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Buchwurm, seit ich lesen kann :-)

Vlugt, Simone van der – Schattenschwester

Mit ihrem Roman [„Klassentreffen“ 3850 stürmt die niederländische Autorin Simone van der Vlugt zurzeit die Bestsellerlisten, doch auch ihr zweiter Thriller „Schattenschwester“ steht dem in Spannung und Dramatik nichts nach …

Marjolein arbeitet als Lehrerin an einer Gesamtschule und ist mit ihrem Job überglücklich, jedenfalls bis zu dem Tag, an dem ihr Problemschüler Bilal sie mit einem Messer bedroht und Marjolein in Angst aus dem Klassenzimmer flüchtet. Dieser Tag ist es, der ihr restliches Leben (das nicht mehr allzu lange andauern wird) verändern wird.

Von ihrem Schuldirektor Jan van Osnabrugge bekommt Marjolein wenig Unterstützung, da die Schülerzahlen konstant zurückgehen und Jan fürchtet, dass noch mehr Lehrer entlassen werden müssen, wenn die Schule nun auch noch für negative Schlagzeilen sorgt. Aber auch Marjoleins Mann Raoul zeigt wenig Verständnis, denn Marjolein verfügt über genügend Geld, um ihren Job aufgeben zu können, Raoul kann also nicht verstehen, wieso sie ihr Leben aufs Spiel setzt, zumal die beiden eine 6-jährige Tochter haben.

Einzig zu ihrer Zwillingsschwester Marlieke kann sich Marjolein jederzeit flüchten, um sich bei ihr auszuweinen und um Rat zu fragen. Marlieke und Marjolein sehen sich zwar unglaublich ähnlich, doch vom Typ her könnten sie kaum unterschiedlicher sein. Marlieke ist die ruhige und zurückhaltende Schwester, die sich gerne in bequeme Sachen und Armeehosen kleidet, während Marjolein offensiv auf die Menschen zugeht und mit ihren Reizen nicht geizt. Doch mit ihrer forschen Art macht sie sich offensichtlich auch Feinde, denn nach dem Vorfall mit Bilal ist es noch nicht getan: Kurz darauf wird Marjoleins Auto zerkratzt und mit dem Schriftzug „Hure“ verschandelt, aber auch eine Morddrohung lässt nicht lange auf sich warten. Während Marjolein immer verzweifelter wird, traut sie sich immer noch nicht, die Vorfälle zur Anzeige zu bringen, da sie Angst davor hat, Bilal dadurch erst recht gegen sich aufzubringen.

Simone van der Vlugts Geschichte teilt sich in zwei Handlungsstränge auf; der eine ist aus Marjoleins Sicht erzählt und handelt von den Bedrohungen, die Marjolein zu ertragen hat. Und während sie wenig Verständnis erhält und sich zudem Sorgen um die Treue ihres Ehemannes machen muss, ahnt sie nicht, dass sie bald ermordet werden wird. Der zweite Handlungsfaden schildert die Ereignisse nach Marjoleins Mord aus Sicht ihrer Zwillingsschwester.

Diese beiden Handlungsebenen führt Simone van der Vlugt parallel weiter. Während Marjoleins Panik also immer mehr zunimmt und sie beginnt, Gespenster zu sehen, ist Marlieke in Trauer um ihre ermordete Schwester und begibt sich auf Spurensuche, um den Mörder auf eigene Faust dingfest zu machen. Der Leser weiß dabei allerdings noch nicht, wie weit die Ereignisse um Marlieke in der Zukunft liegen und wie viel Zeit Marjolein also noch bleibt. Durch den ständigen Wechsel der Perspektive und der Zeit baut die Autorin unglaublich viel Spannung auf, die uns an das Buch fesselt, bis wir es schließlich spätabends oder auch mitten in der Nacht schließlich durchgelesen haben und wissen, was mit Marjolein geschehen ist.

Besonders die Handlungsebene, die aus Marliekes Sicht geschildert ist und in welcher der Leser schon weiß, dass Marjolein sich einen Todfeind gemacht haben muss, birgt viel Spannung. Hier lernen wir Marjolein aus einer ganz anderen Perspektive kennen, denn obwohl sie uns in ihren eigenen Passagen sehr sympathisch erscheint, müssen wir hier erkennen, dass sie nicht die freundliche und perfekte Frau ist, die sie gerne sein möchte. Selbst ihre Zwillingsschwester Marlieke ertappt sich dabei, dass sie sich ohne ihre einnehmende Schwester viel freier fühlen kann. Hinzu kommt ihre heimliche Liebe zu Raoul, die sie bislang immer verbergen musste, damit niemand merkt, dass sie sich in den Mann ihrer eigenen Schwester verliebt hat.

In diesen Passagen lernen wir auch Marliekes beste Freunde kennen, nämlich Sylvie und Thomas, die Marlieke eine große Stütze sind in ihrer Trauer. Thomas ist unsterblich verliebt in Marlieke und weiß doch, dass sie nicht das Gleiche für ihn empfindet. Allerdings ahnt er noch nicht, dass er einen Nebenbuhler hat, mit dem er es einfach nicht aufnehmen kann. So erscheint es uns ganz selbstverständlich, als Sylvie und Thomas schließlich ein Paar werden, denn die schöne Sylvie ist schon lange hinter Thomas her.

Doch obwohl Marlieke selbst nicht mehr sein möchte als Thomas‘ gute Freundin, wird sie plötzlich eifersüchtig und fühlt sich ausgeschlossen, als ihre beiden Freunde sich näher kommen. Ablenkung sucht Marlieke in ihrer Arbeit als Fotografin und in der Suche nach dem Mörder ihrer Schwester. Sie kann es immer noch nicht glauben, dass Bilal unschuldig sein soll, auch wenn die Polizei sein Alibi überprüft und ihn wieder frei gelassen hat. Als sie sich jedoch alleine auf die Suche nach Bilal macht, begibt sie sich in große Gefahr.

Die Charakterzeichnung ist Simone van der Vlugt über weite Strecken sehr gut gelungen. Wir lernen die handelnden Figuren immer besser kennen und erfahren dabei ganz nebenbei, dass es neben Bilal doch noch Menschen gegeben hat, die Marjolein nach dem Leben hätten trachten können. Auch Raoul hat etwas zu verbergen; eine gute Freundin von Marjolein hat ihn nämlich mit einer schönen Frau gesehen, als er sich eigentlich mit einem Kunden treffen wollte, um ein wichtiges Geschäft abzuschließen. Aber Marjolein selbst wird nie mehr erfahren, ob ihr Mann sie wirklich betrogen hat.

Kleine Abzüge in der B-Note fängt sich die Autorin in der Zeichnung von Marjoleins Charakter ein, denn diese Hauptfigur können wir nicht ganz durchdringen. Manchmal handelt sie so irrational, dass man sie gerne schütteln und auf den Boden der Tatsachen zurückbringen möchte. In vielen Situationen drängt sie sich so weit in den Vordergrund, dass kaum noch schlüssig begründet werden kann, warum sie bislang so viele Freunde und einen liebenden Ehemann gehabt haben kann.

Was der Autorin allerdings wieder erstklassig gelingt, ist der Aufbau ihres Spannungsbogens. Zunächst beginnt ihr Roman noch relativ harmlos; zwar wird Marjolein an der Schule mit einem Messer bedroht und ängstigt sich fortan vor ihren eigenen Schülern, doch erst als die Perspektive zu Marlieke wechselt und wir uns auf Marjoleins Begräbnis wiederfinden, nimmt die Geschichte richtig Fahrt auf. Zusammen mit Marlieke möchten wir unbedingt herausfinden, was Marjolein wirklich geschehen ist; allerdings ahnt der Leser natürlich von Beginn an, dass nicht Bilal hinter der Tat steckt, denn diese Auflösung wäre einfach zu simpel.

Ausgesprochen geschickt flicht Simone van der Vlugt immer neue Verdachtsmomente in ihre Geschichte ein, sodass wir am Ende gar nicht mehr wissen, wen wir eigentlich verdächtigen sollen. Wie schon in ihrem Bestseller „Klassentreffen“ gehen die Verdächtigungen hin und her, und am Ende überrascht uns die Autorin schließlich doch mit einer Auflösung, die man nicht erwartet hat. Im Gegensatz zu ihrem durchweg überzeugenden Thriller „Klassentreffen“ schafft es Simone van der Vlugt aber nicht, ihre Auflösung so stimmig zu gestalten, dass man ihr Buch vollends befriedigt zuschlagen könnte. Am Ende war ich doch ein wenig enttäuscht, auch wenn ich zugeben muss, dass ich den wahren Täter nicht im Visier hatte. Doch das Tatmotiv erscheint mir persönlich etwas zu weit hergeholt.

Die Romanhandlung ist in über sechzig kurze Kapitel unterteilt, sodass man kaum Luft holen kann und die Schreibe entsprechend knackig ist. „Klassentreffen“ war zwar nicht minder spannend, doch hat sich Simone van der Vlugt dort mehr Zeit genommen, um Atmosphäre aufzubauen und die Situation besser auszugestalten, um den Leser richtig mitzureißen. Etwas eintönig erschien mir der Schreibstil der Autorin; viele Sätze beginnen mit „es“ und wirken dadurch lieblos aufs Papier geworfen. Möglicherweise liegt das auch an der Übersetzung, das kann ich nicht beurteilen, ein schriftstellerisches Highlight ist „Schattenschwester“ aber sicherlich nicht.

