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Matute, Ana María – vergessene König Gudú, Der

Dicke Fantasy-Romane fordern wohl geradezu schicksalhaft den Vergleich mit dem Werk eines gewissen J. R. R. Tolkien heraus. (Dünne übrigens auch. Aber dicke eher.) So konnte es nicht ausbleiben, dass Ana María Matutes 590-Seiten-Buch das x-hundertste „Tritt-das-Erbe-an“-Prädikat bekam. Fairerweise muss hinzugefügt werden: nicht vom Verlag selbst. Die Leute, die das Buch herausbrachten, scheinen wohl gewusst zu haben, dass hier etwas doch sehr von Tolkien Verschiedenes ans Licht gelangt ist. Aber wer einmal unter amazon.de nachschaut, der wird finden, dass sowohl Redaktion als auch Leser den berühmt-berüchtigten Vergleich bemühen, der in diesem Fall so fehlgeht wie nur irgend möglich. Denn schon ein Anlesen der ersten Seiten verrät, dass Matutes Diktion, Aufbau der Geschichte und Absicht sich deutlich von denen Tolkiens im „Herr der Ringe“ unterscheiden. Was kein Tadel sein soll; aber man kann Wein und Bier, Erdbeeren und Tomaten nun einmal nur im Allgemeinen miteinander gleichsetzen. Das Allgemeine heißt hier: Fantasy. Heißt also: große Themen mit den Augen des Träumers und des Kindes betrachten und ein wunderbares „Was-wäre-wenn“-Spiel spielen. Liebe und Tod, Treue und Verrat, Gut und Böse sind natürlich Motive, die seit dem Gilgamesch-Epos überall und immer wiederkehren; der Fantasy-Schreiber aber hat seine besondere, verfremdende Sicht auf diese Alltagsdinge.

Zur Geschichte Gudús: Sie geht so bald noch nicht richtig los. Geboren wird der Kleine auf S. 219; auf S. 256 wird er durch einen Zufall – eine Fügung des Schicksals? – zum König des Reiches von Olar. Der sterbende König Volodius liebt ihn nicht sonderlich, ebenso wenig wie seine Mutter, Königin Ardid – die einem unterworfenen Volk entstammt und Volodius nur geheiratet hat, um Rache nehmen zu können; da war sie erst sieben Jahre alt. Doch auch diese Hochzeit findet recht spät statt; zuvor muss man noch weitere Herrscher und Geschichte(n) Olars kennenlernen. Die Meinungen hierüber mögen geteilt sein: Wer an halb legendenhaften, halb historischen Erzählungen seinen Spaß hat, wird jede Seite genießen, wer allerdings eine stringente Handlung mit |action| erwartet, wird diesen Teil wohl überblättern. Ana María Matute, meine ich, hat diesen langen Anlauf nicht umsonst gewählt; es geht ihr darum zu zeigen, wie die Biographie eines Menschen schon durch die Biographien seiner Vorfahren geformt wird, und es geht ihr um die Verbindung von Geschichte und Menschenschicksalen. So haben wir es hier mit einem Werk zu tun, das sich eher mit den Gesta Danorum des Saxo Grammatikus vergleichen lässt, jener bis in die mythische Vorzeit zurückgreifenden Geschichte der dänischen Herrscher. Vor allem das Thema des Strebens nach unumschränkter Macht prägt das Buch – Volodius ist ein Machtmensch, Gudú will zum Herrscher der gesamten bekannten Welt werden. Und der einzige gute Prinz, Nobel (die redenden Namen stören ein wenig), erleidet das Schicksal aller, die nicht um Macht, sondern um Liebe bemüht sind – er stirbt. Mit seinem Tod endet dieses Buch, das ja eigentlich nur ein erster Teil ist. Gudú, auf der Höhe seiner Macht, hat sich an Prinzessin Naivia gerächt, die ihn zurückwies, und hat auch seiner klugen, machtbewussten Mutter gezeigt, wer hier der Herr im Hause ist. Den Opfern bleibt nur der Rückzug in eine Märchenwelt, in das Land der Phantasie jenseits des Todes.

Insgesamt lässt sich sagen, dass dieses Buch weit mehr Märchenmotive aufweist als die meisten anderen Fantasy-Bücher. Darin unterscheidet es sich auch von Tolkiens Werk, das episch-legendär geprägt ist. „Der vergessene König Gudú“ hat seinen eigenen Reiz (der sich freilich nicht jedem und manchem recht spät erschließen mag). Vergleiche bringen da wenig, sie wecken nur Erwartungshaltungen, die dann enttäuscht werden könnten; dieses Buch ist sehr besonders. Ana María Matutes Neigung zur starken Verfremdung der Realität und zum Aufbau einer Traumwelt, die mir schon bei ihren Kurzgeschichten („Seltsame Kinder“, Insel-Verlag Leipzig 1979) gefallen hat, kommt hier häufig zum Tragen und macht das Lesen zu einem Erlebnis eigener Art.

_Peter Schünemann_ © 2003
mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung durch [Buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/

Marburg-Con 2004

Am 24. April 2004 war es wieder soweit: Nach einer einjährigen Pause fand im hessischen Marburg erneut die beliebte [Marburg-Con]http://www.marburg-con.de statt. Die Veranstaltung, die dieses Jahr unter dem Motto „Welten des Horrors“ stand, startete in alter Tradition mit einer Romanbörse bereits morgens um 9 Uhr. Viele Besucher und Interessenten fanden den Weg in den großen Saal des Bürgerhauses Wehrda.

Bei zahlreichen Händlern gab es nicht nur die Möglichkeit, die neusten Bücher der deutschen Kleinverlage zu erstehen, sondern auch gut gefüllte Kartons mit Romanheften, Taschenbüchern, Comics und Hörspielen aus dem Antiquariat zu durchforsten. Schon in den ersten Stunden der Convention sah man viele mit Suchlisten herumstöbern, um ihre Sammlung zu vervollständigen. Und bei dem riesigen Angebot hatte man auch bei fast allen Serien das Glück etwas zu finden.

Gegen 14 Uhr wurde die Con von den Veranstaltern offiziell eröffnet und begann mit einer Lesung von _Heike Wolf_ aus ihrem DSA-Roman „Spielsteine der Götter“ im kleinen Saal. Nach dem Beitrag, der vor allem bei den Fantasy-Freunden Anklang fand, startete um 15 Uhr der Vortrag von _Christian Montillon_: „Wie Dan Shocker Larry Brent erfand und die Gruselheftromane geboren wurden“.

Hierzu hatte er zahlreiche Skripte und Exposés von Dan Shocker zur Hand, die den Werdegang des Serienhelden von der Planungsphase bis zum endgültigen Serienstar, wie wir ihn heute kennen, belegten. Dabei erfuhr man auch bisher unbekannte Fakten, wie zum Beispiel die Tatsache, dass für Larry Brent eigentlich der Name Larry Kent vorgesehen war. Um diese frühen Vorlagen und Ausarbeitungen den vielen Fans zur Verfügung zu stellen, plant Christian Montillon ein Paperback, das im |Blitz|-Verlag erscheinen soll.

Der 16-Uhr-Programmpunkt gehörte _Thomas Birker_, dem Produzenten der MacKinsey-Hörspiele. Neben Hörproben erläuterte er die Geschichte seiner Firma |Dreamland Productions| und verriet einige Geheimnisse der nächsten Produktionen. Neben den MacKinsey-Hörspielen 03 („Kampf gegen den Grünen Tod“) und 04 („Die toten Augen von Balmoral“) gelang es Thomas Birker, die Verträge für eine neue Grusel-Hörspielserie unter Dach und Fach zu bringen. Autoren wie H. G. Francis und Hugh Walker stellen ihre Romane zur Vertonung zur Verfügung.

Als nächstes war _Walter Appel_ am Zuge. Er las, während im großen Saal die Anproduktion eines |Maddrax|-Fanhörspiels stattfand, im kleinen Saal aus seinen bei der |Romantruhe| erscheinenden Romanen, der Serie „Geister-Schocker“.

Den vorletzten offiziellen Programmpunkt gestaltete _Markus K. Korb_, indem er professionell seine beim |Blitz|-Verlag herausgegebene Buchreihe „Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek“ vorstellte. Während er die Handlungen der Bücher erläuterte, stand ihm _Mark Freier_ zur Seite, der die Reihe grafisch betreut und mit seiner unverwechselbaren Coverarbeit versieht. Die Stimmung, die Korb durch seine Erläuterungen bei den Zuhörern hervorrief, konnte man nur als atemberaubend beschreiben. Fasziniert von den Geschichten, den Autoren und den Ausführungen verging die Zeit wie im Fluge.

Der endgültige Höhepunkt des Tages war jedoch die lang erwartete Preisverleihung des |Marburger Vereins für Phantastik e.V.| Bei einem Kurzgeschichtenwettbewerb zu dem Thema „Eine unheimliche Verwandlung“ gab es zahlreiche Einreichungen, die, in zwei Fanmagazinen zusammengefasst, allesamt beim Team der Veranstalter käuflich zu erwerben war. Als Sieger aus dem Wettbewerb ging _Markus K. Korb_ mit seiner Geschichte „Joanna“ hervor.

Zweiter Sieger wurde _Ralph Haselberger_ mit seiner Story „Die Gedanken lasse ich treiben“ und den dritten Platz heimste _Christian Boller_ mit der Geschichte „Niemandsland“ ein. Von _Thomas Backus_ wurde der Pokal an den stolzen Gewinner des ersten Platzes überreicht, unter der Vorgabe, die anbei überreichte Flasche Sekt zu köpfen und aus dieser zu trinken.

Nach dem endgültig letzten offiziellen Programmpunkt, der kurz vor 20 Uhr sein Ende fand, wurde es erst richtig gemütlich. Die immer noch zahlreich anwesenden Fans, Verleger, Autoren und Künstler gaben sich ein Stelldichein. Diskussionen über weitere Projekte waren ebenso zu hören wie Planungen neuer Miniserien, Klärungen von Storylines und auch einfach nur Gespräche mit Autoren über die „gute alte Zeit“, sowie die Zukunft der bekannten Serien. Die Möglichkeit, endlich mal den sonst nur von Büchern, Romanen und Internetseiten bekannten Namen wie W. K. Giesa, Walter Appel, Martin Kay, Jörg Kaegelmann und vielen anderen Fragen zu stellen und mit ihnen interessante Gespräche zu führen, wurde rege genutzt.

Auch der zu späterer Stunde gezeigte |Professor Zamorra|-Film „Satans Todesschwadron“, der über Laserbeamer vorgeführt wurde, heizte die Stimmung nur noch mehr an. Der Film ist einer, den man wirklich gesehen haben sollte. Hochrangige Besetzung, klasse Handlung, tolle Effekte und herausragende Synchronisation. Ein Film mit Kultstatus!!!

Dieser Film ist übrigens nicht öffentlich und wird nur im privaten Rahmen der beteiligten Schauspieler oder auf Conventions vorgeführt. Ein weiterer Grund, die nächsten Marburg-Con nicht zu verpassen.

_Christian Daber_
mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung durch [Gruselromane.de]http://www.gruselromane.de

Russel, Mary Doria – Sperling / Gottes Kinder

Manche Bücher geistern einem noch durch den Kopf, auch wenn sie schon lange ausgelesen wurden und im Regal stehen. Diese beiden gehören dazu, auch wenn sie sicherlich vom Thema her nicht jeden ansprechen werden.

Hauptsächlich geht es in den beiden Erstlingswerken von Mary Doria Russel um den Glauben zu Gott. Aber es sind nun keine tiefreligiösen Bücher, in denen dem Leser aufgezeigt wird, dass er doch gefälligst zu glauben habe und Gott auf alle Fälle existiere. Viel mehr stehen hier der Mensch und die verschiedenen Auswirkungen des Glaubens auf ihn im Mittelpunkt.

Am Anfang steht der Empfang von Musik aus dem All. Wunderbare Musik, die eindeutig nicht menschlichen Ursprungs sein kann. Die Öffentlichkeit ist begeistert, doch bald fängt man an zu zweifeln. Ist das wirklich Musik aus dem All? Kommt sie wirklich von einer anderen Rasse? Vielleicht ist alles ja auch ein Riesenschwindel?

Während man also noch das Hin und Her einer eventuellen Expedition zum Ausgangsort der Musik, dem Planeten Rakhat, diskutiert, bereitet die Gesellschaft der Jesuiten in aller Stille und mit Segen des Papstes ein eigenes Unternehmen vor. Eine kleine Gruppe von acht Leuten unterschiedlicher Fachrichtungen soll sich auf den Weg nach Rakhat machen und nach dem Ursprung der Musik forschen. Das Unternehmen gelingt, die Gruppe landet wohlbehalten auf Rakhat. Nach einigen Erkundungen stoßen sie auf ein einheimisches Dorf.

Sie werden von den Runa aufgenommen und erkunden nun die Gewohnheiten und das Leben in dem Runa-Dorf. Doch es muss noch eine zweite Rasse existieren, da man keinerlei Anzeichen findet, dass die Runa singen oder die Möglichkeit einer Übertragung in den Weltraum haben. Eines Tages taucht ein Händler im Dorf auf. Er gehört zu den Jana’ata, der zweiten intelligenten Rasse auf Rakhat. Durch ihn erfährt die Gruppe einiges mehr, als es ihnen bisher durch das Studium des Dorfes möglich war.

Die Unterschiede zwischen Runa und Jana’ata sind erheblich. Die Runa sind Vegetarier, während die Jana’ata Fleischfresser und auch dementsprechend anatomisch anders entwickelt sind. Jana’ata wohnen und arbeiten in Städten, Runa leben in dörflichen Ansiedlungen. Auch stellt sich heraus, dass die Jana’ata für die Musik verantwortlich sind, herausragend ist hier ein Hlavin Kitheri.

Nach und nach begreift die Jesuitengruppe aber auch, dass die Runa für die Jana’ata nur intelligentes Nutzvieh ist. Es werden verschiedene Arten von den Jana’ata gezüchtet. Zum Arbeiten und dem Erhalt der Grundversorgung der Jana’ata, dann um ihnen in ihren Städten zu dienen, als Mätressen und schließlich auch als Nahrung.

Da die Runa gezüchtet werden, werden auch die Geburten vorgeschrieben. Als aber von der Jesuitengruppe Gärten angelegt werden, verbreitet sich diese Idee unter den Runa rasend schnell. Bisher mussten sie zu ihren Feldern sehr weite Wege zurücklegen, nun hat man die Versorgung direkt vor der Tür. Als Folge des zunehmenden Essens und der abnehmenden Arbeit werden die Runa sexuell sehr aktiv und vermehren sich ungeplant. Als die Regierung der Jana’ata dies mitbekommt, schickt man Soldaten in die Dörfer, um den nicht geplanten Nachwuchs der Runa zu töten. Dies schauen sich die Menschen aber nicht tatenlos an.

Als man auf der Erde einige Zeit keine Nachricht von Rakhat mehr empfangen hat, sendet man ein zweites Schiff hinterher, um nach den verschollenen Menschen zu suchen. Man findet nur noch ein einziges Mitglied der ersten Gruppe, Jesuitenpater Emilio Sandoz. Seine Hände sind verkrüppelt, er leidet schwer an Skorbut und wird in einer dunklen Kammer gefangen gehalten. Man bringt ihn auf das erste Schiff und programmiert es so, dass es selbständig zurück zur Erde fliegt.

Als er dort eintrifft, immer noch schwerkrank und psychisch gestört, wirft die Öffentlichkeit ihm Prostitution und Mord vor. Vorwürfe, die durch Berichte der zweiten Gruppe an die Erde entstanden. Die Jesuiten schaffen es aber, ihn erst einmal in Sicherheit zu bringen. Wenn Emilio Sandoz geheilt ist, will man in einer internen Befragung herausbekommen, was eigentlich geschehen ist.

Soweit zum ersten Teil. Allerdings entspricht dieser kurze Überblick nicht im Geringsten der Komplexität der Handlung.

