend fesselnd, da sich ganz allmählich neue Hinweise einschleichen und er der der Wahrheit Stück für Stück näher kommt, unterstützt von einer alten Freundin und einer resoluten Privatdetektivin.

Ungewöhnlich für den Thriller ist, dass alle Taten bereits Jahre zurückliegen und kein neuer Mord- oder Entführungsfall geschieht, was der Spannung aber nicht abträglich ist. Die Auflösung ist nicht zu früh zu erahnen und recht plausibel, wenngleich Mike beim Erkennen der Zusammenhänge ein bisschen per Zufall auf die Sprünge geholfen wird. Man braucht gewiss keine große Konzentration, um der Handlung zu folgen, die nicht besonders verstrickt oder wendungsreich ist. Der Roman stellt keine große Anforderungen an den Leser, ohne dabei zu seicht oder anspruchslos zu sein, und verzichtet im Gegensatz zu den meisten anderen Thrillern auf Gewaltszenen, sodass zarte Gemüter nur durch das Thema Kindesentführung an sich verstört werden könnten.

Vor allem im Mittelteil des Romans dreht sich die Handlung nicht nur um Sarah, sondern auch um Mikes Mutter, die ihn im Kindesalter zurückließ und in ihre Heimat Paris zurückkehrte. Mike hat allen Grund zu glauben, dass sein Vater Lou, ein gewiefter Verbrecher, der immer schon zur Brutalität gegen seine Frau neigte, sie in Paris aufgesucht und ermordet hat. Auch das Schicksal seiner Mutter wird wieder aktuell und Mike erfährt mehr über seine Familie als jemals zuvor. Es ist für Mike nicht nur die Suche nach zwei Angehörigen, sondern auch ein neuer Abschnitt in seinem Leben, das er nur beginnen kann, wenn er endlich Klarheit findet über den Verbleib seiner Tochter und seiner Mutter – egal, wie schmerzhaft die Wahrheit auch sein mag.

|Ein paar Schwächen|

Der Klappentext enthält leider einen irreführenden Fehler, dort ist nämlich davon die Rede, dass während Mikes Suche nach dem Verbleib seiner Tochter ein weiteres Mädchen verschwindet – davon ist im Buch aber keine Rede, was sicherlich die Leser ärgert, die sich von einem aktuellen Fall zusätzliche Spannung versprochen haben. Der Teil über Mikes Familie ist zudem ein wenig zu ausufernd geraten. Manchmal geht es seitenweise nur um seine Ehe mit seiner Exfrau, die Vergangenheit seines Vaters und die Suche nach seiner Mutter in Paris, und Sarahs Schicksal rückt dabei in den Hintergrund. Einerseits ist es interessant, die beiden grundverschiedenen Fälle miteinander zu verbinden, andererseits lenken diese Phasen von der eigentlichen Haupthandlung ab.

Zudem kommt der Sprung zwischen Sarahs Verschwinden 1999 und der Gegenwart etwas zu radikal angesichts der vielen Veränderungen. Zu guter Letzt sind die Nebenfiguren gegenüber Mike etwas zu blass geraten. Seine Exfrau Jess bleibt nur eine Schablone ohne individuelle Charaktereigenschaften, es gibt keinen markanten Ermittler, auch Mikes Freund Bill erscheint zwar sympathisch, aber zu unbedeutend. Erst seine alte Freundin Sam und die burschikose Detektivin Nancy bringen im späteren Verlauf wieder etwas Farbe ins Spiel, ansonsten ist der Roman arm an interessanten Figuren, auch wenn das nicht so stark ins Gewicht fällt, da Mike eindeutig im Mittelpunkt steht.

_Als Fazit_ bleibt ein überwiegend spannender Thriller über ein vermisstes Mädchen, der vor allem dank der Hauptfigur recht bewegend ist. Ein paar Schwächen verhindern, dass das Buch ein echtes Highlight ist, aber für Thrillerleser auf alle Fälle eine empfehlenswerte Lektüre, die sich locker in ein bis zwei Tagen durchlesen lässt.

_Der Autor_ Chris Mooney studierte Englisch an der Universität von New Hamshire und lebt seit 2000 als freier Autor. Seine bekanntesten Werke sind „Victim“ und „Secret“, die den Anfang seiner Reihe um die Ermittlerin Darby McCormack bilden. Er lebt heute mit seiner Frau in Boston.

|Originaltitel: Remembering Sarah, 2004
Aus dem US-Englischen übersetzt von Michael Windgassen
382 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-499-24719-4|
http://www.rowohlt.de
http://www.chrismooneybooks.com

_Mehr von Chris Mooney auf |Buchwurm.info|:_

[„Missing“ 5731 (Hörbuch)
[„Victim“ 3799
[„Victim“ 5226 (Buch)

Robinson, Peter – unschuldige Engel, Der

_Ein Mord_ erschüttert die Kleinstadt Eastvale. An einem nebligen Novemberabend wird die Leiche der sechzehnjährigen Deborah auf dem Friedhof erwürgt aufgefunden. Das Motiv gibt Inspector Banks Rätsel auf, denn die hübsche, kluge Deborah aus gutem Haus schien weder Feinde zu haben, noch wurde sie sexuell missbraucht.

Dennoch gibt es einige Merkwürdigkeiten: Verdächtigt wird vor allem der ehemalige kroatische Küster, der die Mädchens der Internatsschule belästigt haben soll; der Pfarrer ist in einen Skandal verwickelt, seine Frau spricht von Besuchen bei einem Engel und Deborahs Exfreund John ist in einige kriminelle Machenschaften involviert. Trotzdem gestalten sich die Ermittlungen schwierig, denn die Bewohner des Städtchens arbeiten nur widerwillig mit der Polizei zusammen.

Schließlich wird ein Verdächtiger verhaftet und angeklagt, die Beweislage aber ist zweifelhaft, ebenso wie das Motiv. Banks ist von seiner Schuld nicht überzeugt. Und tatsächlich muss der Fall bald wieder aufgerollt werden – und dann geschieht ein zweiter Mord …

_Der achte Fall_ von Inspector Banks führt ihn wieder einmal in eine beschauliche englische Kleinstadt, hinter deren sauberer Fassade dunkle Geheimnisse lauern.

|Fokus auf Sozialkritik|

Trotz mehrerer Verdächtiger ahnt man früh: Die Suche nach dem Mörder wird nicht leicht. Am liebsten wäre der Polizei und den Einwohnern von Eastvale wohl, wenn der kroatische Sonderling Jelacic als Täter dingfest gemacht werden könnte. Er spricht nur gebrochen Englisch, musste mehrere Beschwerden von Schülerinnen entgegennehmen und sein Alibi, das er von befreundeten Landsmännern erhält, klingt nicht unbedingt wasserdicht.

Banks lässt auch das engste Umfeld der Ermordeten nicht aus dem Blickfeld, sogar ihre Eltern werden als potenzielle Täter betrachtet. Am deutlichsten aber weisen die Indizien auf Owen Pierce hin, einen Berufsschullehrer, der kein Alibi besitzt und Haare sowie einen Blutstropfen von Deborah auf seiner Kleidung trägt. Was nach der Verhaftung folgt, ist ein ausgedehnter Prozess mit Expertenmeinungen, chemischen Analysen und einer Vorverurteilung durch Medien und Volk, auch wenn Owen Pierce zunächst freigesprochen wird.

Weite Teile der Handlung widmen sich nun seinem Leben nach dem Prozess. Er verliert seinen Job und die restlichen Freunde, wird gemieden bis angefeindet und ist beim zweiten Mord, der erhebliche Parallelen aufweist, erneut der Hauptverdächtige. An ihm wird deutlich, wie sehr ein Leben durch solche Verdachtsmomente zerstört werden kann, was beinahe noch mehr bewegt als die Morde an den zwei jungen Mädchen.

|Gelungene Charaktere|

Interessant ist neben Owen Pierce vor allem das Ehepaar Charter. Die schöne rothaarige Rebecca Charter besitzt offensichtlich ein Alkoholproblem und sucht regelmäßig Trost bei der steinernen Engelfigur auf dem Friedhof. Einerseits liebt sie ihren Mann Daniel noch immer, andererseits führt sie seit geraumer Zeit eine Affäre, die im Zuge der Ermittlungen ans Licht kommt. Daniel Charter hingegen steht in der öffentlichen Kritik, seit der ehemalige Küster Jelacic ihn der sexuellen Belästigung beschuldigte. Mag diese Bezichtigung auch lächerlich wirken, sie verfehlt ihre Wirkung nicht und Daniel steht in der Gemeinde unter großem Druck.

Ein besonderes Spannungsverhältnis besteht auch zwischen Banks und Polizeichef Riddle, der keine Gelegenheit auslässt, um den verhassten Banks in schlechtem Licht darzustellen. Als guter Freund der Eltern der ermordeten Deborah legt er Wert darauf, dass die Familie so wenig wie möglich durch die Polizei belästigt wird – erst recht, da es sich bei Sir Harrison um einen einflussreichen Großindustriellen handelt, sodass jeder Schritt und jede Befragung von Banks kritisch betrachtet wird. Schwierigkeiten gibt es zudem mit Banks‘ Kollegen Barry Stott, einem jungen, ehrgeizigen Beamten, der unbedingt eine schnelle Verhaftung erzwingen will und sich auf Pierce als Täter versteift hat.

|Einige Schwächen|

Durch die Fokussierung auf die Verhandlung und das Leben des vermeintlichen Täters Owen Pierce gerät die Spannung ein wenig ins Hintertreffen. Die Suche nach dem Mörder wird zwischendurch eingestellt und statt eines Krimis liest man derweil eher ein Sozialdrama – zwar kein schlechtes, doch trifft man damit vermutlich nicht die Erwartungen der Leser, außerdem ist der Prozess unnötig ausführlich und lenkt vom eigentlichen Thema ab.

Ein weiteres Manko ist das etwas konstruierte Ende. Der Täter passt zwar ins Geschehen und sein Motiv ist durchaus schlüssig, aber die Beweise beruhen auf mehreren glücklichen Zufällen, so etwa der Fund eines Tagebuchs mit detaillierten Eintragungen. Da diese Zufallsfunde auch noch recht gedrängt gegen Ende gemacht werden, wirken sie einfach zu konstruiert. Zwei Tippfehler, die mir aufgefallen sind, stören nicht weiter, unschön ist allerdings die fälschliche Schreibung des berüchtigten Mörders Dennis Nilsen, der hier „Nilson“ geschrieben wird.

_Als Fazit_ bleibt ein lesenswerter, aber dennoch eher durchschnittlicher Inspector-Banks-Krimi über einen Mädchenmord. Die Charaktere sind zwar recht interessant, ebenso wie die sozialkritische Handlung, doch die Spannung wird deutlich davon überlagert und am Ende etwas zu sehr der Zufall bemüht.

_Der Autor_ Peter Robinson wurde 1950 in Yorkshire geboren. Er studierte englische Literatur und lebt seither in Toronto. Bekannt wurde er hauptsächlich mit seiner Kriminalreihe um Inspector Alan Banks, die mittlerweile mehr als fünfzehn Bände umfasst und für die er bereits mehrere Preise erhielt, z. B. den „Arthur Ellis Award“ und den „Schwedischen Krimipreis International“. Zu seinen Werken gehören u. a. „Ein unvermeidlicher Mord“, „In blindem Zorn“, „In einem heißen Sommer“ und „Wenn die Dunkelheit fällt“.

http://www.inspectorbanks.com/

_Mehr von Peter Robinson auf |Buchwurm.info|:_

[„Wenn die Dunkelheit fällt“ 185
[„Das verschwundene Lächeln“ 1170
[„Ein seltener Fall“ 5169

Stanley, Mary – Ohne eine Spur

Dublin in den siebziger Jahren: Die stille, intelligente fünfzehnjährige Rebecca Dunville besucht mit ihren Schwestern das katholische St. Martins, die angesehenste Schule der Gegend. Becky bringt nur Bestnoten nach Hause, fühlt sich aber dennoch unter ihren Schwestern zurückgesetzt. Die fast achtzehnjährige, strahlend schöne Bella intrigiert gerne, die jüngere Brona neigt zu Sticheleien. Bella ist der Liebling der Eltern und Becky scheint die Einzige zu sein, die deren boshafte Art durchschaut.

Eines Morgens ist Bella aus ihrem Zimmer verschwunden – und kehrt nicht mehr zurück. Die Polizei vermutet zunächst, sie sei ausgerissen, vor allem nachdem sie ein paar Hanfpflanzen in ihrem Zimmer findet. Bellas Mutter dagegen ist überzeugt, dass sie verschleppt wurde, der Rest der Familie weiß nicht, was er glauben soll.

Kurz darauf stellt sich heraus, dass Bella in der Nacht ein heimliches Treffen plante und für ihre Rückkehr ein Fenster offen gelassen hatte. Nun sieht alles nach Entführung aus – oder nach etwas Schlimmerem. Becky beginnt, in der Vergangenheit ihrer Schwester zu forschen und stößt auf ein beunruhigendes Doppelleben …

_Ein Mädchen_ verschwindet und hinterlässt einen idealen Aufhänger für eine Mischung aus Thriller und Psychodrama, die von Mary Stanley weitgehend überzeugend umgesetzt wird.

|Spannung und Dramatik|

Vom Zeitpunkt ab Bellas Verschwinden dreht sich alles um die Frage, was mit ihr geschehen ist. Einige Punkte sprechen dafür, dass sie möglicherweise freiwillig untergetaucht ist – da wären die verbotenen Hanfpflanzen in ihrem Zimmer, ihre heimliche Liebschaft mit einem jungen Mann und ihre flatterhafte, selbstbewusste Art, gepaart mit ihrem Drang, die Welt zu entdecken. Tagelang hoffen insbesondere ihre Schwestern, dass sie wieder in der Haustür steht und eine plausible Erklärung für ihr Verschwinden liefern kann. Nur Mutter Elizabeth ist von Beginn an überzeugt, dass Bella etwas Schreckliches zugestoßen sein muss. Während sich der Vater in seinen Beruf als Arzt stürzt, bricht Elizabeth Dunville vor Sorge zusammen.

Ein weiterer interessanter Punkt im Hintergrund ist der Rückblick in Elizabeth‘ Vergangenheit, der offenbart, dass Becky durch einen Seitensprung entstanden ist. Pikanterweise spielt ihr leiblicher Vater immer noch eine kleine Rolle im Leben der Dunvilles, ohne dass er und Becky von ihrer Verwandtschaft wissen, und man wartet auf den Augenblick, in dem diese Tatsache ans Licht treten wird.

|Interessante Charakterstudie|

Der Fokus des Romans liegt auf Becky Dunville, der mittleren der drei Schwestern, deren einst behütetes Leben durch Bellas Verschwinden aus der Bahn geworfen wird. Detailgenau beschreibt die Autorin die Folgen dieses Ereignisses für die gutbürgerliche Familie. Becky steht stets im Schatten ihrer älteren Schwester, da von ihr wegen ihrer hohen Intelligenz nur Bestleistungen akzeptiert werden. Nach Bellas Verschwinden wird sie für Brona überraschenderweise zur Bezugsperson, statt Sticheleien wird nun ihr Rat gesucht. Zeitgleich entdeckt Becky ihre Gefühle für den neuen jungen Musiklehrer Mr. Jones, der auf ihre Schwärmereien eingeht und die erste Liebe des verwirrten jungen Mädchens wird.