Doch unter dem Strich ist auch „Schattenschwester“ ein sehr spannender und gut konstruierter Psychothriller, der ein unglaubliches Tempo anschlägt und seine Leser geschickt an der Nase herumführt. Nur Kleinigkeiten sind es, die den Gesamteindruck trüben. So hat Simone van der Vlugt in mir eine neue Stammleserin gefunden, die schon jetzt dem nächsten Thriller von ihr entgegenfiebert.

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Vlugt, Simone van der – Klassentreffen

Klassentreffen – das sind die alljährlich wiederkehrenden Events, die ein Teil des Abschlussjahrgangs hasst und bei solchen Veranstaltungen ohnehin nicht auftaucht und die der andere Teil des Jahrgangs liebt, weil er dann wieder in seliger Erinnerung an die ach-so-schöne Schulzeit schwelgen kann. Bei Simone van der Vlugts Roman“heldin“ Sabine hat das anstehende Klassentreffen allerdings noch ganz andere Konsequenzen: Unangenehme Erinnerungen tauchen wieder auf, die Sabine eigentlich vergessen wollte und die sie nun aber gar nicht mehr loslassen wollen …

Sabine leidet an einer der bekanntesten modernen Volkskrankheiten, nämlich dem Burn-Out-Syndrom. Eigentlich hat ihr die Arbeit als Sekretärin bei der BANK in Amsterdam immer sehr gut gefallen, doch irgendwann ist ihr alles über den Kopf gewachsen. Nach einer längeren Auszeit und therapeutischen Behandlung lernen wir Sabine kennen, als sie wieder arbeiten gehen möchte. Besser geht es ihr allerdings noch nicht, doch weil selbst ihre Therapeutin nicht bis zum Grund ihres Problems vordringen kann, quält Sabine sich kurzerhand wieder zurück zu ihrer Arbeit, wo sie allerdings feststellen muss, dass ihre beste Freundin Jeanine dort nicht mehr arbeitet und sie stattdessen neue Kolleginnen hat, die sie von Anfang an mobben. Besonders schlimm ist die neu eingesetzte Leiterin des Sekretariats, Renée, die Sabine an das Leben zur Hölle macht.

Einen Lichtblick gibt es bei der BANK für Sabine, und zwar Olaf aus der IT-Abteilung, in den die halbe weibliche Belegschaft verliebt ist, allen voran Renée, die mit ihren Flirtversuchen allerdings auf Granit beißt. Anders aber Sabine, die Olaf von früher kennt, weil dieser damals mit ihrem Bruder befreundet war. So kommen die beiden sich schnell näher und beginnen eine heiße Affäre, die Sabines eifersüchtige Kolleginnen mit immer schlimmeren Mobbing-Attacken quittieren.

Doch Sabine quälen noch ganz andere Dinge, nämlich das bevorstehende Klassentreffen in ihrer Heimat Den Helder, das Erinnerungen an ihre frühere Freundin Isabel weckt, die vor neun Jahren spurlos verschwunden ist. Sabine kann sich noch daran erinnern, dass sie am fraglichen Tag auf dem Heimweg mit dem Fahrrad hinter ihr fuhr, um an einer Kreuzung allerdings anders abzubiegen, um Isabel nicht zu begegnen. Das ist die letzte Erinnerung, die sie bewusst an Isabel hat, doch ganz allmählich tauchen ganz neue Bilder auf, die Sabine nicht recht einordnen kann. Daraufhin begibt sie sich nach Den Helder, um Spurensuche zu betreiben.

Der erste Weg führt sie zum Hausmeister der Schule, der inzwischen alt und wunderlich geworden ist und mit sechs Katzen zusammenlebt, die auffälligerweise die Namen von sechs Mädchen tragen, die vor einigen Jahren in Den Helder verschwunden sind. Ob dies etwas zu bedeuten hat? Und was versucht Sabine zu verdrängen? Weiß sie etwa, wer für Isabels Verschwinden verantwortlich ist und kennt sie womöglich den Täter? Fast dauert es zu lange, bis Sabine schließlich erkennt, was damals wirklich vorgefallen ist …

Simone van der Vlugt hat mit „Klassentreffen“ einen Roman vorgelegt, der sich zunächst schlecht in ein Genre einordnen lässt. Zwar vermutet man von Anfang an, dass sich hinter Isabels Verschwinden und Sabines wiederkehrenden Erinnerungen eine spannende und grausame Geschichte verbergen muss, doch bevor wir uns diesen Erinnerungen widmen, begleiten wir Sabine zunächst zu ihrer Arbeit und ihren gehässigen Kolleginnen. Dort erlebt Sabine die Hölle, die nur dadurch abgemildert wird, dass Frauenschwarm Olaf sich in sie verliebt und sich vom ersten Moment an an sie heranmacht. Sabine kann ihr Glück kaum fassen und lässt sich deswegen nicht mit ganzem Herzen auf die Affäre ein. Schon früh merkt sie zudem, dass sie Olaf gegenüber nicht die gleichen Gefühle entwickeln kann wie für Bart, ihren ersten und bislang einzigen Freund. Immer wieder denkt sie an Bart zurück und fragt sich, warum er sie nach Isabels Verschwinden links liegen gelassen hat und nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.

Nur langsam legt Simone van der Vlugt Spuren aus, die uns Hinweise darauf geben, was vor neun Jahren am Tag von Isabels Verschwinden passiert sein mag. Sehr geschickt konstruiert die Autorin ihre Geschichte dabei so, dass immer neue Verdächtige auftauchen. Kaum meint man, den Täter entlarvt zu haben, kommt Sabine eine neue Erinnerung, die wieder alles über den Haufen wirft und einen neuen Verdächtigen aus dem Hut zaubert. Mein persönlicher Hauptverdächtiger wechselte daher praktisch von Kapitel zu Kapitel, ohne dass ich mich für einen hätte entscheiden können, denn die neuen Spuren und Erinnerungen schließen niemals jemanden aus, sodass sich der Kreis der Verdächtigen stets erweitert. Das gibt Simone van der Vlugt schließlich auch die Möglichkeit, ihrem Roman ein Ende zu verpassen, das sich gewaschen hat und ihre Leser in Erstaunen versetzt. Obwohl man die Wende vielleicht hätte absehen können, war ich mir bis zum Schluss nicht ganz sicher, wer für Isabels Verschwinden verantwortlich war, und konnte mich deswegen richtig überraschen lassen. Und obwohl der Autorin ein echtes Überraschungsmoment glückt, passt es sich wunderbar in die Geschichte ein und wirkt keineswegs aufgesetzt oder künstlich konstruiert. Durch die verschiedenen Fährten, die Simone van der Vlugt ausgelegt hat, ist die Wende absolut stimmig!

Auch die Charakterzeichnung ist Simone van der Vlugt hervorragend gelungen. Wir sind in jedem Moment bei Sabine und lernen sie daher von vielen verschiedenen Seiten kennen. Wir reisen mit ihr in die Vergangenheit, hören von ihrer Freundschaft zu Isabel, die sich im Laufe der Zeit sehr gewandelt hat, bis Isabel plötzlich zu Sabines Feindin geworden ist, von der sie permanent gepiesakt wurde. Doch das Mobbing setzt sich in der Gegenwart weiter fort, denn dort sind es Sabines Arbeitskolleginnen, die ihr das Leben schwer machen. Sabines Verzweiflung und ihre Ängste erleben wir in jedem Moment hautnah mit. Auch die Beziehung zu Olaf, die anfangs glücklich und perfekt scheint, bekommt schnell Risse und bewegt sich in eine ungeahnte Richtung. All diese Veränderungen und Sabines Gefühle beschreibt Simone van der Vlugt zu jedem Zeitpunkt glaubwürdig und nachvollziehbar.

„Klassentreffen“ ist ein höchst erfreulicher Roman, der sich deutlich vom Mittelmaß abhebt und sich durch gelungene Figurenzeichnung und einen geschickt inszenierten Spannungsbogen auszeichnet. Obwohl Simone van der Vlugt am Ende eine dicke Überraschung für ihre Leser parat hat, bereitet sie dieses Aha-Erlebnis so gut vor, dass es sich stimmig in die Geschichte einfügt. Der vorliegende Roman überzeugt auf ganzer Linie und macht neugierig auf weitere Werke der niederländischen Autorin!

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|Ergänzend dazu: [„Schattenschwester“ 3625 (März 2007)|

Kastner, Jörg – wahre Kreuz, Das

Viele Spekulationen und Mythen umranken die Person Jesu Christi und geben immer wieder Anlass zu Romanen, die ein neues Licht auf einige dieser Mutmaßungen werfen wollen. So wissen wir spätestens seit Dan Brown, was sich hinter dem berühmten Heiligen Gral verbergen soll, doch auch Jörg Kastner greift sich für sein aktuelles Werk „Das wahre Kreuz“ eine berühmte Reliquie, nämlich das Kreuz, an dem Jesus einst gekreuzigt worden sein soll, und zieht daran seinen Plot auf. So befasst sich Kastners neuer Thriller mit dem wahren Kreuz oder zumindest doch einem kleinen Splitter davon.

Zunächst versetzt uns Jörg Kastner in das ausklingende 18. Jahrhundert, in eine Zeit, in der Napoleon Teile Ägyptens erobert und sich in Kairo breitgemacht hat. Wir lernen den Zeichner Bastien Topart kennen, aus dessen Perspektive die gesamte Geschichte geschrieben ist. Bastien nämlich reist zusammen mit seinem Onkel Jean nach Kairo, um dort eine mysteriöse Ausgrabungsstätte zu finden. Als die beiden zusammen mit ihrem Gefolge und ihrem Führer Abul den geheimen Tempel betreten, finden sie dort eine verängstigte und überaus hübsche Frau vor, die zum Menschenopfer für eine Schar Kreuzritter werden soll. Schnell werden die Franzosen von den Kreuzrittern angegriffen, die zwar noch mit altmodischen Waffen kämpfen, die Franzosen aber dennoch fast besiegen können. Doch Bastien und seine Begleiter können die Unbekannte und sich selbst aus dem Tempel befreien. Schnell entdeckt Bastien seine Zuneigung zu der schönen Frau, die den treffenden Namen Ourida trägt – zu Deutsch: Rose -, aber die gegenüber ihren Rettern stumm bleibt.