Sehr interessant fand ich die Erzählweise der Autorin. Sie beginnt mit der Rückkehr Sandoz‘ zur Erde und rollt dann anhand der Befragung die Geschehnisse auf Rakhat vor dem Leser auf. Aufgrund dieser Erzählweise wurde das Buch am Ende so spannend, dass ich es kaum noch aus der Hand legen wollte.
Ansonsten ist es eigentlich ein recht ruhiges, aber nie langweiliges Buch. Das erste Viertel des Buches spielt noch vor der Mission nach Rakhat und die Autorin nimmt sich hier Zeit, um dem Leser die handelnden Charaktere nahezubringen. Dies gelingt ihr meisterhaft. Die Gruppe um Emilio Sandoz wurde mir so vertraut, als würde ich sie selber schon lange kennen.

Nachdem ich mit „Sperling“ fertig war, konnte ich die Auszeichnung mit dem |Arthur C. Clarke Award| wirklich nachvollziehen. {Anm. d. Ed.: In Deutschland bekam das Werk den |Kurd-Laßwitz-Preis| 2001 als bestes fremdsprachiges Werk.}

Dementsprechend begeistert, fing ich danach auch gleich mit dem zweiten Band, „Gottes Kinder“, an.

Wieder geht es um das Schicksal von Emilio Sandoz. Aufgrund der Geschehnisse auf Rakhat wollte und konnte er nicht mehr an Gott glauben und legte so das Amt des Priesters nieder. Er lernte eine Frau mit einer bezaubernden Tochter kennen, verliebte sich in sie und wollte sie heiraten. Eigentlich hätte alles gut werden können, doch der Papst ordnet in Einverständnis mit dem Oberhaupt der Jesuiten eine neue Mission nach Rakhat an. Auch Emilio wird gefragt, ob er sich daran beteiligen will, doch er lehnt dies sehr rigoros ab. Schließlich zeigt er sich bereit, die neuen Crewmitglieder mit der Sprache der Runa und der Jana’ata vertraut zu machen und ihnen beizubringen, was man über Rakhat wissen muss.

Als Vorbereitungen der Mission soweit abgeschlossen sind, steht Emilio kurz vor seiner Hochzeit. Doch er wird nie vor den Altar treten. Auf Geheiß des Papstes entführt man Emilio und bringt ihn an Bord des Schiffes. Man setzt ihn unter Drogen und startet nach Rakhat.

Dort hat sich mittlerweile einiges verändert. Das starre Regel- und Adelssystem der Jana’ata wurde von Hlavin Kitheri verändert und reformiert, während die Runa eine Revolution gegen die zahlenmäßig unterlegenen Jana’ata begonnen haben.

Den ersten Teil des Buches las ich mit genauso viel Begeisterung wie den Schluss des ersten Bandes. Wieder erzählt die Autorin die Geschehnisse zeitversetzt. Während die Erlebnisse Emilios chronologisch ablaufen, erfährt der Leser in Rückblenden und zukünftigen Gesprächen, was sich in der Zwischenzeit auf Rakhat ereignet hat.

Allerdings hat es Mary Doria Russell nicht ganz geschafft, das Buch durchweg auf dem sehr guten Level des ersten Bandes zu halten. Die Passagen um Emilio Sandoz sind spannend, gut geschrieben, lesen sich sehr gut. Im Gegensatz dazu sind die Passagen, die auf Rakhat spielen, zwar nicht uninteressant, aber merkwürdigerweise waren sie manchmal schon etwas langweilig. Alles in allem ist aber auch „Gottes Kinder“ ein sehr gutes Buch und man muss es wirklich gelesen haben, wenn man „Sperling“ schon kennt.

Doch warum geht es in diesen beiden Büchern nun um den Glauben? Schlüssel hierzu ist die Person des Emilio Sandoz. Als Kind wuchs Emilio in Armut auf und fand dann bei den Jesuiten ein neues Zuhause. Emilio absolvierte die Schule und wurde schließlich Priester. Aber seine Ausbildung ging noch weiter und schließlich wurde er ein hervorragender Sprachwissenschaftler. In dieser Eigenschaft fliegt er auch mit nach Rakhat. Als man dort ankommt, ist Emilio fest davon überzeugt, dass Gott existiert und er ihn an diesen wunderbaren Ort geführt hat.

Als aber die Jana’ata anfangen, die unschuldigen Kinder der Runa zu töten und er einschreitet, wird er gefangengenommen. Er muss die Soldaten auf ihrer Mordtour durch die Dörfer begleiten, muss das Fleisch der getöteten Runakinder essen, um zu überleben.

Durch verschiedene Missverständnisse seitens der Jana’ata gelangt Emilio dann an den Hof von Hlavin Kitheri, wo es zu jenen Geschehnissen kommt, durch die sein Glaube an Gott endgültig zerstört wird.

Doch wie verhält es sich mit seinem Glauben, als er zwangsweise die nächste Mission nach Rakhat mitmachen und an den Ort seiner Alpträume zurückkehren muss? Dazu sage ich nur: |Lesen!|

_Fazit:_
Ich erwähnte einleitend ja schon, dass es keine tiefreligiösen Bücher sind, obwohl der Glaube an Gott eine große Rolle spielt. Gerade in dieser Verpackung hat es mir aber sehr viel Spaß gemacht, mich mit diesem Thema zu beschäftigen und ich bin mir auch sicher, dass ich „Sperling“ und „Gottes Kinder“ nicht zum letzten Mal gelesen habe.

Mit diesen beiden Büchern erwartet den Leser, der sich darauf einlässt, ein Leseerlebnis der besonderen Art. Es sind wirklich Ausnahmebücher, die sich wohltuend vom doch manchmal schon recht zähen Einheitsbrei der heutigen Science-Fiction-Veröffentlichungen abheben. Meine Lesempfehlung für alle!

_Jens Pauling_ © 2003
mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung durch [Buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/

Ursula K. Le Guin – Hainish

Das Buch – und zugleich der erste Roman „Rocannons Welt“ – beginnt mit einer wunderschönen Geschichte, einer Kombination aus „Science-Fiction im eigentlichen Sinne samt ihren traditionellen Requisiten […] und einem von poetischer Nostalgie durchdrungenen Kunstmärchen, einer Fantasy mit ihren Mythen und Legenden, in ihrem sagenhaften Raum […] und ihrer ebenso sagenhaften Zeit“: Die junge, schöne Semley von Hallan sucht in dieser Geschichte ein wertvolles Geschmeide, welches ihrem Geschlecht einst verloren ging. Dazu muss sie vom Planeten Fomalhaut, auf dem ihre Rasse ein mittelalterliches Leben voller Kämpfe und Schwierigkeiten führt, zu dem acht Lichtjahre entfernten New South Georgia fliegen, wo die Kostbarkeit in einem Museum ausgestellt wird.

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McDevitt, Jack – Sanduhr Gottes, Die

Der Verlag hat dem Beginn der Geschichte eine Eloge anglo-amerikanischer Rezensionen vorangestellt, welche belegen sollen, dass das vorliegende Buch ein Meisterwerk ist. Wie immer sind die Lobeshymnen mehr oder weniger zutreffend. Vor allem Stephen King liegt wieder einmal völlig daneben, wenn er McDevitt als „wahren Erben von Isaac Asimov und Arthur C. Clarke“ anpreist, denn die von McDevitt erschaffenen Charaktere sind weder holzschnittartig noch flach wie Briefmarken, wie man dies von Asimov und (vor allem) von Clarke kennt. Richtig ist aber zweifellos, dass McDevitts neues Buch ein Meisterwerk ist, welches trotz der erschreckenden Länge von fast 700 Seiten auf nahezu allen Gebieten überzeugt.

So ist die Geschichte im naturwissenschaftlich-technischen Bereich hervorragend erdacht und wird vom Autor souverän und glaubwürdig umgesetzt. Bezüglich Spannungsgehalt, kreativer Ideen und packender Momente lässt sich „Deepsix“ wohl kaum noch übertreffen. Hinzu kommt die hinreißend abenteuerliche Atmosphäre, jener besondere |sense of wonder|, der manchmal und nur im günstigsten Fall der phantastischen Literatur innewohnt. |Last but not least| sind zudem die Protagonisten glaubwürdig, lebendig und überzeugend geraten, sodass der Leser keinerlei Mühe hat, sich mit ihnen zu identifizieren oder zumindest ihre Emotionen und Beweggründe nachzuvollziehen. Vor allem Letzteres versteht der Autor blendend. Die Schilderung des Charakters des berühmten Essayisten und Besserwissers Gregory MacAllister ist einfach superb. Schon nach wenigen sehr prägnanten Zeilen erschließt sich dem Leser ein kohärentes Bild eines zwar intelligenten, aber wenig mitfühlenden oder gar sozial engagierten Karrieristen, der sich durch freche (und teilweise ungerechte) Angriffe auf andere Menschen seine Berühmtheit erschrieben hat. Polarisieren gehört zu seinem Handwerk, welches er meisterhaft beherrscht. Doch dann findet sich dieser Mann unvermittelt und teilweise durch eigenes Verschulden auf einem dem Tode geweihten Planeten wieder und muss um sein eigenes und das Leben seiner Kameraden kämpfen, von denen einer ausgerechnet eines seiner ehemaligen Opfer ist.

Hier vielleicht kurz zur Handlung: Im Jahre 2204 besucht eine wissenschaftliche Expedition den erdähnlichen, allerdings zur Zeit unter einer Eiszeit leidenden Planeten Maleiva III. Die Mission scheitert und endet im Desaster. Nachdem einige Expeditionsmitglieder gestorben sind, flüchtet man, ohne die Welt näher erforscht zu haben und gibt dem ehemaligen Expeditionsleiter die Schuld am Scheitern. Erst knapp zwanzig Jahre später kehrt eine weitere Expedition zurück, denn Maleiva III wird in Kürze mit einem planetaren Gasriesen kollidieren und völlig zerstört werden. Fast zu spät wird man darauf aufmerksam, dass auf Maleiva einst eine intelligente Rasse gelebt haben muss, die aber durch die derzeitige Eiszeit wohl untergegangen zu sein scheint. Eilig fordert man eine Landefähre an, um noch einige Artefakte bergen zu können.

Ausgerechnet Priscilla Hutchins, genannt Hutch, ereilt der eilige Ruf, ist sie doch eigentlich Shuttlepilotin mit archäologischer Erfahrung und dem aufmerksamen Leser aus McDevitts tollem Roman „The Engines of God“ (dt. „Gottes Maschinen“, 1996) noch bestens in Erinnerung.

So landen Hutch und einige Helfer auf Maleiva III und merken bald, dass der Planet eine wahre Fundgrube ist. Kurz nach ihrer Ankunft erscheint noch eine zweite Landefähre, die zu einem großen Luxusraumschiff gehört, welches reiche Passagiere an Bord hat, die sich den Untergang des Planeten anschauen wollen. An Bord der Fähre befindet sich auch Gregory MacAllister, während an Bord von Hutchs Fähre der ehemalige Expeditionsleiter Randall Nightingale ist, der nun nach Jahren ausgerechnet und völlig zufällig auf jenen Planeten zurückkehrt, der dereinst seinen beruflichen und persönlichen Ruin verursachte.

Als bei einem Erdbeben beide Landefähren zerstört werden, sind Hutch, MacAllister, Nightingale und die anderen Überlebenden auf Maleiva III gefangen. Der Versuch, eine andere Landefähre zu organisieren, scheitert und so bleibt den Menschen nur eine letzte Chance: Eine Wanderung im Angesicht des Todes über den fremden und gefährlichen Planeten zu einer Landefähre, welche die erste Expedition vor 20 Jahren zurücklassen musste, und von der keiner weiß, ob sie überhaupt noch funktionsfähig ist…

So weit die überaus prickelnde Ausgangssituation von „Die Sanduhr Gottes“. Dem Autor gelingt es bis zum Ende hin fast mühelos, die Spannung aufrecht zu erhalten. Lediglich der letzte Rettungsversuch zieht sich gegen Ende der Geschichte etwas hin.

Neben den faszinierend lebendigen und glaubwürdigen Charakteren besticht vor allem die abenteuerliche Atmosphäre des Romans. Die vielfältigen Überraschungen, die Maleiva III zu bieten hat, machen dem Buch alle Ehre. Es spricht für den Autor, dass der Leser bis zum Ende daran zweifelt, ob die Rettung gelingt, denn ein Happy End scheint alles andere als selbstverständlich.

Während die Havarierten auf Maleiva III weilen, entdeckt man im Orbit ein künstliches Objekt, welches bald deutlich macht, dass es auf dem erdähnlichen Planeten eine Art Fahrstuhl in den Weltraum gegeben haben muss. Doch wie passt dies zu den ersten Funden Hutchs und ihrer Kollegen, die anzudeuten schienen, dass die einstigen intelligenten Bewohner des Planeten eine Kultur auf mittelalterlichem Niveau gehabt haben dürften?

Während die vielfältige und bunte Natur des Planeten rund um den nicht vereisten Äquator den Havarierten die Reise zur zurückgelassenen Landefähre zu einem gefährlichen Spießrutenlauf macht, werden immer neue Mysterien auf und rund um Maleiva II entdeckt.

Viel zu spät wird den Menschen klar, wie tragisch die Zerstörung des Planeten wirklich ist, welches Wissen verloren gehen wird. Dies ist die eigentliche Tragödie der vorliegenden Erzählung.

Während die Havarierten um ihr Überleben und um die Rückkehr in den Orbit kämpfen, gibt glücklicherweise das eine oder andere Mysterium sein Geheimnis preis. Dies hält den Leser nicht nur bei Laune, sondern macht das Buch definitiv zu einem wahrlich unvergleichlichen Lesegenuss.

Bezüglich Spannung und schmissigem Stil ist Jack McDevitt sowieso ein absoluter Meister seines Fachs, wie seine anderen, bisher alle bei Bastei Lübbe erschienenen Romane unter Beweis gestellt haben, auch wenn manchmal die Themenwahl des Autors eher unglücklich bzw. überraschungsarm erscheint. Nach drei ganz hervorragenden Romanen („Erstkontakt“, „Die Legende von Christopher Sim“ und „Gottes Maschinen“) schienen sich erste kreative Ermüdungserscheinungen beim Autor breit zu machen, war jedes folgende Buch etwas schlechter als das vorangegangene. Tiefpunkt war hier sicherlich „Mondsplitter“, ein eher langweiliger „Ziegelstein“ von Buch über den drohenden Aufschlag eines großen Kometen auf dem Mond. Erst mit „Spuren im Nichts“ zeigte die Niveaukurve des Autors wieder eindeutig nach oben.

Deshalb ist es um so erfreulicher, dass „Die Sanduhr Gottes“ diesen Trend fortsetzt und bestätigt, dass der Autor einer der genialsten zeitgenössischen SF-Abenteuer-Schriftsteller ist.

Betrachtet man die aktuellen Veröffentlichungen deutscher Verlage der letzten Jahre, so ist dieses Buch für alle Liebhaber abenteuerlicher Science-Fiction sogar so etwas wie eine wunderbare Oase in einer riesigen Wüste, denn seit dem Erscheinen von Mary Doria Russells hervorragenden (zusammengehörigen) Romanen „Sperling“ und „Gottes Kinder“ ist sicherlich kein dermaßen spannendes, abenteuerliches und rundum gelungenes Buch mehr im deutschen Sprachraum auf dem Gebiet der SF erschienen.

Dabei ist besonders bemerkenswert, dass der Autor keine Schwächen zu haben scheint (nimmt man einmal die eine oder andere Seite zu viel aus).

Stilistisch ist McDevitt nahezu perfekt, was sicherlich dank der hervorragenden Übersetzungsarbeit von Frauke Meier und einem guten Lektorat voll zur Geltung kommt, welches sich diesmal bemüht zu haben scheint, gravierende grammatische Fehler auszumerzen, nicht so wie dies z.B. im kürzlich erschienen „Die Narbe“ von China Miéville der Fall war.