Für Becky wird Bellas Schicksal zur Bewährungsprobe. Ihre Eltern ziehen sich vor Kummer zurück, die jüngere Schwester braucht sie als Stütze, die Nonnen an der Schule verlangen weiterhin Disziplin, und obendrein fühlt sich Becky dazu gezwungen, ihren Teil zur Aufklärung beizutragen. Sie recherchiert auf eigene Faust in Bellas Leben, macht ihren heimlichen Freund ausfindig und steht im Zwiespalt darüber, ob sie die prekären Details über Bellas Doppelleben der Familie und der Polizei anvertrauen soll oder nicht. Interessant und realistisch ist vor allem, dass Becky sich zwar einerseits ihre Schwester zurückwünscht, sie aber andererseits nicht rückblickend verklärt. Nach wie vor sind ihr Bellas Gemeinheiten sehr präsent, und das Bewusstsein darüber sorgt für eine zusätzliche innere Qual. Darüberhinaus gewährt der Roman dem Leser einen kleinen Einblick in die Welt Dublins vor ein paar Jahrzehnten und vor allem in das dortige strenge Schulwesen.

|Nur kleine Schwächen|

Unter Umständen können Leser in ihrer Erwartung getäuscht werden, denn das Thrillerelement kommt erst spät zum Tragen. Die Polizeiarbeit wird fast gar nicht thematisiert, stattdessen dreht sich die Handlung um die Krise, die das Ereignis in der Dunville-Familie auslöst. Das eigentliche Manko liegt aber im zu rasch abgehandelten Ende und einem Zeitsprung von über zwanzig Jahren. Beinah schon hat man sich damit abgefunden, dass Bellas Verschwinden nicht geklärt werden wird, als sich viele Jahre später doch noch alles aufklärt. Diese Zeitspanne hätte man aber besser auf wenige Jahre beschränkt – zu gewöhnungsbedürftig ist es, dass Beckys jüngere Schwester plötzlich schon zwei erwachsene Kinder hat, während sie wenige Seiten zuvor noch ein Schulmädchen war. Zudem bringt die Aufklärung des Falls einiges an Brisanz mit sich, sodass uns Beckys Reaktion zu knapp geschildert wird.

_Als Fazit_ bleibt ein bewegender und spannender Roman über ein verschwundenes Mädchen, der im Dublin der siebziger Jahre spielt. Vor allem die Hauptperson wird ansprechend charakterisiert, und die Auflösung kommt zwar sehr spät, ist aber plausibel. Störend sind nur der große Zeitsprung zum Ende des Buches und der etwa zu kurz abgehandelte Schluss.

_Die Autorin_ Mary Stanley wurde in London geboren und wuchs in Dublin in Klosterinternaten auf – eine ihrer Lehrerin war die irische Bestsellerautorin Maeve Binchy. Stanley studierte unter anderem in Tübingen, später arbeitete sie in der elterlichen Buchhandlung, ehe sie sich aufs Schreiben konzentrierte. Sie hat inzwischen gut ein halbes Dutzend Romane verfasst. Mehr über sie erfährt man auf ihrer Homepage http://www.marystanley.com.

Niehaus, Ursula – Heiligenspiel, Das

_Augsburg im ausgehenden 15. Jahrhundert_: Die junge Anna lebt nach dem frühen Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter Barbara und der kleinen Schwester in ärmlichen Verhältnissen. Anna entspricht zwar nicht dem Schönheitsideal, ist aber eine gewitzte junge Frau mit einem guten Herzen. Durch eine Intrige wird sie verurteilt und aus der Stadt gejagt. Zu ihrem Glück findet sie bei der alten Kräuterfrau Oda Unterkunft, die sie in ihr heilkundiges Wissen einweiht.

Nach mehreren Jahren erreicht Oda Annas Begnadigung und die junge Frau darf in ihr geliebtes Augsburg zurück, muss aber im Seelhaus bei den Ordensschwestern leben. Eine mehrwöchige Magenverstimmung, die sie alle Speisen erbrechen lässt, sorgt für das Gerücht, Anna sei eine Hungerheilige, die sich nur von der Hostie ernährt. Gegen Annas Willen pilgern immer mehr Menschen zu ihr, um ihren Segen zu empfangen und Rat einzuholen.

Als Anna wieder essen kann, drängt Pater Quirinus sie aus Eigennutz, ihre Rolle weiterzuspielen. Anna fühlt sich unwohl dabei, freut sich aber, dass sie durch die zahlreichen Spenden den Armen helfen kann. Sogar höchste Würdenträger wie König Maximilian suchen den Rat der vermeintlichen Heiligen. Doch als Anna den reichen und älteren Kaufmann Anton Welser kennenlernt, nimmt das Verhängnis seinen Lauf …

_Auch in ihrem zweiten Roman_ nach der „Seidenweberin“ nimmt sich Ursula Niehaus einer historischen Frauengestalt an.

|Interessante Hauptfigur|

Mit Anna Laminit ist der Autorin eine gelungene Darstellung einer ungewöhnlich und zugleich grundsätzlich sympathischen jungen Frau geglückt. Sie ist nicht besonders hübsch und auch nicht herausragend intelligent, besitzt aber einen gesunden Menschenverstand und eine ordentliche Portion Bauernschläue, die ihr immer wieder durchs Leben helfen. Ihr Schicksal als „Heilige wider Willen“ ist ungewöhnlich und faszinierend zugleich. Obwohl Anna durch ihre falsche Heiligkeit tausende von Menschen betrügt, ist sie keine Egoistin. Stattdessen kann der Leser gut nachvollziehen, warum sie den Schein der Heiligkeit über viele Jahre hinweg aufrechterhält – will sie ihre Haut retten, bleibt ihr in der Tat keine andere Wahl. Anna macht aus der Not eine Tugend, schließlich kann sie dank der großzügigen Spenden den vielen Armen helfen und muss sich keine Gedanken über ihre eigene Versorgung machen.

Eine sehr liebenswerte Gestalt ist das Kräuterweiblein Oda. Die alte Frau ist zunächst alles andere als angetan, als die fünfzehnjährige, halb verhungerte Anna in ihrer einsamen Hütte auftaucht. Widerwillig pflegt sie das verletzte Mädchen gesund. Anna allerdings erweist sich als nützliche Hilfe, geht der Oda zur Hand und darf schließlich bleiben. Die brummige Alte ist als Einsiedlerin recht eigensinnig, hat die seltsame Angewohnheit, ihre Katzen jeweils nach dem vorherigen Papst zu benennen und zeigt ihre Zuneigung selten offen. Trotzdem oder gerade deswegen ist sie nach Anna wohl die sympathischste Figur des Romans.

Im reichen Kaufmann Anton Welser findet Anna einen weiteren Vertrauten, nachdem er zufällig hinter ihr Geheimnis kommt und nicht daran denkt, sie zu verraten. Der ältere Mann, der beinah Annas Großvater sein könnte, ist trotz seines Alters sehr anziehend und charmant – und umgekehrt weckt die nur äußerlich so spröde Anna in ihm erotische Begierden. Die über viele Jahre hinweg andauernde Affäre hat nie eine echte Chance, zu einer richtigen Beziehung zu werden. Anton ist verheiratet und hat einen guten Ruf zu verteidigen, Anna gilt als jungfräuliche Heilige. Dennoch besteht zwischen den beiden ein vertrautes Band, das erst kurz vor Schluss durch ein schreckliches Ereignis ins Wanken gerät.

|Historik und Fiktion|

Viele der Figuren hat es wirklich gegeben, angefangen bei Anna Laminit über ihre Mutter Barbara, Anton Welser, Kaiser Maximilian, Herzogin Kunigunde, sogar Annas Magd Appel und natürlich Martin Luther. Der Autorin gelingt es stimmig, den tatsächlichen Lebenslauf mit fiktiven Ereignissen aufzufüllen. Ursula Niehaus weicht in ihrer Darstellung der Anna Laminit aber von der traditionellen Geschichtsschreibung ab. Sie macht aus der angeblich hinterlistigen Betrügerin, die ihr Heiligenspiel bewusst zur Täuschung einsetzt, ein Opfer der Umstände, erpresst durch den bösartigen Pater Quirinus, dessen Annäherungsversuche sie brüsk zurückweist. Auch das Ende der historischen Anna, so viel sei verraten, übernimmt sie nicht, sondern nutzt ein Hintertürchen für eigene Spekulationen.

Annas wendungsreiches und aufregendes Leben fesselt den Leser von Beginn an. Ihr überwiegend liebenswerter Charakter trägt dazu bei, dass man mit ihr fühlt und inständig hofft, dass sie aus jeder misslichen Lage heil herauskommt. Mehrfach läuft Anna Gefahr, öffentlich enttarnt zu werden. Über Jahre hinweg muss sie heimlich essen und heimlich ihre Notdurft verrichten – denn wer nichts isst, braucht natürlich nicht auf die Toilette zu gehen. Anna begegnen im Laufe der Zeit nicht nur Bewunderer, sondern auch neidische und misstrauische Gemüter. Im letzten Viertel des Romans überschlagen sich die Ereignisse, sodass man das Buch am liebsten gar nicht mehr aus der Hand legen möchte, ehe sich klärt, wie es mit Anna weitergeht.

|Kleine Schwächen|

Dennoch ist der Roman nicht in allen Punkten ideal umgesetzt worden. Das Hauptmanko liegt darin, dass manche Zeitspannen zu gerafft dargestellt werden. Vor allem in der zweiten Hälfte werden mehrfach mehrere Jahre übersprungen, und gegen Ende hat man gar den Eindruck, die Autorin habe unter Zeitdruck zu Ende geschrieben, so rasch wird durch die Handlung gehetzt. Das ist vor allem schade, weil wichtige Szenen und Personen, etwa Anton Welser, dabei zwangsläufig zu kurz kommen – und auch Anna selbst verliert im letzten Viertel an Kontur. Obwohl wichtige Entscheidungen zu treffen sind, werden diese nur angerissen. Gerade in diesen Phasen wünscht man sich, dass Annas Handlungen näher begründet und vor allem vom Leser miterlebt werden können, stattdessen werden diese Passagen übersprungen und nur kurz in der Rückschau erwähnt.

Kürzungen müssen natürlich bei einem Handlungsraum über zwei Jahrzehnte sein, sie werden aber, wie schon im Debütroman der Autorin, teilweise an den falschen Stellen angesetzt. Ein bisschen unglaubwürdig und schwer nachvollziehbar ist zudem, dass Anna nicht schon früher ihr Schicksal in die Hand nimmt, als sich die Gegner in Augsburg mehren und immer häufiger offen darüber gesprochen wird, dass sie eine Affäre habe und gar keine echte Heilige sei. Der Stil ist zwar grundsätzlich sehr flüssig, schwankt aber manchmal etwas uneinheitlich zwischen moderner Wortwahl und altertümelnden Formulierungen.

_Unterm Strich_ ist der zweite Roman von Ursula Niehaus ist kein herausragender, aber doch ein solider und unterhaltsamer Historienschmöker. Die Geschichte um die interessante Figur Anna Laminit ist gut recherchiert und sehr spannend gestaltet, die Hauptperson meist sympathisch dargestellt. Ein paar kleine Schwächen trüben den Gesamteindruck, vor allem der gehetzte Schluss und Kürzungen an unpassender Stelle – dennoch für alle Freunde des historischen Romans eine Leseempfehlung wert.

_Die Autorin_ Ursula Niehaus wurde 1965 in Köln geboren. Nach Ausbildung und Studium machte sie sich mit einem Stoffgeschäft selbstständig. Ihr erster Roman war „Die Seidenweberin“, an dessen Fortsetzung sie derzeit arbeitet.

http://www.droemer-knaur.de

Perry, Anne – Würger von der Cater Street, Der

London, 1881: Die dreiundzwanzigjährige Charlotte Elison ist eine Tochter aus gutbürgerlichem Haus, die mit ihren emanzipierten Ansichten immer wieder ihre Familie vor den Kopf stößt. Ihre ältere Schwester Sarah ist mit dem gutaussehenden Dominic verheiratet, die siebzehnjährige Emily ist ähnlich dickköpfig wie Charlotte, hält aber viel mehr an Konventionen fest. Charlotte schwärmt heimlich seit der ersten Begegnung für Dominic, was sie um des Familienfriedens willen verbirgt.

Zum Entsetzen der Bevölkerung geschehen in der Cater Street mehrere Frauenmorde. Junge Mädchen werden mit einer Drahtschlinge erwürgt, vom Täter gibt es keine Spur. Das Motiv gibt Rätsel auf, da die Frauen weder vermögend waren noch vergewaltgt wurden. Als auch ein Dienstmädchen der Ellisons ermordet wird, die in einer Nebenstraße wohnen, werden sie in den Fall verwickelt. Der ermittelnde Polizist Inspector Pitt stellt der Familie zu ihrem Ärger unangenehme Fragen. Vor allem Familienoberhaupt Edward Ellison stört sich an dem direkten und selbstbewussten Inspector, der ungeachtet seines niedrigen gesellschaftlichen Ranges immer wieder nachhakt.

Brisant ist auch sein auffallendes Interesse an Charlotte, was diese zunächst als unverschämt empfindet. Doch allmählich entwickelt sie selbst ein gesteigertes Interesse an dem Fall, zumal das letzte Opfer aus ihren eigenen Kreisen stammt. Beunruhigend ist auch, dass sich Emily neuerdings ausgerechnet für den zwielichtigen Lord Ashworth interessiert, der in der Halbwelt verkehrt. Und sogar Charlottes Vater Edward und Dominic scheinen etwas zu verbergen …

Fünfundzwanzig Bücher über ihr Gespann Charlotte und Thomas Pitt hat Anne Perry mittlerweile veröffentlicht. Für alle, die sich mit dieser Reihe befassen wollen, bildet dieser Band den Ausgangspunkt, um mit den Figuren vertraut zu werden und zu erfahren, wie sich das spätere Ehepaar Charlotte und Thomas Pitt überhaupt kennenlernte.

|Spannung und Atmosphäre|

Wenige Jahre, bevor Jack the Ripper das reale London in Angst versetzen wird, treibt ein Würger in der gutbürgerlichen Cater Street sein Unwesen. Vor allem das unerkannte Motiv beunruhigt die Bevölkerung, denn die Opfer scheinen nicht viel miteinander gemein zu haben. Bald wagt sich keine Frau mehr allein auf die Straße und Misstrauen zieht sich durch die ganze Stadt. Bekannte verdächtigen sich gegenseitig, denn die Polizei vertritt die Theorie, dass es sich um eine Person handelt, die im öffentlichen Leben völlig unverdächtig wirkt – vielleicht sogar ein Geisteskranker, der außerhalb seiner Anfälle gar nichts von seinen Taten weiß. Das macht die Morde umso beunruhigender und für die Polizei umso schwerer zu lösen.

