Alle Beiträge von Kirsten Braselmann

Choi, Angela S. – Hello Kitty muss sterben

_Inhalt_

Fiona Yu hat es nicht leicht: Sie ist achtundzwanzig Jahre alt, gut bezahlte Anwältin in San Francisco, steht sicher auf eigenen Füßen respektive Zehn-Zentimeter-Absätzen – aber ihren Eltern, traditionsbewussten Chinesen, hat sie nichts entgegenzusetzen. Da kann sie hundertmal in Yale gewesen sein: Es wird jetzt allerhöchste Zeit zum Heiraten. Und da kommt natürlich nur ein Chinese in Frage. Fiona wird also von einem entsetzlichen, zermürbenden Date zum anderen geschickt, immer die Stimme des Vaters im Ohr, die ihr wie ein Mantra vorbetet: „Trag Lippenstift.“ „|Hai|, Daddy“, denkt Fiona sich. |Hai| bedeutet auf Kantonesisch je nach Tonlage „Ja“ oder „Fotze“.

Fiona steht etwas ratlos vor den sich häufenden Dates mit peinlichen Verlierern und der drohenden Heirat mit irgendjemandem, aber glücklicherweise trifft sie Sean wieder. Sean, der ihr auf der Schule gezeigt hat, dass man Gewalt am besten mit unverhältnismäßiger Gegengewalt begegnet. Er war immer schon faszinierend und beängstigend, und er hat sich in der Zwischenzeit noch weiterentwickelt. Inzwischen ist er betuchter Chirurg, der sich auf Wiederherstellung von Hymen spezialisiert hat und in seiner Freizeit seine Mitmenschen von unangenehmen Mitmenschen erlöst.

Fiona, die befürchtet hatte, dass sie als brave chinesische Ehefrau und Mutter als „Hello Kitty“ enden würde (ohne Krallen, ohne Zähne, ja, ohne Mund, selbst ohne Augenbrauen, um mal wütend zu gucken), wittert in Seans Nähe Morgenluft. Seine Unkompliziertheit, was den serienmäßig herbeigeführten Tod irgendwelcher Unsympathen angeht, wirkt befreiend auf sie. Schnell erweist sie sich als gelehrige Schülerin, doch noch während ihre Dates den Schrecken verlieren, zieht eine neue Gefahr am Horizont auf: Sean wird unmäßig in seinem Drang – und unvorsichtig. Wird er Fiona in die Abwärtsspirale mit hineinreißen, in der er selbst ins Bodenlose trudelt?

_Kritik_

Die ersten paar Seiten dieses Romans sind eine Winzigkeit gewöhnungsbedürftig, dann aber erledigt sich jede Form von Zweifel von selbst. Fiona hat als Gefangene zwischen der oberflächlichen amerikanischen Schicht der Besserverdienenden und dem starren Korsett des chinesischen Traditionalismus jedes Recht, so durchgeknallt zu sein, wie sie nur möchte. Es sind zwei Lebensstile voller Extreme, die hier aufeinanderprallen, und beide sind auf ihre Art abartig und indiskutabel, so wie Angela S. Choi das Ganze schildert: Fiona hat ungefähr die Wahlmöglichkeit zwischen Hölle und Fegefeuer, wie es scheint.

Zwar sind die Morde hier nicht wie etwa bei Ingrid Noll von zwingender Notwendigkeit und die Motive für alle nachvollziehbar, aber man versteht auf jeden Fall den Wunsch Fionas, sich aus ihrer ekelhaften Situation zu befreien, und als Sean-der-Serienkiller auftaucht, freut man sich fast ein bisschen für sie: Man kann sich halt nicht dauernd mit moralischen Zweifeln belasten, wenn man einen Alltag durchlebt, der einen ständig an die Grenzen der Belastbarkeit treibt.

Choi bedient sich einer bewunderungswürdigen Stilmischung: Gemäß dem Bildungsstandard ihrer Protagonistin, zeigt sich in den Sätzen der Ich-Erzählerin ein beachtlicher Wortschatz und ein breites Allgemeinwissen, gemäß ihrem Geisteszustand jedoch ist das Ganze durchsetzt mit einer derartig schnoddrigen Rotzigkeit, dass man hin und wieder schlucken muss, ehe man sich daran gewöhnt hat. „|Hai|, Daddy“ …

Das Buch springt dem Leser förmlich ins Gesicht: vorm Aufschlagen bereits durch das aufdringlich-grelle Pink, und beim Lesen erst recht durch die bitterböse, ironische, moralisch indiskutable und doch so verständliche Abrechnung mit all den Widerlichkeiten und Widrigkeit des Alltags der Fiona Yu.

_Fazit_

„Hello Kitty muss sterben“ ist rabenschwarz und mit Abstand der zynischste Erstling, der mir je untergekommen ist, trotz all des Pinks. Nach kurzer Gewöhnung fühlt man mit der Protagonistin und lacht sich atemlos durch die rasanten Kapitel, die an Absurdität ihresgleichen suchen. Ich warte gespannt auf weitere Werke der Autorin, auch wenn ich zwischendurch wieder etwas anderes lesen muss, um mich meiner Werte zu vergewissern. Lesen!

|Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
Originaltitel: Hello Kitty Must Die
Aus dem Amerikanischen von Ute Brammertz
ISBN-13: 978-3630873398|
[www.luchterhand-verlag.de]http://www.luchterhand-verlag.de
[www.angelaschoi.com]http://www.angelaschoi.com

Pratchett, Terry – Club der unsichtbaren Gelehrten, Der

_Inhalt_

Nutt hat einen ordentlichen Beruf. Oder – na ja, er hat einen Beruf. So in der Art. Er arbeitet jedenfalls in den Kellergewölben der Unsichtbaren Universität und tropft dort die Kerzen vor. Das muss gemacht werden; wer will denn schon in großen alten Leuchtern Kerzen sehen, die nagelneu wirken?

Nutts Kollegen sind überwiegend Geschöpfe, bei denen es für den Rest der Welt besser ist, wenn sie den Großteil ihrer Tage in irgendwelchen Kellergewölben verbringen. Und Nutt selbst …? Er weiß nur, dass er sich als nützlich erweisen muss. Und er muss zuvorkommend sein und höflich. Das hat ihm die Lady gesagt, und die Lady ist gut zu ihm gewesen.

Dann jedoch führt Nutts Weg über Trevor hinauf ins Tageslicht. Trevor ist sein Chef und er findet Gefallen an dem fleißigen kleinen … Kerl. Nutt lernt die Köchin Glenda kennen, und plötzlich überstürzen sich die Ereignisse, vermischen sich die streng getrennten Welten von Dienerschaft und Professoren der Unsichtbaren Universität. Fußball mischt sich (wie überall) plötzlich auch hier ins beschauliche Leben und fordert Aufmerksamkeit, und zwar in besonders unangenehmer Form: Wenn die Zauberer nicht schnell eine Mannschaft ins Leben rufen, verlieren sie den Anspruch auf eine großzügige regelmäßige Zuwendung. Und da das bedeutete, dass die Mahlzeiten weniger üppig ausfielen, sind die zerstreuten Herren alle mit von der Partie.

Trevor kennt sich aus mit Fußball, sein Vater war eine Art Lokalheld und hat auf dem Feld sein Leben gelassen. Trevor kennt sich allerdings auch super damit aus, sich um Arbeit herumzudrücken, während Nutt sich besonders gut mit eigentlich fast allem auskennt und obendrein Organisationstalent besitzt. Glenda kennt sich speziell in ihrer Küche gut aus, nutzt aber den Rest ihrer Talente, um andauernd für andere einzutreten und jemandem gründlich die Meinung zu sagen. Ohne es zu wissen, steuern sie alle gemeinsam eine Geschichte an, die größer ist als alles, was sie sich je erträumen konnten.

_Kritik_

Pratchett ist wieder da! Alle seine Fans laufen also wieder tagelang kichernd mit dem Buch durch die Gegend und zitieren andauernd daraus. Eine schöne Zeit, außer für jene, die nicht schnell genug weglaufen können.

Aber im Ernst: „Der Club der Unsichtbaren Gelehrten“ ist wie gehabt großartig. Pratchett bereichert seine schon sehr detaillierte Scheibenwelt um ein weiteres Fragment, indem er die Seite der Dienerschaft in der Unsichtbaren Universität schildert, die bisher noch nie vorkam. Die pragmatische, mütterliche Glenda erinnert vom Wesen her ein bisschen an Sam Mumm, und in die Fußballgeschichte mischt sich mittels zweier junger Menschen zwischen den verfeindeten Fan-Fronten ein Hauch von Romeo und Julia.

Wie genau die Zauberer beim Fußballspielen wirken, kann man Leuten, die Pratchett noch nicht kennen, keinesfalls erklären. Und jene, die Pratchett kennen, haben zwar eine ungefähre Vorstellung, möchten aber mit Sicherheit selbst lesen, was geschieht, von daher an dieser Stelle nur der Vermerk, dass die Unterzeichnete herzlich gelacht hat. Das Geheimnis um die Existenz von Nutt zieht sich quasikriminalistisch durch den ganzen Roman und verleiht der Geschichte einen unheimlichen Touch.

Eine ganze Reihe altbekannter Figuren bekommt in diesem Roman erstmals mehr Tiefe verliehen; Lord Vetinari werden einige Facetten hinzuaddiert, Erzkanzler Ridcully läuft zu voller Form auf und Ponder Stibbons erhält bedeutend mehr Tiefe.

Über Stil muss man wohl kaum noch ein Wort verlieren: Pratchett ist einfach ein Meister der mehrfachen Verneinung und der subtilen Neuverortung altbekannter Worte bzw. Silben; wie bei „Boggle“ schüttelt er einen Würfel voller Buchstaben und erschafft daraus etwas, auf das man schrecklich gern selbst gekommen wäre. Ein Wort noch zur deutschen Ausgabe: Der neue Übersetzer hat insgesamt einen guten Job gemacht. Etwas, das so derartig voller Wortwitz und Neologismen steckt, ohne Verluste von einer Sprache in die andere zu transportieren, ist eine heikle Angelegenheit. Im Ganzen ist das sehr gut gelungen; dass sich jetzt aber Ridcully und Vetinari auf einmal siezen, ist ein schmerzhafter Bruch mit den Regeln und hätte nicht sein müssen.

_Fazit_

Lesen. Unbedingt lesen. Pratchett ist einer der einfallsreichsten Autoren der Gegenwart, und das Leben ist ohne seine Werke ärmer.

|Broschiert: 512 Seiten
Originaltitel: Unseen Academicals
Aus dem Englischen von Gerald Jung
ISBN-13: 9783442546732|
[www.randomhouse.de/manhattan]http://www.randomhouse.de/manhattan
[www.terrypratchett.co.uk]http://www.terrypratchett.co.uk

_Terry Pratchett bei |Buchwurm.info|:_
[„Heiße Hüpfer“ (Lesung) 6295
[„Das Licht der Phantasie“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id___book=208
[„Das Erbe des Zauberers“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id___book=218
[„Maurice, der Kater“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id___book=219
[„MacBest“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id___book=236
[„Gevatter Tod“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id___book=237
[„Eric“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id___book=239
[„Schweinsgalopp“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id___book=241
[„Wahre Helden“ 247
[„Wachen! Wachen!“ 253
[„Wachen! Wachen!“ (Hörbuch) 787
[„Rincewind, der Zauberer“ 259
[„Kleine Freie Männer. Ein Märchen von der Scheibenwelt“ 1034
[„Kleine freie Männer“ (Hörbuch) 2310
[„A Hat Full of Sky“ 1842
[„Ab die Post“ 2122
[„Pyramiden“ (Hörbuch) 2615
[„Trucker“ (Nomen 1, Hörbuch) 2998
[„Wühler“ (Nomen 2, Hörbuch) 3906
[„Lords und Ladies“ (Hörbuch) 3160
[„Gefährliche Possen und andere Erzählungen“ (Hörbuch) 3406
[„Schweinsgalopp. Das illustrierte Buch zum großen Film“ 4614
[„Ruhig Blut!“ (inszenierte Lesung von der Scheibenwelt)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6428

Perplies, Bernd – Für die Krone (Magierdämmerung 1)

_Die |Magierdämmerung|-Reihe:_

01 _“Für die Krone“_
02 „Gegen die Zeit“ (Februar 2011)
03 – nur angekündigt –

_Inhalt_

London im Jahre 1897: Jonathan Kentham ist Reporter. Seine momentanen Bestrebungen gelten außer dem Verfassen guter Artikel, vor allem der Hoffnung, vor den hübschen Augen einer gewissen Miss Elizabeth ein gefälliges Bild abzugeben. An und für sich sind das schon zwei erfüllende Aufgaben, aber dann geschieht etwas, das jede Menge Zeit und Nerven Jonathans in Anspruch nimmt: Ein älterer Herr wurde offenbar überfallen und übergibt ihm nachts in einer Gasse sterbend einen Ring, und ab da ist nichts mehr wie zuvor. Eine völlig neue Welt tut sich vor Jonathan auf, eine Welt, die zugleich mit der ihm bekannten Realität existiert – eine andere voller Magie und Gefahren, die er sich nicht hätte träumen lassen. Glücklicherweise stehen ihm von Anfang an einige Vertraute des Toten zur Seite, die ihm erklären können, was er noch nicht versteht. Andererseits wirbeln sie sein normales Leben kräftig durcheinander, und verschiedene Dinge erschließen sich auch ihnen nicht, denn es ist eine Zeit der Veränderung, in der Jonathan die Augen geöffnet werden: Etwas hat die Eingeweihten aufgeschreckt, denn der Fluss der Magie ist unruhig, zu heftig. Hat das mit der Rivalität zwischen zwei politisch konträren Gruppierungen unter ihnen zu tun, oder handelt es sich um eine ältere, urtümlichere Bedrohung?