Die Protagonisten des Autors sind ausgefeilt und es gelingt ihm, diese sich psychisch weiterentwickeln zu lassen. Selbst die geschilderten Nebenfiguren sind bestechend. Bestes Beispiel dafür ist der Kotzbrocken von Wissenschaftler, nach dem man den Gasriesen benannt hat und der vom Autor kurz eingeführt wird, obwohl dieser Protagonist zu Beginn der Haupthandlung bereits verstorben ist. Trotzdem nimmt sich McDevitt knapp eine Seite Zeit, um den Namenspatron des gewaltigen Planeten vorzustellen, und schüttelt dabei ein erschreckendes Psychoprofil aus dem Ärmel, welches über alle Maßen beeindruckend gerät. Wäre das vorliegende Buch ein Film, so könnte man mit Fug und Recht behaupten, es sei „bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt“.

Dies ist jedoch nur eine von unzähligen Stärken des Autors, die hier gar nicht alle detailliert gewürdigt werden können.

Egal ob die abenteuerliche Atmosphäre, die feine Idee des letzten Rettungsversuchs (hierfür wird sich der naturwissenschaftlich interessierte Leser begeistern können), die spannende Handlung, die eine Unmenge Höhepunkte hervorbringt (egal ob es eine Flutwelle, ein Erdbeben, angreifende Tiere oder ein abstürzender Fahrstuhl ist) oder die faszinierenden Entdeckungen über die Zivilisation auf Maleiva III, für jeden Leser hält der Autor etwas bereit, was ihn ansprechen könnte. McDevitt beherrscht jedes dieser Gebiete souverän und ist damit sicherlich eine absolute Ausnahmeerscheinung.

Dies wird auch deutlich, wenn man die positiven Rezensionen des Buches im anglo-amerikanischen Sprachraum betrachtet, die zu Beginn der Taschenbuchausgabe angeführt werden. Die Ausführungen des talentierten SF-Autor Robert J. Sawyer sprechen hier für sich.

„Deepsix“ / „Die Sanduhr Gottes“ darf sicherlich als Meilenstein der Unterhaltungs-SF angesehen werden und ist vielleicht der bisher in dieser Hinsicht beste SF-Roman des neuen Jahrtausends.

Bleibt nur zu hoffen, dass der Autor dieses Niveau konservieren kann.

Für Juli 2004 hat der Bastei-Lübbe-Verlag einen neuen Roman des Autors unter dem Titel „Chindi“ angekündigt, in dem erneut Priscilla „Hutch“ Hutchins die Protagonistin sein soll.

_Gunther Barnewald_ © 2004
mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung von [Buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de

Wolfgang Hohlbein – Das Druidentor

Wolfgang Hohlbein ist einer der erfolgreichsten deutschen Phantastikautoren überhaupt. Seine Werke werden von vielen Lesern mit Begeisterung verschlungen, während die Kritiker ob des dürftigen Niveaus der meisten Bücher, ihrer endlosen Klischees und der unsäglichen Aneinanderreihung von Cliffhangern meistens schmerzvoll aufheulen oder zumindest vor Wut schäumen. Hohlbeins Ausstoß von Prosa ist mittlerweile dermaßen hoch, dass böse Zungen bereits vom „wöchentlichen“ oder „täglichen“ Hohlbein sprechen, andere wiederum zweifeln daran, ob der Autor überhaupt noch selbst schreibt und nur noch seinen Namen diversen Zuarbeitern leiht.

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Schwindt, Peter – Justin Time – Zeitsprung

Die Eltern von Justin Time verschwanden vor einigen Jahren bei einem Zeitreiseexperiment spurlos, als Justin noch klein war. Als der Junge in den Sommerferien des Jahres 2385 im Internat die Einladung seines Onkels erhält, ihn zu besuchen, ist Justin sehr froh, denn bis dato hatte sein Onkel ihn nie eingeladen und die Ferien allein im Internat waren immer langweilig gewesen.

Doch bei seinem Onkel angekommen, stellt Justin fest, dass dieser ihn scheinbar gar nicht eingeladen hat. Im Gegenteil ist der Onkel damit beschäftigt, eine eigene Zeitreiseagentur aufzubauen. Gerade hat er den ersten Reisenden in die Vergangenheit geschickt, als alles schief zu gehen scheint. Der Reisende kommt in der falschen Zeit und am falschen Ort an, verursacht dort zudem noch einen verhängnisvollen Unfall, der Charles Darwin, den Entdecker der Evolutionstheorie, töten würde, bevor dieser seine Schriften veröffentlichen konnte.

Leider reicht die Energie nur dazu aus, eine leichtgewichtige und schmächtige Person in die Vergangenheit zu schicken, um den Fehler zu korrigieren. Da Justin als einziger diese Kriterien erfüllt, reist er zurück in die Zeit, um die Abweichung zu beheben …

Um es gleich vorweg zu nehmen: Das vorliegende Buch ist der größte Schwachsinn, der dem Rezensenten in den letzten Jahren unter die Augen gekommen ist (was bei meinem hohen jährlichen „Leseaufkommen“ wirklich etwas heißen will!).

Die Geschichte wimmelt vor Peinlichkeiten, Löchern und Unmöglichkeiten. Am Ende der Geschichte bedankt sich Autor Peter Schwindt bei allen Leuten, die sich durch die verschiedenen Manuskriptfassungen gekämpft hatten. Leider scheint niemand mit auch nur leidlicher Kompetenz unter den Lektoren gewesen zu sein und der Leser fragt sich händeringend, wie dem renommierten Loewe-Verlag ein dermaßen missratenes Machwerk unterkommen konnte.

Dabei hat der Verlag sich offensichtlich Mühe gegeben, hat dem Buch für die Presse noch ein kleines Extramäppchen beigefügt, in der, zwar wenig umfassend, aber doch leidlich kenntnisreich, über Zeitreisetheorien oder literarische bzw. filmische Vorlagen referiert wird.

Dies verschlimmert die unsägliche Tat der Veröffentlichung eines dermaßen unausgegorenen Werkes aber nur noch, kann man entschuldigend für den Verlag deshalb nicht anführen, man habe von der Zeitreisethematik nie irgendwelche Ahnung gehabt.

„Justin Time – Zeitsprung“ zeigt dagegen auf, dass oberflächlicher Konsum einiger Fernsehserien (der Autor ist Jahrgang 1964 und berichtet, durch „Star Trek“, „The Avengers“ und ähnliche Fernsehserien sozialisiert worden zu sein) nicht reicht, um sich auch nur ansatzweise kompetent zu zeigen bei einem dermaßen komplexen Thema, wie es Zeitparadoxa darstellen.

Der Verdruß beginnt schon mit der Ausgangslage von Justins erstem Zeitabenteuer. Dass der Autor hier eine fadenscheinige Begründung heranzieht, warum ausgerechnet der Junge reisen muss, mag man dem unbedarften Peter Schwindt noch nachsehen. Auch die blödsinnigen Namen der Protagonisten (heißt doch der Held und seine Familie ausgerechnet „Zeit“ mit Nachnamen, der Name selbst ist ein Wortspielchen zu „just in time“ und der Assistent hört auf den sinnreichen Namen Rupert Bontempi!) sind wohl eher Geschmackssache.

Absoluter und eindeutiger Unfug ist dagegen die Entsendung eines grenzdebilen Touristen in die Vergangenheit, ohne die Methode vorher ausreichend getestet zu haben und ohne Absicherungen gegen Manipulationen in der Zeitlinie getroffen zu haben. Zum Schreien dämlich wird es dann jedoch, als der trottelige Tourist Charles Darwin durch eine unbedachte Tat tötet. Dies wird auf völlig unerklärliche Weise in der Zukunft registriert, woraufhin man sofort korrigierend eingreifen kann. Wie soll dies funktionieren, Herr Schwindt? Wenn jemand in der Vergangenheit etwas Gravierendes verändert, würden alle Protagonisten mit dieser veränderten Vergangenheit aufwachsen, ohne diese Abweichung auch nur entfernt registrieren zu können! Genau dies schildert z. B. der SF-Autor R. A. Lafferty in seiner genialen Kurzgeschichte „Thus we frustrate Charlemagne“ (dt. „So frustrieren wir Karl den Großen“), in der mehrfach Änderungen der Zeitlinie vorgenommen werden, die Protagonisten aber immer wieder von Neuem der festen Überzeugung sind, sie seien die ersten, die diesen Versuch unternähmen.

In dem SF-TV-Film „Zeitreise in die Katastrophe“ bedient man sich deshalb eines Zeitabschirmfeldes, welches zumindest scheinbar einige Leute in einem zukünftigen Bunker sich an die ursprüngliche Vergangenheit erinnern lässt, so dass man bei Abweichungen in der Zeitlinie rekorrigierend in der Vergangenheit eingreifen kann. In diesem Film (der inhaltlich verdammt an das vorliegende Buch erinnert, jedoch eindeutig niveauvoller ausfällt!) ist es eine kriminelle Organisation in der Zukunft, die illegal Zeitreisen zu berühmten Katastrophenvorfällen anbietet und die durch ihr Einwirken die Zeitlinie schließlich irreparabel beschädigt.

Doch was hat sich der Autor Peter Schwindt in seiner dürftigen Hervorbringung zurechtgebastelt: Ein unerprobter, aber staatlich genehmigter Zeittourist der völlig unbedarften Art, der in der Vergangenheit wütet wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen, ohne dass die Änderungen sofort wirksam werden.

Welch merkwürdige surreale Zeittheorie mag im Kopf des Autors dabei herumspuken? Herr Schwindt, geben Sie es zu, Sie haben keine Ahnung! Denn der frühe Tod Charles Darwins würde alle Protagonisten mit dem Wissen aufwachsen lassen, dass ein anderer zu einem späteren Zeitpunkt die Evolutionstheorie begründet hat! Der Name Charles Darwin wäre einfach aus den Gechichtsbüchern getilgt gewesen, weil er nämlich nie drin war, und niemand würde sich mehr an ihn erinnern, vor allem nicht Ihr schlauer Protagonist und seine Helfer!

Auch über die Eigenschaft der Zeitmaschine, die Zeitreisenden nicht nur zeitlich, sondern offensichtlich auch örtlich zu versetzen (landen der Tourist und Justin doch irgendwo im Atlantik auf einem Expeditionsschiff, der Touri dabei sensationell viele Meter über dem Boden im Krähennest, einfach so!), verliert der Autor weder eine Silbe noch einen einzigen Gedanken.

Nebenbei führt der Autor zudem die Motivation der Protagonisten aus, sich an Zeitreisen zu beteiligen. Dabei ist dann Folgendes zu lesen (S. 54 unten): „Wenn er ehrlich war, konnte er verstehen, warum seine Eltern an diesem Projekt gearbeitet hatten. Die Welt des Jahres 2385 war alles andere als ein spannender Ort. Die Luft war sauber und roch nach Veilchen. Naturkatastrophen hatte die Wissenschaft seit der Erfindung des Terraforming einfach abgeschafft. Innerhalb weniger Minuten konnte man an jeden Ort der Welt reisen. Die Meere waren restlos erforscht, der Weltraum erobert. (sic!) Kurz: Es gab keine Überraschungen mehr, die die Menschen aus ihrer betulichen Ruhe reißen konnten …“

Wie, Herr Schwindt? Der Weltraum ist erobert? Vollständig? All die Milliarden und Abermilliarden Sonnensysteme, welche alleine in unserer Milchstraße zu finden sind, und zudem alle Abermilliarden von fremden Galaxien auch? Haben Sie überhaupt auch nur annähernd eine Vorstellung davon, wie groß das Universum wirklich ist (was natürlich kein Mensch je wirklich begreifen kann!)? Keine Überraschungen mehr? In welcher hohlen Luftblase seines Kopfes lebt der Autor eigentlich? Peinlicher geht es aber wirklich gar nicht mehr!!!

Abgesehen von diesen gravierenden, völlig irreparablen und katastrophalen formalen Fehlern überzeugt das Buch auch bezüglich der Charakterisierungen nicht. Die Figur des Justin Time ist so flach wie eine Briefmarke, nicht einmal sein Alter teilt der Autor dem Leser einigermaßen nachvollziehbar mit (man erfährt nur, er sei seit sieben Jahren im gymnasialen Internat; ist er damit in der siebten Klasse oder in der elften nach vier Jahren Grundschule?).

Auch sonst bleiben die Protagonisten und deren Umgebung blass.

Justin, obwohl als Sohn zweier berühmter Forscher und als Gymnasiast doch hoffentlich wenigstens durchschnittlich intelligent, entblödet sich zudem nicht, kaum bei Charles Darwin angekommen, mit diesem dessen berühmte Theorie zu diskutieren. Was wenn dieser die Evolutionstheorie noch gar nicht richtig entwickelt gehabt hätte zu dieser Zeit? Oder weiß Justin aus dem Kopf genau, wann dies der Fall war? Was wenn Justins Eingriff erst die berühmte Theorie erschaffen würde? Wer wäre dann deren wahrer Schöpfer gewesen? Wer hätte den genialen Gedanken dann wirklich zuerst gehabt?

Weder Justin noch sein Schöpfer verschwenden auch nur einen Gedanken daran. Kann man da von zumindest durchschnittlicher Intelligenz beim Protagonisten sprechen? Doch sicherlich nicht!

Der Auftakt einer neuen Serie soll das vorliegende Buch sein, doch leider ist nichts als grober Unfug daraus geworden, hanebüchener Quatsch.

Und dies, obwohl gerade der Loewe-Verlag in den letzten Jahren durch hervorragende Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Phantastik auf sich aufmerksam gemacht hat (z. B. zwei tolle Trilogien von Kai Meyer und Nancy Farmers hervorragenden SF-Roman „Das Skorpionenhaus“).

Wie konnte den Lektoren dort nur dieser Lapsus unterlaufen? Man wünscht dem Verlag den Mut, diesen Rohrkrepierer möglichst schnell wieder vom Markt zu nehmen und einzustampfen, die restlichen Folgen der Serie unter beschämtem Schweigen zu begraben, um sich damit nicht vollständig der Lächerlichkeit preiszugeben und sich auf Werke zu konzentrieren, die nicht komplett alogisch, an den Haaren herbeigezogen und unreflektiert sind, wie dies leider bei „Justin Time – Zeitsprung“ der Fall ist.

_Gunther Barnewald_ ©2004

Neal Asher – Skinner – Der blaue Tod

In der Zukunft – auf dem Wasserplaneten Spatterjay: Das Leben ist hart, teuer und gefährlich. Die Bewohner verdienen ihr Geld mit dem Fang merkwürdiger Meeresbewohner, die alle sehr tödlich sind. Die Fauna hat sich vollständig dem Lebenszyklus angepasst – und so kann man gefressen werden und trotzdem überleben. Das hat auch Auswirkungen auf die Menschen, die hier leben. Sie sind unsterblich, flicken sich bei schweren Verletzungen einfach zusammen und müssen massiv verletzt werden, um überhaupt ausgeschaltet zu werden. Der Preis: Der Körper eines Unsterblichen mutiert, falls man nicht höllisch aufpasst.

Dieser merkwürdige Planet ist Ziel dreier Personen. Janer, Erlin und Keech. Obwohl sie alle verschiedene Motivationen vorantreiben, haben sie ein gemeinsames Ziel: den Skinner. Ehemals Sklaventreiber, Mörder und an einem Stück. Scheinbar war er tot, doch nun ist er wohl zurück – oder nicht?

Anlässlich von Filmen wie „Fluch der Karibik“ und „Master and Commander“ erfreuen sich Piratenstücke derzeit großer Beliebtheit. Wie passend, dass es sich bei „Skinner – Der blaue Tod“ um ein Piratenstück handelt. Zwar ist es in der Zukunft und auf einem fremden Planeten angesiedelt, aber dennoch spannend zu lesen und voller Überraschungen.

Moderne Technologie ist für Spatterjay kaum erschwinglich und so fahren hölzerne Kutter über das Meer. An Bord die unsterblichen Einheimischen, ausgestattet mit einem großen Waffenarsenal. Damit erwehren sie sich der bedrohlichen Tierwelt. Fortwährend gibt es kleine Einschübe des Autoren, die sich mit genau dieser Tierwelt beschäftigen und den Kreislauf des „Fressen und Gefressen werden“ behandeln. Recht anschaulich und faszinierend geschrieben. Neal Asher zeigt hier sein kreatives Talent und entwickelt eine einzigartige Umgebung für seine Geschichte.

In dieser Umgebung agieren dann künstliche Intelligenzen, semiintelligente Segel, Drohnen, Schnecken, die sich Menschen als Nahrungsmittel halten, ein seit siebenhundert Jahren toter Keech und andere Wesen.