Besonders heikel wird es, als sich auch Charlottes Schwager Dominic und ihr Vater Edward eigenartig verhalten. Vor allem Edward reagiert zunehmend gereizt auf die häufigen Befragungen des Inspectors, weicht aus und wird bei einem falschen Alibi ertappt. Trotz dreißig Jahren guter Ehe zweifelt seine Frau Caroline plötzlich an ihrem Mann und fürchtet sich davor, dass er mit den Morden zu tun haben könnte. Dazu kommt der innere Zwiespalt, ob sie sein falsches Alibi unterstützen oder dem Inspector die Wahrheit sagen soll. Charlotte verdächtigt zusätzlich den ominösen Lord Ashworth, den Emily für sich zu gewinnen sucht. Sie bangt nicht nur darum, dass der verrufene Lord ihre Schwester unglücklich machen könnte, sondern traut ihm zu, der Würger zu sein …

Trotz der Kriminalhandlung steht aber die Porträtierung der viktorianischen Gesellschaft im Vordergrund. Ansehen ist alles, die Stände bleiben gewöhnlich unter sich, Frauen haben sich zurückzuhalten und vor allem hübsch auszusehen. Charlotte ist mit Anfang zwanzig beinah schon eine alte Jungfer und mit ihrer Offenheit eine denkbar ungeeignete Partie. Die Eigenheiten der konservativen Gesellschaft werden immer wieder auf die Spitze genommen, sei es durch die schadenfrohen Lästereien beim Kaffeeklatsch über scheinbare Skandale oder empörte Reaktionen auf Charlottes ungehöriges Interesse an Tageszeitungen.

|Gelungene Charaktere|

Schon in diesem ersten Band spürt der Leser, dass sich mit Charlotte Elison und Inspector Pitt eine interessante Kombination gefunden hat. Charlotte ist kein Prototyp des viktorianischen Zeitalters; sie verabscheut den Standesdünkel und gibt nicht viel auf oberflächliche Konventionen. Sie spricht aus, was sie denkt, auch wenn sie mit ihrer Ehrlichkeit ihr Gegenüber vor den Kopf stößt, stört sich nicht an Gerede und zeigt echtes Interesse an den Geschichten über die Armenwelt Londons, die ihr von Pitt nahegebracht werden. Die Sympathie des Lesers ist ihr sicher, da Charlotte einerseits alles andere als makellos-langweilig ist, aber auch nicht aufdringlich oder gar zickig. Reizvoll ist auch ihr Verhältnis zu ihrem Schwager Dominic. Von der ersten Begegnung an hat sie für ihn geschwärmt und die Heirat mit ihrer Schwester mit gemischten Gefühlen betrachtet. Noch heute, Jahre später, gerät sie in seiner Gegenwart in Verlegenheit und hofft gleichzeitig, dass niemand, am wenigsten ihre Schwester, davon je etwas erfahren möge. Im Laufe der Handlung muss Charlotte allerdings ihre Meinung zu Dominic ein wenig revidieren und zum ersten Mal erkennen, dass sich ihre Gefühle getäuscht haben.

Auch Pitt hat man wegen seiner unkonventionellen Art schnell ins Herz geschlossen. Ein solider Polizist, der keine Scheu vor der höheren Gesellschaft kennt und sich von Arroganz nicht abschrecken lässt; stattdessen begegnet er Herablassung mit Souveränität und Belustigung. Eine mysteriöse Figur ist der schwer einzuschätzende Lord Ashworth. Gutaussehend und charmant, wie er ist, wählt ihn die naive und sture Emily als zukünftigen Ehemann aus. Allerdings munkelt man, dass der reiche Herr ein Spieler sei, der sich gerne in zwielichtigen Etablissements herumtreibt – und in Emily wahrscheinlich nur ein kurzes Vergnügen sieht.

|Ein paar kleine Schwächen|

Zwar ist die Verbindung aus viktorianischem Gesellschaftsroman und Krimi reizvoll, allerdings steht der Krimi-Teil vergleichsweise im Hintergrund. Es dauert eine Weile, bis die Taten des Würgers Charlotte und ihre Familie direkt betreffen, und bis dahin steht der viktorianische Alltag im Fokus. Das Ende ist dagegen etwas zu knapp gehalten. Schön wäre gewesen, nach dem großen Finale samt Auflösung noch einmal den Rest von Charlottes Familie zu erleben, stattdessen folgt ein abrupter Schluss. Und auch wenn alle den Fall betreffenden Fragen geklärt sind, gibt es doch einen Handlungsstrang, der etwas in der Luft schwebt, anstatt richtig zu Ende geführt zu werden. Die letzten Geschehnisse werden auf zu wenige Seiten gedrängt und wirken eher wie ein Aufhänger für den Nachfolgeband, anstatt den Roman abzuschließen. Diese Punkte verhindern, dass dieser Roman der ganz große Wurf geworden ist, doch für ein Debütwerk ist Anne Perry seinerzeit ein guter Krimi gelungen.

_Unterm Strich_ ist der erste Krimi aus der Inspector-Pitt-Reihe, der die Leser ins viktorianische London führt, gelungen. Die Hauptfiguren sind interessant, die Spannung ist weithin gegeben, allerdings entwickelt sich die Krimihandlung recht schleppend und das Ende ist in allen Belangen etwas zu knapp geraten.

_Die Autorin_ Anne Perry wurde 1938 als Juliet Hume in London geboren. 1954 beging sie gemeinsam mit ihrer besten Freundin einen Verzweiflungsmord an deren Mutter, der ihnen eine Haftstrafe einbrachte. Der Fall wurde als „Heavenly Creatures“ verfilmt. Nach ihrer Entlassung nahm Perry ihren heutigen Namen an und beann in den sechziger Jahren zu schreiben. 1979 veröffentlichte sie mit „The Cater Street Hangman“ ihren ersten Roman. Seither hat sie Dutzende von Büchern in mehreren Reihen herausgebracht. Am bekanntesten sind ihre Inspector-Pitt- und Privatdetektiv-Monk-Romane, die jeweils im viktorianischen London spielen.

http://www.dumont-buchverlag.de/

_Mehr von Anne Perry auf |Buchwurm.info|:_

[„Feinde der Krone“ 1723
[„Die Verschwörung von Whitechapel“ 1175

Theorin, Johan – Öland

Spätsommer im schwedischen Öland, 1972: Der fünfjährige Jens verschwindet beim Spielen im Nebel und kehrt nie mehr zurück. Die Polizei vermutet, dass er im Meer ertrunken ist, doch trotz aufwändiger Suche wird er nicht gefunden. Vor allem seine Mutter, die zu dem Zeitpunkt bereits geschieden war, leidet sehr, zumal Jens ihr einziges Kind war. Sie glaubt nicht ans Ertrinken, da Jens Angst vor Wasser hatte, sondern vermutet eine Entführung.

20 Jahre später: Jens‘ Mutter Julia hat Öland verlassen. Sie hat das Verschwinden nie verwunden, lebt alleine und hofft immer noch auf eine wundersame Rückkehr. Auch zu ihrer Familie hat sie wenig Kontakt. Überraschend erreicht sie ein Anruf ihres Vaters Gerlof: Der alte Gerlof, der inzwischen im Altersheim in Öland lebt, hat anonym eine Sandale zugeschickt bekommen, die Jens beim Verschwinden getragen hat. Julia soll zurückkommen und ihm bei der Suche nach den Hintergründen helfen.

Julia folgt der Bitte und muss sich nicht nur mit der schmerzhaften Vergangenheit, sondern auch zu dem abgekühlten Verhältnis zu ihrem Vater auseinandersetzen. Zudem hält sich nach wie vor das unheimliche Gerücht, der einst als Mörder von der Insel geflohene Nils Kant habe Jens auf dem Gewissen. Als Kind tötete er angeblich seinen eigenen Bruder und auch als Erwachsener brachte er nur Unglück über den Ort. 1972 war er bereits seit einigen Jahren tot – doch manch einer behauptet, er wandere immer noch über das neblige Land. Angeblich erhielt seine Mutter Vera noch Jahre nach seiner Beerdigung Postkarten aus aller Welt wie vor seinem Tod. Ist er damals gar nicht gestorben …?

_Johan Theorin_ legt hier seinen ersten Teil des geplanten Öland-Quartetts vor, das sich jeweils den einzelnen Jahreszeiten widmen soll. Er beginnt mit dem Herbst und macht dem „Schwedenkrimi“ alle Ehre, indem er sich auf ein atmosphärisch dichtes und ruhiges Erzählen besinnt.

|Zusammenspiel von Vergangenheit und Zukunft|

Zwei eng miteinander verwobene Handlungsstränge sind es, die den Leser auf unterschiedliche Arten fesseln. Der eine spielt in den Neunzigerjahren und zeigt das Bemühen von Gerlof und seiner Tochter Julia, das Verschwinden ihres Enkels bzw Sohnes aufzuklären. Dass Jens tot ist, scheint außer Frage zu stehen, doch wer hat seine Sandale geschickt? War es ein Unfall, der nicht eingestanden wurde, oder gar Mord? Hat der Täter selbst die Sandale Gerlof zukommen lassen, war es jemand aus seinem Umfeld, soll dies eine Aufforderung zu weiteren Nachforschungen sein?

Kurz darauf kommt Gerlofs Freund Ernst bei Arbeiten im Steinbruch ums Leben – für die Polizei ein normaler Unfall eines Steinmetzes, doch daran mag Gerlof nicht glauben. Viele Jahre lang hat er mit Ernst und dem Dritten im Bunde, John Hagman, über Jens‘ Verschwinden diskutiert. Ernst glaubte an die verwegene Nils-Kant-Theorie und schien kurz vor seinem Tod Recherchen angestellt zu haben. Für Gerlof geht es nunmehr nicht nur um sein Enkelkind, sondern auch um das Schicksal seines Freundes.

Der andere Erzählstrang führt in das Leben des mysteriösen Nils Kant, der auch Jahrzehnte nach seinem Tod die Schreckgestalt der Insel geblieben ist. Die Familie Kant besitzt viel Land in Stenvik, der Vater stirbt früh und schon als Zehnjähriger fühlt sich Nils verantwortlich. 1936 ertrinkt sein jüngerer Bruder, Gerüchte über Nils‘ Beteiligung wollen nicht verstummen. Entschädigt wird er durch das enge Verhältnis zu seiner Mutter Vera, die ihm Arbeit im Steinbruch verschafft. 1945 kommt es zu einem blutigen Aufeinandertreffen mit zwei deutschen Soldaten. Nils flieht und die Schiffe und Häfen der Welt sind von nun an seine Heimat. Anfang der Sechziger wird seine Leiche in einem Sarg heimtransportiert – doch es gibt immer noch Leute, die nicht daran glauben, dass es tatsächlich Nils Kant war, der dort beerdigt wurde.

Gekonnt spielt der Autor mit einer Mischung aus dichter Atmosphäre und einer sich stetig steigernden Spannung. Geht es anfangs „nur“ um Klarheit über Jens‘ Verbleiben, scheint mit dem gewaltsamen Tod von Ernst der Fall wieder aktuell zu werden. Irgendjemand auf Öland scheint mit allen Mitteln eine Aufklärung verhindern zu wollen, während gleichzeitig irgendjemand mit dem Senden der Sandale die Vergangenheit wieder aufrollt.

Zwar bleibt der Roman immer gemächlich und verfällt nie in ein Thriller-Tempo, doch gerade gegen Ende gibt es ein paar höchst dramatische Momente, in denen die Hauptfiguren in große Gefahr geraten. Die Geschichte um Nils Kant, die immer wieder in Rückblicken kapitelweise eingeschoben wird, bricht stets an einer verheißungsvollen Stelle ab, was die Spannung erhöht. Bis kurz vor Schluss bleiben Leser wie auch Gerlof und Julia im Unklaren darüber, auf welche Weise genau Nils Kant in die Geschehnisse verwickelt ist.

|Interessante Figuren|

Überzeugend lässt der Autor den Aberglauben und das Misstrauen der Bewohner Ölands aufleben, für die Nils Kant als Unglücksrabe der Insel ein Tabu geworden ist. Aber ebenso erfährt man, dass seine Rolle nicht einfach mit der des bösen schwarzen Mannes abzutun ist, denn trotz all seiner Fehler ist auch Nils Kant eine tragische Figur, der teilweise Unrecht getan wird. Der einfältige Junge mit dem Mutterkomplex, schon früh emotional abstumpft und über sein Verschwinden hinaus von vielen gehasst wird, der für manche noch als Geist über die Ebene wandelt oder vielleicht seinen Tod vorgetäuscht hat, ist vielschichtiger, als man es auf den ersten Blick glauben mag. Am Beispiel von Nils Kant erkennt man, wie ein einzelner Mensch zum Symbol des Unglücks eines Ortes werden kann.

Sehr gut gelungen ist auch die Darstellung des alten Gerlof. Ungeachtet seiner körperlichen Beschwerden, die ihn zeitweise kaum aufstehen lassen, ist er klar im Kopf und verfolgt unbeirrt seine Suche nach der Wahrheit darüber, was mit seinem Enkel Jens und seinem besten Freund Ernst geschehen ist. Sein Motto, dass jede Geschichte ihr eigenes Erzähltempo braucht, entspricht der Konzeption des Romans. Fast zwangsläufig kommt es dadurch zu Komplikationen mit seiner ungeduldigen Tochter Julia, die mit den bedächtigen und verschleierten Aussagen ihres Vaters nicht viel anfangen kann. Die Beziehung der beiden ist geprägt von Distanz und Spannungen. Nach einem Jahr Funkstille bedeutet die gemeinsame Suche eine schwierige Annäherung, in der die beiden nicht nur einmal aneinander geraten.

|Kaum Schwächen|

Bei genauer Betrachtung lässt sich feststellen, dass die Figur Julia vor allem durch ihre Konfrontation mit Gerlof lebt, aber man ansonsten wenig über sie erfährt. Gerlof und seine Gedanken und Handlungen stehen im Mittelpunkt; er ist der Initiator, der Öland über all die Jahre nicht verlassen hat und einen stillen Plan verfolgt, wie er das Schicksal seines Enkels aufklärt, in den er Julia nur teilweise einweiht. Von Julia erfährt man hauptsächlich, dass sie sich von ihrer Familie distanziert hat; abgesehen davon bleibt sie etwas zu blass. Des Weiteren ist das Ende mit all seinen Hintergründen zwar logisch aufgebaut, aber zum einen reimt sich Gerlof ein bisschen zu viel selbst zusammen, fast wie ein kleiner Sherlock Holmes, zum anderen kommt es etwas zu plötzlich, dass eine bisher kaum beteiligte Person in den Mittelpunkt gerückt wird. Die überraschende Wendung wird vor allem von Julia etwas zu gefasst aufgenommen.

_Als Fazit_ bleibt ein sehr stimmungsvoller und größtenteils ruhiger Schwedenkrimi mit interessanten Figuren und einem gelungenen Zusammenspiel zwischen Rückblenden und Gegenwart. Von nur sehr kleinen Schwächen abgesehen ist „Öland“ ein sehr empfehlenswerter Kriminalroman, vor allem für alle Leser, die kein hohes Tempo und keine Actionszenen brauchen.