Während in London verschiedene Personen verzweifelt herauszufinden versuchen, was geschehen ist, fragt sich das in den schottischen Highlands auch ein anderer Magier, der alte Giles McKellen. Er macht sich auf den Weg nach London, um sich mit einem alten Freund zu beraten. Kendra, seine siebzehnjährige Enkelin, begleitet ihn auf diesem Weg, wiewohl ihm das ganz und gar nicht behagt. Aber was soll er machen? Das Kind hat angefangen, mit Magie herumzupfuschen, obwohl es davon fast nichts versteht. Und so nimmt er sie zaudernd unter seine Fittiche – er ahnt, dass die Reise gefährlich wird. Wie gefährlich jedoch, hat er sich beim besten Willen nicht ausmalen können …

_Kritik_

Die Welt der Magie, die sich dem Leser hier darstellt, ist eine sorgfältig erdachte Mischung aus Gesetzmäßigkeiten und bunter Anarchie an jenen Stellen, an denen die magische Intensität zu groß wird. Die Szenen am Anfang, die wohl dazu gedacht sind, dem Leser klarzumachen, wie genau man sich die Eigenheiten dieser anderen Welt zunutze machen kann, erfüllen diesen Auftrag hundertprozentig; das eine oder andere erzeugt so deutliche Bilder, dass man quasi die Verfilmung schon vorm inneren Auge hat. Allerdings bräuchte man dafür jede Menge Spezialeffekte.

Das viktorianische London, das Perplies als Schauplatz gewählt hat, ist zusammengestrickt aus jeder Menge Intertextualität: Hier bastelt jemand die „Nautilus“, dort läuft das lebendige Vorbild Sherlock Holmes‘ herum. Das ist fast immer lustig und charmant gelungen, und wenn man sich auch leise seufzend fragt, ob denn nie ein Rabe jemals irgendwo anders heißen wird als „Nevermore“, so hat man das doch bald wieder vergessen, unter den vielen neuen Eindrücken. Perplies‘ Magierwelt ist spannend und rau, voller Typen, die nicht lange fackeln, und für den bedauernswerten Jonathan erstens voller Feinde und zweitens voller Freunde, neben denen er eigentlich gar keine Feinde mehr bräuchte. Die Charakterbildung gerade jener erwähnter Freunde ist übrigens ziemlich gut gelungen.

Und so war ich dann am Ende des Buches kurz davor, vor Frust in die Tischplatte zu beißen, weil mir aufging, dass es sich um Band eins von drei handelt und dass der Moment, in dem es dann richtig abgeht, Februar 2011 sein wird. Und dann folgt wieder die Wartezeit auf Band drei – „schön“ geht anders, aber man hat ja auch die Pocken überlebt.

_Fazit_

„Magierdämmerung. Für die Krone“ ist ein gelungener Auftakt zu einer Fantasyserie der etwas anderen Art: Erfrischenderweise findet hier kein Halbwüchsiger erstens ein seltsames Schwert und zweitens heraus, dass er ein Thronfolger ist oder so. Stattdessen ist das viktorianische London liebevoll gezeichnet, und die magische Alternativwelt fügt sich harmonisch hinein. Wenn die Serie so weitergeht, wie sie angefangen hat, wird sie rundherum zu empfehlen sein.

Also warten wir auf Februar und hoffen das Beste – speziell auch für Jonathan, für den wirklich alles schiefläuft.

|Broschiert: 448 Seiten
ISBN-13: 9783802582646|
[www.egmont-lyx.de]http://www.egmont-lyx.de
[www.bernd-perplies.de]http://www.bernd-perplies.de

_Bernd Perplies bei |Buchwurm.info|:_
[„Sohn des Fluchbringers“ (Tarean 1)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5678

Interview mit Jens Schumacher

_Interview mit Jens Schumacher, 50 Prozent des Autorenduos des „Elbenschlächter“ und des „Orksammler“, auf der Frankfurter Buchmesse 2010_

Jens Lossau (durch Krankheit leider verhindert – Schande über dich, Virus!) und Jens Schumacher haben zusammen eine Welt erdacht, die man definitiv mal kennenlernen sollte. Dass die beiden Autoren das zu zweit tun konnten und trotzdem etwas Homogenes dabei herauskam, liegt wohl vor allem daran, dass sie sich seit Sandkastentagen kennen und über lange Zeiträume hinweg dasselbe gelesen haben: Denkweise, Assoziationen und Humor ähneln sich so, dass das Endprodukt ihrer Bemühungen wie aus einem Guss wirk, während es gleichzeitig vom unterschiedlichen Talentschwerpunkt der Erschaffer profitiert.

Mehr zu diesen Themen in früheren Interviews (als Links schön zusammengefasst hier: http://lossaunews.blogspot.com/2010__04__01__archive.html und hier: http://lossaunews.blogspot.com/2010__05__01__archive.html ), jetzt gibt es ein paar neue Fragen – und zwar an Jens Schumacher. Auf die Behauptung hin, er und sein Kollege Lossau seien der Punk der Fantasy, hatte er einmal entgegnet, sie seien wohl eher der Heavy Metal der Fantasy. Äußerlich kommt das schon mal hin: von Kopf bis Fuß in Schwarz, bezopft und bärtig, mit Ringen an Ohr und Händen, hebt der Autor sich erfrischend von den ganzen Schlipsen ringsum ab. Man darf gespannt sein.

|Ihr erwähntet mehrfach, dass ihr gefragt wurdet, ob eure Bücher eine Art Schlag ins Gesicht der bisherigen deutschen Fantasy bedeuten sollen. Aus welcher Richtung kamen diese Fragen? Eher von Journalisten, oder hat sich tatsächlich mal ein empörter Autor gemeldet?|

Das waren witzigerweise eher Journalisten. Die Leser gehen eigentlich sehr cool damit um: Da kam bisher weder auf Veranstaltungen noch bei Leserrezensionen im Internet etwas Pikiertes zurück. Zwar gibt es auch ab und zu mal, etwa im Rahmen von Leserunden im Internet, Leute, denen nicht gefällt, was wir machen. Aber es kam niemand auf die Idee, das Buch sei eine Art Abrechnung mit der Fantasy. Von Autorenseite sogar noch weniger – da hatte ich eher den Eindruck (und wir stehen in Kontakt mit relativ vielen Autoren, Lossau und ich), dass diese zum Teil ein bisschen neidisch waren, weil wir einfach gemacht haben, worauf wir Lust hatten. Viele Autoren, gerade in der Fantasy, hätten durchaus ebenfalls mal Lust auf etwas wildere Stoffe, aber zuweilen muss man auf diesem Sektor eben gewisse Konventionen des Marktes bedienen oder bekommt vom Verlag gesagt: „Jetzt mach mal was mit Engeln“. Darauf pfeifen wir mit unseren IAIT-Romanen völlig. Einen Crossover aus Krimi und Fantasy gab es bisher nicht, das heißt, niemand konnte uns befehlen: „Jetzt macht mal so was!“ Und dass bei uns ab und zu ein paar Zähne fliegen oder Körperflüssigkeiten ausgetauscht werden, ist ja auch eher unüblich in diesem Genre. Doch: Die Autoren, mit denen wir bisher gesprochen haben, fanden unseren Ansatz cool. Aber wer weiß, vielleicht fällt unsere Kompromisslosigkeit auch irgendwann mal negativ auf uns zurück – beispielsweise, wenn die Reihe eingestellt wird, weil sie überhaupt nicht läuft! Ich denke, insgesamt waren das eher hypothetische Fragen, wirklich unterstellt hat man uns das nicht.

|Dass ihr zusammen schreibt, und das schon lange, ist klar. Was passiert, wenn ihr euch nicht einig seid, wenn einer eine Idee hat, die ihn begeistert, und der andere legt sein Veto ein? Müsst ihr beide allem hundertprozentig zustimmen, oder macht ihr Zugeständnisse?|

Wir einigen uns. Wir kennen uns mittlerweile über dreißig Jahre, und es gibt gewisse Bereiche, bei denen jedem klar ist, dass der andere mehr Ahnung davon hat. Lossau ist oft für das zuständig, was die Personen charakterlich ausmacht. Gerade bei Jorge merkt man einfach, dass da viel mehr Persönlichkeit drinsteckt als in Hippolit, der ein eher kontrollierterer Typ ist. Wenn ich auf die Idee käme, ein charakterisierendes Element zu kritisieren oder wenn ich einen Dialog, der den Charakter einer Person besonders transportieren soll, rausstreichen wollte, dann würden wir darüber diskutieren, und Lossau hätte wahrscheinlich das letzte Wort. Bei strukturellen Sachen dagegen, zum Beispiel, wenn ich sage: „Wir müssen hieraus zwei Kapitel machen und noch etwas dazwischenschneiden, sonst ist es zu lang, das will keiner lesen“, behalte tendenziell eher ich Recht, einfach, weil ich vierzig Bücher mehr geschrieben habe und mich ein bisschen mit so was auskenne. Hinzu kommt, dass wir unsere Bücher ja weit im Vorhinein konzipieren und dadurch Konflikten beim Schreiben aus dem Weg gehen können. Sobald wir am Ausarbeiten sind, gibt es ganz, ganz selten noch krasse Schwarz-Weiß-Entscheidungen zu treffen.

|Jetzt hast du es gerade schon angesprochen, dass Lossau eher am Feintuning der Charaktere feilt. Das ging aus bisherigen Interviews nicht klar hervor: Habt ihr die beiden Protagonisten zusammen erdacht, oder habt ihr sie aufgeteilt?|

Wir haben die Hauptfiguren tatsächlich beide zu gleichen Teilen konzipiert. Wie gesagt, bei Jorge ist in der Ausarbeitung dadurch, wie die Figur angelegt ist, noch mehr passiert, wo Lossau sich mit dem einbringen konnte, worin er besonders gut ist: Figuren memorabler zu machen und auch sympathischer – Jorge ist ja in all seiner Krudheit eigentlich eine sehr sympathische Figur, während Hippolit eher ein straighter Typ mit einem klar ausdefinierten Manko ist und gleichzeitig der Garant dafür, dass die Detektionshandlung vorankommt, damit es nicht nur Blödsinns- und Kneipenkapitel gibt.

Wir haben beide Hauptfiguren quasi auf dem Reißbrett entworfen und in der Ausarbeitung dann jeder schwerpunktmäßig eine davon übernommen. Lossaus Figuren haben meistens eine andere Art des Eigenlebens als meine. Das wäre auch, glaube ich, das Einzige, woran du, wenn du noch zehn Jorge-und-Hippolit-Romane gelesen hättest (die es momentan nicht gibt), auseinanderdividieren könntest, welche Passagen ursprünglich von wem stammen. Stilistisch gibt es ansonsten keine Unterscheidungsmerkmale mehr.

Als wir noch Kurzgeschichtensammlungen zusammen herausgebracht haben, kennzeichneten wir die einzelnen Geschichten nicht namentlich. Prompt gab es ein paar ganz Schlaue, die zuzuordnen versuchten, welche Story von wem stammte – und das war in allen Fällen falsch! Seitdem haben wir weiter an uns gearbeitet, und unsere Arbeitsweise bei einem gemeinsamen Roman ist selbstverständlich auch anders, als wenn wir allein schreiben. Ich habe in anderen Interviews schon gesagt, dass wir am Ende manchmal selbst nicht mehr wissen, was von wem stammt, weil wir so oft gemeinsam drübergegangen sind.

|Der erste Roman spielte in der Hauptstadt Nophelet, der zweite in der Totenstadt Torrlem, und wir haben zumindest schon von zwei Staaten erfahren, die an das Reich Sdoom angrenzen. Ist schon klar, wie groß das Ganze noch werden soll? Entwerft ihr eine komplette Welt?|

Wie ebenfalls schon verschiedentlich gesagt, bin ich kein großer Fan von Landkarten. Oder anders gesagt: Schon, schließlich lese ich Landkarten-Fantasy seit über dreißig Jahren. Aber ich bin der Ansicht, dass auf diesem Gebiet einfach alles gemacht wurde, was machenswert war. Hier wäre es aus meiner Sicht einfach sauschwer – und ich habe das im Jugendbuchbereich schon probiert, in einer Trilogie, wo es einen Großteil der Zeit um Questen und Rumgereise geht -, noch etwas richtig Originelles, Neues zu schaffen. Deswegen enthalten unsere Bücher keine Landkarten, deswegen ist die Geographie unserer Welt, auch wenn sie ab und an mal vorkommt, eher irrelevant für die Fälle an sich, um die es gerade geht.

|Dafür arbeitet ihr aber mit sehr ausdifferenzierten Beschreibungen.|

Ja, wir kennen unsere Welt auch sehr gut. Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass es vielleicht irgendwo Skizzen von Lorgonia gibt, aber tatsächlich wächst sie in den Details während der Handlung. Aber es ist bei uns definitiv nicht so, dass vorher DIN-A1-große Karten gemalt werden und man dann überlegt: Wo könnten sie jetzt noch hin? Nur einzelne Punkte standen von Beginn an fest, etwa, dass es irgendwo einen Stadtstaat geben sollte, in dem Zwerge wohnen, die ein sehr ausgechecktes Bankensystem errichtet haben und natürlich auch schürfen und irgendwelche Sachen unter Tage abbauen. Und dass dort irgendwann mal ein Roman spielen soll. Im kommenden dritten Band – denn erst dort wird er relevant für die aktuelle Geschichte – wird dieser Stadtstaat lokalisiert und seine Interaktion mit dem Rest des Königreichs dargestellt.

|Ihr habt ja beide häufig mit Coverillustratoren zusammengearbeitet. Und ihr habt eine sehr eindrucksvolle Tierwelt erschaffen – in den Romanen wuselt ja so einiges herum, dem man nicht nachts begegnen möchte, was aber sehr deutliche Bilder in den Kopf zaubert. Habt ihr mal drüber nachgedacht, einen Zeichner darauf anzusetzen?|

Eine Webseite mit lexikalischen Einträgen zu historischen Persönlichkeiten, Orten und eben Kreaturen wäre toll, ich hatte das damals schon zu meiner Fantasytrilogie „Ambigua“ angedacht. Leider gab und gibt es bei unseren Verlagen dafür momentan keinen Etat. Und selbst wenn man seine Illustratoren gut kennt, so wie wir, kann man nicht erwarten, dass jemand unentgeltlich aktiv wird. Schön wäre das natürlich schon, wenn es irgendwann mal so ein kleines Bestiarium gäbe – mit Matisrauden, Harschtipplern, Vulvatten und natürlich vor allem Krügerschweinen. Wie viele Anfragen haben wir schon bekommen nach Rezepten für gegrillte Krügerschweine!

|Du hast es gerade selber angesprochen mit der fiktiven Website und den Informationen zu den Romanen – ein paar Mal wurde bei Rezensenten der Wunsch nach einem Glossar laut, weil ihr ja doch so einige Worte habt, die keiner kennt, und die sind dann auch noch kursiv gedruckt. Habt ihr mit dem Gedanken gespielt?|

Da steh ich nicht so drauf. Was ich noch weniger mag, sind Personenlisten. Das kannst du bei Kinderbüchern machen, damit sich die Leser merken können, wer welche Figur ist. Ich finde es aber viel spannender, wenn sich die meisten ungewöhnlichen Bezeichnungen – bei uns zum Beispiel die Wochentage oder was die |Versiertheit| ist – dem Leser erst während der Lektüre des ersten Bandes nach und nach erschließen. Das Leseerlebnis in einer völlig neuen Welt ist spannender, wenn man kopfüber hineingeworfen wird: Die Dinge sind einfach, wie sie sind, ich muss selber dahintersteigen. Ich glaube indes nicht, dass wir mit unseren IAIT-Büchern diesbezüglich im oberen Drittel der Komplexität rangieren; der typische Fantasy- und SF-Leser ist doch ganz anderes gewöhnt. Und nach dem ersten Band („Der Elbenschlächter“) ist der zweite („Der Orksammler“) bereits viel leichter zugänglich. Das war der Plan: Wir zeigen die Welt aus der Sicht von Leuten, die darin aufgewachsen sind. Klar, dass Jorge nicht explizit denkt: „Born – der dritte Tag in einem zehntätigen Zyklus, der Zenit genannt wird; ein Zyklus umfasst 3333 Jahre“, sobald beispielsweise vom Blutigen Born im Jahre soundso des dritten Zyklus die Rede ist. Wen es interessiert, der stößt später ohnehin wieder darauf und kann sich allmählich zusammenreimen, was es damit auf sich hat.