Das Protagonisten-Trio ist Asher besonders gut gelungen. Am normalsten erscheint vielleicht Erlin. Die jugendliche Wissenschaftlerin hat bereits einige Jahrhunderte auf dem Buckel und entpuppt sich als knallharter Brocken. Auch Janer erscheint Anfangs normal, allerdings gehörte er zu einem Schwarmbewusstsein. Die Hornissen stellten sich im Laufe der Geschichte als intelligent heraus und wurden ziemlich mächtig. Durch Janer versuchen sie ihre Macht nun zu stärken. Am auffälligsten scheint jedoch Keech. Er ist seit Jahrhunderten ein wandelnder Leichnam, wird durch Elektronik eines Kults am Leben gehalten und von Rachegelüsten geleitet. Damit ergibt sich eine Sammlung verschiedener Charaktere, die alle gut zusammenpassen und miteinander harmonieren.

Unterm Strich

Das Charakterspiel der Hauptcharaktere, ihre Entwicklung und ihre Motivation, reizen den Leser, zwingen ihn zum Weiterlesen. Man wird vom Schicksal der Personen berührt, nimmt Anteil an ihrem Leben. Neal Ashers Roman ist im sozialen Bereich erstklassig geschrieben und auch die Übersetzung von Thomas Schichtel steht dem in nichts nach.

„Skinner – Der blaue Tod“ ist ein spannender Roman, flüssig zu lesen und gut aufgebaut. Zwar wechseln häufig Schauplätze, Personen und auch mal die Zeit, aber man behält stets den Überblick. Eine gelungene Piratengeschichte, tolles Seemansgarn und faszinierende Science-Fiction.

_Günther Lietz_ © 2004

Engmann, Charlotte – Myranor – Den Göttern versprochen

„Myranor“ ist der neueste Ableger des Rollenspiele-Klassikers DAS SCHWARZE AUGE: ein weiterer Fantasy-Kontinent, in dem es vor Völkern, Abenteuern und Magie wimmelt, und Charlotte Engniann hat in ihrem Roman einerseits das Vergnügen, andererseits aber auch die nicht sonderlich beneidenswerte Aufgabe, die Grundlagen vorzustellen. Sehr viel Verantwortung also, die auf ihren Schultern lastete, eigentlich konnte es nur schief gehen, sollte man meinen.

Um es vorweg zu nehmen: Das Gegenteil ist der Fall!

Erzählt wird die Geschichte von Lycadia, deren Vergangenheit im Dunkeln liegt. Sie wächst bei Dha’veru, einer Heilzauberin auf, die ihre Ziehtochter in die Künste des Heilens einweist. Doch Lycadia hat eine ganz besondere Beziehung zur Magie: Sobald sie einen Patienten berührt, erkennt sie, wodurch er seine Verletzungen erlitten hat, sei es durch einen Schwertstreich bei einem verbotenen Gladiatorenkampf oder durch die Berührung eines Albschmeichlers, der niedlich aussieht, jedoch über ein hochwirksames Kontaktgift verfügt. Plötzlich erleidet Lycadia die Vision eines schrecklichen Wesens, das sie zutiefst erschüttert. Ein Wesen, das sich als Erijschu herausstellt, einst ein legendäres Tiefseewesen, heute nur noch ein Kinderschreck aus Märchen.

Regiert werden das Imperium und der Moloch Stadt von den Optimaten, einigen Familien, in denen die Magie besonders stark wirkt; sie zeichnen sich durch ihr drittes Auge auf der Stirn aus. Die Metropolitin aus einer der Familien herrscht mit religiös-diktatorischen Befugnissen.

Zusammen mit einigen Freunden und deren Freunden versucht Lycadia die Herkunft ihrer Vision zu ergründen und stellt dabei fest: Sie ist eng mit ihrer eigenen verknüpft. Zur Seite stehen ihr unter anderem Valorian, ein desertierter Myrmidone (Soldat), der einen Shingwa (Chamäleonid) aus den Händen seiner Truppe befreit hatte. Dann RaoRi, Lycadias katzenhafte Freundin vom Volk der Amaunir; sie ist Schamanin, Geistwesen können sich in ihr manifestierten. Rishuran hingegen ist Dha-verus dunkelhäutiger, väterlicher Freund und Leibwächter eines Optimatenhauses, sowie Shiniope, eine Kriegerin, und Groarhach, ein junger Löwe-Mensch-Hybrid vom Stamin der Leonir.

Mehr und mehr versinken Lycania und ihre Gefährten in einem Netz aus Lügen und Intrigen, und bei verlustreichen Ermittlungen stellt die junge Heilerin fest: Ihr Leben ist viel enger mit den Optimaten, Erijschu und nicht zuletzt auch einem verbotenen, archaischen Blutkult verknüpft, als sie anfangs annahm: Sie wurde nur geboren, um der Göttin des kalten Lichts, Madharya, geopfert zu werden, wurde als Baby jedoch in letzter Sekunde gerettet. Jetzt fordert Madharya ihr Recht…

Charlotte Engmanns Myranor-Debütroman besticht durch eine babylonisch zu nennende Völkervielfalt. Besonders Hybrid-Rassen aus Menschen und verschiedenen Tierarten herrschen vor, andererseits gibt es aber auch beispielsweise die vierarmigen, nachtaktiven Neristu und die Loualil, Meereswesen, die mit nichts zu vergleichen sind. Sehr farbenprächtig und facettenreich geschildert, dekoriert mit einigen amüsanten Details (z.B. werden kleine Hunde zwecks Nahrung gezüchtet, und es gibt – man höre und staune! – sogar eine Schwulen-Bar).

Dabei legt die Autorin einen ausgesprochen flüssigen Erzählstil zutage, der routiniert wirkt und sich dennoch extrem positiv von dem mancher Akkordschreiber unterscheidet. „Holperer“ beim Lesen habe ich beim besten Willen nicht finden können, was für sehr viel Sorgfalt spricht. Eine Investition, die sich gelohnt hat.

Einziger Kritikpunkt: Zu Beginn des Romans wirken die zahlreichen verschiedenen Völker und Protagonisten ein wenig verwirrend, man braucht einige Seiten, um sich einzulesen. Nicht jedem Volk wird der Platz zugestanden, den es eigentlich bräuchte, um Profil zu gewinnen. Doch dies ist entschuldbar und wohl eines der zwangsläufig auftretenden Probleme, wenn eine Welt „eingeführt“ wird, auf der spätere Romane basieren sollen. Dennoch: Diese Aufgabe wurde hervorragend gemeistert. Denn hat man sich erst eingelesen, springt der sogenannte „magische Funke“ mühelos über, sofort versinkt man in dem faszinierenden Ambiente. Und da die Handlung ausgesprochen spannend ist, möchte man das Buch am liebsten gar nicht aus der Hand legen.

Einige Rezensenten sollen behauptet haben, einen Schwarze-Auge-Roman könne im Prinzip ja jeder schreiben… Nun, bei einigen Werken der Reihe mag das möglicherweise zutreffen, nicht jedoch bei „Den Göttern versprochen“.

Ein mehr als empfehlenswerter Roman, nicht nur für eingefleischte Rollenspiel- und Fantasy-Fans!

_Markus Kastenholz_ © 2004
mit freundlicher Unterstützung von [Buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/

Hohlbein, Wolfgang – u.a. – Vermächtnis der Feuervögel, Das

Einen Hohlbein kann man eigentlich (fast) immer lesen, ohne enttäuscht zu werden; und einige Bücher sind richtig spannend („Drachenfeuer“ oder „Spiegelzeit“ z.B.). Nicht dass wir besonders raffinierte oder gar innovative Genre-Stückchen vor uns hätten, aber der „deutsche Stephen King“ kann routiniert und flüssig schreiben, so wie halt King oder Koontz auch. Seine schlechtesten Bücher sind nicht schlechter als deren schlechteste Bücher, seine besten können manchmal gar (fast) mithalten und toppen die Durchschnittsware der Amerikaner, auch die gehobene. Wenn ich für diesen Band dennoch keinen Tipp ausspreche, so hat das drei Gründe, der erste ist bereits genannt: Routine, Handwerk, vom Hocker reißt nichts wirklich, vieles ist vorhersehbar. Der zweite und dritte haben zu tun mit der Verlagspolitik (kaum vorstellbar allerdings, dass Hohlbein keinen Einfluss darauf hat, er ist immerhin Hohlbein).

Hier wird nämlich – zweiter Grund – Irreführung betrieben. Das beginnt beim Untertitel „Fantasy-Stories“; davon enthält der Band eigentlich nur eine waschechte. Der Rest entstammt SF, Horror und dem, was man mitunter „Phantastik“ nennt (weil es weder Horror noch SF usw. ist). Ausschließlich auf Fantasy fixierte Leser (die gibt es!) dürften hier also weitgehend enttäuscht werden. Doch die Täuschung geht noch weiter; man ist gut beraten, sich vor Kauf das Inhaltsverzeichnis anzusehen: Drei der Geschichten, ein knappes Drittel des Textes, stammen gar nicht von Hohlbein, er hat nur die Vorworte geschrieben – und dann ist es vermessen zu titeln „Wohlgang Hohlbein und andere“, „Wolfgang Hohlbein und Dieter Winkler“ etc.

Dritter Grund: Piper recycelt kräftig. Ja, Hohlbein soll künftig stärker in den Verlag eingebunden werden – mindestens mit einer neuen Staffel ENWOR-Romane, die ab 2004 erscheinen wird. Und es ist nur verständlich, dass man möglichst viele Bücher eines unbestrittenen Erfolgsautors herausbringen will. Doch der potenzielle Käufer sollte seine WH-Sammlung durchsehen – falls diese Hohlbeins Fantasy-Selections der Jahre 1999 bis 2001 enthält (erschienen bei Weitbrecht Verlag in K. Thienemanns Verlag), dann besitzt er knapp 180 der 270 Seiten schon. Und von den restlichen 90 Seiten stammen nur 25 von Hohlbein. Anders gesagt: Der Band enthält nur eine (!) bisher nicht veröffentlichte Geschichte des Meisters … und diese, „Das Relief“, ist eine zugegeben schnell und sicher erzählte Horrorstory, aber nichts wirklich Neues. Harvard-Studenten suchen sich für einen Schabernack einen Friedhof aus, aber am Ende sind nicht die anvisierten Kommilitonen die Leidtragenden. Durchschnitt – lieber wieder einmal „Pickman’s Modell“ von Lovecraft lesen (dessen Grundidee hier variiert wird, doch auf nicht unbedingt überzeugende Art und Weise).

Alles Wesentliche zum Band wäre hiermit eigentlich gesagt; für Neugierigere folgt nun die Besprechung der Einzeltexte im Schnelldurchlauf:

„Das Vermächtnis der Feuervögel“, die Titel- und längste Geschichte, bringt einen Drehbuchautor, dessen Agenten und ihre beiden Freundinnen in das übliche alte, fast ruinierte Herrenhaus, dessen letzter Besitzer ein Vogelnarr war. Er vermachte die Immobilie denn auch seinen gefiederten Freunden, und man darf weder das Haus renovieren, noch die Vögel vertreiben, noch die Zimmer bewohnen, in denen sie nisten. Durchschaubar spätestens ab Seite 28, Ende inklusive. Horror Kingscher Machart, Dutzende Male gelesen.

„In Namen der Menschlichkeit“ gehört in die Rubrik „SF“, Unterabteilung „Alternative Geschichte“, Regal „häufig gebrauchte Grundideen“: Das Römische Imperium ist 1500 n. Chr. eine Weltmacht, die im Kampf mit dem Toltekenreich liegt – weltkriegsartige Zustände, Millionen Tote usw. Die Römer schicken eine Zeitkapsel mit 4 Mann und 2 Bomben in die Vergangenheit, um das Problem zu lösen, bevor es entsteht. Die Tolteken torpedieren das Unternehmen (im wahrsten Wortsinn); die Legionäre stranden irgendwo, irgendwann. Auf der ersten Seite fällt der Familienname der Hauptfigur: Cyrene, was beim leidlich bibelfesten Leser einen Verdacht weckt; drei Seiten später verdichtet der volle Name Simon Cyrene diesen zur Gewissheit (na? wer hat die passende Bibelstelle parat oder wenigstens die entsprechende Szene aus „Leben des Brian“??). Zum Glück gibt es immer weniger bibelfeste Leser, der immer größere Rest wird daher etwas später (vielleicht) überrascht. – Nee, ich muss hier mal die Katze aus dem Sack lassen: Natürlich ist der Ort der Handlung Jerusalem, die Zeit kurz vor dem Passahfest 33 n. Chr., und gewiss haben wir hier wieder einmal eine Jesus-Geschichte zu lesen. Originell daran sind Hohlbeins Entwurf der Ideologie des Römischen Imperiums – die Symbole Christi: Schwert und Lasergewehr -, die Idee der Gegner – Tolteken unter dem Banner Quetzalcoatls – und sein alternativer Geschichtsverlauf: Das Volk widersetzt sich der Kreuzigung, rebelliert, metzelt Römer, das Imperium wandelt sich, die Apostel werden Kaiser und Könige … Klar kommt es am Ende zu unserer Geschichte, doch wie, ist wieder schwach: Cyrene überlegt sich, wie viele Kriege im Namen Christi geführt werden und wie viele Menschen sterben – und gibt Judas Ischarioth dreißig Silberlinge. Eine fragwürdige Entscheidung, denn Cyrene macht einen ganz intelligenten Eindruck und müsste sich auch fragen, ob es ohne den Namen Christi wirklich weniger Kriege und weniger Tote wären. Ich behaupte mal: Nein. Wir hätten auch ohne die Religion einen Grund gefunden, das fortschrittliche Arabien zu überfallen oder die Indianer niederzumetzeln. Außerdem: Warum sollten die Leute nicht auch gegen die Kreuzigung rebellieren? – Schade, aus der Geschichte hätte sich mehr machen lassen; so jedoch weckt sie die meisten Erwartungen und enttäuscht daher am meisten.

„Das zweite Gesicht“ ist SF, verbunden mit Horror-Elementen, soll vor dem Missbrauch der Medizin warnen und die Frage stellen, ob wir alles dürfen, was wir können. Aber abgesehen davon, dass die Geschichte am Ende eigentümlich unentschieden bleibt, was diese Frage betrifft – sie geht auch unentschieden aus, ist in Teilen vorhersehbar und hat kein überzeugendes Ende.

„Im Schatten der Sonne“ wurde im Internet als Fortsetzungsgeschichte von 14 AutorInnen geschrieben. Macht pro Frau/Mann gut 1 Seite. Das merkt man. Nicht einmal C. L. Moore, Abraham Merritt, Robert E. Howard, Frank Belknap Long und Howard Phillips Lovecraft bekamen 1935 unter dem Titel „The Challenge from Beyond“ eine mehr als nur durchschnittliche Story zusammen (wobei Howards Schluss mit seiner ironischen Howard-Parodie wenigstens ein echter Brüller ist). Doch dieser 14-Mensch-Eintopf hier bleibt fade, verdorben im Sinne des Sprichworts von den vielen Köchen und enthält alles Mögliche, nur nix Nahrhaftes.

„Malicia“ aus der Feder Dieter Winklers, die allererste und bisher nicht veröffentlichte ENWOR-Geschichte, ist dann endlich einmal richtige Fantasy, gewürzt mit Horror-Elementen. Sie kann Howards „Conan“-Geschichten durchaus das Wasser reichen. In den Augen mancher Leser mag das freilich kein Kompliment sein, doch ich habe eine leise Schwäche für den Cymmerier, sofern er von Howard selbst zum Leben erweckt wird, bekenne mich fröhlich dazu und zu dieser Geschichte und empfehle den Puristen, es doch besser zu machen, wenn es so einfach ist, „Trivialliteratur“ zu schreiben. Eine akzeptable, spannende Story, die beste des Bandes – nur eben nicht von Hohlbein.