Nach der unliebsamen Begegnung kehren die Franzosen nach Kairo zurück, um dort den verschwundenen Abul nach dem Tempel zu befragen. Als sie jedoch Abul aufsuchen, finden sie diesen ermordet vor, und Bastien wird fast selbst noch Opfer des Attentäters, kann diesen allerdings gerade noch rechtzeitig überwältigen. Anschließend stellt er fest, dass der Dolch des Mörders das gleiche Kreuzzeichen trägt wie die Gewänder der Ritter aus dem Tempel. Kurz darauf versuchen Unbekannte, Ourida aus Jeans Haus zu entführen. Wer hat bloß ein Interesse daran, Ourida zu entführen und wer verbirgt sich hinter den mysteriösen Kreuzrittern?

Als Bonaparte Wind von den Vorkommnissen bekommt, möchte er Ourida höchstpersönlich kennen lernen und lädt sie gemeinsam mit Jean und Bastien zu sich in den Palast ein. Bonaparte ist sofort fasziniert von der schönen Unbekannten und beauftragt Bastien, Ourida zum Sprechen zu bringen und sie in der französischen Sprache zu unterrichten. Während des Unterrichts kommen sich Bastien und Ourida schnell näher und es bedarf nur einer Berührung, um Bastien in eine längst vergessene Zeit zu versetzen, in der er in den Kreuzzügen gekämpft und das wahre Kreuz bewahrt hat. Schon damals war er mit Ourida zusammen, doch was hat er gemeinsam mit dem Tempelritter Roland de Giraud?

Zu schnell erfährt Napoleons Plan eine Änderung; er holt Ourida zu sich in den Palast und schickt Bastien zurück in die Wüste, um das Geheimnis des Tempels zu ergründen. Dort angekommen, entdeckt Bastien schon bald eine im Tempel versteckte Bibliothek voller Bücher, die in unbekannten Schriftzeichen verfasst sind. Als Bastien nach Kairo zurückkehren will, um einen Experten zu holen, der die Schriftzeichen entschlüsseln kann, gerät er mit seiner Gefolgschaft in einen tödlichen Wüstensturm, in welchem die Franzosen von den Kreuzrittern angegriffen und besiegt werden. Nur Bastien wird wie durch ein Wunder von einem Beduinenstamm gerettet, welcher Bastien eine wahrlich sonderbare Geschichte erzählt, die ihn erneut zurück in die Zeit der Kreuzzüge versetzt, in der das Geheimnis um das wahre Kreuz verborgen liegt …

Jörg Kastner erzählt eine Geschichte, die in zwei verschiedenen Zeiten spielt. Zunächst werden wir in das ausklingende 18. Jahrhundert versetzt und begeben uns nach Ägypten, wo wir zwei der Schlüsselfiguren kennen lernen, nämlich Bastien und Ourida. Die beiden verbindet von Anfang an eine unwiderstehliche Anziehungskraft, die aber weit in die Vergangenheit zurückreicht. Als Ourida Bastien nämlich berührt, erinnert er sich wie in Trance daran, wie er als Tempelritter Roland in den Kreuzzügen auf der Seite des Königs Guido von Lusignon von Jerusalem gekämpft hat. Dieser wiederum war in Besitz des wahren Kreuzes, das seinen Kreuzrittern auch in den ausweglosesten Situationen immer wieder Mut gemacht und neue Hoffnung gegeben hat. Als das islamische Heer unter Führung von Saladin allerdings kurz vor dem Sieg steht, lässt Guido den Holzsplitter aus dem wahren Kreuz in Sicherheit bringen. Roland de Giraud ist einer der Tempelritter, denen das Kreuz anvertraut wird. Auf der gefährlichen Reise zurück nach Jerusalem treffen die Tempelritter schließlich auch auf die „damalige Ourida“ und ihr Volk. Diese Begegnung wird nicht nur das Schicksal Rolands für immer entscheidend verändern, sondern auch die Zukunft des wahren Kreuzes.

Natürlich vergisst Kastner auch nicht, in beide Geschichten, also in beide Zeiten, die erwartete Liebesgeschichte einzubauen. So verlieben sich Ourida und Roland im späten 12. Jahrhundert, deren Liebe wieder aufblüht, als sie sich fast 600 Jahre später in neuen Körpern wiedertreffen. Anders als mit Seelenwanderung ist diese Merkwürdigkeit wohl nicht zu erklären. Und hier beginnt auch schon die Abstrusität des Romans, denn man muss sich auf diese gedanklichen Zeitreisen in eine längst vergessene Vergangenheit schon einlassen, um sich mit dem Roman anfreunden zu können. Bastien stellt fest, dass er als Roland de Giraud bereits einmal gelebt hat und diese Zeit nun wieder rekonstruieren kann. Ich persönlich fand diese Zeitsprünge in der präsentierten Form ehrlich gesagt ziemlich merkwürdig und konnte mich nicht so recht mit dieser Entwicklung anfreunden, aber manch einem mag das gefallen.

Auch die Geschichte, die Kastner zu erzählen hat, fand ich nicht sonderlich innovativ. Langsam sollte es eigentlich genügend Romane geben, die sich Tempelritterthemen, heiligen Reliquien oder der Figur Jesu widmen. Wenn „das wahre Kreuz“ wenigstens spannend gewesen wäre, hätte man Kastner diesen aufgewärmten Plot noch verzeihen mögen, doch leider lässt das vorliegende Buch einen Spannungsbogen vermissen. Zu Beginn ist ziemlich unklar, worum es eigentlich gehen soll. Lange braucht Kastner, um zum Kern der Geschichte vorzudringen und das Geheimnis des wahren Kreuzes zu präsentieren. Unterdessen erleben wir die aufgefrischte Liebe zwischen Bastien und Ourida mit, erfahren, unter welchen Bedingungen die Ägypter unter Bonapartes Fuchtel zu leben hatten und lernen alle möglichen Figuren kennen, die im weiteren Verlauf der Geschichte leider kaum eine Rolle spielen. So schmückt Kastner seinen Roman mit allerlei Beiwerk aus, das kaum notwendig ist. Hinzu kommt der eher nüchterne Schreibstil, der an einen Reisebericht erinnern mag und wohl auch einer sein soll. Bastien schreibt uns seine unglaubliche Geschichte auf, vermag uns damit aber nicht so recht mitzureißen. Die Handlung lässt den Leser ziemlich kalt und entführt so rein gar nicht in die geheimnisvolle Vergangenheit, in der ein Beduinenvolk gegen die Kreuzritter kämpft.

Zugute halten muss man Jörg Kastner allerdings, dass er die verschiedenen Handlungsfäden am Ende sinnvoll zusammenführt; irgendwo ergibt alles seinen Sinn und ist auch gut durchkonstruiert; selbst die Zeitsprünge und die doppelte Identität Bastiens/Rolands ergeben schließlich Sinn, auch wenn sie wie gesagt gewöhnungsbedürftig anmuten. Insgesamt bleibt aber dennoch ein eher durchschnittlicher Eindruck zurück. „Das wahre Kreuz“ hat mich nicht sonderlich gut unterhalten können, der Plot war mir zu einfallslos, die Figurenzeichnung ist relativ farblos, der Schreibstil zu nüchtern. Meiner Meinung nach hat Jörg Kastner, insbesondere mit dem „Engelspapst“, schon deutlich bessere Lektüre abgeliefert.

http://www.knaur.de

|Siehe ergänzend dazu:|

[„Engelsfluch“ 808
[„Engelsfürst“ 2467
[„Die Farbe Blau“ 974

Mooney, Chris – Victim

Mit seinem Debütroman ist Chris Mooney in den Bestsellerlisten eingeschlagen wie eine Bombe, selbst einen Kinospot zum Buch gab es zu sehen, der „Victim“ als den spannendsten Thriller des Sommers angekündigt und verdächtige Ähnlichkeit mit dem packenden (und genial konstruierten) Thriller „Saw“ hat. Meine Erwartungen waren also entsprechend hoch angesetzt …

Die Geschichte nimmt im Jahre 1984 ihren Anfang, als Darby McCormick mit ihren beiden Schulfreundinnen Mel und Stacey beobachtet, wie ein unbekannter Mann im Wald eine junge Frau bedroht. Während Darby noch darüber nachdenkt, Hilfe zu holen, flüchten Stacey und Mel bereits in Panik. Als Darby sich ihnen anschließt, verliert sie bei der Flucht allerdings ihren Rucksack. Als die drei Mädchen zusammen mit der Polizei in den Wald zurückkehren, sind der Mann und die ängstliche Frau verschwunden und aus Darbys Portemonnaie wurden Geld und Ausweise entwendet.

Einige Zeit spät hört Darby abends ein merkwürdiges Geräusch im Haus und glaubt, dass ihre Mutter früher Feierabend gemacht hat. Doch es ist der Mann aus dem Wald, der Stacey erstochen hat und nun Mel mit einem Messer bedroht, um Darby aus ihrem Versteck zu locken. Mels bittende Worte werden Darby noch lange in Erinnerung bleiben, denn Darby kann fliehen, aber ihre Freundin Melanie bleibt von diesem Tag an verschwunden. Es dauert nicht lange, bis der Fall scheinbar gelöst werden kann, doch hat sich wirklich der richtige Täter das Leben genommen?