Sicher hätte man zu einigen Ausdrücken ein Glossar anlegen können. Aber das hätte der lorgonischen Terminologie zu viel Relevanz eingeräumt – im Grunde ist das alles nur Beiwerk, das unsere Welt homogener machen soll. Ich glaube, das funktioniert auch ohne Verzeichnisse und Namenslisten.

Im Endeffekt sind unsere IAIT-Bücher dafür ja auch viel zu dünn. Wir haben extra eine typische Krimilänge gewählt und nicht das, was der unberufene deutsche Fantasy-Autor gern „episch“ nennt, wenn er mal wieder die Tinte nicht halten kann und 700 Seiten vollseiert mit etwas, das ebenso gut auf 350 gepasst hätte. Ich denke, am Ende vom „Elbenschlächter“ verstehst du auch so schon ziemlich viel von dem, was in Lorgonia abgeht.

|Magst du zum nächsten Band etwas sagen?|

Der dritte Band wird aller Voraussicht nach „Der Schädelbrecher“ heißen und im Zwergenmilieu spielen – und wie es bei uns mittlerweile üblich ist, werden wir dem Archetyp des Zwergs einige Facetten hinzuaddieren, die man so noch nicht kannte, sowohl physiognomisch als auch, was seine politische Gesinnung angeht oder wie er sich seine Zeit vertreibt. Der Roman wird erneut nicht in Nophelet spielen, auch wenn unsere beiden Ermittler am Anfang von dort aufbrechen, sondern in einem tief unter der Erde gelegenen Stadtstaat. Er wird der Krimi-lastigste der bisherigen drei Bände sein und sich nur um einen einzigen Mord drehen – allerdings einen Mord in einem von innen hermetisch verschlossenen Raum. Das bedeutet, wir streifen einen in der Kriminalliteratur sehr beliebten Topos, nämlich das Locked-Room-Mystery, und heben es in die Fantasywelt. Das Buch wird wieder ein gutes Stück anders werden als die vorigen, so wie das zweite etwas anders als das erste war. „Der Orksammler“ war beispielsweise viel fantasymäßiger, als es „Der Schädelbrecher“ werden wird: Da ging es um ein Monster, es wurde durch irgendwelche Wüsteneien geritten, es gab Heere und all solche Sachen. Das ist im „Schädelbrecher“ nicht der Fall. Es wird eher alles noch kleiner und noch komischer, es gibt noch mehr sonderbare Figuren – und ein Rätsel, das gelöst werden muss!

|Danke für das Gespräch.|

http://www.jensschumacher.eu
http://www.jenslossau.de
http://www.egmont-lyx.de

_Jens Schumacher/Jens Lossau auf |Buchwurm.info|:_

[„Der Elbenschlächter“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6361
[„Der Orksammler“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6615
[„Das Mahnkopff-Prinzip“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1957

Agus, Milena – Flügel meines Vaters, Die

_Inhalt_

Auf Sardinien gibt es ein paar traumhaft hübsche nebeneinander gelegene Grundstücke, von denen eines ans Meer grenzt. Die Bauherren der Gegend träumen von diesen Grundstücken und täten vieles, um sie in die Hände zu bekommen und ein paar praktische Bungalows darauf zu stellen, aber da macht ihnen Madame einen Strich durch die Rechnung. Madame ist keineswegs Französin, wie ihr Spitzname vermuten lässt, aber sie schwärmt für Frankreich und würde schrecklich gern einmal nach Paris reisen. Einstweilen aber begnügt sie sich damit, auf ihrem unendlich wertvollen Grundstück ein bescheidenes Hotel zu führen und Obst und Gemüse anzubauen, das tatsächlich nach etwas anderem als Wasser schmeckt.

Neben Madame lebt die Familie der Erzählerin – sie ist vierzehn und denkt sich gern Geschichten aus, die schöner sind als die Wahrheit. Sie kommt mit Madame gut zurecht, denn auch Madame versucht die Wahrheit zu beeinflussen, und zwar durch weiße Magie. Zur Familie gehören der Großvater, der einen besonderen Blick auf die Welt hat und meist das Gute sieht, und die Mutter, die nach dem Verschwinden des Vaters, der vor seinen Spielschulden geflohen ist, bettlägerig ist.

Der Mikrokosmos wird ergänzt durch eine weitere Familie mit nicht unproblematischen Mitgliedern und diverse Gäste bzw. Menschen, von denen Madame denkt, dass sie sie liebt. Sie hat ein großes Herz und jede Menge Liebe zu verschenken, aber es gibt so gut wie niemanden, der damit umgehen kann. Das übliche Auf und Ab im Leben, herzergreifend in all seiner Banalität und Wehmut, wird für die halbwüchsige Erzählerin überwacht von den Flügeln ihres Vaters – er ist tot, hat sie gehört, und seitdem kommt er manchmal spätabends ins Zimmer geflogen und bauscht die Vorhänge, bis sie die Decke berühren und wie seine Flügel wirken. Kleine Wunder geschehen in ihrer Nähe, und Beruhigung geht von ihnen aus. Ob sie auch helfen können, wenn ein Unglück geschieht und die kleine Oase in der unberührten Natur in Gefahr gerät?

_Meinung_

„Die Flügel meines Vaters“ kombiniert mit einem guten Schuss Zärtlichkeit Charaktere, die nicht besonders gut zusammenpassen. Manch einer leidet stumm unter seinem Nächsten, aber die räumliche Nähe lässt ein Ende dieses Leidens nicht zu. Träume und Ansichten reiben sich aneinander auf, und wäre da nicht die stille Toleranz im großen Herzen jener, die alles überblicken, wäre der kleine Ort am Meer ein viel hässlicherer Ort. Es ist anrührend, wie die Erzählerin sich ihre eigene kleine Welt zurechtsinnt und darin unauffällig vom Großvater unterstützt wird, der hinter die Fassaden zu schauen im Stande ist.

Die kurzen Kapitel des schmalen Bandes schildern unaufgeregt alles, von Alltäglichkeiten bis zum Abstoßenden, Absurdes mischt sich mit totaler Normalität, Leidenschaft mit Kälte, Zartheit mit Härte. Und über allem schwebt die Sehnsucht nach Liebe; sie durchsetzt die Atmosphäre des Buchs wie der Geruch von Lavendel die Luft über diesem Teil Sardiniens.
Trotz aller Schlichtheit und obwohl es so sachte formuliert, ist „Die Flügel meines Vaters“ ein Buch von Wucht; es bezirzt und umstrickt und weckt Fernweh. Die Kürze des Bändchens, der kleine Ausschnitt aus diesen verschiedenen Leben, der einige Erzählstränge zu Ende führt, viel mehr aber noch nur anreißt, andeutet und schließlich offen lässt, verführt den Leser dazu, nach dem Ende selbsttätig weiterzuträumen. Es ist ein spannendes kleines Werk voller lebensnaher Beschreibungen, ein Werk über Hoffnungen, Träume und menschliche Größe, über Ausbrechen, Fortgehen, Grollen, Heimkehren, übers Nachdenken und übers Verzeihen, über Prinzipien und über das, was das Herz bewegt.

_Fazit_

Milena Agus hat ein wunderschönes Buch geschrieben, das mit sanften Farbtönen ein realistisches und doch versöhnliches Bild von den Menschen malt. Da das kleine Werk nur hundertsechzig Seiten umfasst, kann man es jederzeit benutzen, um einen miserablen Tag zu retten oder sich kurz gedanklich an die Sonne und an den Strand Sardiniens zu versetzen, den Duft italienischer Kräuter einzuatmen und sich durch Madames Magie das Leben etwas schöner zaubern zu lassen. „Die Flügel meines Vaters“ ist hinreißend und rundherum empfehlenswert.

|Taschenbuch: 160 Seiten
Originaltitel: Ali di Babbo
Aaus dem Italienischen von Monika Köpfer
ISBN-13: 9783423139120|
[www.dtv.de]http://www.dtv.de
[Wikipedia – Milena Agus]http://de.wikipedia.org/wiki/Milena__Agus

Schami, Rafik – dunkle Seite der Liebe, Die

_Inhalt_

Damaskus, 1969: Über dem Tor der Pauluskapelle wird in dem Korb, in dem ein Märtyrer einst sein Leben aushauchte, ein Toter gefunden. Allerdings handelt es sich nicht um einen Christen, sondern um einen muslimischen Offizier. Kommissar Barudi steht vor einem Rätsel, das ihn reizt, in das er sich aber nicht verbeißen darf: Er wird von höherer Stelle aus zurückgepfiffen. Heimlich ermittelt er weiter und kommt dahinter, dass der Tote in Verbindung mit einer Familienfehde stand, die seit Generationen zwischen den Muschtaks und den Schahins tobt: 1907 nimmt eine blutige, traurige, unversöhnliche Geschichte ihren Anfang mit einer Liebe, die nicht sein darf, sich aber nicht darum schert und trotzdem blüht.

Der Beginn ist märchenhaft, doch der Preis ist hoch, denn wer von Hass und Rachegelüsten zerfressen ist, lebt selten glücklich bis an sein Lebensende. Auch die nächsten Generationen können sich aus den Banden der Feindschaft nicht lösen; sie saugen den Hass auf die andere Partei mit der Muttermilch auf, können gar nicht anders, als ihn als Naturgesetz zu betrachten. 1953 aber, als Farid Muschtak und Rana Schahin aufeinandertreffen, steht die Welt still in ihrem Lauf, hebt die Naturgesetze aus den Angeln und verwandelt für diese beiden Hass in Liebe.

Liebe allerdings hat es schwer in diesen Zeiten der Wut und der Rache, wo die innerfamiliäre Art der Auseinandersetzung mit Renegaten die politische des ganzen Landes widerspiegelt: Mit äußerster Gewalt wird durchgesetzt, was gerade Regel ist. Und Farid macht alles noch komplizierter, indem er zum Kommunisten wird: Er verrät nicht nur seine Familie, sondern obendrein die Regierung. Und während er für seine Überzeugungen in verschiedenen Gefängnissen unter der Folter zu leiden hat, ereilt Rana die Vergeltung des Clans – sie wird nicht wie ihre geliebte Tante erschossen, aber es wird ihr unmissverständlich klargemacht, dass Abweichler nicht geduldet werden. Was die Schahins jedoch nicht wissen, ist, dass es für Rana so lange Hoffnung gibt, wie sie und Farid am Leben sind. Irgendwann wird die Welt wieder innehalten und die Naturgesetze für sie ändern, denn Liebe ist größer als Hass. Der Tote von der Pauluskapelle ist ein Dominostein, einer der letzten in einer langen Reihe, die unausweichlich fallen mussten. Doch selbst Dominosteine können zu Stolpersteinen werden …

_Kritik_

Die lange Sage der beiden verfeindeten Familien bietet ein Gerüst für unendlich viele kleine Geschichten und Anekdoten, die ein facettenreiches, kunterbuntes Bild Syriens und speziell Damaskus‘ zeigen. Das Rot in all dem Kunterbunt ist leider meistens Blut, und so feinsinnig, amüsant und sanft manche der Geschichten sein mögen, so derb, brutal und abartig sind andere. Aber das ist gut so, es ist die Mischung, die die Faszination ausmacht, und wenn man gerade ganz nah an eine der Geschichten herangetreten ist, so trifft die nächste umso unmittelbarer, während man bar jeglicher geistiger Deckung ist.

Schami bietet Geschichten – nun, nicht für tausendundeine Nacht, aber doch immerhin für einige Nächte hintereinander, selbst, wenn man das Buch gar nicht weglegen mag. Er betört mit einem Stil, der die schrecklichsten Dinge wunderschön verpackt und liebevoll präsentiert, so dass man ihm danken möchte, während er eigentlich die Geißel in der Hand hält.

„Die dunkle Seite der Liebe“ ist Poesie in Prosa, wenn man so will: Es nimmt den Leser nach wenigen Seiten an der Hand und führt ihn weit, weit fort, stellt ihn neuen Freunden vor und zeigt ihm das hässliche Antlitz der Feinde. Man ist so nahe an den Figuren, dass man mit ihnen interagieren möchte, und das ist es einfach, was einen guten Erzähler ausmacht. Rafik Schami erzählt zauberhaft, knüpft aus tausenden unterschiedlicher Fäden von zart bis hart einen Teppich, auf dem die Gedanken fliegen lernen.