Esmee Weisleders „Engel laufen nicht!“ beschließt das Buch und ist laut WH die Siegergeschichte eines Schreibwettbewerbs des Hohlbein-Internet-Fanclubs. „Die Anzahl der Storys … war überwältigend, und die Qualität übertraf meine kühnsten Erwartungen (in jeder Hinsicht)“ schreibt der Meister doppelbödig. Je nun. Die Geschichte ist nicht schlecht, dennoch: Wenn sie die beste war, überbietet die Qualität der anderen die Erwartungen nur in einer Hinsicht, nach unten nämlich. Immerhin: konsequent komponiert, straff erzählt, die Hauptfigur lebendig gezeichnet, der Schluss in seinen Grundzügen erahnbar, aber gut ausgestaltet – eine Story auf besserem Fanzine-Niveau. Nicht mehr, nicht weniger.

Fazit dieser langen Rezension? Ein Buch mit wenigen Höhen und etlichen Tiefen, das mehr verspricht, als es hält; für Hohlbein- und/oder ENWOR-Freaks ein Muss, für alle anderen Leser eher fraglich. Nicht allzu enttäuschend freilich, aber das nimmt nicht Wunder – man erwartete ja auch nicht allzu viel …

© 2004 by _Peter Schünemann_
mit freundlicher Unterstützung von [Buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de/

McCoy, Alfred W. – CIA und das Heroin, Die. Weltpolitik durch Drogenhandel

Was haben Drogen und internationale Politik miteinander zu tun? Wie ist der weltweite Anstieg des Drogenkonsums zu erklären? Das sind nur zwei der vielen Fragen, die in diesem über 800 Seiten starken Buch beantwortet werden.

Die Allianz zwischen Drogenwirtschaft und CIA baut auf einer langen Geschichte internationalen Drogenhandels auf. Sie beginnt mit dem Schlafmohn und dem Opium, dem „Ahnherr aller illegalen Drogen“ in der Antike. Damals wurde Opium lokal gehandelt, seit dem 17. Jahrhundert wurde es eine Welthandelsware, seit dem 20. Jahrhundert ist es als illegales Heroin gewinnbringender denn je.

Mit einer einmaligen Fülle an Fakten (Quellen- und Stichwortverzeichnis umfassen 150 Seiten) wird eine auf den ersten Blick befremdliche These belegt: Die rigide Antidrogenpolitik reagiert nicht auf weltweite Kriminalität – sondern im Gegenteil: sie schürt diese. In nie gekanntem Maße werden Verbrechen durch immer härteren Kampf gegen Kriminalität erzeugt. Zum Beispiel: „Nachdem die Häftlingsrate in den USA über ein halbes Jahrhundert lang stetig bei 100 Gefängnisinsassen auf 100.000 Einwohnern gelegen hatte, stieg sie, in die Höhe getrieben von immer höheren gesetzlichen Mindeststrafen für Drogenvergehen, von 138 Inhaftierten 1980 auf 702 im Jahr 2002 an…“ (S. 66). Außerdem senken Antidrogengesetze nicht den Konsum, sondern erschweren nur Anbau- und Handelskonditionen. In vielen Gebieten der Erde ist Drogenanbau die einzige Basis zum Überleben, und solange der Westen diese Armut erzwingt, sind alle Bemühungen gegen die Drogeninflation in der 1. Welt reine Sisyphusarbeit.

Aus irgendeinem bescheuerten Grund wird die US-Außenpolitik gern „pragmatisch“ genannt. Aber nichts liegt ferner, als dem Machtkampf der CIA Scharfblick und das Bedenken der langfristigen Folgen des eigenen Tuns zu unterstellen. Diese ach so ‚pragmatische‘ Machtpolitik verbraucht Bündnisse schneller, als neue geschlossen werden. Die CIA findet ‚Freunde‘, die für sich selbst und die CIA um lokale Macht kämpfen. Dafür brauchen sie mehr Ressourcen. Der Schlüssel sind Drogenanbau und -handel, in den Andenländern Südamerikas genauso wie in Zentralasien und Südostasien. Die CIA, internationaler Hauptarm der US-Politik, kann nicht alle strategischen Bündnisse weltweit selbst finanzieren, und das Kräftegleichgewicht kippt immer wieder, wenn ihre Partner eigene Interessen verfolgen – was sie früher oder später tun. Ein Beispiel unter vielen sind die Taliban in Afghanistan.

Umfangreich schildert McCoy die Entwicklung des Drogenhandels seit der Kolonialzeit. Eine neue Phase begann mit dem Kalten Krieg. Denn ab jetzt ging es nicht mehr nur um Profit, sondern der Kampf um ideologische Vorherrschaft in den Regionen kam hinzu und machte das Abhängigkeitsgefüge noch komplexer. Wirtschaft konnte Konkurrenz vertragen, der American Way of Life nie, und so eskalierten die aus politischen Gründen geführten Territorialkämpfe. Heute sind 50 (fünfzig!) US-Regierungsbehörden in den Handel mit Drogen involviert, in Anbau, Herstellung und Transport – auch ins eigene Land.
Die CIA macht mit Heroin Politik, indem sie ihren Einfluss auf den internationalen Drogenhandel zur Durchsetzung amerikanischer Interessen in aller Welt einsetzt: Drogenpolitik ist das Mittel, um Macht zu sichern. Destabilisierung von Regionen und Ländern und Kriege sind Begleiterscheinungen. McCoy, Professor an der Universität Wisconsin, zeigt die Dimensionen und Mechanismen. Es ist keine Verschwörung, kein unter Druck entwickelter finsterer Plan, der da verfolgt wird. Es ist ein Einblick in die Mechanismen einer Weltmacht.

Beispiele:
Der US-Geheimdienst kooperierte im 2. Weltkrieg mit der Mafia in Italien, in den Nachkriegsjahren mit korsischen Verbrechersyndikaten in Marseille, um dort die Macht der gewählten Kommunisten zu brechen. Mit Erfolg. Mit Bedacht legte die CIA das Fundament für die über zwanzigjährige Dominanz der Korsen-Connection im expandierenden US-Heroingeschäft.
Den Krieg in Nicaragua finanzierten CIA und Contras durch Drogenschmuggel. Das wurde in den USA zum Skandal, als sich Bürger aus L.A. über die Crack-Schwemme beschwerten, die mit CIA-Hilfe in den Markt gepumpt wurde. Die Polizei hatte Beweise, doch nichts passierte – zu viele Freunde in Regierungsnähe.
Seit dem Sieg der USA über die afghanischen Taliban blüht dort der Mohnanbau wie nie zuvor: Das Land gilt heute als die erste Opium-Monokultur der Welt mit historischen Rekordernten.

Versuche der CIA, das Buch zu verhindern, scheiterten.

_Knut Gierdahl_
für das Magazin [AHA]http://www.aha-zeitschrift.de

Iles, Greg – Infernal

Die Kriegsfotografin Jordan Glass stößt auf eine bizarre Gemäldeserie. Eine der im todesähnlichem Schlaf dargestellten Frauen ist ihre verschwundene Schwester Jane. Zusammen mit dem FBI stößt Jordan auf vier Verdächtige in New Orleans: Alle sind Kunstmaler. Wissen sie, ob Jane bereits tot ist? Lebt sie wieder Erwarten noch? Plötzlich wird Jordan selbst zum Ziel des Serienmörders.

Greg Iles wurde in Deutschland geboren und verbrachte seine Jugend in Natchez am Mississippi. 1983 beendete er sein Studium an der University des Staates Mississippi, seither widmet er sich dem Schreiben. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Seit seinem Roman „@E.R.O.S.“ finden sich seine Werke in den Bestsellerlisten. Zu dem Film „24 Stunden in seiner Gewalt“ mit Kevin Bacon und Courtney Love schrieb Iles das Drehbuch, das auf seinem Roman beruht.

Als die Fotografin Jordan Glass für Buchrecherchen ein Museum in Hongkong besucht, erleidet sie den Schock ihres Lebens: Die aktuelle Gemäldeausstellung des Kunstmuseums zeigt eine Serie von nackten Frauen, die zu schlafen scheinen. Doch sie sind so blass, dass sie genauso gut tot sein könnten. Und das Gesicht einer dieser Frauen ist ihr eigenes: das ihres eineiigen Zwillings Jane. Auch die anderen Besucher des Museum erleiden einen Schock: Da hängen Bilder von nackten, möglicherweise toten Frauen an der Wand, und plötzlich spaziert eine der Totgeglaubten mitten unter ihnen umher… Als Jordan aus dem Chaos, das ihr Erscheinen verursacht hat, entkommen kann, schnappt sie sich den erstbesten Flieger, der sie in die Staaten bringt und ruft das FBI an.
Ihre Schwester Jane ist bereits über ein Jahr verschwunden – entführt, wie man glaubt. Und nun könnte das in Hongkong entdeckte Gemälde der endgültige Beweis sein, dass sie tot ist. Schon lange arbeitet daher Jordan mit Stellen des FBI in Quantico zusammen. Jordans Schreck sitzt tief, doch sie kann ihn bezähmen: Als Kriegsfotografin hat sie schon so ziemlich jede Horrorszene erlebt, die man sich vorstellen kann; auch am eigenen Leib…

Sofort fliegt sie nach New York City, um den Händler zu treffen, der dem japanischen Besitzer der Museumsbilder die Gemälde verkauft hatte: Christopher Wingate. Doch kaum ist sie mit ihren hartnäckigen Reporterfragen ein Stück weit in die Vorgeschichte der Gemälde eingedrungen, als in der Galerie Feuer gelegt wird. Sie entkommt mit knapper Not dem Inferno, doch Wingate schafft es nicht. Ein Besuch bei einem von Wingates Kunden, dem Exilfranzosen Marcel de Becque, verläuft ziemlich ergebnislos: Er hatte die ersten fünf Bilder gekauft, doch nicht auch jenes bekommen, das Jane zeigt.

Die Spur der in Hongkong sichergestellten Bilder führt über extrem seltene Pinselhaare direkt an die Universität von New Orleans, die Tulane University. In dieser Stadt hatte Jane mit ihrer Familie gelebt, hier hatte Jordan mal bei einer Tageszeitung gearbeitet. (Und hier kennt sich der in Mississippi aufgewachsene Autor hervorragend aus.) Zusammen mit FBI-Leuten, dem Special Agent John Kaiser und dem Psychologen Dr. Arthur Lenz, darf Jordan an den Verhören von vier Verdächtigen teilnehmen, darunter einem weltbekannten Kunstmaler namens Wheaton. Ist Jane noch am Leben? Als Jordan bereits glaubt, ihre Nachforschungen würden ergebnislos verlaufen, verschwindet eine der Verdächtigen direkt vor den Augen ihrer FBI-Beschatter. Wenig später wird ein perfekt organisierter Angriff auf Jordan und ihre FBI-Beschützerin ausgeführt. Nur gut, dass auch John Kaiser in der Nähe ist…

Ich habe seit einiger Zeit keinen derart spannenden Thriller mehr gelesen. Nach dem furiosen Auftakt, der zur Hauptsache aus der erschütternden Entdeckung von Janes Bild und dem Brand in Wingates Galerie besteht, gerät die Handlung erst einmal in ruhigeres Fahrwasser. Die Befürchtung, die Verhöre der vier Verdächtigen könnten sich als falsche Fährte erweisen, die der Autor ausgelegt hat, um uns irrezuführen, bewahrheitet sich nicht: Hier sind wir schon genau richtig. Die Lage spitzt sich bereits nach 250 bis 300 Seiten einigermaßen zu, als Jordan brutal angegriffen wird, wobei ihre Beschützerin ihr Leben opfert. Von da an überschlagen sich die Informationen und Ereignisse, bis zu einer langen und beklemmenden Passage, in der sich Jordan hilflos in den Gewalt des Mörders wiederfindet und erfährt, wie alles begann. Nach dem obligatorischen Showdown findet eine doppelte Wiederauferstehung statt. Mehr darf ich nicht verraten.

Menschlich anrührend ist der Roman in sehr vielen Szenen, ganz gleich, ob es sich um die Ich-Erzählerin Jordan Glass geht oder um die gewaltsam verwaiste Familie ihrer Schwester. Hilfe und Beistand findet die 40-jährige Jordan, die sich in ihrer Arbeit verloren hat, bei Special Agent John Kaiser. Nach einigen zaghaften Annäherungsversuchen, die immer wieder von dienstlichen Anrufen unterbrochen werden, finden die beiden schließlich zueinander, um gemeinsam einen Neuanfang zu wagen. Ungewöhnlich an der mittlerweile gewohnten Plottidee des psychisch abnormalen Serienmörders ist das Milieu, in dem der Täter zu suchen ist. Die Kunstmalerei war bislang nicht besonders dafür bekannt, Schauplatz blutiger Morde oder anderer Kapitalverbrechen zu sein. Prompt kommt auch hier der Verweis auf Oscar Wildes berühmte Novelle „Das Bildnis des Dorian Gray“, in dem der „Titelheld“ einen Mord begeht und sich danach ewige Jugend verschafft – zumindest vorerst. Greg Iles verrät große Detailkenntnisse, für die er sich bei den konsultierten Sachverständigen am Schluss des Buches artig bedankt.

Oftmals das Sorgenkind bei Romanen mit solch spezialisierten Fachbereichen, wie sie hier auftreten, ist die Übersetzung diesmal ausgezeichnet gelungen. Anders als bei Tom Clancys letztem Buch hat auch das Lektorat keine Fehler übersehen. Obwohl ich den Übersetzer Axel Merz nicht gerade als den Allerbesten seines Fachs kennengelernt habe – er übertrug den kompletten Armageddon-Zyklus von Peter F. Hamilton ins Deutsche -, so hat diesmal die möglicherweise bessere Bezahlung als beim Taschenbuch für einwandfreie Arbeitsergebnisse gesorgt. Schon lange habe ich den Eindruck, dass Hardcover-Übersetzungen eine höhere Qualität besitzen als Taschenbücher. Ausnahmen wie Clancy bestätigen die Regel.

„Infernal“ ist ein kompetent gebauter und sehr spannend erzählter Thriller, der mit ähnlichen Elementen umgeht wie etwa „Sieben“ oder „Das Schweigen der Lämmer“ und damit Erfolg hat. Nur dass seine Figurenzeichnungen außer bei der Hauptfigur nicht besonders tiefgründig sind. Jordan und ihre Familie erhalten eine eigene Historie, die psychologisch untermauert wird und für eine subtile Spannung sorgt. Daher versteht man auch, warum Jordan so sehr bemüht ist, die Wahrheit über Janes Schicksal herauszufinden: Sie muss sich selbst retten, bevor sie zusammenbricht. Nun könnte man noch meinen, die Morde an den „Schlafenden Frauen“ wären sinnlos, weil sie von einem psychisch Gestörten begangen werden. Dem ist keineswegs so – die Botschaft, die Iles geschickt verpackt hat, lautet wie folgt: Je höhere Preise Gemälde mit bestimmten Motiven erzielen können, desto mehr wird das entsprechende Angebot zunehmen: das Gesetz von Nachfrage und Angebot. Schlecht für die Opfer: Erst als die nackten Frauen realistisch so dargestellt werden, als befänden sie sich im Todesschlaf, steigen die Preise rasant in die Höhe: Das letzte Gemälde bringt fast zwei Millionen Dollar! Kunst killt.

Ich habe den Roman in nur drei Tagen gelesen, wobei ich in der letzten Sitzung die restlichen 300 Seiten einfach am Stück lesen musste. Das Buch ist zu spannend, um es einfach zwischendurch mal weglegen zu können. Die Mühe hat sich gelohnt. Ich bin rundum zufrieden mit dem Buch.