Im Jahr 2007 setzt sich die Geschichte fort. Darby arbeitet nun selbst bei der Polizei und muss einen Fall aufklären, der dem vor 23 Jahren verdächtig ähnelt. Wieder verschwinden eines Sommers viele junge Frauen und bleiben fortan verschwunden. Als die junge Carol entführt wird und man ihren Freund ermordet auffindet, greift Darby in der Nähe des Tatorts eine völlig verwahrloste und halb verhungerte Frau auf, die offensichtlich ihrem Peiniger entkommen konnte.

Einige Zeit braucht es, bis die Polizei die junge Frau als Rachel Swanson identifizieren kann, die vor fast fünf Jahren als vermisst gemeldet wurde. Rachel liegt schwer krank und traumatisiert im Krankenhaus und vertraut sich nur Darby an, in der sie eine Frau aus dem Verschlag wiederzuerkennen meint, die mit ihr gefangen gehalten wurde. Rachel zeichnet mysteriöse Zeichen auf ihren Arm, kann der Polizei aber keinen konkreten Hinweis auf ihren Entführer geben. Darby tappt also weiterhin im Dunkeln und muss fürchten, dass die verschwundene Carol in der Zwischenzeit ermordet wird. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Was die Polizei aber noch nicht ahnt: Der Mörder hat einen gefährlichen Komplizen …

Chris Mooneys packender Thriller schlägt von Beginn an ein hohes Tempo an und lässt sich rasend schnell lesen. Schon nach wenigen Seiten war ich vollkommen in der Geschichte versunken und habe zwischendurch nur kurz überprüft, ob ich auch wirklich die Haustür abgeschlossen hatte, denn beim Lesen lief mir ein Schauder nach dem anderen über den Rücken, weil Mooney eine wahrlich grausame Geschichte zu schreiben weiß.

Zunächst begibt er sich in das Jahr 1984, in welchem er seinen Mörder das erste Mal auf den Plan treten lässt. Der Leser ahnt natürlich von Anfang an, dass die Vermisstenserie von 2007 mit dem früheren Fall zusammenhängt und wahrscheinlich der gleiche Täter dahintersteckt. Als Mooney uns schließlich mit Daniel Boyle bekannt macht, der für die Entführung der Frauen verantwortlich ist, eröffnet er damit einen zweiten Handlungsstrang, der seinem Thriller noch mehr Tempo verleiht. Dieser Handlungsstrang um Daniel Boyle verdeutlicht nämlich sehr schnell, dass Boyle einen ernst zu nehmenden Komplizen hat. Wir lernen den Mörder immer besser kennen und verfolgen ihn bei all seinen Schritten. So wissen wir schon früh, dass er Darby von früher wiedererkannt hat und ihr nun auf der Spur ist, um das zu Ende zu bringen, was ihm 1984 nicht gelang.

Mooney erzählt eine erschreckende Geschichte, ohne aber allzu sehr in die Details zu gehen. Da Rachel nicht ansprechbar ist, können wir meist nur ahnen, was genau ihr in den fünf Jahren Gefangenschaft widerfahren sein kann. Auch Boyles Erinnerungen tragen dazu bei, den drohenden Schrecken noch greifbarer zu machen, doch sind wir nur selten dabei, wenn er wirklich in den Keller geht, um dort die gefangenen Frauen zu quälen. Das aber ist auch gar nicht nötig, um „Victim“ noch spannender zu machen; der wirkliche Horror versteckt sich meist zwischen den Zeilen und macht die Geschichte dadurch nur umso grausamer, zumal die Phantasie des Lesers dadurch angeregt wird, die bekanntlich grenzenlos sein kann …

Die Polizei und allen voran Darby McCormick tappen lange Zeit im Dunkeln, der Täter hat nur wenige Spuren hinterlassen, die nun zu deuten sind. Die Polizei weiß aber noch nicht, dass diese Spuren sie auf eine falsch gelegte Fährte führen werden. Darby wird nicht schlau aus Rachels Worten, sodass sie immer mehr fürchten muss, dass die Zeit für die entführte Carol knapp wird. Außerdem plagen sie immer wieder Gewissensbisse, weil sie sich in ihrer Jugend nicht dem Mann aus dem Wald gestellt hat, um vielleicht ihre Freundin Mel damit zu retten. Niemals hat sie sich verziehen, ihre Freundin im Stich gelassen zu haben, und immer wieder malt Darby sich aus, wie es hätte werden können, wenn sie ’84 anders gehandelt hätte. Hinzu kommen ihre Sorgen um die schwerkranke Mutter, die unheilbar an Krebs erkrankt ist und nun auf den Tod wartet. Viele Sorgen quälen Darby, sodass sie gar nicht merkt, wie nah der Mörder ihr in der Zwischenzeit gekommen ist.

Mooneys Geschichte ist über weite Strecken packend wie kaum eine andere, doch hakt sie leider an manch einer Stelle. Früh stellt uns Mooney den Mörder vor und macht klar, dass Boyle einen Komplizen hat, den wir als Richard kennen lernen. Einige Hinweise, die Mooney uns an die Hand gibt, lassen uns früh ahnen, um wen es sich bei Boyles Helfer handeln könnte. Als Daniel Boyles Mittäter sich am Ende outet, muss man leider feststellen, dass Mooney uns hier auf keine falsche Fährte gelockt hat, sondern dass wir von Anfang an den richtigen Riecher hatten. Leider geht dadurch am Ende das Überraschungsmoment verloren. Im Übrigen plätschert die Geschichte auf den letzten 40 Seiten ziemlich lahm aus, weil die Schuldigen gefunden sind und die Polizei nun lediglich die Details zu rekonstruieren versucht. Spannender wäre es gewesen, derlei Details in die eigentliche Geschichte einzufügen. Mooney hätte in den Passagen, in denen wir uns bei Daniel Boyle befinden, die Möglichkeit gehabt, die meisten Fragen schon vorher zu klären.

Auch einige logische Unstimmigkeiten haben sich eingeschlichen: Nachdem Darby und ihre Freundinnen den Mann im Wald aufgeschreckt haben, verschwinden Geld und Ausweise aus Darbys Rucksack. Es ist also klar, dass der Mörder weiß, wer ihn beobachtet hat und wo er diese Zeugin finden kann. Wieso hat die Polizei nicht besondere Schutzmaßnahmen ergriffen? Das hätte Stacey retten und den Mörder schon damals dingfest machen können. Wäre es nicht logisch gewesen, Darby unter Personenschutz zu stellen, wenn der Mörder ihre Identität und ihre Adresse kennt? Mich zumindest hat es doch sehr gewundert, dass dies nicht passiert ist.

Unter dem Strich ist „Victim“ aber in der Tat ein höchst spannender und lesenswerter Thriller, der seine Leser vollkommen gefangen nimmt und in eine schreckliche Welt entführt. Der vorliegende Thriller ist leider nicht bis ins letzte Detail durchdacht und wird dem Vergleich mit „Saw“ auch nicht gerecht, der in der Kinowerbung doch so offensichtlich war, aber über manche Unstimmigkeiten sieht man trotzdem gern hinweg.

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Indriðason, Arnaldur – Engelsstimme

Der isländische Schriftsteller Arnaldur Indriðason hat geschafft, wovon andere Krimiautoren nur träumen können: Zweimal wurden seine Bücher mit dem „Nordic Crime Novel’s Award“ ausgezeichnet – eine Ehre, die bislang keinem anderen Autor zuteil wurde. Und gerade in Zeiten, wo sich der allseits verehrte Henning Mankell aus dem Krimigenre zurückgezogen zu haben scheint, ist Platz für andere Talente wie eben Indriðason. In „Engelsstimme“ beweist er, dass sein Krimiheld Erlendur nicht nur weit zurückliegende Mordfälle lösen kann, sondern auch aktuelle, wenngleich sie ebenfalls fest in der Vergangenheit verwurzelt sind.

In einem Hotel in Reykjavík wird kurz vor Weihnachten die als Weihnachtsmann verkleidete Leiche des Portiers Guðlaugur in seiner kleinen Kellerkammer tot aufgefunden. Guðlaugurs Hosen sind noch heruntergelassen und ein Kondom ziert seinen Leichnam. Erlendur und seine Kollegen sind schockiert und machen sich auf die Spurensuche.

Doch zunächst tappen sie im Dunkeln, denn im Hotel scheint niemand Kontakt gehabt zu haben zu dem mysteriösen Portier, der im Hotel das Mädchen für alles war und seit vielen Jahren in einer kleinen Kammer im Keller hauste und dort vom Hotelmanager geduldet wurde. Der hat jetzt allerdings eher Sorge, dass in seiner Hauptsaison zu Weihnachten und Silvester das Hotel geschlossen werden muss oder dass Gäste fernbleiben, wenn sie von dem Mord hören. Als die Polizisten schließlich von allen Hotelangestellten und Gästen Speichelproben nehmen, weil das Kondom Speichelreste aufweist, ist die Panik im Hotel groß. Doch ein kleiner Notizzettel in Guðlaugurs Zimmer ist es, der für eine erste Spur sorgt, denn laut diesem war Guðlaugur an einem Abend mit einem gewissen Henry verabredet.

Henry stellt sich schließlich als Schallplattensammler aus England heraus, der sich auf Chorknaben spezialisiert hat. Und wie Erlendur dann herausfinden muss, war Guðlaugur in seiner Kindheit einer der besten Chorknaben, der allerdings mitten in einem wichtigen Konzert in den Stimmbruch kam, woraufhin seine Engelsstimme verloren war. Da der Stimmbruch sehr früh kam, sind Guðlaugurs Plattenaufnahmen inzwischen viel Geld wert. Henry wiederum möchte die restliche Auflage kaufen, damit seine eigenen Platten noch mehr an Wert gewinnen.