_Der Autor_ Johan Theorin, geboren 1963 auf Göteborg, kennt Öland gut aus seiner Kindheit und seinen Sommerurlauben und ließ sich durch die Landschaft zu seinem ersten Öland-Krimi inspirieren. Das Debüt wurde von den Kritiken international euphorisch aufgenommen, die Filmrechte sind bereits verkauft. Zurzeit ist der zweite Roman des geplanten Quartetts in Arbeit.

|Originaltitel: Skumtimmen
Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps
448 Seiten, gebunden|
http://www.piper-verlag.de
http://www.johantheorin.com

Stevenson, Robert Louis / Gruppe, Marc / Bosenius, Stephan – Leichendieb, Der (Gruselkabinett 27)

_Debenham, 1849:_ Vier Männer sitzen regelmäßig in der Gaststube „George“, trinken etwas und unterhalten sich – der Wirt Dick, der Leichenbestatter Alfred, der junge Robert und Fettes. Fettes ist ein heruntergekommener Schotte, über dessen Herkunft niemand etwas Genaues weiß und der sich allabendlich dem Rum ergibt. Die Freunde ahnen nur, dass er medizinische Kenntnisse besitzt und nennen ihn scherzhaft den „Doktor“. Eines Abends erzählt der Wirt, dass ein Gast verunglückt ist und ein Arzt gerufen wurde, ein gewisser Dr. Macfarlane. Fettes erkennt in ihm einen alten, verhassten Bekannten und erzählt seine Geschichte:

Edinburgh 1829: Der junge Fettes studiert mit großem Ehrgeiz Medizin im zweiten Jahr und hofft, die freie Stelle des Hilfsassistenten bei Professor Knox zu erhalten, die sowohl Ansehen als auch gutes Geld mit sich bringt. Sein Freund Macfarlane, der Assistent des Professors, legt ein gutes Wort für ihn ein. Fettes erhält die Stelle, bei der er unter anderen nachts die für Forschungszwecke bestimmten Leichen entgegennehmen muss und die Verantwortung für den Anatomiesaal übernimmt.

Zu seiner Überraschung werden nicht nur, wie vom Gesetz vorgeschrieben, hingerichtete Menschen dafür hergenommen, sondern auch illegal ausgegrabene Leichen. Unwohl akzeptiert er die Sitte und schwört, darüber zu schweigen. Bald darauf aber wird ihm jemand gebracht, den er im Leben gut kannte und der unmöglich an einer natürlichen Ursache gestorben sein kann. Fettes ahnt, dass er einem grausigen Gewerbe auf die Schliche gekommen ist …

Die gleichnamige Erzählung von Robert Louis Stevenson lieferte die Vorlage für dieses überaus gelungene Hörspiel aus dem Hause |Titania Medien|, die 27. Folge der hochwertigen „Gruselkabinett“-Reihe.

|Gelungene Charaktere|

Im Mittelpunkt steht Fettes, der undurchsichtige Schotte, der zum ersten Mal anderen Menschen sein trauriges Schicksal erzählt. Der junge Fettes ist von ganz anderem Schlag als der alte Trunkenbold, ein hübscher, aufgeweckter Mann mit großem Ehrgeiz und einer außerordentlichen Begabung für die Medizin. Obwohl eigentlich zu unerfahren für den Posten, erhält er die Stelle, da in ihm großes Potential gesehen wird. Als Fettes erfährt, dass die Leichen für die anatomischen Studien illegal beschafft werden, regt sich sofort sein Gewissen, doch andererseits versteht er die Argumentation, dass die jährlich zehn Hingerichteten nicht ausreichen, um die Institute zu versorgen. Der Gipfel ist jedoch erreicht, als er ahnt, dass nicht nur Leichen ausgegraben, sondern womöglich auch Lebende nur für den Seziertisch getötet werden. Fettes‘ Schicksal ist bewegend und beängstigend zugleich; er ist Mitwisser und Mittäter wider Willen, eine gequälte Seele, die in grauenvolle Machenschaften verwickelt wird.

Sein charismatisches Gegenüber ist der ebenfalls noch junge Macfarlane, ein eleganter Mann, dessen Freundschaft zu Fettes fast homoerotische Anklänge birgt. Souverän und selbstsicher, wie er ist, vertraut Fettes seinen Handlungen und unterdrückt die eigene Unsicherheit. Umso desillusionierender ist für Fettes die Entdeckung, dass Macfarlane seine Bewunderung gar nicht verdient hat und zu abscheulichen Taten fähig ist. Der dritte wichtige Charakter ist der schmierige Gray, der ehemalige Vorgesetzte von Macfarlane, der ihn nach jahrelanger Suche wiedergefunden hat. Im Beisein des ahnungslosen Fettes lässt Gray eine ironische Spitze nach der anderen auf Macfarlane los und deutet an, dass er ihn erpresst. Gray ist ein aufdringlicher Unsympath, der sich auf Macfarlanes Kosten bewirten lässt und ihn offenbar gleichzeitig in der Hand hat – und Fettes, immer noch einigermaßen naiv, ahnt zunächst nicht, worum es sich dabei handelt.

|Dichte Atmosphäre|

Kaum jemand versteht es besser als R. L. Stevenson, eine unheimliche Stimmung in der Handlung zu erzeugen, und das Hörspiel setzt dies überzeugend um. Obwohl erst kurz vor Schluss ein übernatürliches Element eingebaut wird, läuft dem Hörer durchaus ab und zu ein Schauder über den Rücken. Dafür sorgt allein schon Fettes Aufgabe, nachts oder im Morgengrauen die Leichen entgegenzunehmen, die dann zerschnitten und an die Studenten verteilt werden. Die gruseligsten Momente erlebt man auf einer nächtlichen Fahrt auf einen Friedhof, aber schon lange zuvor hat den Hörer der fatale Verlauf der Handlung in seinen Bann gezogen. Ganz automatisch verbündet man sich mit dem sympathischen, unbedarften Fettes, dessen Erscheinung in so krassem Gegensatz zu seinem aktuellen Auftreten zwanzig Jahre danach steht. Obwohl man weiß, dass Fettes das grauenvolle Abenteuer zumindest überlebt, ist man gespannt, was ihm in seiner Zeit als Hilfsassistent alles widerfährt und wer aus seinem Umfeld möglicherweise sterben muss.

Interessant ist außerdem die Einbindung von Professor Knox, den es tatsächlich geben hat, ebenso wie den kurz von Macfarlane erwähnten hingerichteten Mörder William Burke. Burke ermordete 1827 und 1828 zusammen mit einem Komplizen siebzehn Menschen, um sie anschließend als Anatomieleichen zu verkaufen – vor allem an den bis dato hochangesehen Professor Knox, der daraufhin seine Stelle als Kurator des Anatomiemuseums verlor. Bekannt wurden diese Taten als West-Port-Morde, und der Leichenräuberei wurde mit einem neuen Gesetz von 1832 ein Ende gemacht, da von nun an auch von den Angehörigen freigegebene Leichen verwendet werden durften.

Ab und zu wird die Handlung dezent im Hintergrund mit leiser Musik untermalt, vor allem bei den Szenen, die in Gaststätten spielen, was das Hörspiel besonders authentisch wirken lässt. Gegen Ende auf der Friedhofsfahrt wird die Musik etwas dramatischer, aber nie so laut, dass sie die Dialoge übertünchen würde.

|Sehr gute Sprecher|

Alle Mitwirkenden liefern eine sehr gute Leistung ab. Michael Pan spricht sowohl den jungen als auch den älteren Fettes, und das beides sehr überzeugend. Als älterer Mann ist seine Stimme scheinbar stark vom Alkohol angegriffen, er wird rasch laut im Gespräch und poltert los und wirkt sehr glaubwürdig als Trunkenbold. Der junge Fettes besitzt zwar ebenfalls eine leicht kratzige Stimme, spricht aber viel melodischer, und Pan überzeugt hier als junger, etwas nervöser Mann, der leicht die Fassung verliert. Pans Stimme kennt man übrigens vor allem als Lt. Commander Data aus der Serie „Star Trek – The Next Generation“ oder als deutsche Ausgabe von Martin Short. Pan ist übrigens der Vater von Synchron-Legende David Nathan (Christian Bale, Johnny Depp, zahllose Hörbücher). Hans-Werner Bussinger spricht Professor Knox und verleiht ihm die notwendige autoritäre Ausstrahlung, die keinen Widerspruch seitens Fettes duldet. Bussinger kennt man u. a. aus Nebenrollen bei „Bibi Blocksberg“ und „Benjamin Blümchen“ sowie als Synchronstimme von Lee Majors in „Ein Colt für alle Fälle“, als Titelfigur in „Quincy“ und als Stimme von Michael Ironside oder Jon Voight

Herausstechend in jeder Hinsicht ist Wilfried Herbst als der unangenehme Gray. Seine Stimme ist bekannt als Sekretär Pichler bei „Bibi Blocksberg“ und „Benjamin Blümchen“, aber auch als Synchronisation von Mr. Bean alias Rowan Atkinson. Herbst besitzt eine sehr variable, hohe Stimme, die mal penetrant schrill und mal einschmeichelnd-sanft klingt. Dabei bewegt sich Herbst hart an der Grenze des Erträglichen und wirkt mitunter übertrieben und fast unfreiwillig komisch; obgleich er seine Sache sehr gut macht, ist es von Vorteil, dass er nur einen recht kleinen Part im Hörspiel einnimmt.

|Kaum Schwächen|

Einziges Manko ist die etwas zu ausführlich geratene Rahmenhandlung zu Beginn der Geschichte. Anstatt dass Fettes nur andeutet, dass ihn schlimme Ereignisse mit Macfarlane verbinden, wird aus dem Dialog zwischen ihm und dem Arzt recht viel von den kommenden Geschehnissen ersichtlich. Vielleicht hätte man sogar am besten ganz die Begegnung zwischen den beiden gestrichen und Fettes einfach erzählen lassen. Auf jeden Fall wird zu viel von der Binnenhandlung vorweggenommen, was den Spannungsfaktor unnötigerweise ein wenig mindert. Dazu sei gesagt, dass in der Vorlage von Stevenson diese Andeutungen nämlich wesentlich subtiler sind: Hier spricht Fettes seinen früheren Freund nur ganz kurz an, und dieser verschwindet nach wenigen Worten, sodass der Leser kaum ahnt, worauf Fettes angespielt hat, und dessen Erzählung weniger vorhersehbar ist.

_Als Fazit_ bleibt eine hervorragende Umsetzung der gruseligen Vorlage von Robert Louis Stevenson mit sehr guten Sprechern und intensiver Atmosphäre. Schade ist nur, dass die Rahmenhandlung zu Beginn schon ein bisschen zu viel vorwegnimmt. Ansonsten eine uneingeschränkte Empfehlung für alle Freunde von unheimlicher Literatur; auch für jugendliche Hörer sehr gut geeignet.

_Sprecher:_

Fettes: Michael Pan
Macfarlane: Torsten Michaelis
Prof. Knox: Hans-Werner Bussinger
Gray: Wilfried Herbst
Robert: David Turba
Dick, Wirt: Ernst Meincke
Alfred, Totengräber: Frank Schaff
Skinner: Andreas Mannkopff
Jane Galbraith: Melanie Hinze

_Der Autor_ Robert Louis Stevenson wurde in Edinburgh geboren und lebte von 1850-1894. Zunächst studierte er Technik, später Rechtswissenschaft, widmete sich dann aber der Literatur. Er unternahm aus gesundheitlichen Gründen viele Reisen in südliche Länder, die ihn unter anderen zu seinen Abenteuerromanen inspirierten. Seine bekanntesten Werke sind „Die Schatzinsel“ sowie [„Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. 2349

|Originaltitel: The Body Snatcher, 1884
Aus dem Englischen übersetzt von Harry Rowohlt
68 Minuten auf 1 CD
ISBN-13: 978-3-7857-3579-4|

Home – Atmosphärische Hörspiele


http://www.luebbe-audio.de

Schreiber, Joe – Besessen

_Mike Hughes_ ist Mitte dreißig, Familienvater und arbeitet als Arzt im Tanglewood Memorial Krankenhaus. An diesem Abend erwartet die letzten Mitarbeiter ein besonderes Ereignis: Der berüchtigte Serienmörder Frank Snow wird zur Kernspinuntersuchung gebracht. Mehrere Polizisten begleiten ihn, alles läuft unter strengen Sicherheitsvorkehrungen ab. Kurz vor Beginn der Untersuchung steckt Snow Mike einen Zettel zu: „Du hast die Wahl. Bleib hier und mach deinen Job, oder schnapp dir deine Familie und hau ab. Entscheide dich JETZT. Noch eine Warnung kriegst du nicht.“

Noch bevor Mike auf diese seltsame Nachricht reagieren kann, erscheint seine Frau Sarah mit dem kleinen Sohn Eli. Sarah fürchtet schon länger, dass Mike eine Affäre mit seiner hübschen Kollegin Jolie Braun führt und will ihn zur Rede stellen. In diesem Augenblick aber bricht im Untersuchungsraum eine Art Explosion los. Offenbar ist Frank Snow die Flucht gelungen, mehrere seiner Bewacher sind tot.

Zu allem Überfluss spielt auch noch der Strom verrückt, das Licht fällt aus. Mike und seine Familie werden voneinander getrennt. Frank Snow macht seine Jagd auf die letzten Überlebenden in der Klinik – allem Anschein nach unterstützt durch übernatürliche Kräfte …

_Mit seinem Debütwerk_ „Untot“ zog Joe Schreiber die Aufmerksamkeit der Horrorwelt auf sich und stürmte die Bestsellerlisten. Leider ist ein gelungener Erstling noch lange kein Garant dafür, dass auch die nachfolgenden Werke diese Klasse erreichen.

|Wenige Stärken|

Die Zutaten, die Schreiber für seinen Roman verwendet, sind althergebracht, können zu Beginn aber dennoch das Interesse wecken: Ein Serienmörder, dessen Taten offenbar so grauenvoll waren, dass sie nur angedeutet werden, weil sich jeder der Erinnerung verschließen möchte – ein geschickter Zug, der sich angenehm von so mancher Gewaltdarstellung im Buch abhebt; ein Krankenhaus, das erst recht bei Nacht ein unheilvoller Schauplatz wird, eine Drohung und eine Flucht inklusive Jagd auf die Verbliebenen, die sich in den verwinkelten Teilen der Klinik verstreuen. Bei keinem Charakter ist ein Überleben garantiert und man ahnt früh, dass den Leser kein wirkliches Happy-End erwartet.

Interessant ist auch das Verhältnis zwischen Sarah und Mike Hughes. Einerseits ist Sarah überzeugt davon, dass er ein Verhältnis mit der begehrten Jolie pflegt, doch Snows Flucht verhindert eine Aussprache. Anschließend steht Sarah zwischen den Fronten und muss einerseits den verängstigen Sohn trösten, der seinen Daddy vermisst, und sorgt sich selbst um ihren Mann, der sich irgendwo in der Klinik aufhält und womöglich gefangen ist; andererseits ist ihr Schmerz über den vermeintlichen Betrug nicht verraucht und belastet sie in dieser Extremsituation zusätzlich. Ein paar lesenswerte Einblicke in sein Leben erhält man auch beim dem Alkohol zusprechenden Pförtner Steve Calhoun, wenn in flüchtigen Bildern seine unschöne Vergangenheit angerissen wird. Dadurch, dass sich die Handlung fast in Echtzeit abspielt und sich keine Abschweifungen erlaubt, liest sich der Roman außerdem sehr zügig, unter Umständen direkt an einem Stück.

|Zu blasse Charaktere, zu viele Klischees|

Insgesamt aber sind die Charaktere nicht wirklich interessant geraten. Mike Hughes bleibt als Hauptperson unnötig blass, über sein Seelenleben erfährt der Leser wenig, Jolie wird einem im späteren Verlauf sogar unnötig unsympathisch. Der kleine Eli ist ein Abbild jener Kinderfiguren, wie sie gerne in belanglosen Horrorfilmen auftauchen, voller Zutrauen in „Mommy“ und „Daddy“. Er führt klischeehafte Monologe und verhält sich verblüffenderweise fast ruhiger als so mancher Erwachsener. Man möchte meinen, dass ein Kind angesichts des Chaos, des Lärms und der Dunkelheit im Krankenhaus in Panik ausbricht und sich nicht so mustergültig zu beherrschen weiß wie Eli.