Homepage des Autors: http://www.gregiles.com

_Michael Matzer_ (c) 2003ff
(lektoriell editiert)

Rüggeberg, Dieter – Theosophie und Antroposophie im Licht der Hermetik

Mit diesem Buch liegt eine sehr gute Einführung in Theosophie, Antroposophie und Hermetik vor. Der Autor wählt als Hauptbezugspunkt die hermetische Tradition nach Bardon, um die anderen Disziplinen zu vergleichen. So erreicht er eine wichtige Distanz zu den teils widersprüchlichen oder für sich genommen schwer verständlichen Aussagen Steiners und Blavatskys. Rüggeberg gibt mehr Überblick, wo andere Autoren voreingenommen sind oder aus ideologischen Gründen Kritik keinen Platz hat. Der Autor ist mit den Themen umfassend vertraut und bietet eine gelungene Mischung aus Zitaten und erklärenden eigenen Überlegungen. Mit Rudolf Steiners oder Helena Blavatskys Originaltexten werden ‚Einsteiger‘ oft Schwierigkeiten haben, da die verwendeten Begriffe und Modelle nur wenig erklärt werden; außerdem sind – besonders bei Steiner – viele Grundzusammenhänge nicht systematisch aufbereitet. Genau hier ist vergleichende Sekundärliteratur wichtig. Angenehm fielen mir die über das Buch verteilten Tabellen auf, in denen Aspekte des Kosmos und des Menschen dargestellt werden. Rüggeberg zeigt auch Lücken und Schwachstellen auf, dabei ist er stets sachlich begründend.

Zum Anliegen des Buches schreibt der Autor: „Eine Aussage von Steiner, die ich … voll unterstreichen kann…: ‚Nichts ist schlimmer für den esoterischen Schüler, als wenn er bei einer gewissen Summe Begriffe, die er schon hat, stehen bleiben will, und mit ihrer Hilfe alles begreifen.‘ Es sind insbesondere Sätze wie dieser, die mich zur Veröffentlichung des vorliegenden Werkes veranlaßt haben, weil mir die Unlust vieler Schüler zu vergleichenden Studien gut bekannt ist. Außerdem schien es mir notwendig, auch die theosophisch-antroposophischen Lehren noch um einige Begriffe zu erweitern.“ (S. 127) Diesem Anliegen ist er gerecht geworden.
Fazit: Unbedingt empfehlenswertes Einführungswerk zur westlichen Esoterik.

aus dem Inhalt:
Akasha und die vier Elemente
Geist, Seele und Körper
Mentale, astrale und physische Welt
Die geistige Hierarchie und die Planetensphären
Der okkulte Weg zur Einweihung
Wer oder was ist Christus?

_Knut Gierdahl _
für die Zeitschrift [AHA]http://www.aha-zeitschrift.de/
Ausgabe 04/2003 (August/September)

Voenix – Tolkiens Wurzeln. Die mythischen Quellen zu \’Der Herr der Ringe\‘

Noch ein Buch zum Herrn der Ringe? Gleich vorweg: Voenix ist sich der mit einem solchen Thema verbundenen Fragen und Schwierigkeiten bewusst: zu viele Tolkien-Fans haben den Deutungsrahmen dieses Buches so überstrapaziert, dass alles und jedes darin gefunden werden kann. Dagegen sprach Tolkien sich klar gegen nachträgliche allegorische o. a. Deutungen aus und hielt davon nichts. Voenix schildert im Vorwort deutlich diese konträren Positionen und findet eine gelungene Synthese, die beidem Rechnung trägt: Jedes Kapitel ist in sich unterteilt in einen beschreibenden Teil, eine mythologische Ausleuchtung und eine Charakterisierung.

Die Gefahr der Überdeutung besteht bei Voenix nicht, da er als Kenner der nordischen Mythen den Schwerpunkt auf genau diese Bereiche legt. Durch diese Hintergründe bekommt Tolkiens Werk eine Tiefe und Verbindungen, die eine große Bereicherung für den Leser darstellen. Die Charakterisierungen in den einzelnen Kapiteln orientieren sich modellhaft an der Psychologie, besonders den Archetypen C.G. Jungs. Die archetypischen seelischen Prozesse sind eine naheliegende Parallele zum Mythos, Geschehnisse und Grundfragen des Lebens in einer zeitgemäßeren Sprache anders darzustellen und dadurch eine neue Perspektive zu gewinnen. Die Wahl ist also thematisch gut begründet; darüber hinaus zeigen sich hier Verbindungen zu Akron, mit dem der Autor seit Jahren befreundet ist und deren Zusammenarbeit dieses Buch in der Form erst ermöglichte.

An manchen Stellen scheint mir die Übertragung der HdR-Geschichte auf psychische Prozesse zu holzschnittartig, zu polar konstruiert, beispielsweise, wenn an einer Stelle Triebe und Erlösung(sstreben) als Gegensätze benannt werden oder ein dunkler (verdrängter) Persönlichkeitsanteil wie eine Konstante behandelt wird. Aber das sind insgesamt Kleinigkeiten, die am gelungenen Gesamteindruck von „Tolkiens Wurzeln“ verblassen. Und ob der Leser mit einer umfangreichen Psychologie-Einführung in einem Tolkien-Buch zufriedener wäre… das ist fraglich. Vielmehr werden bestimmte psychische Aspekte betont, und Schwerpunkte muss man gerade bei einem so facettenreichen Werk wie von Tolkien setzen – es bleiben Fragen offen, an denen der Leser gewinnbringend weiterdenken kann.
Noch ein paar Worte zum Inhalt: Wie schon erwähnt, ist die systematische Trennung einzelner Bereiche der Beschreibung und Deutung sehr positiv sowohl für das Mitdenken und Nachvollziehen, als auch für das Auffinden eines Themas. Die einzelnen Kapitel sind thematisch gruppiert; einige Themen sind ‚Die Völker von Mittelerde‘, ‚Die neun Gefährten‘, ‚Die Verbündeten und Frauen im HdR‘, die Gegner der Gefährten, mythische Motive und Historisches.

Voenix hat das Buch mit zahlreichen farbigen Illustrationen versehen, bei denen er sich an den Darstellern der Verfilmung von Peter Jackson orientierte, was bei mir so manche Erinnerung weckte und die Geschichte noch lebendiger werden ließ. So „verspricht dieses Buch neben neuen Antworten und Einsichten einen doppelten Lesegenuss für alle Fans des Fantasy-Genres, Mythenliebhaber und solche, die es werden wollen.“ (Klappentext) Jo, Recht hamse.

_Knut Gierdahl_
für die Zeitschrift [AHA]http://www.aha-zeitschrift.de
Ausgabe 04/2003 (August/September)

Homepage des Autors: http://www.voenix.de
Homepage des Verlages: http://www.akron.ch/verlag/verlag.htm

Wilson, Robert Charles – Bios

Mutter Erde ist ein Waisenkind. Das stellt sich heraus, als die Menschen den Planeten Isis erforschen. Doch um diese Wahrheit zu erfahren, müssen die Forscher aufhören, als Menschen zu existieren. – „Bios“, im Original 1999 erschienen, ist ein wissenschaftlich fundierter und recht spannend geschriebener SF-Roman: ein wahrer Bio-Thriller.
Robert Charles Wilson wurde 1953 in Kalifornien geboren und lebt in Toronto. Er gehört seit seinem mehrfach preisgekrönten Roman „Darwinia“ zu den bedeutendsten Science-Fiction-Autoren der Gegenwart.

Im 22. Jahrhundert haben die Menschen die von Seuchen und Biowaffen verheerte Erde weitgehend verlassen müssen. Zunächst gründeten die konservativen Nonkonformisten am Rande des Solarsystems, im so genannten Kuiper-Gürtel, eigene Kolonien. Alle Hoffnungen jedoch ruhten auf weit entfernten erdähnlichen Welten wie Isis, die man komplett und in großer Zahl besiedeln konnte.
Auf Isis, so beobachten die Forscher, ist die Evolution natürlich anders verlaufen als auf der Erde, weniger von Katastrophen und Mutationen heimgesucht. Folglich ist das Leben an sich, die Zellen selbst, hoch entwickelt und äußerst wehrhaft gegen Einwirkungen von außen. Den Menschen präsentiert sich ein Paradies, das für sie absolut tödlich ist: Die Isis-Organismen zersetzen menschliche Zellen zu einer schwarzen Soße.
In dieses tödliche Wunderland dringt eine neue Alice vor. Mit Namen Zoe Fisher, soll sie erst auf der Orbitalstation Dienst schieben, später dann die neueste Errungenschaft der Erdwissenschaft testen: einem neuen Exkursionsanzug. Dafür ist’s auch höchste Zeit, denn die Isis-Mikroben haben offenbar eine Methode gefunden, um die Dichtungen der Bodenstationen und der herkömmliche Exkursionsanzüge, die schwer gepanzert sind, zu zersetzen: Der Untergang der Menschen auf – und über – Isis ist besiegelt.
Zoe ist nicht nur außen besser geschützt als der Rest, sondern auch innen. So kann sie weiter vordringen als irgendein Mensch vor ihr, mitten in eine Kolonie intelligenter Wesen. Und dort stößt sie auf ein unglaubliches Geheimnis.

Ich habe diesen Bio-Thriller in nur einem Tag gelesen. Das ist nicht schwer, denn die Kapitel sind so kurz wie bei James Patterson und ebenso spannend. Außerdem kam es mir dabei so vor, als hätte ich so manches Motiv bereits irgendwo anders gelesen – wenn auch nicht in dieser Kombination. Um zu entsprechenden Quellen zu gelangen, müsste man in die siebziger Jahre zurückgehen, zu Autoren wie Alan Dean Foster, oder noch weiter zurück.
Sei’s drum: Die Story reißt mit. Und es geht dem Autoren ja nicht um die simple Erforschung des Geheimnisses von Isis oder den unabwendbaren Untergang seiner Erforscher, sondern vielmehr auch um die Untersuchung eines Testfalls. Getestet wird hier nicht die Fremdwelt, sondern die Menschheit des 22. Jahrhunderts. Dieser Test bezieht sich nicht nur auf die fortgeschrittene Technik – das wäre ja zu erwarten -, sondern insbesondere auf die psychosoziale Verfassung der Menschen, die mit Isis zu tun haben.
Wie oben erwähnt, ist die Menschheit lange in zwei Siedlungszonen gespaltet gewesen: die Erdlinge, die das Kartell hervorgebracht haben, und die nonkonformistischen Rebellen der Kuiper-Welten. An der Front, also in der Isis-Orbitalstation und in den Bodenstationen, müssen beide zusammenarbeiten. Doch nur die Erdlinge haben leitende Funktionen inne, die Kuiper-Rebellen machen die Drecksarbeit und sind folglich unter den ersten, die geopfert werden.
Dieses System erinnert an die mittelalterliche Zeit des Feudalismus, als sich die Adligen zu Zeiten der Pest in ihren Schlösser und Burgen verschanzten, in der Hoffnung, von der tödlichen Seuche verschont zu werden. Eine Illusion, wie sich oft herausstellte. Edgar Allan Poe hat darüber eine schön-schaurige Geschichte geschrieben: „Die Maske/Der Maskenball des Roten Todes“ (The Masque of the Red Death).
Nun wiederholt sich die Geschichte auf Isis: Die ‚Bauern‘ werden geopfert, die ‚Adligen‘ und Funktionäre versuchen ihre Haut zu retten, und nur ein einziger Mensch setzt sich wirklich mit dem grundlegenden Problem auseinander: Zoe Fisher, unsere Alice im Wunderland. Als 150 Jahre später nach einer Revolution wieder Forscher nach Isis kommen, werden sie als alte Bekannte begrüßt – aber nicht von Menschen und nicht in einer ihnen bekannten Sprache. Werden die Waisen der Sterne endlich nach Hause finden?

Wie gesagt, lässt sich „Bios“ sehr schnell und spannend lesen. Der Schluss ist ein schöner Augenöffner, soll hier aber nicht verraten werden.
Die Übersetzung vom Ehepaar Linckens trägt wesentlich zum Verständnis der zahlreichen Fachbegriffe aus der Biochemie bei: Diese Begriffe werden kurz in Fußnoten erklärt. Auch stilistisch ist die Übersetzung ein echter Pluspunkt des Buches.
Science-Fiction-Kennern werden einige Motive bekannt vorkommen, so dass sie das Buch nicht gerade umhaut. Die Vorgänge an Bord der Isis-Orbitalstation hätte beispielsweise C. J. Cherryh wie in „Pells Stern“ (Downbelow Station, HUGO-preisgekrönt) sicherlich spannender und komplexer geschildert. Die Exkursionen auf Isis selbst wurden schon x-mal ähnlich beschrieben, etwa in zahllosen Folgen von „Earth 2“. Eigenständig ist wohl eher die Figur der Zoe Fisher und das System, das sie hervorgebracht hat.

_Michael Matzer_ (c) 2003ff
(lektoriell editiert)

Josef Dvorak – Satanismus

„Die Verteufelung des ‚kreativen Chaos‘ ist eine Verdrängung, deren Resultat eine erstarrte, lebensfeindliche ‚Gesellschaft‘ ist.“ (J. Dvorak, Konrad Becker zitierend)

Da Bücher über das Phänomen „Satanismus“ nur allzu gern den Federn von Theologen, so wie auch in diesem Falle, und Sektenbeauftragten zu entwachsen scheinen, sieht sich der Leser meist dem vernichtenden erhobenen Zeigefinger des Autors gegenüber und es fällt daher oft schwer, einer differenzierten und objektiven Betrachtungsweise Raum zu geben. Dieses Buch ist anders, in jedweder Hinsicht, zumal, wenn es darum geht, eine konsistente und dem Werk gerechte Klassifizierung zu liefern. Es ist sicherlich für jeden, der sich eingehender mit dem „Leibhaftigen“ und den damit einhergehenden Ausformungen eines Kultus der Selbstvergöttlichung auseinander setzen will, eine der besseren Publikationen zum Thema Satanismus / Okkultismus im deutschen Raum, auch wenn der alles bzw. nichts sagende und etwas plakativ daherkommende Titel zunächst den Anschein eines dieser typischen, an Banalität und Oberflächlichkeit nicht zu überbietenden Werke vermittelt. Dem tut auch der Untertitel („Schwarze Rituale, Teufelswahn und Exorzismus – Geschichte und Gegenwart“) vorerst keinen Abbruch.

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King, Stephen – Im Kabinett des Todes

Der Erfolgsautor Stephen King steht vor dem Ende seiner Schriftstellerkarriere: Er hat das angekündigt. Nun wird noch kurz aufgeräumt. In diesem Band sind die kürzeren Werke aus der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre gesammelt. Nun warten wir noch auf „The Wolves of Calla“, einen Roman aus dem Zyklus um den Dunklen Turm. Und dann? Stephen King – was kann man noch sagen, was nicht schon allgemein bekannt ist? Er ist einer der erfolgreichsten Autoren aller Zeiten. Und nicht ohne Grund. Das sollte eigentlich genügen.

Zu den vierzehn Stories:

1) Autopsieraum vier

Frisch vom Golfplatz in die Autopsie – so schnell kann’s gehen, denkt sich sich Howard Cottrell, Börsenmakler, entsetzt. Warum war er hier, kurz davor, mit einer Schere wie ein Truthahn aufgeschnitten zu werden? Warum kann er seine Hände nicht bewegen, geschweige denn, einen Laut von sich geben, um zu protestieren? Ein Schlangebiss scheint ihn gelähmt zu haben. Ihm ist einzig und allein gestattet, zuzuhören, wie die Chirurgin mit dem Praktikanten anbandelt, der den ersten Schnitt führen soll. Anästhesie? Fehlanzeige! Howard Cottrell möchte schreien und kann nicht.
Stephen King erzählt das klassische Thema „lebendig begraben“, nur eben in den Autopsieraum verlegt. Und er macht einen klasse Job daraus. Der Leser leidet praktisch mit dem Scheintoten mit. Oder ist Howie vielleicht doch tot und erlebt alles nur von „höherer Warte“? Oder ist dies nur sein Traum? Bis zum Schluss lässt uns der Autor im Ungewissen zappeln.