Um der Lösung des Falles auf die Spur zu kommen, quartiert Erlendur sich kurzerhand im Hotel ein, damit er gleich vor Ort ist und um der einsamen Stille zu Hause zu entfliehen. Doch kann er im Hotel nicht seiner Tochter Eva Lind entkommen, die ihn praktisch jeden Abend besucht und ihn dabei teilweise in verhängnisvollen Situationen antrifft. Aber das soll nicht Erlendurs einzige Sorge sein, denn vor allem Guðlaugurs Schwester und der querschnittsgelähmte Vater geben ihm Rätsel auf: Als sie vom Tod Guðlaugurs erfahren, zeigen sie keinerlei Trauer. Was ist in dieser geheimnisvollen Familie vorgefallen? Erlendur wird es herausfinden und dabei wieder weit in die Vergangenheit zurückgehen …

Arnaldur Indriðason beweist erneut auf seine unvergleichliche Weise, dass er sich seinen Platz in den internationalen Bestsellerlisten vollauf verdient hat, und er zeigt eindrucksvoll, dass sein Held Erlendur nicht nur längst vergangene Mordfälle lösen kann, sondern sich auch neuen Mordopfern mit Leidenschaft widmet. Doch dieser Roman wäre kein echter Indriðason, wenn die Vergangenheit nicht eine große Rolle spielen würde, und so liegt auch die Lösung für diesen Todesfall in der Vergangenheit begraben. Denn das Mordopfer war noch ein kleiner Junge, als sein Leben eine schreckliche Wende nahm: Bei seinem wichtigsten Auftritt vor zahlreichen Zuschauern versagt ihm die Stimme und der junge Guðlaugur wird öffentlich ausgelacht. Sein strenger Vater kann ihm den frühen Stimmbruch und das verfrühte Ende seiner Karriere nicht verzeihen, doch was ist noch vorgefallen in dieser Familie?

Auch der mysteriöse Plattensammler Henry hat einiges zu verbergen und verstrickt sich immer wieder in Lügengeschichten. Als sich der Kreis langsam um ihn schließt, versucht er zu fliehen, doch natürlich hat er die Rechnung ohne Erlendur gemacht, der ihn wieder aufspüren kann und auch einige dunkle Geheimnisse aus Henrys Leben ans Tageslicht bringt. Guðlaugurs Schwester steht Henry in nichts nach, nur häppchenweise macht sie Zugeständnisse. Zunächst will sie gar nichts mit der Polizei zu tun haben, da sie der Mord an ihrem Bruder nichts anzugehen scheint. Als sich die Ermittlungen jedoch immer mehr um sie drehen, kommt sie langsam mit der Wahrheit heraus, verrät aber immer noch nur so viel, wie unbedingt notwendig scheint. Und dann wären da noch einige Hotelangestellte, die sich quer stellen und Erlendur bei seiner Ermittlung behindern wollen. Nicht jeder stimmt dem Speicheltest zu und niemand will gesehen haben, dass Guðlaugur Besuch bekommen hat, der vielleicht der gesuchte Mörder hätte sein können. Viele Verdächtige tauchen also auf, und als Leser tappt man gemeinsam mit Erlendur im Dunkeln und ist dem Krimihelden niemals einen Schritt voraus.

Wieder einmal schickt Indriðason seinen Ermittler los, um einen mysteriösen Mordfall zu lösen. Wieder einmal werden ihm viele Steine in den Weg gelegt, und auch privat läuft es alles andere als gut. Weihnachten steht vor der Tür und Erlendur möchte diesem Familienfest am liebsten entfliehen, denn seine Tochter Eva Lind hat den Verlust ihres Babys immer noch nicht verwunden und Erlendur sucht noch immer die Frau seines Lebens. Ein Rendezvous bringt er immerhin zustande, doch auch dieses findet kein glückliches Ende. Krimihelden müssen einfach tragisch sein, auch Indriðason unterstreicht dies in jedem seiner Romane. Auch Erlendurs verschollener Bruder lässt ihn immer noch nicht los, obwohl das schreckliche Schneegestöber, aus dem Erlendurs Bruder nicht gerettet werden konnte, inzwischen viele Jahre zurück liegt. Mit jedem Roman lernen wir Erlendur näher kennen, Indriðason zeichnet seinen Krimihelden mit viel Liebe und fügt seinem Bild mit jeder Geschichte eine neue Facette hinzu, sodass uns Erlendur immer sympathischer wird, auch wenn er manchmal ein komischer Kauz sein kann.

Doch nicht nur in Sachen Charakterzeichnung punktet Indriðason, auch sein Kriminalfall hat es in sich und weiß vollauf zu überzeugen. Zwar packt Indriðason keine politischen Probleme an wie manche seiner Kollegen, und er kommt auch mit wenigen Leichen und wenig Blutgemetzel aus, doch seine Fälle sind nicht minder spannend. Indriðasons Geschichten sind etwas leiser und stiller als die Krimifälle, die in Schweden oder auch Norwegen zu lösen sind, dafür sind seine Kriminalromane meist sehr ausgefeilt und gut choreografiert. Indriðason hat einfach alles, was das Krimiherz beglückt, und so weiß er auch mit „Engelsstimme“ wieder einmal zu überzeugen. Selbst seine finale Wendung, die am Ende noch einmal alles über den Haufen wirft, ist glaubwürdig in die Geschichte eingebaut, sodass man das Buch zufrieden zuklappen und sich auf den nächsten Indriðason freuen kann!

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Fröhlich, Susanne – Moppel-Ich

Die Deutschen werden dicker und dicker. Laut einer aktuellen Studie soll inzwischen bereits jeder zweite an Übergewicht leiden – was könnte da also passender sein als ein Diät-Buch? Doch Susanne Fröhlichs „Moppel-Ich“ ist kein typisches Diät-Buch, hier gibt es keine Rezepte zu lesen und auch keine Diät vorgesetzt, nein, hier geht es um das Zwiegespräch mit dem Moppel-Ich, das Susanne Fröhlich während ihrer eigenen (offensichtlich vergangenen) Diät oftmals gehalten hat. Das Moppel-Ich – wer kennt es nicht? – das ist der innere Schweinehund, der einem nach der halben Pizza „gut“ zuredet, dass es nun ja nicht mehr drauf ankomme und man ruhig auch noch die andere Hälfte und das Dessert essen dürfe. Eine Diät könne man immerhin auch morgen anfangen, der heutige Tag sei schließlich mit der ersten Hälfte Pizza bereits ruiniert. Tja, und naiv wie man nun mal ist, möchte man nur allzu gern auf dieses besagte Moppel-Ich hören, das einen immer wieder an einer erfolgreichen Diät hindert.

Wie Susanne Fröhlich richtig erkannt hat – ich kann das aus eigenen leidvollen Erfahrungen bestätigen – ist es tatsächlich das Moppel-Ich, an dem die anvisierte Kleidergröße zwangsläufig scheitern muss. Doch damit soll nun Schluss sein, Fröhlich will den Kampf gegen das eigene Moppel-Ich aufnehmen und schildert in ihrem Diät-Tagebuch von ihren eigenen Abnehmversuchen, die schlussendlich zum Verlust von rund 25 kg geführt haben. Ganz nebenbei erzählt Fröhlich von ihren eigenen unangenehmen Erfahrungen mit dem (Über-)Gewicht, wenn beispielsweise die anprobierte Hose in der Umkleidekabine partout nicht über den Po gehen will und schlussendlich einige Nähte den Anziehversuchen nachgeben müssen oder wenn zickige Schlanke mit ihren spitzen Fragen das Selbstbewusstsein der abnehmenden Dicken erschüttern möchten. Doch Fröhlich will sich von all dem nicht verunsichern oder gar demotivieren lassen, denn sie hat längst erkannt, dass Schlanke ihr den Abnehmerfolg bloß nicht gönnen, weil sie dann zur schlanken Konkurrenz werden könnte. Denn jeder dicke Mensch hat seinen besonderen Status in der Gesellschaft, im Freundeskreis ist es derjenige der dicken und gutmütigen Freundin, die im Bikini garantiert schlechter aussehen wird als man selbst, und auch in der Öffentlichkeit ist es die Rolle der Dicken, gegen die jede andere Frau dann umso schlanker aussehen kann.

In zahlreichen Episoden schildert Susanne Fröhlich uns ihre erfolgreiche Diät, aber sie lässt auch nicht die Rückschläge aus, wenn dann doch die kulinarischen Verlockungen und das Moppel-Ich stärker sind. Aber sie macht Hoffnung darauf, dass ein Rückschlag noch lange nicht das Ende einer Diät sein muss, solange man sich davon nicht so weit deprimieren lässt, dass man instantan die begonnene Diät wieder abbricht. Auch die Analyse des Diät-begleitenden Partners findet Eingang in dieses Buch oder aber die kritische Auseinandersetzung mit heutigen Konfektionsgrößen, die bei gleichem Stoffumfang einen immer erniedrigenderen Namen tragen, denn schon mit Kleidergröße 38 wird man nur schwerlich in die Größe XL in manch einem Geschäft passen, wenn man Fröhlich glauben mag. So ist „Moppel-Ich“ schließlich ein Diät-Potpourri, das viele Seiten (gute wie schlechte) einer Diät aufzeigt und den Leser an die Hand nehmen und dazu motivieren mag, auch sein eigenes Leben und seine Ernährung umzustellen. Erst ganz am Ende berichtet Fröhlich von der Diät, die sie selbst eingeschlagen hat, und beruft sich dabei größtenteils auf die Glyx-Diät. Andere Diät bekommen dagegen im wahrsten Sinne des Wortes ihr Fett weg.