_Fazit_

„Die dunkle Seite der Liebe“ ist einer der ganz großen Romane der letzten Jahre. Dass der Autor vom ersten kläglichen Versuch als Jungspund bis zur Veröffentlichung 39 Jahre lang daran gefeilt hat, hat sich gelohnt. Zu Recht gibt es bisher so viele gute Kritiken, doch wurden auch andere Stimmen laut: Zu lang sei der Roman, zu unverständlich, man hätte locker fünfhundert Seiten rauskürzen können. Das ist, mit Verlaub, Schwachsinn. Wem tausend Seiten zu viel sind, der möge etwas anderes lesen. Wer hier mal eben fünfhundert Seiten fortkürzte, der beschnitte dieses Werk herab zu einem normalen Krimi bzw. einer normalen Familiengeschichte und zerbräche dieses unglaubliche Füllhorn an Bildern, Eindrücken und Anekdoten, und schon wäre die Welt wieder ein wenig ärmer. „Die dunkle Seite der Liebe“ ist wundervoll, so wie es ist.

|Taschenbuch: 1040 Seiten
ISBN-13: 9783423135207|
[www.dtv.de]http://www.dtv.de
[www.rafik-schami.de]http://www.rafik-schami.de

_Rafik Schami bei |Buchwurm.info|:_
[„Die dunkle Seite der Liebe“ (Lesung)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=2102
[„Märchen aus Lalula“ (Lesung)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=2868

Oelker, Petra – Nacht des Schierlings, Die

_|Rosina und Claes|:_

01 „Tod am Zollhaus“
02 „Der Sommer des Kometen“
03 „Lorettas letzter Vorhang“
04 „Die zerbrochene Uhr“
05 „Die ungehorsame Tochter“
06 „Die englische Episode“
07 „Der Tote im Eiskeller“
08 „Mit dem Teufel im Bunde“
09 „Die Schwestern vom Roten Haus“
10 _“Die Nacht des Schierlings“_

_Inhalt_

Hamburg, 1773: Das Leben ist kompliziert geworden für Molly, die Tochter des verstorbenen Konditormeisters, seit ihre Mutter wieder geheiratet hat. Nicht nur, dass sie ihren Vater vermisst – die Situation im ehemals so fröhlichen Haus ist angespannt. Der neue Meister versteht es blendend, sich in der Stadt Feinde zu machen, und so steht Weddemeister Wagner vor einem Rätsel mit vielen möglichen Antworten, als der leblose Körper des Mannes frühmorgens im Fleet entdeckt wird. Noch ehe sich tatsächlich herausstellt, ob der Mann einem Mord oder einem Unfall zum Opfer gefallen ist, fliegen die Gerüchte nur so durch die Stadt.

Rosina Vinstedt, ehemalige Komödiantin, nun verheiratete brave Bürgerin und Detektivin aus leidenschaftlicher Neugierde, muss einen doppelten Schlag verkraften: Der Fokus der Ermittlungen liegt ausgerechnet auf Muto, dem Akrobaten der Beckerschen Komödiantengesellschaft – auf dem Jungen also, den sie hatte aufwachsen sehen, der wie ein kleiner Bruder für sie war. Während Rosina wie eine Löwin kämpft, um den Verdacht von Muto abzulenken, erscheint auch ein anderer den hamburger Mitbürgern verdächtig: Claes Herrmanns, Rosinas Freund und Gönner, soll sich in jener Nacht eigentümlich verhalten haben, und hatte der Klatsch nicht einmal eine pikante Verbindung zur Stieftochter des Toten geschaffen?

Während der sonst so angesehene Kaufmann und seine reizende Frau Anne herausfinden können, wer tatsächlich ihre Freunde sind und wer plötzlich die Straßenseite wechselt, verstricken sich Wagner und Rosina immer tiefer in die Geschichte des toten Konditormeisters und finden heraus, dass es unter all den Schichten aus Klatsch noch etwas ganz anderes gibt. Speziell für den Weddemeister wird die Ermittlung aber zum Balanceakt, denn wo ein reicher Kaufmann verdächtigt wird, mischt sich gern die Politik ein und pfeift dem treuen Kettenhund, um ihn zu zeigen, welchen Weg er einschlagen soll. Und das mag Wagner so gar nicht …

_Kritik_

Rosinas zehnter Fall vereint all die liebgewordenen alten Freunde wieder: Die Gesellschaft, mit der die junge Komödiantin durch das Land gezogen war, nimmt einen längeren Aufenthalt in Hamburg und hat so jede Menge Möglichkeit, Probleme zu bekommen.

Es macht immer wieder Spaß, auf Petra Oelkers Pfaden durch das Hamburg des achtzehnten Jahrhunderts zu wandern; nicht nur, dass sie sich in ihren Beschreibungen an die Originalkarten hält, nein, sie beleuchtet immer neue Aspekte der damaligen Gesellschaft. Diesmal ist es besonders das Apothekerwesen, das sie bei ihrer sorgfältigen Recherche genau unter die Lupe genommen hat, und die Beschreibungen führen den Leser direkt in die dunklen Räume, in denen Medizin, Quacksalberei und Wunderglaube so nahe beieinander liegen.

Petra Oelker ist unnachahmlich gut in Beschreibungen; ohne aufdringlichen Lehrauftrag vermittelt sie interessant und nachvollziehbar Fakten, während sie ihre fiktive Geschichte erzählt. Eine weitere Stärke der Autorin sind die Charaktere; alle haben sie ihre kleinen Eigenheiten, die sie unverwechselbar machen, ihre Hoffnungen, Ängste, Wünsche, Stärken, Schwächen und Prinzipien. Und wenn diese Dinge bei Nebenfiguren auch nur kurz angerissen werden – denn Oelker verliert sich nicht in Nebensächlichkeiten -, so hat man doch immer das Gefühl, die jeweilige Person zu kennen.

Ein angenehmer, dem Genre des historischen Kriminalromans angemessener Stil rundet das durchweg positive Bild ab: Es gibt keine Stelle, an der man schmerzlich das Gesicht verziehen müsste, weil die Autorin sich im Tonfall vergriffen hätte. Nach zehn Fällen für Rosina hat sie da wohl auch Routine.

_Fazit_

Wer historische Romane auf hohem Niveau mag und Petra Oelker noch nicht kennt, sollte dieses Versäumnis schnellstmöglich korrigieren. Sie ist ganz klar eine der besten auf diesem Gebiet im deutschsprachigen Raum und verknüpft mit ihren Fähigkeiten Erzählkunst, Stilsicherheit, historisches Wissen und Menschenkenntnis zu immer neuen spannenden Abenteuern liebevoll ausgearbeiteter Helden.

|Taschenbuch: 480 Seiten
ISBN-13: 978-3499254390|
[www.rowohlt.de]http://www.rowohlt.de
[www.petra-oelker.de]http://www.petra-oelker.de

Rickman, Phil – Turm der Seelen, Der

_Die „Merrily Watkins“-Romane:_

01 „Frucht der Sünde“
02 [„Mittwinternacht“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6067
03 [„Die fünfte Kirche“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6283
04 _“Der Turm der Seelen“_
05 „Der Himmel über dem Bösen“
06 „Die Nacht der Jägerin“ (Januar 2011)
07 „The Smile of a Ghost“ (noch kein dt. Titel)
08 „Remains of an Altar“ (noch kein dt. Titel)
09 „The Fabric of Sin“ (noch kein dt. Titel)
10 „To Dream of the Dead“ (noch kein dt. Titel)
11 „The Secrets of Pain“ (noch kein dt. Titel)

_Inhalt_

Merrily Watkins, Beraterin für spirituelle Grenzfragen des Bistums Herefordshire, wird gleich zweimal um Hilfe gebeten: Die streng gläubigen Eltern der vierzehnjährigen Amy glauben, dass ihre Tochter besessen ist. Tatsächlich verhält sich das Mädchen ausgesprochen unnormal – aber ob tatsächlich das Böse dahinter steckt? Und in einem alten Hopfenturm soll es spuken. Der Besitzer bittet Merrily um einen Exorzismus.

Beide Geschichten entwickeln ein beunruhigendes Eigenleben, das Merrily nur nach und nach durchdringt. Die unheimliche Historie des Hopfenturms führt mehrere Generationen zurück bis zu Differenzen zwischen den Anwohnern und Saisonarbeitern der Roma, und nach und nach legt Merrily den Kern dessen frei, was nach so langer Zeit noch nach Rache sucht. Da man ihr Informationen vorenthält, gerät Merrily unvorbereitet in die Nähe von etwas, das überraschend stark, alt und unversöhnlich ist. Als wäre das nicht kompliziert genug, trifft sie Lol wieder, den sensiblen Musiker, den sie vor einiger Zeit getroffen und beinahe geliebt hätte. Ist es Zufall, dass er in der Gegend ist? Und inwieweit ist er in die Geschehnisse um den Hopfenturm verstrickt?

Kein Wunder, dass sie bei all dem Stress kaum Zeit hat, sich um ihre Tochter Jane zu kümmern. Die Sechzehnjährige hat eigene Probleme, mit denen sie sich herumschlagen muss. Eines davon betrifft Eirion, den stoischen Waliser, mit dem sie seit einigen Monaten liiert ist: Wie soll es mit ihnen weitergehen? Teils geht es Jane nicht schnell genug, teils wird es ihr zu rasant, zu erschreckend ernst mit dem Jungen. Und so ganz nebenbei stolpert sie auch noch in den zweiten Fall, den ihre Mutter zu bearbeiten hat: Die möglicherweise besessene Amy geht auf Janes Schule – und sie hat ein Geheimnis, das aus dem Ruder zu laufen droht …

_Kritik_

Der vierte Fall für Hochwürden Merrily Watkins bringt Dinge in Bewegung, die im letzten Band („Die fünfte Kirche“) auf der Stelle traten. Ab und an fragte man sich schon, ob Merrily irgendwann auch mal ein Erfolgserlebnis haben wird, und jetzt endlich erscheint sie mal ein bisschen souveräner. Lol wieder zu treffen, ist ein wenig wie das Wiedersehen mit einem alten Freund, aber ungleich spannender ist einmal mehr die Entwicklung Janes. Wie Rickman, der selbst keine Tochter hat, die komplizierten Prozesse im Innern einer Heranwachsenden darstellt, ist unglaublich. Mit Eirion ist ein passender Gegenpart zu dem impulsiven Mädchen geschaffen worden, und die alternativen spirituellen Strömungen zur anglikanischen Kirche unter den Jugendlichen in der englischen Provinz, sind einmal mehr nicht nur interessant dargestellt, sondern auch überraschend realitätsnah: Der Wiccaglauben ist die am schnellsten wachsende Religionsgemeinschaft der britischen Inseln momentan.

Rickman schreibt stilistisch sauber und dem unterschiedlichen Hintergrund seiner Protagonisten gemäß sowohl passend als auch originell. Die Geschichte der Roma-Arbeiter ist spannend und unmittelbar erzählt, und mit ihnen als Medium ist es fast noch einfacher als sonst, Rickman die untrennbare Verknüpfung von Wissenschaft und Übernatürlichem abzunehmen. Wobei das ja nie ein Problem war: Rickman schlingt die Stränge aus Alltäglichkeiten, kleinen Sorgen und Freuden, aus normaler menschlicher Niedrigkeit und aus Geistererscheinungen so sorgfältig umeinander, dass sie als homogenes Ganzes erscheinen und ein sehr eigenes, zwingendes Muster ergeben.

_Fazit_

Phil Rickmans Reihe um Merrily Watkins und ihre Tochter Jane ist eine gelungene Melange aus Mystery und Krimi, innovativ erdacht und gefällig niedergeschrieben. Die eine oder andere Länge verzeiht man gern, und „Der Turm der Seelen“ selbst hat mir noch einmal mehr Kurzweil bereitet als der vorangegangene Band der Reihe.

Wer sich unter der Mischung einer sehr bodenständigen Exorzismusbeauftragten und unerklärlichen Phänomenen noch nichts vorstellen kann, wer den kalten Schauer des Unheimlichen genauso mag wie die Introspektionen zweier sehr eigener junger Frauen, der sollte hier unbedingt zugreifen. Rickman ist ein sehr, sehr guter Erzähler, und seine Geschichten sind alles andere als alltäglich.

|Taschenbuch: 624 Seiten
Originaltitel: The Cure of Souls
Aus dem Englischen von Karolina Fell
ISBN-13: 978-3499253331|
[www.rowohlt.de]http://www.rowohlt.de
[www.philrickman.co.uk]http://www.philrickman.co.uk

Marten, Helena – Porzellanmalerin, Die

_Inhalt_

Meißen, 1750: Die Eltern der 20-jährigen Friederike eröffnen ihrer Tochter, dass sie einen wohlhabenden Kaufmann heiraten soll, um die verschuldete Familie aus der Misere zu retten. Das klingt ja alles soweit ganz logisch, aber das Mädchen mag den Mann nicht und findet es unfair, dass ihre Eltern, die sich selbst eine Liebesheirat erlaubt hatten, sie zu einem solchen Schritt zwingen wollen.

Außerdem könnte sie, wäre sie erst einmal verheiratet, wohl kaum mehr ihrer heimlichen Leidenschaft nachgehen, der Porzellanmalerei. Ihr Bruder Georg ist Porzellanmaler, verbringt seine Zeit aber lieber auf angenehmere Art und Weise als mit feinen Pinseln und Figuren, darum hat er nichts dagegen, wenn seine Schwester ihm heimlich die Arbeit abnimmt. Er bekommt das Lob, sie die Erfahrung, und damit sind beide zufrieden. Das ginge natürlich in der arrangierten Ehe nicht mehr, und auch mit ihrer heimlichen Schwärmerei für einen Freund des Bruders, Caspar Ebersberg, wäre es dann vorbei.

Mit einem Mal aber ist es nicht nur die drohende Ehe, die Friederike bedrückt: Georg benimmt sich zunehmend seltsam, ihre beste Freundin behauptet, auf einmal in ihn verliebt zu sein, und plötzlich sieht Friederike sich völlig isoliert. Statt sich aber in ihr Schicksal und in die arrangierte Ehe zu fügen, tauscht sie ihre Röcke gegen Hosen und die Identität der Friederike gegen die des Friedrich Christian Rütgers. Als Mann verkleidet macht sie sich auf nach Höchst, um bei der Konkurrenz Arbeit zu finden – die Manufaktur hier ist jünger als die in Meißen, und erfahrene Porzellanmaler werden immer gesucht.