2) Der Mann im schwarzen Anzug

Für diese Story erhielt King eine der höchsten Auszeichnungen für US-Autoren, den O. Henry Award. King selbst hält die Story nicht für genug gut, um sich für diesen hohen Preis zu qualifizieren, aber für den Kritiker ist es nicht schwierig, die Gründe für die Entscheidung der Jury herauszufinden.
Zum einen geht es um eine uramerikanische Figur: den Teufel in menschlicher Verkleidung. Und die knappe Handlung findet an uramerikanischen Orten statt: auf einer Farm und am benachbarten Forellenbach. Gary ist im Sommer 1914 erst neun Jahre alt, als er nach getanem Tagwerk die Erlaubnis erhält, angeln zu gehen. Nahe Castle Rock ist der Wald damals noch weitläufig und kühl, die Bäche sauber und voller Forellen. Doch als Gary zwei Prachtexemplare gefangen hat, kreuzt der „Mann im schwarzen Anzug“ auf. Er riecht nach Schwefel und seine Augen sind Löcher, hinter denen das Höllenfeuer brennt. Sein Gebiss ähnelt dem des Weißen Hais, doch seine Lügen treffen Gary bis ins Mark. Eine schicksalhafte Begegnung folgt, die Gary erst 81 Jahre später nieder zu schreiben wagt.
Hier merkt man wieder, wie stark sich King in das Seelenleben eines Jungen hineinzuversetzen vermag. Mit wenigen Absätzen versetzt er diesen Jungen in eine Welt, die noch gar nicht so lange vergangen ist: Der Teufel ist hier noch lebendig, und wie weiland in Irland kann man ihm und seinen Versuchungen am helllichten Tag begegnen. Eine spannende Story, die man gleich noch einmal lesen möchte.

3) Alles, was du liebst, wird dir genommen

Eine sehr traurige Story, aber mit witzigen Einsprengseln. Alfie Zimmer, seines Zeichens Vertreter für Tiefkühlgerichte im Mittleren Westen, will sich heute Abend umbringen. Er hat im Motel eingecheckt und seine Smith & Wesson bereitgelegt: Kaliber 9 Millimeter – eine beträchtliche Durchschlagskraft.
Bevor er sich umbringt, ruft er noch fürsorglich an der Ostküste im Haus seine Frau Maura und seiner Tochter Carlene an, erreicht aber nur den Anrufbeantworter. Als er sich den Revolver in den Mund steckt, fällt sein Blick noch einmal auf sein Notizbuch. Er kann es nicht so aufgeschlagen liegen lassen. All diese Klosprüche! Obszön, schweinisch, politisch ganz bestimmt nicht korrekt, und zum Schluss noch dieser: „Alles, was du liebst, wird dir genommen.“
Diese Sprüche hat Alfie in den einsamen Toiletten entlang der einsamen, endlosen Highways gesammelt, weiß der Herr, warum. Flaschenpost auf dem stillen Örtchen? Aber was würde die Polizei daraus schließen? Oder seine Frau? Alfie nimmt den Revolver aus dem Mund, stellt sich auf den Parkplatz und wartet ab, ob ihm der tobende Wind das Notizbuch aus der Hand reißen wird. (Und wenn er nicht gestorben ist, steht Alfie Zimmer dort noch heute. Wir können nur für ihn und seinesgleichen beten, meint der Autor.)
Eine sehr traurige Geschichte: der Tod eines Handelsvertreters in seiner klassischen Form. Die einzigen Lichtblicke jedoch stammen von den witzigen Klosprüchen. Und sie bringen Alfie wirklich zum Nachdenken, so dass er über das richtige Versmaß grübelt und die Tatsache, dass ‚Maine‘ der einzige Bundesstaatname ist, der wegen seiner Einsilbigkeit in Klosprüchen vorkommt… Ein verfehltes Leben, das ist Alfie Zimmer. (Diese Geschichte erschien im renommierten Literaturmagazin ‚The New Yorker‘.)

4) Der Tod des Jack Hamilton

1934, Prohibition, Chicago-Gangster. Die Story erzählt zunächst eine rechte Räuberpistole, schlägt dann allmählich in eine Groteske mit makabren Zügen um, bevor sie richtig anrührend endet. Nachdem John Dillingers Bande eine Bank auf dem Lande überfallen hat, muss sie das Weite suchen. Allerdings wurde sein Komplize Jack Hamilton angeschossen, will aber nicht zugeben, wo. Als die Gangster glücklich im Hinterzimmer einer Chicagoer Absteige landen, nimmt man Jacks Verwundung näher in Augenschein. Wie sich zeigt, hat Jack einen glatten Lungendurchschuss erlitten. Wenn er eine raucht, dringt der Rauch wieder hinten (!) aus ihm heraus.
Die Geschehnisse werden von Jacks Freund Homer erzählt. Nach Dillingers Erschießung durch das FBI wunderte man sich nämlich allenthalben über dessen demolierte Oberlippe, und Homers Memoiren sollen erklären, wie es dazu kam. Der Grund dafür war, dass Homer und Dillinger Jacks letzten Wunsch erfüllten und es dabei zu einem beinahe tödlichen Unfall kam.

5) Im Kabinett des Todes

Bei dem Titel gebenden Raum handelt es sich schlicht und ergreifend um einen Raum im Keller einer Polizeistation irgendwo in Zentralamerika. Der amerikanische Journalist wird hierher gebracht, um verhört zu werden – wenn nötig mit Folter. Seine Folterknechte – Escobar mit dem mexikanischen Akzent, eine 60jährige, die aussieht wie „Frankensteins Braut“, ein Gunman sowie ein schleimiger Kriecher, der die Folterwerkzeuge bedient – wollen erfahren, was Fletcher über die Pläne des Rebellen weiß, der die bestehende Ordnung bedroht.
Kurz und gut: Die Ereignisse in diesem „Kabinett des Todes“ verlaufen etwas anders, als es die Beteiligten erwartet haben.

6) Die Kleinen Schwestern von Eluria

Eine Episode aus Kings umfangreichem ‚magnum opus‘ „Der dunkle Turm“. Ich setze die Vorgeschichte als allgemein bekannt voraus (sorry!). Der Revolvermann, eine der Hauptfiguren des Zyklus, gelangt in eine scheinbar verlassene Stadt, wird von Mutanten überwältigt und von den Kleinen Schwestern gepflegt. Mit kleinen Häppchen der Erkenntnis steigert King das Grauen, das nun folgt: Der Gunman ist in die Hände von Vampiren gefallen und muss zusehen, wie ihnen einer der Lazarettgenossen nach dem anderen zum Opfer fällt. Er ist der nächste… Wird es ihm gelingen, sich rechtzeitig zu befreien? Lest selbst! (Diese Novelle erschien zuerst in R. Silverbergs Anthologie „Der 7. Schrein“.)

7) Alles endgültig

Ein seltsames Bild: Ein junger Mann schüttet Woche für Woche Kleingeld in den Gully (und Scheine in den Müll-Schredder). Der junge Mann, Dinky Earnshaw, wurde von einer obskuren Behörde namens Trans Corp. angeheuert, ausgebildet und postiert – so wie etliche andere mit Fähigkeiten wie Dinky (sie werden „Trannys“ genannt, was im Englischen die Abkürzung für Transvestiten ist – eine kleine Ironie am Rande). Jede Woche gibt’s 70 Dollar zum Verpulvern. Was nicht weg ist, muss vernichtet werden, etwa im Gully. Mr. Sharpton von Trans Corp. erkannte Dinkys außergewöhnliches Talent: mit Hilfe von erfundenen Zeichen den Tod eines anderen Lebewesens herbei zu beschwören.
Was ihm beim nervenden Nachbarshund noch himmlische Ruhe verschafft hat, bereitet aber nun Dinky erhebliche Gewissensbisse: Er hat entdeckt, dass er ein Massenmörder ist. Mindestens 200 Leute hat er schon mit seinen codierten Botschaften ums Leben gebracht – und warum und wozu? Weil ihn erstens Trans Corp. während einiger Hypnosesitzungen dazu konditioniert hat. Und weil die Opfer den Interessen der Regierungsstellen zuwider handelten. Aber wie kann eine AIDS-Forscherin regierungsfeindlich sein, fragt sich Dinky, da sie doch zum Wohle der Menschheit arbeitet. Er beschließt, den Spieß umzudrehen.
Diese Novelle ist zwar interessant, aber schlecht geschrieben. Sie vermischt Konzepte aus Fantasy (magische Symbole) und Thriller (Regierungskomplott), wird in einer realistischen Umgangssprache erzählt und führt relativ geradlinig von A nach B. Der Plot erinnert an Kings frühen Roman „Feuerkind“ und ist ebenso abgedroschen wie vorhersehbar. Die geistige Beschränktheit des Ich-Erzählers Dinky verhindert, dass eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Problem der Auftragsmorde stattfindet, die den Leser anrühren könnte. Die schnoddrige Oberflächlichkeit der Erzählung und ihres Geschehens erzeugt den Eindruck einer zynischen Haltung des Autors, die mich abgestoßen hat. Diese Novelle ist der Tiefpunkt der Sammlung, und ich musste mich überwinden, sie zu Ende zu lesen.

8) L.T.s Theorie der Kuscheltiere

Diese wunderschöne Geschichte gibt es bereits als Hörbuch, gelesen von Ulrich Pleitgen. Seit fast einem Jahr erzählt L.T. deWitt seine Leidensgeschichte, wenn er im Lokal einen hebt. Er ist ein schlichtes Gemüt, leidet aber dennoch an der Tatsache, dass ihn seine Frau Lulubelle vor fast einem Jahr verlassen hat. Und schuld daran war offenbar ihre Unverträglichkeit mit einem Kuscheltierchen, das L.T. ihr geschenkt hatte: Sie nannte das Kätzchen schon bald nur noch „Spinnerlucy“, weil es Lulu offenbar nicht ausstehen konnte. Doch L.T. hatte ein Jahr zuvor von Lulu ebenfalls ein Haustier geschenkt bekommen: einen Terrier namens Frank (nicht wie der in MIB2), der leider in L.T.s Schuhe kotzte und pisste.
L.T.s Theorie über die Kuscheltiere geht also dahin, dass sie die betroffenen Ehepartner unweigerlich auseinander bringen. Was aber L.T. in seinem Kummer nicht ahnt, ist, dass es wahrscheinlich der von der Polizei gesuchte „Axtmann“ war, dem die ausgezogene Lulu zum Opfer gefallen ist, vermutet jedenfalls L.T.s Freund, der Erzähler.
Dies ist Kings Lieblingstory in diesem Band. Die ganze Story ist sprachlich so realistisch wie möglich und zugleich so wunderbar schräg erzählt, dass man sich in manche Szenen direkt hineinversetzt fühlt. Wie King in seiner obligatorischen Anmerkung berichtet, hatte er selbst zwei Haustierchen bekommen: einen Corgi-Hund namens Marlowe und eine „durchgeknallte“ Siamkatze namens Pearl. Sie kamen ebenso gut miteinander aus wie Frank und Lucy in der Geschichte. Dass das geschenkte Tier in der Story seinen neuen Besitzer nicht ausstehen kann, wohl aber dessen Partner, ist ein weiterer amüsanter Kunstgriff des Autors. Doch am Schluss erwischt er den Leser dann kalt, wenn er den Axtmann erwähnt und wie es L.T. in Wirklichkeit geht.

9) Der Straßenvirus zieht nach Norden

Diese wirklich unheimliche Erzählung erschien zuerst in Al Sarrantonios exzellenter Horror-Anthologie „999“ aus dem Jahr 1999. Der Horrorautor Richie Kinsell (ein alter ego des Autors) fährt mal wieder vom heimatlichen Derry/Maine nach Boston auf einen Schriftstellerkongress. Keine große Sache. Auf dem Rückweg kommt er im hübschen Städtchen Rosewood (ein Verweis auf den Roman „Rose Madder“?) an einem privaten Flohmarkt, einem ‚garage sale‘, vorbei. Sein Blick fällt auf ein Aquarell, das zum Kauf angeboten wird, und Kinsell muss das Bild sofort haben. Zum Glück ist die Verkäuferin auch noch ein Fan seiner Schundromane und erzählt ihm brühwarm die Story zum Bild: Der Maler brachte sich um. Es trägt den Titel „Der Straßenvirus zieht nach Norden“ und zeigt einen grinsenden blonden Mann in einem schnittigen Superschlitten, der gerade die Bostoner Tobin Bridge überquert. Besonderheit: Die Zähne des jungen Mannes sehen aus wie die eines Kannibalen – Reißzähne. Kinsell ist hingerissen.
Als Richie es auf dem Nachhauseweg seiner lieben Tante Trudy zeigt, ist diese entsetzt. Er aber auch: Das Bild hat sich verändert! Das grässliche Gebiss hat sich inzwischen vergrößert, der Blick des Fahrers ist noch irrer, und der Hintergrund besteht nicht mehr aus der Tobin Bridge. An einer Raststätte wirft Kinsell das Bild in den Müll, denn es hat sich schon wieder verändert: Nun zeigt es den Wagen auf dem Weg nach Rosewood… Was geht hier vor sich? Kaum zu Hause, schreit Kinsell beinahe auf: Das Bild hängt jetzt in seiner Diele, und es zeigt die Verkäuferin des privaten Flohmarkts in Rosewood in schrecklich zugerichtetem Zustand. Offenbar folgt der „Straßenvirus“ seinem neuen Besitzer – bis zur letzten Konsequenz…
Kontinuierlich zieht King die Daumenschraube des Entsetzens und der Bedrohung an, bis es der Leser – ebenso wie der Erzähler – kaum noch in seinem Sessel aushält und sich vorsichtig nach dem nächstgelegenen Bild umdreht. Denn der „Straßenvirus“ ist wahrscheinlich immer und überall.

10) Lunch im Gotham Café

Ebenfalls eine Rauchergeschichte. Joe Davis wurde – zack! peng! – von seiner Frau Diane verlassen und hat sofort mit dem Rauchen, dem Scheidungsgrund, aufgehört (ein wenig zu spät). Natürlich fühlt er sich während des Entzugs total mies. Aber der eigentliche Unglückstag kommt, als er sich mit Diane und deren Scheidungsanwalt William Humboldt in einem Feinschmeckerrestaurant in der New Yorker Innenstadt trifft: im Titel gebenden Gotham Café („Gotham“ ist quasi der literarische Spitzname New York Citys, siehe „Batman“ und Poe).
An der Rezeption des Cafés stößt Joe auf den Oberkellner, der ein äußerst merkwürdiger Zeitgenosse zu sein scheint. Der dunkle Fleck auf seinem Hemd könnte getrocknetes Blut sein. Und er kreischt ihn an, er solle gefälligst keinen Hund mit hereinbringen! Welchen Hund, bitteschön?
Kaum wurden die Verhandlungen eröffnet, rastet der Oberkellner aus unerfindlichen Gründen völlig aus und macht sich über mit einem enormen Schlachtmesser über den Scheidungsanwalt her. Den Rest kann man sich denken. Diese kurze Story ist ebenso actiongeladen wie absurd. Und es ist eben diese Absurdität, die sie so verdächtig macht, symbolisch zu sein. Symbol wofür? Wohl für die unterschwellig wütenden Aggressionen zwischen den meisten zu scheidenden Paaren und ihren jeweiligen Anwälten. Insofern ist diese kurze Story klassischer Horror, voll Splatter und ebenso drastisch. Nichts für zarte Gemüter!

11) Dieses Gefühl, das man nur auf Französisch ausdrücken kann

Carol Shelton hat dieses schreckliche Gefühl, sie sei in der Hölle gelandet. Nur, dass die Hölle genauso aussieht wie Florida. Seit 25 Jahren ist die streng katholisch erzogene Carol mit Billy, dem Software-Entwickler, verheiratet, ist aber kinderlos geblieben (eines hat sie, omeingott!, abgetrieben). Zur Silberhochzeit spendiert ihr der Göttergatte die zweiten Flitterwochen. Und die könnte sie auch wirklich genießen, wenn, ja wenn da nicht dieses seltsame Gefühl wäre, das man… ach ja: „Déjàvu“ nennt.
Und tatsächlich steigert sich Carols Unbehagen zu einer Angespanntheit, dann zu leisem Grauen, schließlich zu blankem Entsetzen: Denn sie hängt in einer Zeitschleife fest, die nichts anderes für sie ist als die Hölle. Und am Ende der Schleife scheint ein Atomschlag zu passieren, oder eine Rakete das Flugzeug zu treffen oder… Und es passiert immer wieder. Endlos. Es ist (sagte ich das nicht bereits? Es kommt mir jedenfalls so vor…) die Hölle.
Eine tolle Story, die für viele Leser verwirrend sein wird, die mich aber stark an die Science-Fiction-Geschichten erinnert, die von literarisch ambitionierten Briten und Amis Mitte der Sechzigerjahre für das Avantgarde-Magazin „New Wave“ geschrieben wurden, das damals unter der Leitung von Michael Moorcock Furore machte und für eine Anfrage im Parlament sorgte. Das Thema ist natürlich existenzialistisch. Und King zitiert dessen Götter: Camus und Sartre. Er weiß genau, auf welch schwankendem Terrain er sich bewegt.