So viel zum Inhalt, an dem man schon erkennen kann, dass sich das vorliegende Buch nur schwer einem Genre zuordnen lässt. Denn es handelt sich dabei weder um einen Roman noch um ein Sachbuch, es gibt keine Romanhandlung, keine fiktiven Figuren, durch deren Leben wir geführt werden, und um sich Sachbuch nennen zu können, fehlen mir persönlich ehrlich gesagt die wissenschaftlich fundierten Fakten. Auf mich macht „Moppel-Ich“ eher den Eindruck eines etwas erweiterten Tagebuchs, das Susanne Fröhlich inzwischen erfolgreich zu viel Geld gemacht hat.

Doch wer soll eigentlich die Zielgruppe für dieses Buch sein? Offensichtlich gehöre ich dazu, denn ich habe den Fehler gemacht, mir das Buch zu kaufen – zugegebenermaßen allerdings unter falschen Voraussetzungen, denn eigentlich hatte ich mir einen lustigen Roman inklusive Romanhandlung darunter vorgestellt. Damit lag ich allerdings weit daneben. Zu „Moppel-Ich“ werden wahrscheinlich all die diätgeplagten Frauen greifen, denen die Hosen vor dem Sommer wieder einmal arg kneifen und bei denen die Bikini-Figur in weiter Ferne liegt. Allerdings wird genau diese Zielgruppe nicht bedient. Denn was hat Frau Fröhlich uns eigentlich zu sagen? Im Grunde genommen nämlich nicht viel und vor allem nichts Neues. Denn dass Sport zu einer Diät dazugehört und dass Frauen größtenteils abnehmen, weil sie in schönere Klamotten passen wollen (die es eben nicht bei Ulla Popken zu kaufen gibt), das ist nun wirklich ein alter Hut. Warum sollte ich also „Moppel-Ich“ lesen? Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Das vorliegende Buch ist weder lustig noch informativ, sodass ich alle diätwilligen Frauen, die ein weiteres Diätbuch lesen wollen, nur vor einem Kauf warnen kann; da sollte man lieber bei Helen Fieldings „Bridget Jones“ bleiben – das ist zwar auch kein wirkliches Diätbuch, aber zumindest eins mit einer sympathischen moppeligen Hauptfigur, die die eigenen Sorgen teilt.

Frau Fröhlich möchte hier wohl ihre eigenen Erfahrungen und einige Episoden aus ihrem bewegten Leben mitteilen. Doch leider versucht sie dies mit ziemlich erzwungenem Humor, der einem beim Lesen das Lächeln im Gesicht gefrieren lässt. Ehrlich gesagt glaube ich, dass selbst Hera Lind humorvoller schreiben kann als Susanne Fröhlich. Fröhlichs Episoden verdienen meistens eher den Stempel „peinlich“ als „lustig“, denn was nutzt mir eine 24-seitige Abhandlung über familiäre Diätbremsen, die mir erklärt, dass Kinder, Ehemann und Mutter dick machen, weil sie jede Diät boykottieren? Immerhin kann man seine Familie schlecht abgeben, wenn man denn eine Diät plant; hinterher mag man dann zwar ein paar Kilo verloren haben, aber auch seine Familie und wahrscheinlich gar die Freunde, wenn man mit der Einstellung an eine Diät herangeht, dass alle von außen die Abnehmversuche ohnehin nicht unterstützen werden.

Unter dem Strich bleibt nur noch einmal festzuhalten, dass man vom „Moppel-Ich“ lieber die Finger lassen sollte. Wer ein gutes Diätbuch sucht, sollte sich direkt ein Buch über die Glyx-Diät kaufen, die im übrigen zum Teil sehr informativ sind, und wer einen lustigen Roman sucht, der findet unzählige bessere und unterhaltsamere Bücher. So war das „Moppel-Ich“ meine erste und mit Sicherheit auch letzte „literarische“ Bekanntschaft, die ich mit Susanne Fröhlich geschlossen habe …

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Kalla, Daniel – Immun

An der Westküste Nordamerikas setzt ein Auftragskiller ein tödliches Bakterium frei. Der Mann, der sich Dennis Lyndon Tyler nennt, verschenkt im Drogenmilieu eine todbringende Droge, die zum Ausbruch eines Bakteriums führt, den die Drogensüchtigen in die ansässigen Krankenhäuser schleppen. Als der Familienvater Thomas Mallek wegen eines Sportunfalls in Vancouver in die Notaufnahme kommt, wird er Zeuge, wie der behandelnde Arzt einer jungen Frau ein Abzess aufsticht. Doch der Eiter spritzt dabei so weit, dass auch Mallek davon getroffen wird. Dieser Spritzer Eiter von der kranken Drogensüchtigen wird Malleks Todesurteil sein. Doch auch in anderen Krankenhäusern an der Westküste breitet sich ein Bakterium aus, das auf keine Antibiotikabehandlung anschlägt, da es gegen sämtliche bekannten Medikamente resistent ist.

Zeitgleich bangt Dr. Ellen Horton um die Zulassung ihres neuen Antibiotikums Oraloxin, denn obwohl es sich im Test gegen Bakterien hervorragend behauptet, macht sich die Wissenschaftlerin Sorgen, denn in den Oraloxin-Testreihen sind bereits drei Schimpansen gestorben. Ellen Horton versucht sich aber zu beruhigen, denn die Tiere wurden über lange Zeit mit einer hohen Dosis behandelt, während Menschen Antibiotika jedoch nur über einen kurzen Zeitraum verabreicht bekommen. Dennoch hält Horton den Gewissenskonflikt kaum aus, da sie den Tod der Schimpansen bisher verheimlicht hat. Nur ihre beiden Kollegen und der für Forschung und Entwicklung zuständige Vizepräsident von SeptoMed Luc Martineau wissen von diesen Problem.

In anderen Handlungssträngen lernen wir Dr. Catalina Lopez kennen, die als Epidemiologin beim EIS (Epidemiologischen Informationsdienst für den pazifischen Nordwesten) arbeitet und durch das neue Bakterium bald viel zu tun bekommt, denn sie ist dafür verantwortlich, die Verbreitung des neuen Bakteriums, das bald MRGAS getauft wird, zu vermeiden. Hilfe erhält sie von Dr. Graham Kilburn, der als praktischer Arzt in Vancouver arbeitet und in seiner Funktion als Spezialist für Infektionskrankheiten ins Krankenhaus gerufen wird, als Thomas Mallek im Sterben liegt und auf keine Antibiotikabehandlung anspricht. Aber auch zwei Polizisten sind dem mysteriösen Bakterium und seinem Verbreiter auf der Spur, nachdem nämlich zwei Drogendealer in Portland ermordet aufgefunden werden, die offensichtlich von einem Profi exekutiert worden sind. Langsam aber sicher kommen Seth Cohen und Roman Leetch dem unbekannten Mörder und damit auch dem Bakterium auf der Spur.

In hohem Tempo und mit schnellen Wechseln der Schauplätze erzählt Daniel Kalla seinen neuen Medizinthriller, der nicht minder packend ist als sein Debütroman [„Pandemie“, 2192 der ebenfalls für schlaflose Nächte gesorgt hat. Seine Zutaten für einen spannenden Thriller sind dabei wieder einmal erfolgversprechend: Er nimmt mutige Protagonisten und solche, die etwas zu verbergen haben und ihr dunkles Geheimnis hüten wollen, und mixt aus seinen verschiedenen Handlungssträngen einen packenden Roman, der gut zu unterhalten weiß.

Im Mittelpunkt stehen dieses Mal allerdings so viele Figuren, dass man zunächst einige Schwierigkeiten hat, sich einzulesen und an den unterschiedlichen Handlungsorten zurechtzufinden. Außerdem erschwert die hohe Anzahl handelnder Charaktere die Identifikation, obwohl sich im Laufe des Romans Catalina Lopez und Graham Kilburn als Helden der Geschichte erweisen werden. Die beiden sind es, die – unterstützt durch die beiden Polizisten – dem gefährlichen Bakterium auf die Spur kommen, denn es will nicht nur ein Weg gefunden werden, um die Verbreitung des Bakteriums zu stoppen, sondern auch eine Medikation, die bereits Betroffenen helfen kann. Darüber hinaus liegt lange Zeit im Dunkeln, wer MRGAS durch einen Auftragskiller verbreiten lässt.

Mit fortschreitender Handlung nimmt die Spannung immer mehr zu; wir nähern uns dem Geheimnis um das Bakterium und seine Entstehung und bangen um das Leben unserer Helden, die plötzlich ins Zielfeuer des Killers geraten, als sie nämlich immer mehr Erfolge bei ihren Nachforschungen vorweisen können. Doch hier tauchen schließlich auch die ersten Kritikpunkte auf, die man nicht verschweigen sollte: Recht schnell zeichnet sich nämlich ab, wer ein gesteigertes Interesse daran haben könnte, MRGAS zu verbreiten und damit das Leben unzähliger Menschen in Gefahr zu bringen. Die Spuren, die Daniel Kalla hier für uns und seine Protagonisten auslegt, sind einfach zu offensichtlich und bergen kaum Überraschungen.