Allein der Weg ist jedoch schon abenteuerlich, und Friederike geht schmerzlich auf, dass sie trotz Hosen noch immer eine Frau ist. Um ihr das vor Augen zu führen, braucht es nur einen mysteriösen Italiener und einen hilfsbereiten Fremden. In Höchst schließlich holt sie die Vergangenheit ein, auf eine Art und Weise, die sie sich in ihren Träumen nicht hat ausmalen können, und dann fordert ihre wahre Natur unerbittlich einen Tribut für die lange Zeit der Unterdrückung …

_Kritk_

Die Beschreibungen des Berufs eines Porzellanmalers, der Feinheiten der Farbgewinnung und der Schwierigkeiten, das richtige Verfahren für die Nutzung von Brennöfen zu finden, sind interessant zu lesen und gut gelungen. Hier haben die beiden Autorinnen, die sich hinter dem Pseudonym Helena Marten verbergen, bei der Recherche sorgfältige Arbeit geleistet.

Stilistisch ist „Die Porzellanmalerin“ kein Wunderwerk, aber man eckt auch nicht gedanklich an, während man sich durch die Geschichte einer schönen jungen Frau liest, die in Männerkleidern vor einer arrangierten Heirat flieht, sich in ihrem Beruf behauptet und verschiedene historische Persönlichkeiten trifft.

Habt ihr das Gefühl, dass ihr die Handlung kennt? Bei mir läutete da so etwas. Natürlich muss man zu derartigen Unkonventionalitäten Zugriff nehmen, wenn man eine Protagonistin haben möchte, während man doch über eine Zeit schreibt, in der den wenigsten Frauen etwas Beschreibenswertes geschah. Nur wenn man schon auf so ausgetretenen Pfaden wandelt, dann muss der Rest des Werks schon sehr überzeugen, um den Gesamteindruck zu retten, und das tut er leider nicht. Zu viele Klischees sammeln sich hier zwischen den Buchdeckeln: Die jahrelang als Mann überzeugende Heldin ist in ihrer Frauenrolle natürlich eine total feminine Schönheit, harte Schicksalsschläge wechseln sich ab mit wilden Leidenschaften, die Bösewichte sind wirklich total niederträchtig und schurkisch, die bösen Weiber schrecklich lasterhaft, während es selbstredend auf der anderen Seite die beste Freundin der Welt gibt und die einzig wahre große Liebe. Und einen sehr schlecht erzogenen König, ja, den auch. Von großer Stringenz in der Charakterbildung der Heroine kann leider ebenfalls keine Rede sein.

_Fazit_

„Die Porzellanmalerin“ ist ein Buch, an das man achselzuckend zurückdenkt, vielleicht mit dem Gedanken: „ganz nett“. Aber es ist wirklich nur etwas für seichte Stunden, zum Abschalten, vielleicht wenn man verkatert ist oder so, denn wenn man mit dem Anspruch herangeht, überzeugende Charaktere vor einer informativen historischen Kulisse kennenzulernen, wird man hier doch zuverlässig enttäuscht.

|Gebundene Ausgabe: 624 Seiten
ISBN-13: 978-3453290617|
[www.randomhouse.de/diana]http://www.randomhouse.de/diana

Lossau, Jens / Schumacher, Jens – Orksammler, Der

_Inhalt_

Meister Hippolit und der Troll Jorge sind alles andere als begeistert: Nachdem sie eben erst ihren wohlverdienten Urlaub angetreten haben, werden sie schon wieder zum nächsten Fall abkommandiert. Diesmal geht es in ein Grenzgebiet des Reiches Sdoom, in dem ein Heerlager auf Verstärkung wartet. Die hier versammelten Teile der Gesamtarmee sind bunt gemischt; dass das nicht ohne Reibereien abgeht, versteht sich von selbst. Aber die systematische Dezimierung, die das orkische Berufsheer gerade erfährt, lässt sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf rassische Differenzen zurückführen: Beinahe Nacht für Nacht verschwindet einer der Soldaten, um später mit geöffnetem Brustkorb und fehlendem Herzen aufgefunden zu werden.

Die Angst schleicht durch die Reihen des Heeres, Gerüchte werden laut: Nur ein magisches Wesen kann derart kampfgestählte Krieger reihenweise hinwegraffen. Ob der mysteriöse Orksammler sich erhoben hat? War das nicht eigentlich nur eine Sagengestalt, mit der Orkmütter ihrem ungezogenen Nachwuchs Angst einjagten? Aber was könnte es sonst sein?

Ehe totale Panik im Heerlager ausbrechen und den anstehenden Krieg gefährden kann, reagiert die Regierung in Nophelet und schickt das beste Ermittlerteam des |Instituts für angewandte investigative Thaumaturgie| an den Tatort. Und so landen Hippolit und Jorge in der Steinwüste vor Torrlem, der düsteren Totenstadt des sdoomschen Reiches. Und hier, zwischen zahllosen Leichen und panischen Noch-Lebenden, zwischen Drohung, Lockung und neuen Freunden, entfaltet sich langsam ein Fall von Archaik, Verblendung und totaler Gewissenlosigkeit, der die beiden Ermittler auf eine harte Probe stellt und sie in eine Gefahr bringt, mit der sie beim besten Willen nicht haben rechnen können und auf die sie so nicht vorbereitet waren …

_Kritik_

Das |duo congeniale| der neuen deutschen Fantasy ist zurück. Das ist schon mal schön. Schöner aber ist noch, dass „Der Orksammler“ den „Elbenschlächter“ noch einmal toppt: Während man sich im ersten Band erstmal ein wenig tastend in der neuen Welt voranbewegte, findet man sich in Band Zwei bedeutend schneller zurecht, auch, wenn der Schauplatz ein anderer ist; statt mit der wimmelnden Metropole Nophelet muss man sich hier mit der Friedhofsstadt Torrlem vertraut machen. Das fällt aber leicht: Die Beschreibungen der Wüste von Torr und vor allem der düsteren Totenstadt sind eingängig und beeindruckend bedrückend gelungen, und wie gehabt lassen die beiden Autoren sich keine Chance entgehen, um alltägliche Ekelhaftigkeiten zu schildern. In Verbindung mit der sorgfältig ausgearbeiteten alternativen Realität Sdooms (historisch, geographisch, biologisch, politisch) entsteht dadurch ein facettenreiches Hintergrundbild aus düster-bunten Farben, vor dem die beiden Protagonisten agieren. Das Zusammenspiel des feingeistig-nervösen Hippolit, der immerzu mit den Beeinträchtigungen durch seinen schmächtigen Albinokörper zu kämpfen hat, und des meist gutgelaunten, versoffenen Haudraufs mit dem goldenen Herzen Jorge ist ganz besonders gelungen und bereitet zuverlässig Vergnügen. Dass die beiden als Kollegen quasi eine Symbiose eingehen müssen und sich trotz aller himmelweiter Unterschiede doch zugetan sind, lässt für die nächsten Bände das Beste hoffen.

Mit der noch jungen Reihe der Kriminalfantasy um Hippolit und Jorge vom IAIT haben Lossau und Schumacher sich kein geringeres Ziel gesetzt, als die Möglichkeiten, die ein so regelloses Gebiet wie die Fantasy bietet, tiefer auszuschöpfen, als das bisher geschehen ist. Hinter diesen Punkt auf der To-do-Liste können sie schon mal einen Haken setzen: Die ersten beiden Fälle des Ermittlerduos pusten schon kräftig den Staub aus den Fantasyregalen, brechen starre Traditionen auf und zwingen den Leser, altbekannte „Wirklichkeiten“ (was ja im Bereich der Fantasy eigentlich Quatsch ist, bei Licht betrachtet), aus neuen Blickwinkeln in Augenschein zu nehmen. Und das ist nicht nur eine philosophische Herangehensweise, sondern auch ganz schön interessant und gut gemacht.

_Fazit_

Dem gibt es nur mehr wenig hinzuzufügen. „Der Orksammler“ bekommt einen Doppeldaumen und ihr von mir den Tipp: Lesen, lachen, weiterverfolgen. Es lohnt sich, ehrlich!

|Broschiert: 360 Seiten
ISBN-13: 978-3802582585|
[www.egmont-lyx.de]http://www.egmont-lyx.de
[www.jenslossau.de]http://www.jenslossau.de
[www.jensschumacher.eu]http://www.jensschumacher.eu

_Jens Schumacher & Jens Lossau bei |Buchwurm.info|:_
[„Das Mahnkopff-Prinzip (Magic Edition, Band 4)“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1957
[„Der Elbenschlächter“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6361

Margie Orford – Todestanz

Inhalt

Dr. Clare Hart geht einem schwierigen Beruf nach: Sie sucht vermisste Kinder. Häufig genug findet sie sie, und fast immer sind sie bereits tot. Ihr Job hinterlässt seine Spuren, aufhören kann sie indes nicht: Südafrika ist ein hartes Pflaster, und nachdem sie weiß, was tagtäglich geschieht, kann sie die Augen vor dem Elend nicht mehr verschließen.

Ein anderer, der das Elend kennt, ist Riedwaan Faizal, Polizist und Ermittler in einer Eliteeinheit, die sich dem Kampf gegen die Bandenkriminalität verschrieben hat. Diesem Kampf ist seine Ehe zum Opfer gefallen – seine Frau hat sich von ihm scheiden lassen, und als sie ihm eines Tages verweigerte, seine Tochter Yasmin zu sehen, hat er das Mädchen aus Verzweiflung entführt. Wie dumm das tatsächlich war, stellt sich heraus, als Yasmin eines Abends nach dem Ballettunterricht spurlos verschwindet: Niemand glaubt daran, dass Riedwaan seine Tochter nicht irgendwo versteckt hat, um ihren bevorstehenden Umzug mit der Mutter nach Kanada zu verhindern.

Margie Orford – Todestanz weiterlesen

Pirinçci, Akif – Felipolis – Ein Felidae-Roman

_|Felidae|:_

Band 1: „Felidae“
Band 2: „Francis“
Band 3: „Cave Canem“
Band 4: „Das Duell“
Band 5: „Salve Roma!“
Band 6: „Schandtat“
Band 7: _“Felipolis“_

_Inhalt_

Kater Francis hat eigentlich mit persönlichen Problemen zu kämpfen, als sein alter Freund Blaubart ihn auf eine Artgenossin aufmerksam macht, die in einer prekären Situation steckt: Die reiche und offenbar etwas schrullige alte Besitzerin eines Weltkonzerns hat ihre Katze Domino als Alleinerbin eingesetzt und ist dann gestorben. Das ganze riesige Anwesen wimmelt nun von wütenden Familienmitgliedern und wichtig wirkenden Anwälten, und Francis macht sich ein wenig Sorgen um die Erbin: Wie leicht ist so ein kleiner Katzenhals doch umgedreht, wenn das Tier das einzige Hindernis auf dem Weg zu Milliarden ist?

Er ist allerdings nicht die einzige Samtpfote, die sich auf den Weg zu der über Nacht reich gewordenen Katze macht: Zahlreiche Artgenossen tummeln sich bereits vor der großen Villa – aus deren drittem Stock plötzlich ein Zweibeiner stürzt und sehr tot auf einer Luxuslimousine liegen bleibt. Nun gibt es für Francis kein Halten mehr: Die Erbin muss beschützt werden! Doch er scheint der Einzige zu sein, der sich tatsächlich Sorgen macht: Der Großteil der anderen Katzen weiß offensichtlich sehr genau, wofür das Geld verwendet werden sollte. Und wo so große Summen im Spiel sind, lassen natürlich auch die Dosenöffner (= Menschen) nicht lange auf sich warten. Es entbrennt ein Streit unter militanten Tierrechtlern und Anwälten der Gegenseite, und darüber hinaus sieht Francis sich plötzlich von allen Seiten angegriffen. Was soll das, warum möchte man ihn so dringend tot sehen? Und was zur Hölle ist dieses „Felipolis“, von dem man miauend munkeln hört?

Dieser Fall für Francis hat es tatsächlich in sich; diesmal geht es um Weltpolitik und eiskalte Killer, die auf dem Weg zu ihrem Traumziel auf gar nichts mehr Rücksicht nehmen. Wenn das dem alternden Katerdetektiv mal nicht über den plüschigen Kopf wächst …

_Kritik_

Wer sich damals in „Felidae“ verliebt hat und seitdem die Abenteuer des naseweisen Kater (von Freunden wie Feinden treffend „Klugscheißer“ genannt) mit Spannung verfolgt hat, wird sich freuen, dass es endlich weitergeht. Wie gehabt sind Akif Pirinçcis Katzen sehr anthropomorphe Wesen, aber das tut dem Vergnügen keinen Abbruch. Der leicht angeberische, clevere Held wächst dem Leser mit seinen Schwächen und seinen Stärken schnell ans Herz, und dass ihn nun langsam einige Alterserscheinungen beuteln, macht ihn umso sympathischer. Der fluchende, kaputte Blaubart mit dem Herz aus Gold ist ein weiteres Highlight dieser Reihe.

Der Fall ist diesmal extrem verwickelt und reicht über Staatsgrenzen hinaus, bis in wissenschaftliche Grenzgebiete hinein und spielt mit archaischen Wünschen, die zwar insgesamt eher in der Welt der Homo sapiens sapiens auftreten dürften, aber nahtlos in die der Felidae übertragen werden können. Es ist ein schon fast weimarerisch anmutendes Politkuddelmuddel, das Pirinçci hier heraufbeschwört – aber was davon nun Schein und was Sein ist, wird erst nach und nach geklärt. Zwar gibt es schon früh deutliche Hinweise darauf, wie das eine oder andere Verbrechen zu erklären ist, aber die letztendlichen Zusammenhänge begreift man dann doch erst, wenn sie restlos aufgeklärt werden.

Der Stil ist natürlich der flapsigen Sprache Francis‘ angepasst und somit eine unterhaltsame Mischung aus Bildung und Gossensprache. Im Großen und Ganzen haben wir hier einen ausgefallenen, spannenden Krimi voller Schnurrhaare, Krallen und extraordinären Einfällen, bei dem sich der Leser schmunzelnd fragt, wie um alles in der Welt man bloß auf so etwas kommt.

_Fazit_

Wie schon mehrfach zuvor liefert Pirinçci wunderbare Unterhaltung: abwegig, manchmal düster, immer spannend und sehr, sehr interessant. Natürlich ist es hilfreich, wenn man den kleinen Samtpfoten auch im wirklichen Leben verfallen ist, Notwendigkeit dafür besteht aber nicht, da die vierbeinigen Protagonisten allesamt eine sehr menschliche Denkweise an den Tag legen.