12) 1408

Wie „Kuscheltiere“ wurde auch diese Geschichte bereits auf einem Audiobook verewigt, nämlich in der Sammlung „Blut und Rauch“. Der Autor empfiehlt die Quersumme aus dieser Zahl zu ziehen und sie auf die Nummern von Hotelzimmern anzuwenden.
Mike Enslin ist so eine Art Reporter des Unheimlichen. Aus seinen Ermittlungen in gespenstischen Gemäuern und seinen Besuchen auf berühmten Friedhöfen hat er bereits drei Bestseller fabriziert. Diesmal hat er sich ein etwas unbekannteres Hotelzimmer vorgenommen: Nr. 1408 im New Yorker Hotel Dolphin. Der Hoteldirektor möchte Mike warnen: Dort seien bereits 30 Leute eines so genannten ’natürlichen Todes‘ gestorben und weitere 16 eines wahrlich unnatürlichen: Einige sprangen aus dem Fenster. Mike bleibt unerschütterlich.
Er hat zwar etwas Mühe, die Tür zu diesem ominösen Zimmer zu öffnen, doch er schafft es und spricht weiterhin seine Beobachtungen in sein Diktaphon. Dann beginnt er allmählich, sinnloses Zeug von sich zu geben. Später hält die Polizei fest, dass Mike Enslin gerade mal siebzig Minuten in Zimmer Nr. 1408 verbracht habe. Seitdem hat man seine Verbrennungen wieder heilen können, doch Mike hat seither keine Zeile mehr geschrieben, hat alle Telefone aus seiner Wohnung entfernen lassen und verschließt bei Sonnenuntergang sämtliche Fenster, weil er die Farbe orangerot nicht mehr ertragen kann…
„1408“ ist eine wahrhaftig gruselige Story über das klassische Motiv des Gespensterzimmers. Nur dass Zimmer 1408 von einem Horror erfüllt ist, der – wie in einem Nebensatz angedeutet wird – von einem der namenlosen Schrecken stammen könnte, die sich H.P. Lovecraft, der große Phantast aus Neuengland, ausgedacht hat. Dies ist nicht die erste Lovecraft-Kopie, die King schrieb: Auch in „Briefe aus Jerusalem“ taucht ein namenloser Schrecken auf. Doch „1408“ ist weitaus besser und wirkungsvoller. Tauchte dort eine deutlich materialisierte Gestalt, ein Riesenwurm, auf, so ist diesmal das Unheimliche nur in seinen Auswirkungen feststellbar, und die sind für Mike Enslin absolut unerträglich.

13) Achterbahn (Riding the ‚Bullett‘)

Alans Mutter liegt 100 Meilen entfernt im zentralen Krankenhaus von Maine, und er will sie unbedingt besuchen, obwohl seine rostige Studentenkarre im Eimer ist. Beim Trampen durch die Wälder erlebt Alan so einiges, das man sich nicht als Alltagsroutine wünschen würde. Da ist der alte Witwer, der sich dauernd mit seiner „Affenklaue“ im Schritt kratzt, weil ihn sein Leistenbruch schmerzt. Und schließlich landet Al auch noch nächtens auf dem Friedhof – allerdings nicht als Leiche, sondern als Verletzter.
Was man mit einer Beule am Kopf so alles träumt… Zum Beispiel, dass man in einem 60er-Jahre-Ford-Mustang von einem Toten mitgenommen wird, der beim Rauchen Qualm aus den Stichen bläst, mit denen sein Kopf angenäht ist… Geträumt oder nicht: Fakt ist, dass Al bei seiner Ankunft im Hospital einen Button am Revers trägt: „Ich bin in Thrill Village, Laconia, mit dem BULLETT gefahren“. Zu dumm, dass Al nur einmal in Laconia, New Hampshire, gewesen ist: Als kleiner Junge, begleitet von seiner Mutter. Doch weil ihm die Achterbahn dort Angst machte, benahm er sich wie ein Feigling, und seine Mutter versetzte ihm eine schmerzhafte Kopfnuss. An so etwas erinnert man sich sein Leben lang.
Und jetzt liegt sie im Krankenbett, mit einem Schlagfall, und Al denkt, sie ist tot, und er ist schuld daran. Klar, denn der Tote im Mustang war sein Alter Ego, und es stellte ihn vor die Wahl: Wenn ich dich hinbringen soll, musst du wählen: Wer soll leben – du oder deine Mutter? Und nun, als Alan vor dem Zimmer steht, in dem seine Mutter liegt, weiß er es einfach…–
Stephen King hat eine wunderbare Geschichte über Schuld, Angst und Versöhnung geschrieben. Sie lässt einen auch nach der Lektüre nicht mehr los. Ständig hat man diese Szene im Mustang des Toten im Sinn. Sie hat ihr Gegenstück in der Szene, als Alan an das Krankenbett seiner Mutter treten muss. Dazwischen liegt ein ganzes Leben, ein Alptraum, eine immense Spannung, die diesem kurzen Stück Prosa seinen besonderen Reiz verleiht.

14) Der Glüggsbringer

Eine wirgglich schöne Story, die King in einem Casinohotel in Nevada geschrieben hat – und dort spielt sie auch. Er schreibt also aus eigener Anschauung. Da ich selbst solche Casinohotels von innen kenne, kann ich die Akkuratesse seiner Beschreibung nur bestätigen.
Lernen Sie Darlene kennen, das seit fünf Jahren von seinem Ehemann verlassene Zimmermädchen, das nun Mutter zweier quengelnder Kinder ist, Paul und Patricia. Darlene ist so arm, dass sie Patsy nicht einmal eine Zahnspange kaufen kann, geschweige denn für Paul ein Asthmamedikament. Vom Leben gebeutelt, glaubt sie auch keineswegs der Notiz, die ein Hotelgast in Zimmer Nr. 322 hinterlassen hat: „Dieser Vierteldollar bringt Ihnen Glügg! Echt wahr! Sie haben Glügg.“ Warum sollte eine ausgebeutete Kreatur wie Darlene auf einmal Glück haben sollen, hm?
Kurz träumt sie sich in einen Spielertraum vom großen Glügg, wacht aber schließlich wieder auf. Als sie Feierabend macht, schenkt sie ihrem Sohn Paulie den Quarter, kaum hoffend, dass dieser damit etwas anfangen könne. Als Paul den Quarter in den erstbesten Einarmigen Banditen steckt, hört Darlene im Davongehen nur das neidischen Quengeln von Patsy, ihrer Tochter. Und dann das einsetzende Klimpern von ausgeschütteten Vierteldollars. Und es hört nicht auf zu klimpern…
Das ist natürlich eine Art Weihnachtsgeschichte, eine Wunscherfüllung. Aber sind das letzten Endes nicht alle Geschichten? Und diese bietet dem Band einen netten, geradezu versöhnlichen Abschluss.

Unterm Strich:

Dieser neue Storyband lohnt sich wirklich, zumindest für Freunde des literarischen Horrors. Die Vielfalt der Themen – klassische wie neue – und Formen sorgt für unterhaltsame Abwechslung. Dies sind zumeist keine Kurzromane wie in den „Langoliers“-Novellen. Einzige Ausnahme: „Die Kleinen Schwestern von Eluria“, das für Silverberg geschrieben wurde. In der Mehrzahl sind es Kurzgeschichten von klassischem Zuschnitt.
In seiner Einleitung mit dem Titel „Wenn man sich einer fast ausgestorbenen Kunstform widmet“ beklagt sich King mehr oder weniger deutlich, dass es für diese Form der Literatur kaum noch einen Markt gebe: Die Short Story, vor etwa 170 Jahren von E. A. Poe „erfunden“ und in berühmten Essays definiert, ist dabei auszusterben. Woran liegt’s? Das Publikum wird mit zunehmend dickeren Romanen versorgt, ja mit ganzen Trilogien und Zyklen. Sei’s drum. Die Short Story verlangt nach einem echten Könner des Metiers. King ist so ein Könner, und diese Sammlung – vielleicht seine letzte überhaupt – belegt dies in überzeugender Weise.
Ich habe fast jeden Text mit Genuss gelesen, insbesondere die kürzeren, denn die längeren waren mir meist bereits bekannt („Achterbahn“, „Eluria“). Der einzige Ausfall im gesamten Band ist ausgerechnet die Novelle, die der Originalausgabe ihren Titel gab: „Alles endgültig“ (Everything’s eventual). Und selbst darüber, ob dies ein Ausfall ist, lässt sich natürlich streiten. Jedenfalls hatte ich bei diesem Band kaum je das Gefühl, meine Zeit zu verschwenden. Und das ist ein sehr befriedigendes Gefühl.

_Michael Matzer_ (c) 2003ff
(lektoriell editiert)

Grace, Celia L. – Heilerin von Canterbury sucht das Auge Gottes, Die

_Historischer Kriminalroman_

Ein neuer Fall für Kathryn Swinbrooke, die Ärztin und Apothekerin aus Canterbury. Die Detektivin im Nebenberuf erhält diesmal gemeinsam mit ihrem Freund Column den Auftrag, einen kostbaren Saphir – das Auge Gottes genannt – wiederzufinden, der in den Wirren des Rosenkrieges verloren gegangen ist. Die Angelegenheit wird kompliziert, als sich erweist, dass Columns Leben in Gefahr ist, weil Feinde aus seiner Heimat – die schon lange seine Ermordung geplant haben – ihrem Ziel nun bedenklich nahe gekommen zu sein scheinen.

Spannung ist also bis zur letzten Seite garantiert. Die Story ist – wie schon bei Kathryns erstem Fall – in Bezug auf die historischen Details gut recherchiert. Besonders der Konflikt zwischen den Ärzten der Stadt und der Apothekerin und Ärztin Kathryn spiegelt die Situation des Umbruchs in den heilenden Berufen wider. Eine (ent)spannende Lektüre!

Rezension von _Barbara Stühlmeyer_ aus Karfunkel Nr. 18, Seite 58
Abdruck auf dieser Seite (powermetal.de) mit freundlicher Genehmigung des _Karfunkel-Verlages_

[Karfunkel – Zeitschrift für erlebbare Geschichte]http://www.karfunkel.de

Elisabeth Gössmann – Hildegard von Bingen – Versuche einer Annäherung

Elisabeth Gössmann gehört zu den ganz Großen in der Hildegard-Forschung. Mit unermüdlicher und nüchterner Leidenschaft arbeitet sie seit Jahrzehnten mit ihren theologisch-philosophischen Werken. Wir verdanken ihrer Arbeit wesentliche Erkenntnisse in Bezug auf Hildegards Selbstbild und ihre höchst eigenständigen theologischen Ansätze. Gössmann hat, um nur ein Beispiel zu nennen, die double voice theory auf ihre Werke angewandt und so herausgearbeitet, dass Hildegard, wenn sie beispielsweise frauenfeindliche Thesen in ihren Werken nennt, diesen keineswegs zustimmt, sondern sie gleichsam kontrapunktisch bearbeitet und in der Gegenstimme ihre eigene Theologie zu Wort kommen läßt.

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Cowell, Stephanie – Ballade des Falken, Die

Was für ein Mensch war eigentlich William Shakespeare? Wie hat er gelebt? Wie sah er aus? Was tat er, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, einen seiner zahlreichen Knüller der Weltliteratur zu schreiben, die noch heute unzählige Schüler im Englischunterricht je nach Einstellung in Schrecken oder Begeisterung versetzen?

Um es gleich vorweg zu nehmen: Die „Ballade des Falken“ ist keine Shakespeare-Biographie. Eigentlich geht es auch gar nicht so sehr um den berühmten Dichter, sondern um den Heranwachsenden Nicholas Cooke, den natürlich niemand kennt. Wie könnte man auch, denn Nicholas ist eine fiktive Person.

Die ersten Jahre seines Lebens verbringt Nicholas Tomkins – so heißt er eigentlich – in Canterbury, wo er als Fünfjähriger mit ansehen muss, wie sein Vater als Dieb hingerichtet wird. Seine Mutter sinkt in die Prostitution ab. Nick selber ist äußerst wissbegierig und träumt von einem Theologiestudium. Dieses wird ihm jedoch verwehrt, sodass ihm nichts anderes übrig bleibt, als bei einem unsympathischen Stellmacher in die Lehre zu gehen. Lange arbeitet Nick allerdings nicht bei ihm, denn bei einem Streit verletzt er seinen Meister so schwer, dass er glaubt, er habe ihn getötet. Daraufhin flüchtet der Junge aus der Stadt. Seine Mutter ist bei der Geburt eines Kindes gestorben.

Nicholas verschlägt es nach London. Dort findet er schließlich Zugang zu Schauspieler- und Dichterkreisen. Mit Kit Morley (Christopher Marlowe) geht er eine stürmische Beziehung ein. Der von ihm hochverehrte Dichter wird jedoch ermordet. Nicks ausgesprochenes Talent für das Theater bleibt nicht unverborgen, und so geht der Junge bei dem Schauspieler John Heminges in die Lehre. Über John lernt Nick Shagspere (Shakespeare) kennen und schätzen, der seine innere Zerrissenheit und Einsamkeit versteht und ihn liebevoll „mein Falke“ – daher der Titel des Romans – nennt.

Der rastlose Nick findet keine Ruhe. Sein teilweise extrem egozentrisches Handeln erweckt beim Leser bisweilen alles andere als Sympathie. Zwar verabscheute Nick seinerzeit die Tätigkeit seiner Mutter, was ihn aber nicht davon abhält, sich nun immer wieder mit Prostituierten einzulassen. John Heminges, in dessen Haus Nick lebt, ist ihm sehr wohlgesonnen und ständig bereit, Nick sein nicht immer vorbildliches Verhalten zu verzeihen. Der Junge selber hat ein eher gespaltenes Verhältnis zu Heminges. Dessen Frau bringt er jedoch ganz andere Gefühle entgegen. Die Beziehung scheitert aber am Pflichtgefühl von Rebecca Heminges.

Um am Krieg in Irland teilnehmen zu können, lässt Nick die Schauspieltruppe im Stich. Das verzeiht ihm John jedoch nach Nicks Rückkehr und gibt ihm sogar seine Tochter Susan zur Frau. Die Ehe geht aber dank Nicks unbeständigem Wesen in die Brüche. Mit John versöhnt sich Nick erst viel später wieder, als er seinen Kindheitstraum erfüllen kann, Priester wird und so seinen inneren Frieden findet.

Der in der Ich-Perspektive geschriebene Roman gibt einen ausführlichen Einblick in das England der Renaissance. Vor dem Hintergrund der politischen Auseinandersetzungen erhält der Leser Zugang zu der Welt des Theaters jener Zeit, insbesondere dem bekannten Globe Theatre. Die Personen, die Nick umgeben, sind fast alle historisch. Hier ist der dem Roman beigefügte Anhang positiv hervorzuheben, in dem diese Personen und die sozialen Umstände, die sie umgaben, kurz charakterisiert werden.

Der Roman ist gut zu lesen, bisweilen allerdings ein wenig zähflüssig. Rückblickende historische Gegebenheiten und Umstände wirken manchmal etwas steif und gekünstelt. Im Ganzen zeichnet sich die Erzählweise aber durch eine lebendige und anschauliche Sprache aus.
Das Ende ist für einen modernen Roman ein wenig ungewöhnlich und erinnert eher an eine mittelalterliche Erzählung, was den Reiz dieses Werkes eigentlich erhöht, es sei denn, man erwartet den „Standardschluß“, demzufolge der Held und seine Geliebte sich glücklich in die Arme sinken. Schön, dass es nicht immer so ausgehen muss.

Rezension von _Sabina Schult_ aus Karfunkel Nr. 18, Seite 58
Abdruck auf dieser Seite (powermetal.de) mit freundlicher Genehmigung des _Karfunkel-Verlages_

[Karfunkel – Zeitschrift für erlebbare Geschichte]http://www.karfunkel.de