Selbstverständlich baut Kalla am Ende noch ein Überraschungsmoment ein, das den Leser noch einmal erstaunen mag, doch mit dieser finalen Wendung handelt Kalla sich allerdings auch einige logische Patzer ein. Denn die Entwicklung seiner Charaktere ist am Ende einfach nicht mehr schlüssig, wenn man diese Wendung mit einbezieht. Wieso nämlich sollte sich jemand so verdammt auffällig und hinterrücks verhalten, wenn er am Ende doch gar nichts zu verbergen hat und vollkommen unschuldig ist? Das ist mir nicht klar geworden und mindert definitiv das Lesevergnügen. Mir wäre es lieber gewesen, wenn Kalla seine Linie beibehalten hätte, auch wenn es dann am Ende eben keine Überraschung mehr gegeben hätte. Doch dann wäre zumindest sein Plot stimmig gewesen. So gelingt ihm jedenfalls nicht die Gratwanderung, die zu einer gelungenen Überraschung hätte führen können. Ganz im Gegenteil, sein Überraschungsmoment sorgt am Ende höchstens für Verärgerung, denn ich persönlich habe mich schon ein wenig veräppelt gefühlt.

So bleibt festzuhalten, dass Daniel Kalla mit „Immun“ zwar wieder ein hochspannender Pageturner gelungen ist, der über weite Strecken gut zu unterhalten weiß, der aber am Ende doch nicht voll überzeugen kann. Kallas Buchende wirkt auf mich unnötig konstruiert und alles andere als stimmig, sodass der Gesamteindruck des Buches darunter zu leiden hat. Wer darüber hinaus auf der Suche nach ausgefeilter Figurenzeichnung und literarischem Hochgenuss ist, der sollte von „Immun“ lieber die Finger lassen, denn Kalla bedient sich in seinem vorliegenden Roman relativ einfacher Figuren, die wenig Profil gewinnen, aber natürlich nicht die unvermeidliche Liebesgeschichte vermissen lassen. Auch sein Schreibstil ist eher schlicht und schnörkellos gehalten – das wiederum sorgt allerdings für einen gelungenen Spannungsbogen. Insgesamt gefällt „Immun“ über weite Strecken ziemlich gut, handelt sich aber gen Ende so viele Minuspunkte ein, dass der vorliegende Medizinthriller leider nicht über das Mittelmaß hinauskommt.

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Fried, Amelie – Findelfrau, Die

Holly Berger ist 38 Jahre alt und führt ein vermeintlich perfektes Leben: Sie ist mit ihrem Traummann Chris verheiratet, den sie einst auf einer WG-Party kennen gelernt hat, als sie sich in der Gästetoilette eingeschlossen hatte und die Tür nicht mehr aufbekam. Chris wurde an dem Abend nicht nur ihr Retter in der Not, sondern auch ihre große Liebe. Aber auch nach 15 Ehejahren sind die beiden glücklich wie am ersten Tag und leben nun zusammen mit ihren beiden Kindern, die kurz vor der Pubertät stehen. Holly hat bereits zwei erfolgreiche Ratgeber geschrieben und sucht nun nach einem Thema für den nächsten Bestseller. In dieser perfekten Idylle erfährt Holly allerdings, dass sie als Neugeborenes ausgesetzt wurde und dass ihre Eltern demnach nicht ihre leiblichen Eltern sind. Holly ist schockiert, ihr ganzes bisheriges Leben ist für sie zu einer großen Lüge geworden.

Auf der Verlobungsfeier ihres „Bruders“ kommt es zum Eklat: Holly klagt ihre Adoptivmutter Margarete an und wirft ihr vor, sie 38 Jahre lang belogen zu haben, die ganze Familie droht auseinanderzubrechen. Als Holly aber auch noch erfahren muss, dass sogar ihr Mann Chris von dem großen Geheimnis gewusst hat, zerbricht alles, woran sie bislang geglaubt hat. Trotz der wenigen Hinweise, die sie auf die wahre Identität ihrer Mutter hat, macht Holly sich auf eine detektivische Suche nach ihren Wurzeln. Nach und nach kommt sie ihrer Mutter auf die Spur, die sie schließlich nach Ägypten in ein Frauenkloster führt.

In Ägypten erhält sie Hilfe durch die lebenslustige Inga und ihren Geschäftsführer Ashraf, die Holly bei ihrer Suche in allen Belangen unterstützen. Im Kloster angekommen, erfährt Holly allerdings, dass ihre Mutter sie gar nicht sehen will; eine Welt bricht für Holly zusammen, denn selbst ihre Ehe kriselt gewaltig, außerdem bemerkt Holly, dass sie Ashraf mehr als nur nett findet und kommt ihm immer näher …

Ob Holly ihre leibliche Mutter am Ende schließlich doch noch kennen lernen wird und ob sie ihre Ehe wieder kitten kann, das enthält Amelie Fried uns natürlich nicht vor, denn ganz am Ende wird sich alles auflösen. Gemeinsam mit Holly Berger erleben wir, wie ihr bisheriges Leben auseinanderbricht, als sie erfahren muss, dass sie als Kind ausgesetzt wurde und ihre Familie gar nicht ihre „echte Familie“ ist.

Zu Beginn lernen wir Holly als glückliche Familienfrau kennen, die in ihrem Beruf als Schriftstellerin erfolgreich ist und nun nach einem Thema für ihr nächstes Buch sucht. Ihr Verleger Jochen, der gleichzeitig ein guter Jugendfreund Hollys ist, schlägt ihr einen Ratgeber für eine glückliche Ehe vor, weil Holly und Chris das einzig glückliche Ehepaar im gesamten Freundeskreis sind. Während Holly nämlich die schwerste Krise ihres Lebens durchstehen muss, erleben auch ihre beiden besten Freundinnen Schlimmes: Diana, die beruflich außerordentlich erfolgreich ist und sich nebenbei einen Geliebten hält, weil sie dies für wesentlich unkomplizierter hält als eine Ehe, wird nun von der Frau ihres Geliebten verfolgt und tyrannisiert, aber Karins andere beste Freundin Karin hat es sogar noch übler getroffen: Ihr Ehemann sendet versehentlich eine für seine Geliebte bestimmte SMS an seine Frau, sodass seine Affäre auffliegt. Karin ist am Boden zerstört, denn ihr Mann weigert sich, die Affäre zu beenden und verlangt vielmehr Verständnis für seine außerehelichen Eskapaden von Karin. Ein Eheratgeber scheint also die perfekte Idee für einen neuen Sachbuchbestseller zu sein. Obwohl Holly sich einen Haufen Literatur zu dem Thema besorgt, kommt sie mit ihrem Buch aber nicht so recht voran, da die Suche nach ihrer Mutter und ihre persönlichen Probleme sie zu sehr ablenken.

Wir erleben jedes Hoch und jedes Tief in Hollys Leben mit; Amelie Fried zeichnet einen Charakter, der zu Beginn des Buches ins Bodenlose stürzt und ein emotionales Chaos erlebt. Wir lernen Holly zu einem Zeitpunkt kennen, als sich ihr gesamtes Leben verändert und sie zum ersten Mal eine große Krise meistern muss. Zugegebenermaßen können wir ihre teilweise irrationalen Handlungen nicht immer nachvollziehen, denn manchmal erscheint mir Holly für eine 38-jährige Erwachsene dann doch etwas zu stur. Außerdem reagiert Holly einige Male über, sodass sie hier auch mal einige Sympathiepunkte einbüßt. Doch über die meisten Strecken des Buches begleitet man Holly ausgesprochen gerne auf ihren verschlungenen Wegen, die am Ende zu ihrer Mutter führen sollen und zur Aufklärung der Frage, warum diese Holly damals ausgesetzt hat.

Auf herzerfrischende Art und Weise erzählt uns Amelie Fried die Geschichte einer Frau, deren Leben von einem Tag auf den anderen zerstört wird, als sie ein dunkles Familiengeheimnis aufdeckt. Fried schafft es, diese ungewöhnliche Geschichte zum größten Teil glaubwürdig zu schreiben, und macht Hollys Unglück spürbar, sodass Holly für uns zu einer guten Freundin wird. Mit ihrem sympathischen Schreibstil und einer gelungenen Figurenzeichnung erschafft Amelie Fried einen unterhaltsamen Roman, der alle eigenen Sorgen vergessen und Hoffnung darauf macht, dass man viele Krisen im Leben doch überstehen kann, wenn man es denn nur versucht. Getrübt wird das Lesevergnügen allerdings durch zahlreiche Tipp- und Rechtschreibfehler, die den Lesefluss stören und ein gutes Korrektorat offensichtlich vermissen lassen.

Insgesamt ist „Die Findelfrau“ ein erfrischendes Leseerlebnis, wenn auch sicherlich keine große Literatur. Dennoch hat Amelie Fried eine verwickelte Familiengeschichte mit sympathischen Charakteren zu erzählen, mit denen man gerne einige Lesestunden verbringt, auch wenn die Geschichte doch recht vergänglich ist und wohl schnell in Vergessenheit geraten wird. Aber für den bevorstehenden Sommer und Urlaube am Strand ist „Die Findelfrau“ genau die richtige Lektüre zum Entspannen, Träumen und um die Welt um einen herum zu vergessen.

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|Amelie Fried bei Buchwurm.info:|

[„Liebes Leid und Lust“ 562
[„Taco und Kaninchen“]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=561
[Interview vom September 2004]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=26

Frank-Burkhard Habel – Ekel Alfred

Gestatten – Tetzlaff mein Name, ich bin hier der Gastgeber

Heinz Schubert verkörperte in den 70er-Jahren in der Gestalt des Alfred Tetzlaff – von seinen Freunden „liebevoll“ Ekel Alfred genannt – den Typus des hässlichen Deutschen und spaltete damit die Nation. Seine Seitenhiebe auf Willy Brandt, den Emigrantenkanzler, und die Sozis, die seiner Meinung nach zum Zerfall Deutschlands beitragen, sind zum Kult geworden und sind charakteristisches Moment einer der letzten richtig guten deutschen Familienserien.