„Felipolis“ ist wie seine Vorgänger sehr empfehlenswert, eine vergnügliche Lektüre wie ein beunruhigendes Zukunftsbild gleichermaßen. Gönnt euch den Spaß und lest es!

|Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
ISBN-13: 978-3453290976|
[www.randomhouse.de/diana]http://www.randomhouse.de/diana
[de.wikipedia.org/wiki/Akif_Pirinçci]http://de.wikipedia.org/wiki/Akif_Pirin%C3%A7ci

_Von Akif Pirinçci auf |Buchwurm.info|:_
[„Yin“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1112

Penalver, Mónica – Flamme und das Schwert, Die

_Inhalt_

Hispanien, frühes 8. Jahrhundert: Morvan de Bres, der für seine treuen Dienste unter Pelagius, dem Gründer des Königreichs Asturien, ein Lehen in den Bergen im Norden der iberischen Halbinsel zugesprochen bekommen hat, ist erst wenig begeistert: Der Großteil seines neuen Landes scheint vertikal, und die störrischen Bewohner stehlen ihm als erstes seine Pferde. Dem räuberischen Trupp gehört sogar eine junge Frau namens Lua an, der man den Mund mit Seife auswaschen sollte.

Morvan weiß leider nur zu gut, dass er sich mit den Bewohnern seines Landes arrangieren muss, um die Gegend vor den immer häufiger werdenden Angriffen der Araber zu schützen. Zähneknirschend willigt er also ein, eines der Mädchen des störrischen Clans zu ehelichen, um als einer der ihren akzeptiert zu werden. Aia, die ältere Schwester Luas, bringt dieses Opfer gern, verheißt es ihr doch sozialen Aufstieg. Und Morvan sieht ja auch sehr gut aus, da kommt es dem Mädchen nicht darauf an, dass er ein Westgote und damit streng genommen ein Feind ist.

Lua ist sehr wenig begeistert von der Aussicht auf diesen Schwager, und Morvan wiederum gerät wegen der kleinen Wildkatze von Brautschwester immer wieder in Wut. Und doch, irgendeine Macht, die sie beide nicht benennen können, zieht sie unwiderstehlich zueinander hin. Und als wären die dräuenden Angriffe durch die Mauren und ein verwirrendes Spiel der Gefühle nicht schon genug an Ärger, verfinstert zudem noch eine sehr persönliche Bedrohung den Horizont des neuen Lehnsherren: Eine Familienfehde überschattete bereits sein ganzes Leben, und nun hat der Feind ihn ausfindig gemacht …

_Kritik_

„Historischer Roman“, sagt der Einband. Das ist, um mit Günther Grass zu sprechen, ein weites Feld: Da gibt es die sehr sorgfältig recherchierten Romane, in denen ein großer Schriftsteller den Lücken zwischen den historischen Fakten mit Zauberhand Leben und Seele verleiht, da gibt es weiterhin die vielleicht ebenfalls sorgfältig recherchierten, in denen die Lücken mit Klamauk und Klischees gefüllt sind, und dann gibt es jene, die „historisch“ sind, weil sie irgendwann in der Vergangenheit spielen, die ein kurzes Gerüst skizzieren und dann stillvergnügt auf gänzlich eigenen Pfaden wandeln. Der vorliegende Roman gehört der letzten Gattung an: Im Vordergrund steht ganz klar die Romanze zwischen zwei nicht wirklich alltäglichen (um nicht zu sagen, leicht überzeichneten) Charakteren. Der Rest ist irgendwie Beiwerk, und sowohl im Hauptstrang der Geschichte wie in den Nebenarmen wird auf Altbekanntes zurückgegriffen: Der perfekte Krieger mit dem Herzen aus Stein. Das wilde Mädchen, schön und unbezähmbar. Wahnsinnig treue Freunde. Die weise alte Frau. Der Antagonist, der sein ganzes Leben der Zerstörung seines Feindes gewidmet hat.

Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen, aber es dürfte klar sein, worauf ich hinaus will. Und bis jetzt klingt alles sehr negativ – ist es aber nicht. Das altbewährte Rezept geht hervorragend auf, wenn man den Roman aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet: Er hat keinen Lehrauftrag, er ist schlicht Unterhaltung. Kurzweil, seicht und angenehm, schrecklich romantisch und in so einfachem Stil, dass man binnen kürzester Zeit damit fertig ist. Und das ist, man kann es kaum deutlich genug sagen, auch mal wieder klasse. Man kann nicht andauernd große Literatur lesen, und für die Zwischenzeit ist dieses Buch quasi perfekt: Es hat mich gar nicht geärgert, niemand hat zum Beispiel aus Hörnern getrunken, trotz Frühmittelalters wird fast überhaupt nicht vergewaltigt, und niemand sagt andauernd schreckliche Dinge wie „holde Maid“ oder so. Dafür gibt es jede Menge Missverständnisse, Aussprachen, dunkle Gefühlswallungen und seufzende Küsse, und da verzeiht man auch schon mal so biologische Bedenklichkeiten wie die Person, die mit einem Schwert im Herzen noch all die Reden schwingen kann, die man noch schwingen muss, ehe man abtritt. „Die Flamme und das Schwert“ ist deshalb ein sympathisches Buch, weil es sich selbst nicht ernster zu nehmen scheint als es ist.

_Fazit_

Dieser Roman ist keine große Literatur. Wirklich nicht. Aber er ist ein herrlicher Schmöker, ein furchtbar romantisches Stück Unterhaltung, und wer einen geistig anstrengenden Tag hinter sich hat und bei an die Scheiben trommelndem Regen unter die Decken gekuschelt die Gedanken sachte abdriften lassen möchte, kann hier überhaupt nichts falsch machen.

|Taschenbuch: 352 Seiten
Originaltitel: La espada y la Ilama (2008)
Aus dem Spanischen von Daniela Pérez y Effinger
ISBN-13: 978-3499253850|
[www.rowohlt.de]http://www.rowohlt.de

Cossé, Laurence – Zauber der ersten Seite, Der

_Inhalt_

Es gibt Träume, die bestimmte Menschengruppen verbinden. Man muss nicht über sie reden, aber sie sind da. Und dann, eines Tages, wenn jemand sie erwähnt, strahlen die Gesichter der Ähnlichdenkenden auf, und die allgemeine Antwort ist: Das habe ich immer schon gewollt.

Ein solcher Traum vieler Bücherwürmer ist eine Buchhandlung, in der man nicht nach guten, anrührenden, lebensverändernden Büchern suchen muss, weil das ganze Sortiment nur solche Perlen umfasst. Ivan Georg, seines Zeichens idealistischer Buchhändler, und Francesca Aldo-Valbelli, betuchte Bibliophile, wagen es, diesen Traum in die Realität umzusetzen. Die Bücher werden von einem streng geheim gehaltenen Komitee ausgewählt, das sich aus großen Schriftstellern zusammensetzt.

Die Reaktionen auf das neue Geschäft „Der gute Roman“ in Paris sind zwiespältig: Die Freunde guter Bücher kommen gern, kaufen viel, verlieren sich lesend zwischen den Regalen und den Realitäten, bis man sie sanft in die Wirklichkeit zurückholt und auf den Ladenschluss hinweist. Aber wie üblich gibt es auch die Gegenstimmen: Wer sich denn erdreiste, gute Bücher von anderen zu unterscheiden? Warum sei dieses oder jenes Buch nicht im Bestand? Was seien das überhaupt für Menschen, die dieses elitär-faschistische Denken in die Buchwelt brächten?

Die Idealisten sehen sich plötzlich von einer Welle wilder Diffamierungen und persönlicher Anfeindungen überrollt, mit der sie nicht gerechnet hatten, und dann werden einzelne Komiteemitglieder physisch angegriffen. Wer hat ein Interesse daran, Buchliebhabern zu schaden? Der belesene und daher in diesem Fall sehr eifrige Kommissar Heffner taucht ein in eine Welt aus Worten, Schein und Sein …

_Kritik_

Kennt ihr diese Art Bücher, bei deren Lektüre ihr euch erst wieder in der Wirklichkeit zurechtfinden müsst, wenn ihr mitten im Lesen aufschaut, weil ihr ganz weit fort getragen wart? Das hier ist eines davon. Wer ein gutes Buch liebt und um seine Macht weiß, begrüßt den Einfall der spezialisierten Buchhandlung natürlich jubelnd, und der Kampf, der um sie tobt, geht entsprechend unter die Haut. Aber oh, das ist ja nur der Anfang! Die Charaktere sind aufs filigranste geschnitzt – man ist sofort befreundet mit dem für seine Ideale lebenden Ivan und mit der ätherisch-traurigen Francesca, die in behutsamer Weise und mit unglaublich schönen Bildern beschrieben werden. Wie die Lebensgeschichten sich auf den Punkt hinbewegen, an dem letztendlich die Anschläge geschehen und die Polizei eingeschaltet wird, ist trotz aller Stille und Unaufgeregtheit herzzerreißend spannend gemacht.

Die Büchervernarrtheit der Autorin spricht aus jeder Seite; man nimmt Anregungen über Anregungen mit, und wenn ein bestimmtes Buch mit den wärmsten Tönen bedacht wird, setzt man es sofort auf die geistige Liste. Das war in diesem Falle für mich besonders spannend, als es sich häufig um französische Bücher handelt, von denen ich nur wenige kenne. Die angesprochenen internationalen Klassiker allerdings lassen vermuten, dass es sich auch bei den erwähnten Franzosen um wirkliche Kleinode handelt.

Aber Geschichte, Charaktere, wundervoller Stil und Anregungen sind nur die Einzelteile dessen, was „Der Zauber der ersten Seite“ ausmacht: Es berührt Geist und Herz, erfüllt mit Energie, macht traurig und glücklich, kurz: Es schneidet in dein Leben ein. Es ist eines dieser Bücher, zu dem man greifen kann, wenn man sich ansonsten den Strick nähme, von seiner Wirkung – wenn auch nicht vom Inhalt her – ist es direkt neben Alice Walkers „Im Tempel meines Herzens“ anzusiedeln. Es ist ein |gutes| Buch: Das Gute ist darin, und Güte strömt heraus, und es hebt empor und dämpft und tröstet, alles auf einmal. Es umschmeichelt den gesamten Menschen. Es ist ein so liebevolles Stück Literatur, dass mir wirklich und tatsächlich die passenden Worte fehlen. Man kann ihm nicht gerecht werden, indem man es zu beschreiben versucht.

_Fazit_

„Der Zauber der ersten Seite“ schoss binnen kürzester Frist in meine Ewigen Favoriten. Ich werde es hundertmal verschenken, aber ich werde nie zulassen, dass ich kein Exemplar besitze. Es ist eines der wundervollsten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, und ich werde es wieder lesen, bis ich es auswendig kann. Als ich es zugeklappt habe, hatte ich das Gefühl, ein lieber Freund sei eben weggegangen. Laurence Cossé ist eine Magierin an der Feder, und sie muss einen beeindruckend schönen Geist haben. Lesen, Leute, lest es – vor der Lektüre dieses Buches ist euer Leben ärmer als danach!

|Gebundene Ausgabe: 464 Seiten
Originaltitel: Au bon roman (2009)
Aus dem Französischen von Doris Heinemann
ISBN-13: 978-3809025900|
[www.randomhouse.de/limes]http://www.randomhouse.de/limes

Schriever, Tomke – Totenschiffer, Der

_Inhalt_

Bei Leer in Ostfriesland wird ein ermordeter Mann gefunden. Der Täter scheint aber nicht einfach nur den Tod des Mannes gewollt zu haben, er arbeitet mit Symbolik: Der Tote liegt auf einer Fähre, neben ihm ein Hammer und ein toter Hund. Die Kripobeamten ziehen die Psychotherapeutin Hannah Tergarten hinzu. Sie erkennt in dem Toten einen Kollegen, und Hammer, Hund und Fähre stellen sich als Utensilien Charons heraus, des Fährmanns der griechischen Mythologie, der die Seelen der Toten über den Unterseefluss Styx in ihre neue Heimat bringt.

Hannah tappt im Dunkeln, doch ehe sie noch mit dem lähmenden Grauen umzugehen lernt, das der rätselhafte Tod ihres Kollegen in ihr auslöst, wird sie an einen zweiten Tatort gerufen: Unter qualvollen Umständen starb hier eine junge Lehrerin, und in ihrem Mund findet sich eine Münze – so, wie sie im antiken Griechenland den Toten mitgegeben wurde als Bezahlung Charons.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen den beiden Ermordeten? Wo ist die Schwester der jungen Lehrerin, warum versteckt sie sich? Ist sie die Mörderin, oder weiß sie einfach zu viel? Und wie um alles in der Welt soll Hannah sich auf diese Morde konzentrieren, wenn ihr Vater, zu dem sie ein problematisches Verhältnis hat, zwischendurch eine Bombe gewaltigen Ausmaßes platzen lässt? Auch die junge Beziehung Hannahs zu dem Kripobeamten Enno Hehren gestaltet sich nicht unproblematisch, speziell, wenn die Arbeit der beiden kollidiert: Als die Patienten des ersten Mordopfers in den Ermittlungsfokus rücken, wirft Hannah sich dazwischen, bereit, die Rechte der zu Therapierenden mit Klauen und Zähnen zu verteidigen. Kein Wunder also, dass bei diesem Wust aus vielerlei Problemen und offenen Enden die Ermittlungen nur schleppend vorangehen. Und all das ist nur der Anfang …

_Kritik_

Die Protagonistin dieses Romans hat es nicht ganz leicht: Gerade erst war sie nach einer traumatischen Erfahrung von Hamburg aus ins ruhige Ostfriesland gezogen, und dann passiert so etwas vollkommen Unwirkliches wie diese mythologiegeschwängerten Morde. Obwohl die Morde an sich natürlich so hässlich und widerlich sind, wie ein gewaltsamer Tod nur sein kann, mutet das Drumherum seltsam an, denn ist es eine sehr reizvolle Idee, altgriechische Mythologie mit einem kalten, banalen ostfriesischen Spätherbst und Winter zu verquicken.

Die Entwicklung der Geschichte ist ausgesprochen spannend, Tomke Schriever hetzt ihre Leser von einer falschen Spur auf die nächste, und die permanente Ungewissheit über das Schicksal verschiedener Personen zerrt aufs Angenehmste an den Nerven des Krimilesers. Die Kombination aus der empathischen, grundoptimistischen Therapeutin und den trockenen, logisch denkenden, immer das Schlimmste erwartenden Kripobeamten sorgt für Zunder, selbst wenn die persönlichen Beziehungen zwischen den Parteien durchaus freundschaftlicher Natur sind.