Am wichtigsten wäre wohl gewesen, den diabolischen Frank Snow markanter darzustellen; nicht erst seit Hannibal Lecter weiß man, wie sehr Serienmörder die Leserwelt faszinieren können. Nichts davon zu spüren ist jedoch bei Frank Snow. War es noch reizvoll, seine genauen Taten lediglich anzudeuten, muss man nun leider erkennen, dass dieser geheimnisvollen Einführung nichts nachfolgt außer grausamen Massakern. Auch Katz-und-Maus-Spiele eignen sich normalerweise sehr gut, um in Thrillern oder Horrorwerken Spannung zu garantieren, aber dafür fehlt es an einer wirklichen Identifikationsfigur und einem Killer mit Profil.

Bald ist offensichtlich, dass bei seiner Flucht übernatürliche Fähigkeiten eine Rolle gespielt haben. Hier gleitet der Roman von einem scheinbaren Thriller in Horror über, geht dabei aber zu verschwenderisch mit okkulten Elementen und Gewaltszenen um. Zu sehr erinnert die Handlung nunmehr als Groschenromane und lässt sowohl Originalität als auch Subtilität vermissen. Das Ende ist nicht sehr überraschend, wenn man auch zugute halten muss, dass die Fäden zusammenlaufen und das Handeln einzelner Personen plausibel erklärt wird. Der Epilog aber ist dann wieder zu vorhersehbar und abgegriffen und hinterlässt ein Gefühl, Vergleichbares schon hundertmal gelesen zu haben.

_Als Fazit_ bleibt ein belangloser Horrorroman, der rasch in Klischee abgleitet und kaum interessante Charaktere vorzuweisen hat. Die Ausgangslage ist zunächst noch ansprechend, wenn auch nicht originell, die Horrorelemente aber werden zu billig und effektheischend in Szene gesetzt. Dank der temporeichen Handlung und der Kürze lässt sich der Roman schnell lesen, ist aber unterm Strich keine Empfehlung wert.

_Der Autor_ Joe Schreiber wurde in Michigan geboren und lebt heute mit seiner Familie als Mathematiklehrer in Pennsylvania. Bereits vor seinem ersten Roman [„Untot“ 4320 arbeitete er als Ghostwriter und Co-Autor, ehe ihm der internationale Durchbruch als Horrorautor gelang.

|Originaltitel: Eat the Dark
Aus dem Englischen von Ulf Ritgen
253 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-404-15889-8|
http://chasingthedead.blogspot.com/
http://www.bastei-luebbe.de/

Laymon, Richard – Show, Die

1963 in der Kleinstadt Grandville: Der sechzehnjährige Dwight verbringt einen heißen Sommer mit seinen besten Freunden, dem vorlauten Rusty und der burschikosen Frances, genannt Slim, für die beide Jungs heimlich schwärmen, seit sie ins Teenageralter gekommen sind. Einer ihrer beliebtesten Plätze ist die Janks-Lichtung im Wald, die nach einem berüchtigten Serienmörder benannt ist, der dort vor Jahrzehnten seine Opfer begraben hatte – und die allen Kindern und Jugendlichen verboten ist.

Ausgerechnet auf dieser Lichtung hält eine Vampirshow Einzug, die angeblich ein spektakulär-erotisches Programm bietet. Vor allem Dwight und Rusty sind begierig darauf, die angekündigte Vampirin Valeria zu sehen. Obwohl die Show eigentlich nicht für Minderjährige erlaubt ist, kommen die drei mit Hilfe von Dwights Schwägerin Lee an Karten für die erste Abendvorstellung.

Kurz zuvor aber macht Slim bei den Zirkusleuten eine grausige Beobachtung. Sie flüchtet, wird jedoch gesehen. Von da an fühlen sich die drei Freunde verfolgt, jemand bricht sogar in ihre Häuser ein und hinterlässt Spuren. Trotzdem geben sie ihrer Neugierde nach und besuchen die Show – eine fatale Entscheidung, die ihr Leben verändern wird …

Richard Laymon steht für harten Horror und ausgedehnte Splatterszenen. Umso angenehmer sind seine etwas ruhigeren Werke wie der vorliegende Roman, in denen der Fokus nicht auf blutrünstiger Gewalt liegt – und erfreulicherweise wurde genau dieser mit dem BRAM STOKER AWARD ausgezeichnet.

|Gelungene Atmosphäre|

Viele großartige Romane nutzen einen heißen Sommer und die Schwelle zwischen Kindheit und Jugend oder Jugend und Erwachsensein als Kulisse für ihre Handlung, darunter moderne Horrorklassiker wie Dan Simmons‘ „Sommer der Nacht“ und Stephen Kings „Es“. Laymon greift diese nostalgische Tradition auf, was einen besonderen Zauber über das Buch legt. Identifikationsfigur ist der Ich-Erzähler Dwight, der auf den Sommer zurückblickt, der sein Leben veränderte, mit all seinen schönen wie grausamen Erfahrungen. Russell, genannt Rusty, verkörpert einen vorlauten, leicht pummeligen Jungen, der gerne Scherze auf Kosten anderer macht und unangenehme Seiten aufblitzen lässt, ohne es sich dabei je ernsthaft mit seinen Freunden zu verderben.

Slim, die sich traditionell jedes Jahr einen neuen Spitznamen verpasst, ist ein knabenhaftes Mädchen, das sich von der lässigen Bogenschützin, mit der die Jungs seit der Kindheit ihre Abenteuer erleben, allmählich zu einer jungen, begehrenswerten Frau entwickelt. Während Rusty jede Gelegenheit für obszöne Bemerkungen nutzt, verspürt Dwight ein sehnsüchtiges Verlangen und gleichzeitig die Verwirrung über die erwachsende Sexualität. Dwight macht es dem Leser leicht, sich in ihn hineinzuversetzen. Er wirkt als Dämpfer für Rustys ungehobelte Sprüche, ohne selbst immer als strahlender Held dazustehen, seine Unsicherheit gegenüber Slim und seine leisen Hoffnungen, dass sie seine aufkeimenden Gefühle erwidert, werden glaubwürdig dargestellt. Ein ebenfalls gelungenes Element ist Rustys dreizehnjährige Schwester Bitsy, ein molliges, unbeholfenes Mädchen, das offensichtlich in Dwight verliebt ist. Dwight fühlt einerseits einen Beschützerinstinkt gegenüber der ihm ergebenen Bitsy, die oft von ihrem Bruder gehänselt wird, andererseits nerven ihn ihre Bedrängungen.

Natürlich verzichtet Richard Laymon auch hier nicht auf sexuell aufgeladene Szenen, die sich jedoch im Vergleich mit anderen Werken in Grenzen halten. Mehrfach fühlt sich Dwight wie hypnotisiert von Slims Körper im zarten Bikinioberteil. Ihre mädchenhafte Ausstrahlung steht im Gegensatz zum verführerischen Körper von Lee, Dwights junger Schwägerin, die trotz ihrer knapp dreißig Jahre wie eine unkonventionelle Neunzehnjährige wirkt und nicht weniger begehrliche Blicke von den Jungs erntet, allerdings ohne dass diese Momente zu sehr ausgereizt oder aufgesetzt wirken würden.

|Viel Spannung|

Für seine Verhältnisse lässt sich Richard Laymon viel Zeit, ehe sich richtiger Horror entwickelt, dennoch wird von Beginn an Spannung aufgebaut, die sich im weiteren Verlauf sukzessive steigert. Das ist kein leichtes Unterfangen, schließlich handeln die über fünfhundert Seiten einen einzigen Tag ab, die Handlung erzählt beinahe in Echtzeit. Die undurchsichtige Vampirshow schwebt zwar von Anfang an als unheilvoller Höhepunkt im Hintergrund, doch zuvor gibt es genug andere brisante Entwicklungen, beginnend mit dem Ausflug der drei auf die verbotene Lichtung. Nach einem gefährlichen Zwischenfall ist Slim verschwunden und irgendjemand hinterlässt bedrohliche Spuren in den Häusern der Freunde. Auch um Lee müssen die Freunde bangen, zumal sie durch Unterzeichnung eines Schecks dem mysteriösen Besitzer der Vampirshow ihre Adresse gegeben hat. Die Show selbst hält nach ruhigem Beginn ein grauenhaftes Finale bereit, bei dem sich das Gemetzel für Laymons Verhältnisse aber in Grenzen hält, wenn auch eine Magen-provozierende Szene nicht fehlt.

Bemerkenswert ist allerdings, dass ausgerechnet zwei kurze, rückblickende Sequenzen, die in keinem direkten Zusammenhang mit der Handlung stehen, den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen: Zum einen ist es ein Zwischenfall an einem vergangenen Halloween, als die Freunde nachts auf einer einsamen Straße eine verstörende Begegnung machen, die, trotz oder gerade weil sie ohne Gewalt auskommt, auch den Leser gruselt. Zum anderen ist es das Auftauchen eines Cadillacs mit zwei bedrohlichen Zwillingsmännern als Insassen, die es auf Slim abgesehen haben und die, undurchschaubar wie beim ersten Mal, noch ein weiteres Mal eine Rolle spielen. Schade, dass Laymon solche Momente nicht öfter in seine Werke hat einfließen lassen, denn hier zeigt sich ein ungeahntes Talent, auf subtile Weise einen Schauder beim Leser zu erzielen.

|Nur kleine Schwächen|

Im Vergleich zur sehr ausführlichen vorherigen Handlung ist das Finale recht kurz gehalten. Die Ereignisse überstürzen sich und auch der Epilog ist sehr knapp bemessen. Vor allem stört, dass das Verschwinden einer bestimmten Person nicht weiter erläutert wird. Auch wenn es eigentlich nur eine Erklärung dafür gibt, wirkt es zu lapidar und einfallslos; wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt hätte man schon noch einbauen können. Die Handlungen der Hauptcharaktere im turbulenten Finale sind zudem, wie es für Laymon auch wiederum typisch ist, relativ abgebrüht. Einzig der lebens- und leidenserfahrenen Slim nimmt man ihre Reaktionen vollständig ab, bei den anderen bleibt ein Hauch Unrealismus und Übertriebenheit zurück.

_Als Fazit_ bleibt ein für Richard Laymons Verhältnisse wenig gewaltvoller Horrorroman mit schöner Atmosphäre und weithin gelungenen Charakteren. Abgesehen vom etwas abrupten Schluss überzeugt die Geschichte und kann trotz des Umfangs in beinahe Echtzeit mit einer großen Portion Spannung aufwarten.

_Der Autor_ Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und ist einer der meistverkauften Horrorautoren der USA. Er studierte englische Literatur und arbeitete unter anderem als Lehrer und Bibliothekar, ehe er sich dem Schreiben widmete. Im Jahr 2001 verstarb er überraschend früh und hinterließ eine Reihe von Romanen, die vor allem wegen ihrer schnörkellosen Brutalität von sich Reden machten. Nur ein kleiner Teil davon ist bislang auf Deutsch erhältlich. Zu seinen weiteren Werken zählen u. a. „Rache“, „Parasit“, „Im Zeichen des Bösen“ und „Vampirjäger“. Mehr über ihn gibt es auf seiner offiziellen [Homepage]http://www.ains.net.au/~gerlach/rlaymon2.htm nachzulesen.

|Originaltitel: The Travelling Vampire Show
Originalverlag: International Scripts / Schlück
Übersetzt von Thomas A. Merk
Ausgezeichnet mit dem Bram Stoker Award
Taschenbuch, 528 Seiten
ISBN-13: 978-3-453-67512-4|
http://www.heyne-hardcore.de
http://www.ains.net.au/~gerlach/rlaymon2.htm

_Richard Laymon auf |Buchwurm.info|:_

[„Das Spiel“ 3491
[„Die Insel“ 2720
[„Rache“ 2507
[„Vampirjäger“ 1138
[„Nacht“ 4127
[„Das Treffen“ 4499
[„Der Keller“ 5289

Koontz, Dean – Todeszeit

_Mitch Rafferty_ führt ein zufriedenes Leben: Er ist mit seiner großen Liebe Holly glücklich verheiratet und liebt seinen Job als Gärtner. Alles ändert sich, als ihn ein Anruf auf der Arbeit erreicht. Ein Unbekannter erklärt, dass Holly entführt wurde. Mitch soll binnen sechzig Stunden zwei Millionen Dollar auftreiben und darf nicht die Polizei verständigen – ansonsten wird Holly sterben. Zum Beweis dafür, dass die Entführer es ernst meinen, erschießen sie gleich darauf einen Spaziergänger vor seinen Augen.

Mitch ist verzweifelt, schließlich besitzt er nur ein paar tausend Dollar Ersparnisse, was die Entführer sogar wissen. Um Holly nicht zu gefährden, verschweigt er das Verbrechen gegenüber der Polizei. Leider scheint einer der Ermittler zu ahnen, dass Mitch mehr über den Mord weiß, dessen Zeuge er wurde. Zudem haben die Verbrecher alle Vorkehrungen getroffen, um ihn im Fall von Hollys Tod als ihren Mörder darzustellen.

Während Mitch fieberhaft überlegt, wie er die Vorgabe erfüllen kann, erhält er neue Anweisungen. Offenbar besitzen die Entführer eine genaue Vorstellung davon, wie er an das Geld kommen soll. Bald stellt Mitch fest, dass er nicht nur permanent überwacht wird, sondern auch Teil eines perfiden Plans ist. Und er beschließt zurückzuschlagen …

_Thriller und Horror_ sind die Domänen von Erfolgsautor Dean Koontz. In diesem Roman fehlen die Geister und Dämonen – was ihn jedoch nicht weniger beängstigend macht.

|Spannung und rasanter Einstieg|

Unbekannte Verbrecher entführen einem den liebsten Menschen und fordern ein utopisches Lösegeld – binnen zweieinhalb Tagen. Keine Frage, dass diese Ausgangssituation den Leser packt und er wissen will, wie Mitch Rafferty diese schier unmögliche Aufgabe bewältigt. Im Gegensatz zu Mitch scheinen die Gangster genau zu wissen, wie er an die Summe gelangen kann, ebenso wie sie offenbar sein Leben, sein Umfeld, seinen Kontostand und sein Haus in- und auswendig kennen. Nicht nur Mitch, auch der Leser fragt sich, weshalb die Forderung ausgerechnet ihn trifft, und umso überraschter ist man, als sich der Grund dafür herausstellt. Koontz spart nicht mit Wendungen, die sich gerne auch mal um hundertachtzig Grad drehen und allen bisherigen Anschein zunichte machen.