Tomke Schriever befleißigt sich eines angenehmen Stils; sie schreibt aus der Perspektive der Therapeutin und ermöglicht so tiefe Einblicke in deren Sicht der Angelegenheit, die von dem normalen Polizeiblickwinkel erfrischend abweicht. Ausgefallene Morde, verzweifelte Suche nach vermissten Personen, seelische Abgründe, familiäre Probleme und politische heiße Eisen vereinen sich in diesem Regionalkrimi zu einem wirklich lesenswerten Stück Unterhaltungsliteratur.

_Fazit_

Tomke Schriever ist ein Pseudonym Helga Glaeseners, die seit langem historische Romane verfasst. Unter diesem fremden Namen hat sie nun eine neue Reihe begonnen, deren Heldin Hannah Tergarten ist. „Der Totenschiffer“ ist Teil zwei dieser Reihe, und ich werde mir jetzt Teil eins ebenfalls zu Gemüte führen, denn ich war angetan.

Hannah Tergarten ist eine sympathische, unaufgeregte, interessante Protagonistin, ihre Interaktion mit den anderen Personen im Buch ist glaubwürdig und ausgefeilt. Gerade die Natürlichkeit und der gesunde Menschenverstand der Therapeutin machen es Schriever möglich, ein unterschwelliges undeutbares Gefühl drohender Gefahr zu vermitteln: Wenn jemand so gar nicht zur Hysterie neigt, muss wirklich etwas im Argen sein, wenn sich die Situation seltsam anfühlt. Die Autorin beweist deutliches Gespür für Charaktere, Spannungsaufbau und sprachliche Angemessenheit. Krimifans kann ich die Lektüre nur wärmstens empfehlen. Lesen!

|Taschenbuch: 352 Seiten
ISBN-13: 978-3499253799|
[www.rowohlt.de]http://www.rowohlt.de
[www.tomke-schriever.de]http://www.tomke-schriever.de

_Tomke Schriever bei |Buchwurm.info|:_
[„Und dann war Stille“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5908

Booth, Martin – The American

_Inhalt_

Signor Farfalla ist in dem kleinen italienischen Bergdorf wohlbekannt und wohlgelitten. Der nette, etwas distanzierte, ältere englische Herr malt Schmetterlinge – daher der klangvolle Spitzname – und trifft sich zu friedlichen Diskussionen bei Pfirsichen, Armagnac und Schinken mit dem Priester. Er ist etwas eigen, aber man lässt ihm seinen Frieden, freut sich, wenn er auftaucht und denkt kaum weiter über ihn nach, wenn er es nicht tut.

Was nicht allgemein bekannt ist: Signor Farfalla baut Waffen für Attentate, auf hochkünstlerische Art und Weise. Er ist der Beste auf diesem Gebiet, sehr teuer und sehr präzise. Er kennt keine Wurzeln und keine Heimat, und Frieden kennt er auch nicht. Nach Jahrzehnten der Wachsamkeit traut er niemandem; den Luxus von Freunden, von Vertrauten kann er sich nicht leisten. Und doch, langsam kommt er in die Jahre. Geld hat er genug, um sich an seinem Lebensabend jede Annehmlichkeit zu gönnen, und dieses kleine Bergdörfchen in Italien ist ihm ans Herz gewachsen. Die Menschen sind einfach und freundlich, das Essen sehr gut, der Wein superb. Eine der jungen Damen, die er hin und wieder zu bezahlen pflegt, beginnt von Liebe zu sprechen – Falle oder Wink des Schicksals, dass es an der Zeit ist, sich zur Ruhe zu setzen?

Signor Farfalla weiß es nicht, doch er beschließt, dass der gegenwärtige Auftrag sein letzter sein soll. Und dann taucht plötzlich jemand auf, den er den „Schattenbewohner“ nennt – einer aus der Welt, in der er lebt, ein Verstohlener, ein Heimlicher – und heftet sich an seine Fersen …

_Kritik_

Signor Farfalla zieht den Leser tief in seinen Bann mit vielen Introspektionen und Geheimnissen, mit Philosophieren und weisen Worten, ehe er seine dunkle Seite offenbart. Er kann das Leben im Kleinen genießen, kann dankbar sein für Augenblicke, einen besonderen Wein oder Käse, einen besonders entzückenden Schmetterling, eine Blumenwiese. Er ist eine facettenreiche Figur, der man immer zustimmen möchte, weil sie so viele wundervolle Dinge denkt und sagt, bis dann plötzlich dieser eine kleine Defekt in seinem ethischen Bewusstsein hervortritt, der es ihm erlaubt, Präzisionswaffen zu entwerfen, die ausschließlich für das Töten von Menschen gedacht sind.

Martin Booth pflegt einen wundervollen Stil, der es dem Leser erlaubt, durch die Seiten hindurch direkt auf die kleine Piazza zu blicken, auf der Signor Farfalla sitzt, seinen Espresso trinkt, Zeitung liest und dabei scharf die Gegend im Blick hält, nie entspannt, immer auf der Hut. Die Kluft zwischen der Beschaulichkeit des italienischen Bergdörfchens und dem Waffenbauer, der immer in Habachtstellung ist, wenngleich er es nach außen hin nicht zeigt, erzeugt atemlose Spannung. Gleichzeitig hat man trotz seines menschenverachtenden Jobs ein tiefes Mitleid mit dem alternden Mann, der sich nach Ruhe und Frieden sehnt, aber doch längst verlernt hat, wie man diese Dinge zulässt und fühlt.

„The American“ ist eine klassische Geschichte von der Vergangenheit, die zurückkommt, um dich zu jagen. Aber die Umsetzung ist brillant, grandios, geht unter die Haut. Durch die Unmittelbarkeit, mit der der Leser vom Ich-Erzähler alles erfährt, was geschieht, hat man dem Protagonisten längst sein Herz geöffnet, ehe dieser seine Abgründe offenbart, und ist der eigenen Sympathie ihm gegenüber hilflos ausgeliefert. Es ist ein perfektes psychologisches Spiel.

_Fazit_

Martin Booth war offensichtlich ein Meister seines Fachs. Leider ist er 2004 einem Krebsleiden erlegen; dieser Roman stammt aus dem Jahre 1991 und trug ursprünglich den Titel „A Very Private Gentleman“. Jetzt wurde er gerade unter dem Namen „The American“ verfilmt und soll mit George Clooney in der Hauptrolle hervorragend besetzt sein. Wenn ich aber einen Tipp abgeben dürfte: Lest lieber den Roman. Oder geht ruhig ins Kino, aber lest den Roman trotzdem. Was genau nämlich in des wortgewandten Signor Farfallas Inneren alles vor sich geht, das kann auch der beste George Clooney nicht mimisch wiedergeben.

Dieser Roman ist schlicht ein Meisterwerk, und es wäre traurig für euch, wenn ihr ihn versehentlich nicht läset. Es ist eine Bereicherung für den deutschen Markt, dass nun endlich eine Übersetzung vorliegt.

|Taschenbuch: 400 Seiten
Originaltitel: A Very Private Gentleman
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
ISBN-13: 9783499255151|
[www.rowohlt.de]http://www.rowohlt.de

Böldl, Klaus – nächtliche Lehrer, Der

_Inhalt_

Lennart ist 25 Jahre alt, als er zu einem Vorstellungsgespräch aus Stockholm in den winzigen Ort Sandvika in der schwedischen Provinz reist. Im Vorfeld ist er skeptisch: Soll er sich wirklich von nun an in dieser absoluten Einöde verkriechen, um den wenigen Kindern Religion und Kunst nahe zu bringen?

Doch irgendetwas an dem kleinen Nest packt ihn: Ob es der See ist oder die Ruhe – man kann es nicht sagen, als aber die Zusage kommt, packt er ohne zu zögern seine Koffer und verlegt seinen Lebensmittelpunkt ans Ende der Welt. Hier passiert so wenig von dem Schrecklichen, das Lennart in der Großstadt zu sehen und sonst über die Nachrichten zu erfahren pflegte.

Der junge Mann ist ruhig, zurückhaltend, schüchtern. Einen der anderen Lehrer kann er ganz gut leiden, und mit dem am Sinn seines Berufes zweifelnden Pfarrer Lukas verbindet ihn eine stille Freundschaft. Als er schließlich auch noch die Bibliothekarin Elisabeth kennen- und lieben lernt, scheint sein Weg vorgezeichnet. Elisabeth ist bald schwanger, die Hochzeit folgt auf dem Fuße. Lennart ist es bestimmt, hier, am Weltende, eine fröhliche kleine Schar Lehrerkinder aufzuziehen, zusammen mit einer Frau, der er sehr zugetan ist. Doch dann wird Elisabeths kleines Auto von einem Zug erfasst. Sie und das Ungeborene sind auf der Stelle tot. Für alle anderen unbegreiflich bleibt Lennart, wo er ist, und führt sein Leben weiter, als sei nichts geschehen, Jahr um Jahr. Doch selbst am Ende der Welt ergeben sich immer wieder Ausbruchsmöglichkeiten, sei es nun die Bekanntschaft einer weiteren jungen Frau oder die Reise in fremde Länder. Es kommt nur darauf an, ob man diese Chancen ergreifen oder sie ungenutzt verstreichen lassen möchte.

_Kritik_

Wäre Klaus Böldls Erzählung ein Bild, so ordnete man es dem Impressionismus zu. Der Protagonist ist so still und zurückhaltend, die Blicke in seine Gedanken, die dem Leser zugestanden werden, gehen immer so haarscharf am Wichtigen vorbei, dass er geisterhaft bleibt und fern.

„Klaus Böldl schreibt mit absoluter Souveränität über Sehnsucht und Trauer“, heißt es im Klappentext. So hat sich mir dieses Buch aber nicht dargestellt. Vielmehr schien es mir, als trauere Lennart nicht sehr, als finde er sich schnell mit der Situation ab und entscheide aus freiem Willen, nicht ins aktive Leben zurückzukehren. Elisabeth starb nur wenig mehr als ein Jahr nach dem Kennenlernen, und schon in dieser kurzen Phase erfahren wir, dass sie ihrem Gatten manchmal fern ist. Lennart hätte sich mit der Ehe und der Vaterschaft abgefunden, hätte sich in die Rolle gefügt und wäre vermutlich ganz glücklich geworden, aber die Würfel fielen anders, und Lennart ergriff seine Chance auf ein lebenslanges Eigenbrötlerdasein, indem er alle Chancen auf ein aktives, soziales Leben ungenutzt verstreichen ließ.

„Der nächtliche Lehrer“ ist alles andere als uninteressant; es ist das Porträt eines totalen Außenseiters, der seine Rolle selbst gewählt hat. Der knappe Stil, die mit kurzen Sätzen detailliert beschriebenen Äußerlichkeiten, die so viel Inhalt verdecken, der nicht erwähnt wird, sind dem Geheimnis des Mannes durchaus angemessen.

Die stillschweigende Negation fast allen menschlichen Miteinanders, das Ungerührtsein Lennarts durch Erfahrungen, wie sie nicht jedem vergönnt sind, und das stete, stille Dahinplätschern seiner Lebensjahre machen fast ein wenig fassungslos. Auf jeden Fall aber zermürbt diese kleine Schrift; man wird regelrecht müde angesichts all dieser nutzlos verpuffenden Energie. Aber es fesselt doch, wenn auch unmerklich. Es sind spinnwebfeine Fesseln, die man kaum wahrnimmt, und so ist man stets aufs Neue überrascht, wenn unversehens die ruhige, etwas dickliche Person Lennarts doch noch einmal im Gedächtnis auftaucht, sachte spazierend, schweigend, noch immer fremd.

_Fazit_

„Der nächtliche Lehrer“ ist kein Buch für die breite Masse. Niemand erschießt irgendwen, es gibt keine herzzerreißende Familiensaga, kein Drama, keine Intrigen, keine Pest, keinen Krieg. Es ist ein Buch vom Rande der Welt über einen Mann vom Rande der Gesellschaft. Wenn Stille Sie anspricht, lesen Sie es. Wenn Sie dem Leben am liebsten als Zuschauer beiwohnen, ist es das Richtige für Sie. Wenn Sie naturnaher, grüblerischer Einzelgänger sind, spricht es Sie sicherlich an. Sie müssen, um dieses Buch zu schätzen, eine Vorliebe für die leisen, melancholischen Töne hegen.

|Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
ISBN-13: 978-3100076274|
[www.fischerverlage.de]http://www.fischerverlage.de

Meyer, Axel S. – Buch der Sünden, Das

_Inhalt_

Paris, 845: Die Normannen überfallen Paris und bringen unsägliches Leid über seine Bewohner. Einer der bitter Betroffenen ist der kleine Odo, dessen Vater getötet und dessen Mutter verschleppt wird. Nur knapp überlebt der kleine Junge die furchtbaren Tage, und danach soll ihn sein Trauma für immer verändern.

Odo wird in die Obhut der Kirche gegeben, und Jahre später fällt ihm, der vom Rachedurst und von der Sehnsucht nach seiner vielleicht noch lebenden Mutter getrieben ist, in der Bibliothek des Klosters St. Gallen eine geheime Schrift in die Hände, die seinen Weg vorzuzeichnen scheint: Er führt ihn in den Norden hinauf, in die unmittelbare Nähe seiner Feinde, nach Haithabu, dem Tor nach Dänemark. Hier beginnt er mit seiner Aufgabe, von der er glaubt, dass Gott selbst ihn dazu ausersehen habe.

In Haithabu lebt der junge Helgi, der Sohn eines Schmieds. Er selbst hat eigentlich gar keine Lust, ebenfalls Schmied zu werden, aber es scheint, als bliebe ihm nicht viel anderes übrig. Und dabei möchte er doch viel lieber Ausschau halten nach der hübschen, unglücklichen Sklavin seines Nachbarn, des hässlichen Widersachers seines Vaters! Allein, dem Jüngling ist es nicht vergönnt, seiner heimlichen Liebe nachzuschauen, denn urplötzlich gehen in Haithabu unheimliche Dinge vor sich, die sich niemand erklären kann. Und Helgi selbst ahnt nicht, dass er eine der Hauptrollen in einer höchst verwickelten und mystischen Angelegenheit spielen soll, die ihn weit von zu Hause fortführen wird. Als es schließlich soweit ist, bleibt dem jungen Mann nur, sich den Winden des Schicksals anzuvertrauen und bestmöglich zu meistern, was sich ihm in den Weg stellt …

_Kritik_

„Das Buch der Sünden“ ist der Gewinner des von Rowohlt veranstalteten Wettbewerbs „Historischer Roman des Jahres“. Er ist ziemlich gut recherchiert, wenn man bedenkt, wie wenige Aufzeichnungen aus dem 9. Jahrhundert eigentlich überliefert sind, und auch an Spannung mangelt es nicht: Man möchte zu jedem Zeitpunkt wissen, wie es weitergeht, und sobald der Wahn des Antagonisten erst deutlich zu Tage tritt, überraschen auch die krassen Situationen nicht mehr.