Besonders quälend ist die Unsicherheit darüber, wer in Mitchs Umfeld in die Machenschaften eingeweiht ist, sodass er nicht einmal dem ermittelnden Polizeibeamten zu trauen wagt. Erfreulicherweise sind Mitchs Aktionen, mit denen er sich gegen die Gangster wehrt, kaum von Zufall geprägt; schön realistisch ist beispielsweise sein ungeschickter Umgang mit Schusswaffen. Die Handlung selbst ist geradlinig und temporeich angelegt, ohne große Abschweifungen oder Ruhepausen – eine Einladung zum zügigen Lesen und eine Aufforderung, sich in die Lage des Protagonisten zu versetzen und sich zu fragen, zu welchen Handlungen man selbst an seiner Stelle bereit wäre.

|Überwiegend gelungene Charaktere|

Das Interesse an einem Roman steht und fällt meist mit dem am Protagonisten, und so tut Dean Koontz gut daran, ihn als sympathischen Durchschnittstypen darzustellen, der eine ideale Identifikationsfigur bietet. Leider braucht es eine Weile, bis man nähere Einzelheiten über Mitch Rafferty erfährt, die ihm das nötige Profil verleihen. Diese Differenzierung setzt erst etwa ab Seite 100 ein, als er seinen Eltern einen Besuch abstattet. Ab diesem Zeitpunkt ist Mitch nicht mehr einfach nur der Gärtner mit der geliebten Ehefrau, sondern man wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert, einem äußerst komplizierten Familienverhältnis mit experimentierfreudigen Eltern. Daniel und Kathy Rafferty haben keine Mühen gescheut, um ihre fünf Kinder zu außergewöhnlichen Intellekten zu erziehen, was so seltsame bis grausame Methoden wie regelmäßige IQ-Tests und eine schalldichte Dunkelkammer beinhaltete und als Ergebnis bei Mitch in keine Akademikerlaufbahn, sondern nur in ein distanziertes Eltern-Kind-Verhältnis mündete.

Holly ist der krasse Gegensatz dazu; eine nicht sehr facettenreiche, aber liebevolle Ehefrau, die angesichts ihrer Lage nie ihre Würde und ihre Hoffnung verliert. Interessant ist auch eine der Entführer-Figuren, die den Dialog mit Holly sucht und dabei einen sehr unorthodoxen Eindruck hinterlässt, der schwer einzuordnen ist.

|Kleine Schwächen|

Zumindest eine der Wendungen wird in der zuvor stattfindenden Handlung eindeutig zu wenig vorbereitet. Ihre Darstellung hinterlässt einen unbefriedigenden bis unrealistischen Eindruck und ist zu sehr auf Effekt ausgelegt. Ein paar geschickt versteckte Andeutungen wären hier von Vorteil gewesen. Zudem kann Koontz es offenbar nicht lassen, doch zumindest eine kurze übernatürliche Szene einzubauen, die aber einen leicht kitschigen Eindruck hinterlässt in ihrem Versuch, die übergroße Verbundenheit von Mitch und Holly zu demonstrieren.

Letztes Manko ist das sehr knapp geratene Ende. Ein Epilog von wenigen Seiten präsentiert eine Zusammenfassung der letzten Jahre, und es ärgert den Leser, wie beiläufig verschiedene Entwicklungen dort abgehandelt werden, zumal fraglich ist, wie sich einige Ereignisse offenbar in Wohlgefallen aufgelöst haben – realistischer wäre es nämlich gewesen, wenn es hier noch einige Probleme und Schwierigkeiten zu bewältigen gegeben hätte.

_Als Fazit_ bleibt ein solider und vor allem temporeicher Thriller, der mit einer interessanten und zugleich erschreckenden Grundidee spielt. Der Hauptcharakter ist sympathisch und lädt zum Mitfiebern ein. Ein paar Schwächen verhindern die Erstklassigkeit des Romans, für alle Freunde des Genres ist er dennoch empfehlenswert.

_Der Autor_ Dean Koontz, geboren 1945 in Pennsylvania, gehört mit bislang über 400 Millionen verkauften Buchexemplaren zu den erfolgreichsten Horrorschriftstellern Amerikas. Vor seiner Karriere arbeitete er als Lehrer und veröffentlichte zwischendurch immer wieder Kurzgeschichten und Romane, zunächst mit geringem Erfolg. Der Durchbruch gelang ihm mit „Flüstern in der Nacht“, es folgten zahlreiche Bestseller, darunter Werke wie „Unheil über der Stadt“, „Ort des Grauens“, „Intensity“, „Trauma“, „Der Wächter“, „Todesregen“ und die |Frankenstein|-Trilogie.

|Originaltitel: The Husband
Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
444 Seiten
ISBN-13: 978-3-453-26552-3|

Home Page


http://www.heyne.de/
http://www.dean-koontz.de/

_Dean Koontz auf |Buchwurm.info|:_

[„Todesregen“ 3840
[„Die Anbetung“ 3066
[„Seelenlos“ 4825
[„Irrsinn“ 4317
[„Frankenstein: Das Gesicht“ 3303
[„Kalt“ 1443
[„Der Wächter“ 1145
[„Der Geblendete“ 1629
[„Nacht der Zaubertiere“ 4145
[„Stimmen der Angst“ 1639
[„Phantom – »Unheil über der Stadt«“ 455
[„Nackte Angst / Phantom“ 728
[„Schattenfeuer“ 67
[„Eiszeit“ 1674
[„Geisterbahn“ 2125
[„Die zweite Haut“ 2648

Hurwitz, Gregg – Blackout

Als Krimiautor Drew Danner im Krankenhaus erwacht, erwarten ihn zwei Nachrichten. Die gute: Er hat einen epileptischen Anfall überlebt und ihm wurde der verursachende Gehirntumor erfolgreich entfernt. Die schlechte: Er wurde in der Wohnung seiner Exfreundin gefunden, die erstochen neben ihm lag. Drew selbst kann sich an nichts erinnern und wird zunächst schuldig gesprochen. In der Berufung erreicht er bald darauf einen Freispruch – wegen Unzurechnungsfähigkeit; sein Tumor wird als Auslöser für die Tat verantwortlich gemacht.

In der Öffentlichkeit wird Drew nach wie vor von vielen als Mörder angesehen, ebenso von der Polizei. Er stellt eigene Nachforschungen an in der Hoffnung, dass vielleicht doch ein anderer die Tat begangen und inszeniert hat. Kurz darauf geschieht ein zweiter Mord an einer Frau mit vielen Übereinstimmungen. Sofort wird Drew verdächtigt – doch er kann ein Alibi vorweisen.

Gleichzeitig geschehen rätselhafte Dinge in seinem Umfeld: Gegenstände verschwinden aus seinem Haus, Türen stehen plötzlich offen und jemand verpasst ihm im Schlaf eine Schnittwunde am Fuß. Immer stärker wird für Drew der Verdacht, dass der wahre Mörder ihm die Tat anhängen will …

Nach seinen Erfolgen mit „Die Scharfrichter“ und dem Nachfolger „Die Sekte“ legt Gregg Hurwitz hier den dritten Streich auf Deutsch vor, erneut ein Thriller, diesmal aber ohne Verbindung zu den früheren Werken.

|Spannung bis zum Schluss|

Gleich in doppelter Funktion wird Drew Banner zum Ermittler: Zum einen gilt es, den Mörder von Kasey Broach zu finden, der alles so arrangiert hat, dass Drew auf den ersten Blick wie der Täter aussehen muss, inklusive seinem Blut am Tatort. Zum anderen drängt es Drew danach, zu erfahren, ob er wirklich in geistiger Umnachtung seine Exfreundin erstochen hat oder ob, so seine leise Hoffnung, schon zu diesem Zeitpunkt jemand die Szenerie manipulierte, um vielleicht eine Reihe von Serienmorden auf ihn abzuwälzen. Dabei stehen Drew glücklicherweise mehr Möglichkeiten zur Recherche zur Verfügung als dem Durchschnittsbürger – als Krimiautor steht er in Verbindung mit Experten, die ihm Untersuchungsergebnisse und Informationen liefern können. Andererseits kämpft er seit seinem Freispruch mit den Blicken und bösen Sprüchen der Öffentlichkeit; nur wenige Bürger ziehen seine Unschuld in Betracht – die Ermittler Kaden und Delveckio machen keinen Hehl daraus, dass sie den Freispruch bedauern, seine Freundin verlässt ihn, Familie besitzt Drew nicht mehr. Was ihm bleibt, ist ein buntgewürfelter Haufen alter Freunde, auf den er sich verlassen muss.

Originell ist vor allem die Grundidee, dass Drew selbst nicht weiß, ob er möglicherweise ein Mörder ist oder nicht, und wie er, wenn es so sein sollte, mit dieser Tat umgehen soll. Der Anklage nach hat ihn eine gehässige Anrufbeantworter-Nachricht seiner Exfreundin so in Rage versetzt, dass er sie erstach; tatsächlich aber kann sich Drew trotz der Trennung nicht vorstellen, Hass auf Genevieve entwickelt zu haben. Stattdessen leidet er unter ihrem Tod und will auch ihretwegen die Wahrheit herausfinden. Bei der Auflösung bleiben keine offenen Fragen für den Leser zurück, das Motiv ist einleuchtend, wenn auch sehr ungewöhnlich für einen Thriller.

|Interessante Nebencharaktere|

Am besten gelungen ist die Darstellung von Caroline, einer klinischen Therapeutin in einer Jugendanstalt. Miss Caroline entpuppt sich als entstellte Schönheit, deren Gesicht von Narben durchzogen ist. Noch bevor Drew den Hintergrund dafür erfährt, ist er fasziniert von der immer noch attraktiven Frau, die sichtlich auf Professionalität bedacht ist und mit der sich allmählich eine Beziehung anbahnt.

Etwas zu klischeehaft geraten ist dagegen Junior, der vierzehnjährige Sprayer aus der Anstalt, der zufällig als Tatortzeuge ein verdächtiges Auto gesehen hat. Junior benimmt sich übertrieben abgeklärt und feuert Drew zu heiklen Nachforschungen an, scheinbar unbeeindruckt von jeglicher Gefahr; eher die Karikatur eines Ghettokids, auch wenn er für witzige Einlagen sorgt. Vielschichtiger sind dagegen Preston und Lloyd, zwei hilfreiche Freunde. Preston ist Drews Verleger, ausgestattet mit übertriebenem Selbstbewusstsein und immer für spitzfindige Bemerkungen gut, dem Drew zufällig im Laufe der Handlung hinter die Kulissen schaut und dabei überraschende Erkenntnisse gewinnt. Lloyd ist Mitarbeiter der Spurensicherung – einst stets als Berater für Drews Romane gut und jetzt Experte der Anklage – hin- und hergerissen zwischen heimlichen Hilfeleistungen für Drew in Sachen Haar- und Fingerabdruck-Analyse, Befürchtung vor Entdeckung durch Kollegen und am schwerwiegendsten der Pflege seiner krebskranken Frau Janice, die mit dem Tod kämpft.

|Kleine Schwächen|

Ein Manko des Romans ist der teilweise wirklich unpassende Humor, den Ich-Erzähler Drew in die Handlung einbringt. Drews selbstironischer Unterton wirkt sympathisch, vor allem, wenn man den Eindruck gewinnt, dass er seine Situation mit Galgenhumor betrachtet. Dagegen ist es kontraproduktiv, wenn er in jeder noch so ungünstigen Lage erst mal eine schlagfertige Antwort gibt. Vor allem gegenüber den ihm schlecht gesonnenen Polizisten Kaden und Delveckio gibt er sich betont locker und macht spaßige Bemerkungen, auch wenn er in Gewahrsam genommen und wie ein Mörder behandelt wird – eine übertriebene Lockerheit, die nicht mehr realistisch ist.

Der andere Punkt ist der teilweise verwirrende Anfang, der mit Rückblenden beginnt. Die Haupthandlung setzt nach seinem Freispruch ein. Der Leser ist zu dem Zeitpunkt noch gar nicht über die vergangenen Ereignisse im Bilde, erfährt erst nach und nach, weshalb Drew überhaupt im Gefängnis saß, sondern konzentriert sich zunächst auf seinen ersten Tag in Freiheit; erst auf Seite 35 setzt dann der Rückblick auf den Mord und seine Verhaftung ein. Dritter Punkt ist eine konstruierte Szene, was Genevieves Tod angeht; so gut sich dieses Element in die nachfolgenden Ereignisse einfügt, so unwahrscheinlich ist es, dass jemand auf diese Weise vorgehen würde.

_Als Fazit_ bleibt ein unterhaltsamer Thriller mit ungewöhnlicher Ausgangslage, der weitgehend spannend ist und mit teilweise interessanten Nebencharakteren aufwarten kann. Ein paar kleine Schwächen wie unpassender Humor schmälern allerdings den guten Gesamteindruck.

_Der Autor_ Gregg Hurwitz wuchs bei San Francisco auf und studierte zunächst Englische Literatur und Psychologie in Harvard und Oxford, ehe er sich dem Schreiben widmete. Dazu verfasste er Drehbücher, veröffentlichte literarische Artikel über sein Spezialgebiet Shakespeare und hielt Lehrgänge über das Schreiben. Auf Deutsch erschienen bisher „Die Scharfrichter“ und „Die Sekte“.

|Originaltitel: The Crime Writer
Aus dem Amerikanischen von Wibke Kuhn
ISBN-13: 978-3-426-19771-4|

Homepage


http://www.droemer-knaur.de

_Mehr von Gregg Hurwitz auf |Buchwurm.info|:_

[„Die Scharfrichter“ 3295
[„Die Sekte“ 4403.

Haines, Carolyn – Mädchen im Fluss, Das

Das Städtchen Drexel in Mississippi, im Sommer 1952: Die schwarze Jade führt einen Schönheitssalon und richtet im Bestattungsinstitut die Verstorbenen her. Obwohl alle Einwohner ihre Fertigkeiten schätzen, wird sie wie alle Farbigen gemieden und als Mensch zweiter Klasse behandelt. Zusätzliches Misstrauen entsteht durch die Gerüchte, Jade könne mit den Toten sprechen.

Jade wurde von dem schwarzen Ehepaar Ruth und Jonah aufgezogen, doch jeder in der Stadt weiß, dass sie die uneheliche und nicht anerkannte Tochter von Lucille Sellers Longier, Drexels First Lady, ist, auch wenn niemand über dieses offene Geheimnis spricht. Während sie Jade verleugnet, vergöttert Lucille ihre jüngere Tochter Marlena, eine blonde Schönheit, die mit dem reichen Lucas Bramlett verheiratet ist. Marlena und Jade sind befreundet, ohne jedoch ein echtes Schwesternverhältnis zu pflegen.