Was mich allerdings störte, war die Vielzahl von Klischees, mit denen die Lücken zwischen den geschichtlichen Fakten gefüllt wurden. Sehr zu Anfang, als die Normannen Paris überfallen, ist die Rede von einem 14jährigen Mädchen, hübsch, mit großem Busen. Da war dann schon klar, dass sie keine zwanzig Seiten mehr hat, bis sie vergewaltigt wird (damit verderbe ich niemandem die Geschichte; das Mädchen hat keine tragende Rolle). Überhaupt ist Vergewaltigung offenbar immer ein guter Zeitvertreib im Frühmittelalter, und die Wikinger nehmen mehr Eigenblut zu sich als die Freunde Siegfrieds in Etzels brennendem Saal. Außerdem trinken sie andauernd aus Hörnern, was ja jedem Mittelaltermarktbesucher das Herz aufgehen lassen mag, letztlich aber so nicht richtig ist: Natürlich wurden Trinkhörner bei diversen religiösen Ritualen eingesetzt, aber die Erfindung des Bechers ist keine Raketenwissenschaft, und dass man Flüssigkeit besser in etwas füllt, das nicht umfällt, war sogar wilden Wikingern im 9. Jahrhundert klar.

Natürlich weiß ich, dass diese Meinung subjektiv ist und viele Leser eher Vergnügen an den Punkten haben werden, die mir Verdruss bereiten; nicht umsonst wird ein Roman den Wettbewerb gewonnen haben, der so viele populäre Ansichten in sich vereinigt.

_Fazit_

Axel S. Meyer hat einen umfangreichen, spannenden historischen Roman verfasst, angesiedelt im gefährlichen Grenzgebiet zwischen frühem Christentum und heidnischer Religion, der mit einer quasi-mystischen Kriminalgeschichte kombiniert ist und diverse kriegerische Auseinandersetzungen der damaligen Zeit mit einer sehr persönlichen Liebes-, Lebens- und Leidensgeschichte verquickt.

Dass er mir aus oben genannten Gründen nicht gefällt, sollte niemanden von der Lektüre abhalten, der diese Ansichten nicht teilt, abgesehen davon ist „Das Buch der Sünden“ nämlich gut geschrieben.

|Taschenbuch: 784 Seiten
ISBN-13: 978-3499253805|
[www.rowohlt.de]http://www.rowohlt.de

Diechler, Gabriele – Glaub mir, es muss Liebe sein

_Inhalt_

Franziska ist etwa vierzig, als ihr mit einem Mal bewusst wird, was in den Schatten ihrer lieblosen Ehe lange gelauert hatte: So geht es nicht weiter. Du kannst nicht ewig und drei Tage darauf warten, dass dein Mann sich wieder für dich interessiert, nachdem ihr schon mehrere Jahre lang nebeneinanderher gelebt habt. Warum solltet ihr jetzt plötzlich wieder Themen findet, über die ihr sprechen könnt, warum solltet ihr jetzt die Nähe wieder finden, die es einst gab und die unmerklich verschwunden ist? Gerade jetzt, wo er seine Libido in fremde Hände gegeben hat?

Franziska macht einen klaren, schmerzlichen Schnitt und verlässt den fremdelnden Gatten zusammen mit ihrer zwölfjährigen Tochter Melanie. Bei einem alten Schulfreund Franziskas, der sich nach einem Burn-out an den Tegernsee zurückgezogen hatte, finden sie eine neue Bleibe. Maja, die Besitzerin eines kleinen Lokals vor Ort, entwickelt sich rasch zur Freundin. In einer hoffnungsfreudigen Stimmung macht sich die frisch gebackene Single-Mutter daran, ihr Leben neu zu ordnen: Sie schreibt Drehbücher und ist völlig aus dem Häuschen, als das erste wirklich angenommen wird.

Jetzt fehlt ja eigentlich nur noch ein passender Mann, denn so ganz ohne Liebe ist es doch sehr einsam und traurig. Nur wo soll man nach einem angenehmen Exemplar suchen? Franziskas Job führt sie zu Recherchezwecken oder Konferenzen an die verschiedensten Schauplätze, und dadurch – wie auch durch ihr Sozialleben – trifft sie auf die unterschiedlichsten Menschentypen. Und Franziska hat ein großes, freundliches Herz, das gern lieben möchte, es immer wieder versucht und häufig genug Bruchlandung erleidet …

_Kritik_

Wir hatten ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis zueinander, dieses Buch und ich. Gabriele Diechler hat mit ihrer Franziska eine Figur erschaffen, die dem Zeitgeist sehr gut entspricht: Vor einem halben Jahrhundert mag es noch nicht gang und gäbe gewesen sein, sich trotz Kindes aus einer unglücklichen Ehe zu befreien; heute dagegen ist es kaum noch verpönt. Glück wird gesucht, verfolgt, eingefordert – man glaubt, Anspruch darauf zu haben. Das hat alles seine guten und schlechten Seiten, und es ist richtig und notwendig, dass jemand über dieses Thema schreibt, denn es ist ein Eckpfeiler unserer sozialen Gesellschaft. Manchmal zuckte ich jedoch zusammen, wenn eine Situation mit zu billigen Platituden beschrieben wurde: „Das Einzige, was ich machen konnte, war leben!“ (S.9) Urks. Dann wiederum gab es sehr originelle Wortbilder, von denen einige schön und andere eher unpassend waren – wie auch immer, es fiel auf und zeigte einen sehr eigenen Stil.

Die Suche Franziskas nach Liebe und Mister Right wirkt ausgesprochen deprimierend. Fast alle beschriebenen Versuche hinterlassen einen schalen Nachgeschmack, und die Tatsache, dass die Tochter während der mütterlichen Selbstfindungstrips immer beim netten Schulfreund abgeladen wird, verstärkt für mich die Trostlosigkeit des Ganzen. Das ist jetzt keine schlechte Wertung: Diese Entwicklung ist sehr lebensnah beschrieben.

Bedauerlicherweise muss ich sagen, dass die banale Pointe mich verärgert hat – es ist ein ziemlicher Gemeinplatz, der nach der 270 Seiten langen Kontemplation über die Suche nach dem Glück als Antwort präsentiert wird. Den findet man auch in Frauenzeitschriften im Wartezimmer beim Arzt. Gut, vielleicht ist das die Andeutung, dass es nun einmal kein Patentrezept gibt, aber unter diesen Umständen hätte man auf diesen Schmalspurpsychologiespruch auch verzichten können.

_Fazit_

„Ein wunderbares Plädoyer für die Liebe“, schrieb laut Klappentext jemand über diesen Roman. Hm. Vielleicht hat dieser Jemand quergelesen oder war mit den Gedanken nicht bei der Sache: Ein Plädoyer für die Liebe ist „Glaub mir, es muss Liebe sein“ nicht. Es ist ein Plädoyer für die Möglichkeiten, die die Gesellschaft momentan bietet, für die stete Chance zu einem Neuanfang. Außerdem ist es eine Sozialstudie, die späterhin Menschen als Quelle für die Rolle der Frau in der heutigen Zeit dienen mag. Ob man das Buch gut findet oder nicht, muss jeder selbst entscheiden, denke ich. Es polarisiert nicht, es stückelt vielmehr die Ansichten. Aber uninteressant ist es nicht. Gucken Sie ruhig mal, ob Sie damit warmwerden können.

|Broschiert: 276 Seiten
ISBN-13: 978-3839211076|
[www.gmeiner-verlag.de]http://www.gmeiner-verlag.de
[www.gabriele-diechler.at ]http://www.gabriele-diechler.at

Camilleri, Andrea – schwarze Seele des Sommers, Die. Commissario Montalbano blickt in den Abgrund

_Commissario Montalbano:_

01 [„Die Form des Wassers“ 306
02 [„Der Hund aus Terrakotta“ 315
03 [„Der Dieb der süßen Dinge“ 3534
04 [„Die Stimme der Violine“ 321
05 [„Das Spiel des Patriarchen“ 312
06 [„Der Kavalier der späten Stunde“ 670
07 [„Das kalte Lächeln des Meeres“ 594
08 „Die Passion des stillen Rächers“
09 [„Die dunkle Wahrheit des Mondes“ 4302
10 [„Die schwarze Seele des Sommers“ 5474
11 [„Die Flügel der Sphinx“ 5875
12 [„Die Spur des Fuchses“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6461
13 „Il campo del vasaio“ (bislang nicht auf Deutsch erschienen)
14 „L’età del dubbio“ (bislang nicht auf Deutsch erschienen)
15 „La danza del gabbiano“ (bislang nicht auf Deutsch erschienen)
16 „La caccia al tesoro“ (bislang nicht auf Deutsch erschienen)

„Die Nacht des einsamen Träumers – Kurzkrimis“

_Inhalt_

Livia, Commissario Montalbanos Langzeitfreundin, hat Urlaub, und den würde sie gern bei ihrem Liebsten verbringen. Allerdings kennt sie ihren Salvo nach all den Jahren gut genug, um zu wissen, dass bei ihm immer ein Mord dazwischen kommen kann und dass sie dann allein in seinem hübschen Haus am Strand sitzen würde. Um dem dann unausweichlich folgenden Streit aus dem Weg zu gehen, beschließt Livia, das Angenehme mit dem Angenehmen zu verbinden und die Familie ihrer Freundin Laura einfach mitzubringen. Sie kann nicht ahnen, dass in der hübschen Villa am Meer, in der Laura sich mit Gatten und Sohn niederlässt, etwas wartet, dass ihr nicht nur den Urlaub vermiest: In einem verborgenen Zimmer stolpert der Commissario auf der Suche nach dem verschwundenen Sohn Lauras über eine Leiche.

Die Situation eskaliert, und zornesbebend reist Livia ab. Montalbano verschiebt die Sorge darüber auf später; hier hat er die Überreste eines jungen Mädchens entdeckt, das zu Lebzeiten hinreißend gewesen sein muss. Diese Vermutung bestätigt sich kurze Zeit später, als die Zwillingsschwester der Ermordeten vor ihm steht und ihn um Hilfe bittet. Adriana ist zweiundzwanzig, hinreißend und wild entschlossen, den Mörder ihrer Schwester zu finden. Wie so oft führen Salvo seine Ermittlungen in einen Sumpf aus Korruption und Verschleierungen, in ein Milieu, in dem ein Menschenleben nicht viel Wert ist und zu einem Mann, der Vorlieben hat, für die Montalbano ihn gern vierundzwanzig Stunden täglich verprügeln würde. Aber es heißt vorsichtig sein; dunkle Mächte halten die Hand über den Verdächtigen, der außerdem ein Alibi hat.

Montalbano befindet sich in einem Ausnahmezustand der Erschöpfung: Die glühende Hitze des sizilianischen Sommers setzt ihm zu, er traut seinem Urteilsvermögen nicht, weil er um seine Voreingenommenheit weiß, Livias Schweigen macht ihm zu schaffen, und dann ist da noch Adriana, die mit verwirrender Stetigkeit um ihn herumschwirrt. Es ist ein tiefer Abgrund, der sich diesmal zu Montalbanos Füßen auftut, mit einer Plötzlichkeit, dass es fraglich ist, ob der Commissario noch anhalten kann …

_Kritik_

Wer Camilleri kennt, ist wie gehabt von Anfang an gebannt (wer Camilleri nicht kennt, sollte das schleunigst ändern; er ist eine Bereicherung). Das übliche Hin und Her mit Livia, diese beiden so unterschiedlichen Charaktere, die immer wieder aufeinander prallen und doch nicht voneinander lassen können, ist großartig gemacht. Entsprechend sorgenvoll betrachtet man Livias Schweigen – oh bitte, kein krasser Ärger bei den beiden! Aber über den Ereignissen hat man das schnell wieder vergessen: Speziell die Stimmung, die die drückende Hitze verbreitet, die einem das Gehirn kocht und die einfachsten Bewegungen zur Unmöglichkeit macht, ist hervorragend ausgearbeitet – ein bisschen wie in Felicitas Mayalls „Hundszeiten“, nur noch krasser; sizilianischer eben.

Camilleri lässt seinen Montalbano nicht zum ersten Mal im korruptionsverseuchten Baugewerbe ermitteln, diesmal aber garniert er ihm diesen wenig hübschen Weg noch dazu mit einem so widerwärtigen Gegenspieler, dass alles irgendwie auf die Spitze getrieben erscheint. Dass Adriana dann zusätzlich als Circe durch die Gegend läuft und alle verbliebenen Sinne verwirrt, verleiht der sonnendurchglühten trägen Hysterie der Seiten noch den letzten Dreh.

Die üblichen Zutaten, die einen guten Camilleri ausmachen, muss man wohl kaum noch erwähnen, wenngleich sie alle vertreten sind: Die liebenswert-nervenaufreibende Zusammensetzung des Kommissariats, das schwelgerisch-wundervolle süditalienische Essen und die ausgesprochen eigentümlichen Einfälle, die den Commissario immer wieder ans Ziel bringen und ihn von seinen Männern abheben.

_Fazit_

Was gibt es zusammenfassend über Commissario Montalbanos zehnten Fall noch groß zu sagen? Lest ihn, Leute. Lest, was immer ihr von Andrea Camilleri in die Finger kriegen könnt; er ist einer der ganz Großen unserer Zeit und sollte mit Andacht betrachtet werden. Er ist nicht nur lebensklug, belesen und wortgewandt wie nur wenige neben ihm, er hat auch einen Humor, der seinesgleichen sucht. Der Mann ist auf dem Buchmarkt, der immer wieder so viele Fragwürdigkeiten hervorbringt, Gold wert.

|Taschenbuch: 288 Seiten
Originaltitel: La Vampa d’Agosto
aus dem Italienischen von Moshe Khan
Besprochene Auflage: 2. Auflage, Juli 2010
ISBN-13: 978-3404164547|
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