An einem Sommertag macht Marlena mit ihrer kleinen Tochter Suzannah einen Ausflug in den Wald. Wenig später wird Marlena schwerverletzt aufgefunden, Suzannah ist spurlos verschwunden. Deputy Frank Kimble nimmt die Suche nach dem Mädchen und den Männern auf, die Marlena beinahe umgebracht haben, unterstützt von Jade – eine gefährliche Aufgabe …

Ein bisschen Mystik, ein bisschen Krimi, eine intensive Atmosphäre und ein Hang zu den Südstaaten zeichnen die Romane von Carolyn Haines aus. Ähnlich wie ihr Erfolgsroman „Am Ende dieses Sommers“, greift auch dieses Werk auf diese bewährte Mischung zurück.

|Teilweise interessante Charaktere|

Im Mittelpunkt steht die Afroamerikanerin Jade, deren Ansehen in der Stadt von Widersprüchen geprägt ist. Einerseits ist ihr Schönheitssalon mit den Bildern der Hollywoodstars der einzige Hauch von Luxus im ländlichen Drexel, ein Anlaufpunkt für alle Damen der Gesellschaft, die sich widerwillig eingestehen müssen, dass niemand bessere Frisuren und Make-ups zaubert als die geheimnisvolle Farbige. Auch auf ihre Dienste im Bestattungsinstitut will niemand verzichten. Jade besitzt das Geschick, allen Toten einen würdigen Anblick zu verleihen. Mit Rouge, Wachs, Vaseline und Blumensträußen kaschiert sie die Makel des Todes, sodass selbst Angehörige von Unfallopfern nicht auf einen offenen Sarg verzichten müssen. Auf der anderen Seite ist die Einzelgängerin Jade den meisten Bewohnern unheimlich; es geht das Gerücht um, sie könne mit den Toten sprechen. Jade trägt ihr Außenseiterdasein mit Würde. Sie hat Jonah und Ruth, das schwarze Dienstbotenehepaar, als Eltern akzeptiert und ignoriert ihre leibliche Mutter Lucille. Sie drängt auch Marlena nicht dazu, sich als ihre Schwester zu bekennen, und ist damit zufrieden, der kleinen Suzannah Babysitterin zu sein.

Weiterhin gelungen ist die Figur des Deputys Frank Kimble. Ein düsteres Familienschicksal lastet auf dem Kriegsveteran, der seit seinem Einsatz unter einem Trauma leidet. Trotz seiner verdienstvollen Arbeit wird er ähnlich misstrauisch beäugt wie Jade; kein Wunder also, dass die beiden einander näherkommen. Bedeutsame Nebenfiguren sind außerdem Jades Zieheltern Ruth und Jonah und Lucille, von Jonah verehrt, von Ruth gehasst; zudem noch Dotty, Marlenas vorgeblich beste Freundin, ein oberflächliches Frauenzimmer, stets auf Männersuche und bald in eine Affäre mit Lucas Bramlett verstrickt. Allerdings erhält Dotty, die zunächst eine unsympathische Figur ist, gegen Ende noch Gelegenheit, sich zu bewähren, und erscheint in einem freundlicheren Licht. Marlena, von der Handlung her einer der wichtigsten Charaktere des Romans, geht dabei ein wenig unter; über ihr Verhältnis zu Jade wird mehr gesagt, als dass man es wirklich erlebt.

|Spannend und atmosphärisch|

Es ist ein typisches Bild der Südstaaten in den Fünfzigerjahren, das die Autorin hier entwirft. Ein schwüler Sommer mit drückender, feuchter Hitze, eine Kleinstadt voller Vorurteile und gestrigem Denken sowie eine scharfe Rassentrennung, auch wenn sie teilweise nur indirekt zum Tragen kommt. Afroamerikaner sind Menschen zweiter Klasse, werden entweder offen angefeindet oder gönnerhaft wie loyale Dienstboten behandelt. Auch wenn dies kein typischer Krimi ist, wird für Spannung gesorgt. Lange Zeit ist unklar, wer hinter dem Überfall auf Marlena steckt, welches Motiv sich dahinter verbergen mag. Während Marlena mit dem Überleben kämpft, weiß niemand, ob Suzannah noch lebt, ob vielleicht eine Lösegeldforderung eingeht und wo man suchen soll. Jade begegnet auf ihrer Suche nach ihrer Nichte unverhohlenem Hass, und zu Recht bangt Frank Kimble bald auch um ihre Sicherheit.

|Kleine Schwächen|

Weniger gelungen sind die spirituellen Einschläge, die ab und zu in der Handlung aufblitzen. Sowohl Jade als auch Frank erleben Visionen, die ihnen etwas über Suzannahs Schicksal verraten – ein unnötiges Konstrukt, das zudem etwas von der Spannung raubt. Tatsächlich wird die Suche nach Suzannah im Verlauf der Handlung noch in den Hintergrund gerückt; ihr Vater verhält sich gleichgültig, Jade konzentriert sich auf ihre Halbschwester, Frank kommt in den Wäldern hinter ein grauenvolles Geheimnis und schließlich wird auch noch Dotty entführt – alles interessante Nebenhandlungen, die aber etwas zu dominant im Vergleich zu dem verschwundenen Mädchen behandelt werden. Auch das Ende ist nicht optimal; nachdem sich der Kreis scheinbar geschlossen hat, wird auf den letzten beiden Seiten eine neue Entwicklung angedeutet, die fast Platz für einen Fortsetzungsroman böte und zu lapidar die Handlung beschließt.

_Als Fazit_ bleibt ein atmosphärisch dichter Südstaatenkrimi, der überzeugend das Flair der Gegend am Mississippi in den Fünfzigerjahren einfängt. Die Hauptcharaktere sind gelungen, allerdings haben sich auch ein paar kleine Schwächen eingeschlichen. Insgesamt erreicht der Roman nicht die Klasse von Haines Erstling „Am Ende dieses Sommers“, ist aber allen Südstaateninteressierten ans Herz zu legen.

_Die Autorin_ Carolyn Haines, Jahrgang 1953, wuchs in Mississippi auf und arbeitete zunächst zehn Jahre lang als Journalistin, ehe sie sich der Schriftstellerei zuwandte. Anfangs verfasste sie unter Pseudonym Romanzen, heute schreibt sie Kriminalromane, die alle in den Südstaaten spielen. Zu ihren Werken zählen unter anderem „Am Ende dieses Sommers“, „Der Fluss des verlorenen Mondes“ und „Wer die Toten stört“.

|Originaltitel: Penumbra
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Karl-Heinz Ebnet
333 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-7857-2328-9|

Home


http://www.luebbe.de

Adams, Poppy – Wer die Ruhe stört

Die siebzigjährige Virginia Stone lebt von Geburt an auf Bulborrow Court, dem ländlichen Herrenhaus ihrer Eltern. Wie ihr Vater, hat auch sie ihr Leben der Schmetterlingsforschung verschrieben. Clive Stone war ein ehrgeiziger Wissenschaftler, Mutter Maud eine naturverbundene Umweltaktivistin. Virginias jüngere Schwester Vivien hat das Elternhaus bereits in jungen Jahren verlassen und ist nach London gegangen.

Schon früher waren die Schwestern, obwohl eng befreundet, sehr gegensätzlich – Ginny die ordnungsliebende Forscherin, Vivi die impulsive Chaotin. Jetzt kommt Vivien überraschend nach Jahrzehnten wieder zu Besuch. Nach der ersten Wiedersehensfreude ist Virginia vor allem misstrauisch. Sie fühlt sich durch die Anwesenheit ihrer Schwester irritiert; zu sehr hat sie sich an die Einsamkeit gewöhnt und hasst jede Störung ihrer Ruhe.

Während Virginia über den wahren Grund der Wiederkehr ihrer Schwester nachgrübelt, versinkt sie in Erinnerungen an ihr Leben mit Vivien vor über vierzig Jahren. Sie erinnert sich an glückliche Tage in ihrer Kinderzeit und Jugend – aber auch an dunkle Familiengeheimnisse, die sie längst verdrängt geglaubt hat und die nie wieder an die Oberfläche kommen sollten …

Ein abgelegenes Herrenhaus, eine verschrobene Besitzerin und dunkle Familiengeheimnisse – dies sind die bewährten Zutaten, die sich Poppy Adams für ihren Debütroman zurechtgelegt hat.

|Spannung auf mehreren Ebenen|

Gleich mehrere Fragen fesseln den Leser, sowohl in der Gegenwart als auch im Handlungsstrang, der in der Vergangenheit spielt. Schon früh ist erkennbar, dass Virginia sich zwar über das Wiedersehen mit Vivien freut, dass aber auch Spannungen und viel Unausgesprochenes in der Luft liegen und es womöglich zu einem Streit mit ungewissem Ausgang kommen mag. Nach und nach wird das anfänglich gezeichnete Bild von der Idylle einer wohlhabenden Forscherfamilie zerstört, indem immer mehr Enthüllungen aus der Vergangenheit ans Tageslicht geholt werden. In ihrer Liebe zu Vivi verwickelt sich die junge Ginny in eine verhängnisvolle Aufgabe, und man ahnt, dass das Vorhaben der beiden Schwestern ein böses Ende nehmen muss. Auch über dem Tod der Mutter liegt ein Schatten und Ginny muss sich nach all den Jahren mit einer möglichen neuen Ursache auseinandersetzen.

|Interessante Charaktere|

Lange Zeit sind es vor allem die Gegensätze zwischen den Schwestern, die für Faszination sorgen. Da ist die lebhafte Vivien, stets unbekümmert und spontan, die eindeutige Anführerin, obwohl drei Jahre jünger als Virginia. Keine zehn Jahre ist sie alt, als sie beim Spielen von einem Glockenturm stürzt und nur knapp überlebt. Doch anstatt sich zurückzunehmen, bleibt sie ihrer energischen Linie treu, immer die ergebene Schwester im Schlepptau, die gar nicht auf die Idee kommt, der geliebten Vivi einen Wunsch abzuschlagen.

Erfreulicherweise ist Virginia trotz dieser Ergebenheit alles andere als langweilig geraten. Schon früh entdeckt sie ihren Forscherdrang und eifert ihrem berühmten Vater nach. Stundenlang beobachtet sie Raupen und Schmetterlinge, katalogisiert sie, tötet sie zu Untersuchungszwecken. Was Vivien mit der Zeit öde wurde, bleibt bis an Virginias Lebensende ihre Leidenschaft. Auch dem Leser wird die bunte Welt der Schmetterlinge nahegebracht, immer wieder lässt sich Ich-Erzählerin Virginia zu kleinen Abschweifungen hinreißen, die nie ins Belehrende gleiten, sondern eindrucksvoll ihre Liebe zu dieser Wissenschaft unterstreichen.

Die Darstellung der Familienverhältnisse ist angenehm vielschichtig geraten. Anfangs erscheint das Bild harmonisch, doch allmählich beginnt es zu bröckeln. Maud Stone greift vermehrt zum Alkohol, was die entsetzte Virginia krampfhaft vor dem Rest der Verwandtschaft verbergen möchte; Vivien verlässt ihr Elternhaus und bricht mit dem Vater. Trotz der teilweise dramatischen Verwicklungen gibt es auch amüsante Szenarien, vor allem im Zusammenspiel mit Arthur, Vivis Freund und späterem Ehemann. Völlig ahnungslos steht er der Schmetterlingsforschung gegenüber und registriert erstaunt, wie intensiv sich sein Schwiegervater in spe mit dem scheinbar staubtrockenen Thema auseinandersetzt – während dieser nur über die naiven Äußerungen des Schwiegersohns müde lächeln kann.

|Kleine Schwächen|

Ein paar Mankos sind Poppy Adams bei ihrem Debüt dennoch untergekommen. Zum einen vermisst man ein wenig mehr Zeitgeist im Handlungsstrang der Vergangenheit. Die Schwestern werden in den turbulenten Vierzigerjahren geboren, doch von Krieg oder Nachkriegszeit ist nicht viel zu spüren; stattdessen macht die Handlung einen durchweg modernen Eindruck. Zudem kann das Ende nicht ganz die geweckten Erwartungen bestätigen. Die finale Wendung ist zwar schlüssig, lässt aber in der Umsetzung Atmosphäre vermissen, und vor allem Virginia erscheint in ihren Handlungen seltsam steril. Aufgrund der vorherigen Enthüllungen und der sich stetig steigernden Spannung erhofft man sich unwillkürlich einen Knalleffekt am Schluss – aber vergebens, denn eine wirkliche Überraschung tritt nicht ein.

_Als Fazit_ bleibt ein solider Debütroman, der eine dramatische Familiengeschichte mit Thrillerelementen verbindet. Die Charaktere sind gut gelungen, die Handlung ist spannend inszeniert. Kleine Abzüge gibt es für das verhältnismäßig unspektakuläre Ende.

_Die Autorin_ Poppy Adams, Jahrgang 1974, studierte Naturwissenschaften und arbeitete als Dokumentarfilmerin für |BBC|, |Channel 4| und |The Discovery Channel|. Das vorliegende Buch ist ihr erster Roman. Sie lebt mit ihrer Familie in London.

|Originaltitel: The Behaviour of Moths
Übersetzung von Rita Seuß
368 Seiten, gebunden|
http://www.hoca.de

Peter Robinson – Ein seltener Fall

Endlich hat Chief Inspector Alan Banks Zeit gefunden, um einen entspannten Urlaub in Griechenland zu verbringen. Ein Zeitungsartikel aus seiner Heimat bringt ihn jedoch dazu, sofort wieder abzureisen. Seit seiner Kindheit, als sein Freund Graham spurlos verschwand, trägt er ein schweres Schuldgefühl mit sich herum. Kurz zuvor war der junge Banks von einem Fremden belästigt worden, ohne diesen Vorfall der Polizei oder seinen Eltern zu melden. Bis heute fürchtet er, der Unbekannte könnte der Mörder seines damaligen Freundes gewesen sein.

Peter Robinson – Ein seltener Fall weiterlesen

Waters, Sarah – Solange du lügst

London um 1865: Die siebzehnjährige Susan Trinder ist eine Waise. Ihr Vater ist unbekannt, ihre Mutter wurde kurz nach Susans Geburt als Raubmörderin gehängt. Seither lebt Susan im Haus von Mrs. Sucksby, die Kinder aufnimmt und zu Dieben ausbildet. Die gestohlenen Wertgegenstände werden vom stillen Mr. Ibbs eingeschmolzen und zu Geld gemacht. Je älter Susan wird, desto offenkundiger wird die scheinbar grundlose Bevorzugung durch Mrs. Sucksby.

An einem Winterabend kommt ‚Gentleman‘ zu Besuch, ein junger Mann, den alle im Haus wegen seines guten Aussehens nur bei diesem Spitznamen kennen. Einmal im Jahr bringt er Diebesgut für Mr. Ibbs, doch diesmal legt er einen außergewöhnlichen Plan vor. Susan soll als Zofe bei der jungen Adeligen Maud Lily arbeiten und Gentleman dazu verhelfen, dass sie ihn heiratet. Die junge naive Frau lebt zurückgezogen mit ihrem alten Onkel und wird nach der Hochzeit ein großes Vermögen erhalten. Anschließend will Gentleman sie in ein Irrenhaus abschieben und das Vermögen mit Susan teilen.

Zögernd willigt Susan ein. Ihre neue Herrin entpuppt sich als scheues Mädchen, das Anwesen als düster, der Onkel als unfreundlich und dominant. Mit der Zeit entwickelt Susan eine Sympathie für Maud. Immer unwohler wird ihr bei dem Gedanken, die junge Frau zu hintergehen. Doch als es schließlich so weit ist, muss Susan erkennen, dass auch sie ein Teil einer Intrige geworden ist und nicht weiß, wem sie noch vertrauen kann …

_Bewertung_

Völlig zu Recht wurde Sarah Waters‘ Roman für den Booker Prize nominiert und erfüllt auch alle Erwartungen, die mit der Ankündigung einer Mischung aus Charles Dickens und Daphne du Maurier geweckt wurden.

|Spannend und wendungsreich|

Das viktorianische Zeitalter ist seit jeher prädestiniert für düstere Handlungen voller Geheimnisse und unheimlicher Schauplätze. Der Leser wird zurückversetzt in eine Zeit der riesigen Herrenhäuser mit ihren steifen Herren und den ergeben Dienstboten, in die schmutzigen Straßen von London mit den elenden Armenvierteln, Waisenkindern und Diebesbanden, finsteren Spelunken, Droschken in engen Gassen, in die Zeit menschenunwürdiger Irrenhäuser und zweifelhafter Heilmethoden.

Gefesselt verfolgt man die Schicksale von Susan und Maud Lily: Man fragt sich, ob Susan ihre Rolle als Zofe glaubwürdig spielt oder ob sie vorzeitig als Hochstaplerin entlarvt wird, wie sie auf dem Anwesen von Maud Lily und deren Onkel aufgenommen wird, ob sie tatsächlich wie geplant das Vertrauen ihrer neuen Herrin gewinnen und sie zur Heirat mit Gentleman überreden kann und ob der Plan der beiden Gauner aufgeht, die junge Frau zu entmündigen und an ihr Vermögen zu gelangen. Bald gesellt sich der Zwiespalt von Susan hinzu, der mit der Zeit immer größer wird. Immer schwerer fällt ihr der Gedanke, Maud zu hintergehen, immer unsympathischer wird ihr dagegen ihr Verbündeter Gentleman, doch nach wie vor fühlt sie sich zu der Tat gezwungen, nicht zuletzt, weil sie ihre Ziehmutter Mrs. Sucksby auf keinen Fall enttäuschen will.

Als verspräche diese Handlung nicht ohnehin schon viel Spannung, werden die Ereignisse durch plötzliche Wendungen mehrfach auf den Kopf gestellt. Nach dem ersten Drittel wechselt die Erzählperspektive von Susan zu Maud, um im letzten Drittel wieder zu Susan zurückzukehren. Vor allem im zweiten Teil werden viele vorherige Geschehnisse durch die neue Sichtweise relativiert und in ein gänzlich anderes Licht gestellt. Etliche Sätze erhalten eine neue Bedeutung, ebenso Mauds Onkel und seine akribische Bibliotheksarbeit, der Plot scheint sich in eine andere Richtung zu bewegen – doch auch diese ist noch nicht endgültig; wieder wird die Handlung durch eine Wendung gekippt, sodass man bis kurz vor Schluss nicht sicher sein kann, wem man in diesem Werk trauen kann und wer am Ende triumphieren wird. Trotz des kompliziertes Geflechtes, das die Lebensgeschichten der Hauptfiguren Susan und Maud mit einschließt, verliert die Autorin nicht den Überblick, sondern fügt alle Fäden folgerichtig zusammen, und zwar so verständlich, dass auch dem Leser keine offenen Fragen mehr bleiben.

|Gelungene Charaktere|

Im Mittelpunkt steht die Diebin und Betrügerin Susan, die zwar einerseits Sympathien erweckt, aber alles andere als eine strahlende Heldin ist. Auch wenn sie zunächst zögert, in Gentlemans kaltblütigen Plan einzustimmen, so überwiegt letztlich doch die Verlockung durch die versprochenen dreitausend Pfund, die an sie fallen und ihr ein neues, sicheres Leben ermöglichen sollen. Daran hält sie auch noch lange fest, als sie ihr Opfer näher kennengelernt hat und das Bedürfnis verspürt, die zarte, kindliche Maud zu beschützen. Obwohl Susan eine Betrügerin ist, fiebert der Leser mit ihr, bangt, ob ihre Tarnung standhalten wird oder nicht und ob sich ihre Zweifel ausweiten werden.

Maud Lily ist dagegen ein schwer durchschaubarer Charakter. Im Gegensatz zur abgehärteten Susan erscheint sie elfenhaft und kindlich, ein scheues Reh, welches das Haus nicht verlässt und sich vor dem strengen Onkel fürchtet. Erst auf den zweiten Blick, sprich, wenn Maud selbst zu Wort kommt, erkennt man ihre Facetten, die dann umso mehr überraschen. Sie ist beileibe nicht so naiv, wie sie ausschaut, doch ebenso wie bei Susan verschwimmen die Grenzen zwischen Täter und Opfer und machen aus den beiden Figuren faszinierende Charaktere mit Tiefe, ohne an Plausibilität einzubüßen. Auf jeder Seite spürt der Leser die sich immer stärker ausbreitende Hassliebe zwischen den Frauen, schwankt dabei selbst, für wen er Partei ergreifen soll und vermag das Ende der Entwicklung nicht vorauszusehen. Schwer einzuschätzen sind auch die restlichen Charaktere, der düstere Onkel mit seiner Besessenheit für Bücher, der charmante Gentleman mit seinem durchtriebenen Plan, die alte Mrs. Sucksby, in der Susan einen Mutterersatz sieht und die auch so viel doppelbödiger ist, als man glauben mag.

|Kaum Schwächen|

Will man dem Buch überhaupt etwas ankreiden, dann ist es vielleicht die Komplexität der verschachtelten Handlung, ein Übermaß an überraschenden Wendungen, bei denen eine jede scheinbar versucht, die vorangegangene zu übertrumpfen. Die spektakulären Enthüllungen überschlagen sich gegen Ende beinahe, dabei bietet die Handlung ohnehin schon genug unterhaltsamen Stoff. Zudem findet sich im ansonsten hieb- und stichfesten Plan Gentlemans ein kleines Logikloch, da – ohne zu viel verraten zu wollen – zwei Personen als Zeugen ihm theoretisch einen Strich durch die Rechnung hätten machen können. Dass sie nicht konsultiert werden, ist eher Glückssache und konnte im Vorhinein nicht ausgeschlossen werden.

_Als Fazit_ bleibt ein durchweg spannender historischer Thriller voller Wendungen und Überraschungen bis zum Schluss. Das viktorianische Zeitalter bietet die perfekte Kulisse für geheimnisvolle Machenschaften und düstere Schauplätze. Die beiden Hauptfiguren faszinieren und überzeugen durch ihre Undurchsichtigkeit und facettenreichen Charakterzüge. Lediglich die übertrieben häufigen Wendungen fallen etwas negativ auf.

_Die Autorin_ Sarah Waters wurde 1966 in Wales geboren. Sie studierte englische Literatur und schrieb ihre Dissertation über Homosexualität in der Literatur, was ihr häufig als Inspiration für ihre Werke dient. Mittlerweile erhielt sie zahlreiche Preise – z. B. den |British Book Award Author of the Year|, den |Crime Writers‘ Association Ellis Peters Historical Dagger|, den |Sunday Times Young Writer of the Year Award| – und war für den |Booker Prize| nominiert. Weitere Zu ihren Werken zählen „Die Muschelöffnerin“, „Die Frauen von London“ und „Selinas Geister“. Das vorliegende Buch wurde unter dem Titel „Fingersmith“ verfilmt.

Sonnleitner, Marco – Die drei ??? – Der tote Mönch

Justus, Peter und Bob genießen einen sonnigen Tag am Strand. Als sich ein Gewitter ankündigt, machen sie sich auf ihren Rädern schnell auf den Heimweg. Unterwegs hören sie von Highway her ein lautstarkes Quietschen sowie einen Schrei: Ein riesiger Truck hätte um ein Haar einen alten Mann überfahren, der ihm urplötzlich vor die Räder lief. Die drei ??? beruhigen den aufgebrachten Truckerfahrer und kümmern sich um den Mann, der mit einem Schock davongekommen ist.

Der chinesische Mann heißt Lo Wang und ist seit vielen Jahren Gärtner bei Christine Harkinson, einer wohlhabenden Bildhauerin. Die alte Dame ist sehr bestürzt, als die drei Jungs Herrn Wang bei ihr abliefern. Sie erzählt ihnen, dass sie sich schon seit längerer Zeit um den Gärtner sorgt. Häufig wirkt er geistesabwesend und vernachlässigt neuerdings seine Arbeit. Mrs. Harkinson ist davon überzeugt, dass er ein dunkles Geheimnis verbirgt, weiß aber nicht, wie sie ihm helfen kann.

Die drei ??? übernehmen den Fall. Es stellt sich heraus, dass Lo Wang davon überzeugt ist, dass Mrs. Harkinson in großer Gefahr schwebt. Ein Geist in Gestalt eines Mönches gehe angeblich im Garten um und bedrohe das Leben aller Bewohner des Hauses. Ein finsterer Mann gibt sich als Medium aus und erteilt Mr. Wang Aufgaben zur Besänftigung des Geistes. Die drei ??? glauben natürlich nicht daran und ermitteln …

Es ist wieder einmal typisch; da wollen die drei Jungs aus Rocky Beach einfach mal einen entspannten Tag am Meer verbringen, schon geraten sie prompt wieder an einen neuen Fall.

|Spannende Ermittlungen|

Mysteriöse Vorkommnisse mit scheinbar übernatürlichen Phänomenen gehören seit jeher zu ihrem Spezialgebiet. In diesen Bereich fällt auch dieser neue Auftrag. Der Schauplatz ist eine geräumige Villa mit einem riesigen Garten, der an einen Wald grenzt und unter dessen Grundstück sich einst ein Friedhof befand. Ein herunterstürzender Ast, der beinah auf Justus landet, deutet schon früh darauf hin, dass jemand die drei Detektive vertreiben will.

Doch wer steckt dahinter? Mrs. Harkinson ist überzeugt davon, dass ihr treuer Lo Wang unschuldig sein muss, aber das gilt es für die drei Fragezeichen erst zu beweisen. Der Gärtner wird beschattet, ein undurchsichtiger Mann, der sich als Medium ausgibt, taucht auf und sogar mit einer geisterhaften Gestalt in Kutte müssen sich die Jungs auseinandersetzen. Gefahrenszenen gibt es mehrere, die Atmosphäre auf dem nächtlichen Grundstück ist teilweise schön gruselig und erinnert somit an die klassischen Fälle der drei Fragezeichen, in denen unheimliche Ortschaften häufig eine Rolle spielen. Bei ihren Recherchen und Ermittlungen gehen die drei Jungs sorgfältig und planmäßig vor. Die Auflösung ist schlüssig, ohne dass man den Zufall dafür bemühen muss. Am Ende gibt es sogar mal eine äußerst brenzlige Situation, die einem Actionfilm zur Ehre gereichen würde.

|Gelungene Charaktere|

In dem schmalen Band ist für große Charaktertiefe natürlich kein Platz. Dennoch erscheint die Auftraggeberin Mrs. Harkinson als sympathische alte Dame mit einer Menge Temperament und trotz ihres Reichtums gänzlich unpreziös. Zwar zögert sie zunächst, ob sie die drei Jungs mit dem Fall beauftragen soll, vor allem, weil ihr unwohl ist bei dem Gedanken, ihren treuen Gärtner beschatten zu lassen – doch um Lo Wangs Ängste zu klären, willigt sie ein.

Lo Wang ist anfangs die große Unbekannte, denn anders als Mrs. Harkinson sind Justus, Peter und Bob noch nicht davon überzeugt, dass er nichts Böses im Schilde führt. Auf den ersten Blick ist Lo Wang ein kleiner dünner Mann, in dessen Geist der chinesische Aberglaube tief verwurzelt ist. Allerdings ist noch nicht bewiesen, ob er sein ängstliches Verhalten nicht vorspielt. Für einen witzigen Zwischenfall sorgt Mrs. Paton, die die Jungs und Lo Wang nach dem Unfall zu Mrs. Harkinson fährt und sich als ihre Nachbarin und angeblich enge Freundin vorstellt. Auf dem Anwesen von Mrs. Hatkinson stellt sich jedoch zum Amüsement der Jungs heraus, dass Mrs. Paton nicht mehr als eine aufdringliche Bekannte ist, die von ihrer ach so guten „Freundin“ rasch abgewimmelt wird.

Im Verhalten von Justus, Peter und Bob gibt es keine Überraschungen. Justus erfährt die Geistesblitze und trägt den größten Teil zur Lösung des Falls bei; außerdem wird er von seinen Freunden wie üblich wegen seiner Verfressenheit geneckt und trauert einem Stück Kirschkuchen hinterher, das ihm entgangen ist. Peters Angst vor Geistern kommt auf dem Friedhof zum Vorschein; ihm ist der Fall ganz offensichtlich wieder einmal viel zu gruselig und er hält den Aberglauben des Gärtners für nicht ganz abwegig. Inspector Cotta bekommt zum Schluss auch noch einen Auftritt, spielt aber eine untergeordnete Rolle.

|Kleine Schwächen|

Auch wenn das Buch insgesamt gelungen ist, gehört dieser Fall nicht zu den besten der drei Fragezeichen. Zum einen gibt es recht wenige Verdächtige, überhaupt spielen im Gegensatz zu anderen Bänden sehr wenige Personen mit. Das ist schade, denn es entsteht ja gerade dadurch eine Extra-Portion Spannung, dass man rätselt, wer der in Frage kommenden Personen der Täter sein könnte. Man vermisst auch charismatische Gegner, wie man ihnen in Bänden wie „Der seltsame Wecker“ oder „Stimmen aus dem Nichts“ begegnete.

Ein weiterer Punkt ist, dass die Titelfigur erst in der zweiten Hälfte des Buches auftaucht und nicht so dominant ist, wie man nach Lesen des Klappentextes vermuten dürfte. Überhaupt wird es erst im zweiten Teil so richtig unheimlich, vorher beschränkt sich die Handlung eher auf Verfolgungen und Recherchen der drei Detektive; dabei böte der Schauplatz durchaus an, die gruselige Atmosphäre noch stärker in Szene zu setzen. Schade ist zudem, dass der Leser im Finale außen vor gelassen wird, da die letzten Erkenntnisse der Drei ihm als Pointe vorgehalten werden. Am Ende des vorletzten Kapitels machen die drei ??? die entscheidende Entdeckung; was sie genau entdeckt haben, erfährt der Leser jedoch erst einige Seiten später und wird mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen gestellt.

_Als Fazit_ bleibt ein sehr solider Band aus der Reihe, der zwar nicht zu den besten gehört, aber alle Fans zufriedenstellen dürfte. Die Handlung reiht sich ein in die eher mysteriösen und gruseligen Fälle der Drei Fragezeichen, ist spannend aufbereitet und unterhält mit humorvollen Einlagen. Trotz kleiner Mankos auf alle Fälle empfehlens- und lesenswert.

_Der Autor_ Marco Sonnleitner wurde 1965 in München geboren. Nach einem begonnenen Medizinstudium sattelte er auf Lehramt um und unterrichtet an einem Gymnasium. Mittlerweile ist er einer der Stammautoren der „Drei Fragezeichen“-Reihe. Von ihm stammen unter anderem die Bände „Codename: Cobra“, „Fels der Dämonen“, „Der schwarze Skorpion“ und „Panik im Park“. Außerdem ist er Autor der Jugend-Fantasy-Reihe um Tom O’Donnell.