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Genazino, Wilhelm – Mittelmäßiges Heimweh

Es ist Fußballeuropameisterschaft, und Deutschland befindet sich angesichts des bevorstehenden Spiels gegen Tschechien im Ausnahmezustand. Jeder Fußballfan fiebert dem spannenden Spiel entgegen, und auch unser Roman(anti)held Dieter Rotmund schaut sich das Fußballspiel in einer überfüllten Kneipe an. Doch das Getümmel wird ihm fast zu viel: Während er noch überlegt, ob er nicht doch lieber nach Hause gehen soll, erblickt er unter dem Tisch im Dreck sein eigenes Ohr liegen. Zunächst denkt er darüber nach, ob er sich das Ohr in einem unbemerkten Moment schnappen und damit verschwinden soll, doch dann kann er sich doch nicht überwinden, das abspenstige Körperteil vom schmutzigen Fußboden aufzuheben, und beschließt, lieber sein Haar über die kahle Stelle zu legen und sich später eine Ohrklappe zuzulegen.

Aber mit dem Ohr alleine ist der Verfall Rotmunds noch nicht abgetan: Seine Ehe steht auf der Kippe, eigentlich hat er Edith nichts mehr zu sagen, doch seiner Tochter zuliebe fährt er an den Wochenende nach Hause in den Schwarzwald, um die Familienfassade aufrechtzuerhalten. Edith dagegen tut rein gar nichts mehr für die Ehe, gibt am laufenden Band Geld aus, das die Familie eigentlich gar nicht übrig hat, und gesteht ihrem Mann schließlich, dass sie eine Affäre hat und von ihm nichts mehr wissen will.

So ist es also nicht nur Rotmunds Körper, der langsam aber sicher zerfällt, obwohl er doch erst Anfang 40 ist, auch in seinem Privatleben geht es rauf und runter – allerdings eindeutig mehr runter als rauf. Dafür erwartet Rotmund im Berufsleben ein überraschender Aufschwung, denn unverhofft wird er zum Finanzdirektor seiner Firma befördert, obwohl eigentlich jemand anderer für den Job viel besser geeignet wäre, wie sowohl Rotmund als auch besagter Kollege sehr genau wissen.

Eine Zufallsbekanntschaft ist es, die Rotmund so etwas wie „Liebesglück“ beschert, da ist nämlich die geheimnisvolle Frau Schweitzer – seine Vormieterin -, die noch ein paar Sachen aus dem Keller abholen möchte, die sie beim Auszug nicht mitgenommen hat, die Rotmund bislang aber noch gar nicht aufgefallen waren. Nach einer kurzen Phase der Annäherung landen die beiden im Bett, aber da Frau Schweitzer den Eindruck macht, als brauche sie Geld, legt ihr Rotmund nach jedem Geschlechtsverkehr Geld hin, bis sie eines Tages verschwindet und Rotmund sich auf den Weg macht, sie zu finden …

Wilhelm Genazinos Protagonisten sind Antihelden meist männlichen Geschlechts und mittleren Alters – so auch hier. Wir begegnen Dieter Rotmund, der mit seinem Job nicht ganz zufrieden scheint und den Geldsorgen plagen. Seine Frau Edith gibt so viel Geld aus, dass er sich die Bahnfahrkarte am Wochenende nicht leisten kann und lieber im völlig überfüllten Zug vor der Toilette steht, um in diese verschwinden zu können, sobald die Fahrscheinkontrolle droht. Aber als er in einer lauten Kneipe sein Ohr verliert, ist er auch offensichtlich „geschädigt“ und fühlt sich plötzlich nicht mehr komplett. Zunächst kaschiert er sein fehlendes Ohr mit einer Ohrklappe, doch irgendwann lässt er diese einfach weg und geht vermeintlich selbstbewusst seines Weges. Als ihm im Schwimmbad aber plötzlich noch ein kleiner Zeh abhanden kommt, ist das Gejammer sogar noch größer als beim Ohr. Rotmund spürt, dass etwas mit ihm und seinem Leben passiert, will aber die Zeichen nicht erkennen. Nach und nach zerbricht sein Leben, trotzdem macht er weiter, als sei nichts geschehen.

Seine Trauer und sein eigenes verkorkstes Leben kaschiert Rotmund durch die genaue Beobachtung fremder Menschen, an deren Leben er stichpunktartig teilhaben kann, wenn er kleine Situationen beobachten und miterleben kann. Diese Momente sind es, in denen er seinen eigenen Kummer übertönen kann und in denen mehr die Gefühle und kleinen Katastrophen der anderen Menschen zählen. Rotmund flieht vor sich, seinem eigenen Leben und seinen Problemen.

Und auch wenn es merkwürdig anmuten mag, wenn eine Romanfigur nach und nach einzelne Körperteile verliert, so passt es doch zum Buch und Genazinos Antihelden, der auch für andere sichtbar verfällt und sich nicht mehr vollständig fühlen kann. Ihm fehlt etwas, aber es ist nicht nur das Ohr und es ist nicht nur der Zeh, sondern es sind auch Familie, (Lebens-)Glück und Zufriedenheit. Selbst über die unverhoffte Beförderung kann er sich nicht so recht freuen, er denkt vielmehr darüber nach, dass jemand anderer in der Beförderungskette eigentlich vor ihm gestanden hätte.

Rotmund kann nicht einmal Erfolge feiern, stattdessen erscheint er uns resigniert und seinem eigenen Leben gegenüber teilnahmslos. Als er eines Abends zu einer Prostituierten geht und bemerkt, dass sie ihn mit einem billigen Trick um den „richtigen Geschlechtsverkehr“ bringen will, lässt er dies geschehen und sieht es stattdessen als Wink des Schicksals, als ebendiese Prostituierte ihm zu viel Wechselgeld gibt, sodass sein kleines Abenteuer ihn im Endeffekt nichts gekostet hat.

In bestechender Treffsicherheit bringt uns Wilhelm Genazino ein weiteres Mal seinen Antihelden und seine gesamte Umgebung näher. Kaum jemand kann Menschen so genau beobachten und ihre gesamte Persönlichkeit sezieren wie Genazino durch die Worte seines Protagonisten, aber auch kaum ein Schriftsteller lässt so hoffnungslose Charaktere auf den Plan treten wie eben Genazino. Und genau hier liegt seine Besonderheit.

Wir lernen einen eigentlich ganz alltäglichen Menschen kennen, der aber trotz (oder vielleicht auch wegen) seiner Alltäglichkeit gerade so besonders wird. Es sind die kleinen Eigenarten und die kleinen Katastrophen, die diesen Menschen zu etwas Besonderem und auch Interessantem machen. Wie immer passiert auf der Inhaltsebene bei Genazino nicht sonderlich viel; er konzentriert sich ein weiteres Mal auf eine überaus genaue Charakterzeichnung, die seinen Helden als Menschen aus Fleisch und Blut – wenn auch ohne Ohr – erscheinen lässt. Und damit dürfte er seine Fans wieder einmal glücklich gemacht haben.

Unter dem Strich ist „Mittelmäßiges Heimweh“ wieder ein „typischer Genazino“, der von seiner gelungenen Figurenzeichnung, der feinen Sprache und seinen Beobachtungen lebt, die jede noch so winzige Kleinigkeit festhalten und zu etwas ganz Besonderem machen. Verglichen mit der [„Liebesblödigkeit“ 999 schneidet Genazinos aktuelles Werk vielleicht etwas schlechter ab, einfach weil die Rahmengeschichte mich nicht so sehr gepackt hat wie bei seinem letzten Buch, aber Genazino kann an so vielen anderen Stellen punkten, dass er mich erneut nach dem Lesen des Buches tieftraurig zurückgelassen hat – einmal, weil das Buch bereits ausgelesen war, aber auch weil Genazino mir in beeindruckender Weise das traurige Schicksal seines Helden vor Augen geführt und mich damit tief berührt hat. Wilhelm Genazino ist und bleibt einfach etwas Besonderes!

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Holt, Anne – Was niemals geschah

Die norwegische Autorin Anne Holt hat sich mit ihren Büchern rund um ihre Krimiheldin Hanne Wilhelmsen einen Namen gemacht, der sich nicht hinter denen anderer großer (auch nordischer) Krimiautoren verstecken muss. Doch der vorliegende Roman wird dieses Mal nicht von der lesbischen Krimiheldin Wilhelmsen gelöst, sondern vom nicht minder interessanten Ermittlerduo Yngvar Stubø und seiner Frau Inger Johanne Vik, die nicht bei der Polizei arbeitet, sondern als Profilerin hilft.

In diesem Fall ist von Beginn an alles anders. Während nämlich die erste Leiche gefunden wird, ist Stubø auf dem Weg ins Krankenhaus zu Inger Johanne und ihrem gemeinsamen Baby, das zeitgleich mit der norwegischen Thronerbin Ingrid geboren wurde. Als er also von seinen Kollegen die Nachricht erhält, dass eine bekannte Fernsehmoderatorin ermordet und mit herausgeschnittener und gespaltener Zunge aufgefunden wurde, muss Stubø sich zunächst um seine schwierige Stieftochter Kristiane kümmern, die sehr sensibel und „komisch“ ist, ohne dass irgendjemand Stubø und seiner Frau sagen könnte, was mit Kristiane eigentlich los ist. Dementsprechend groß ist Inger Johannes Angst, dass auch ihre zweite Tochter krank sein könnte. Nach der Geburt ist sie deshalb höchst sensibel und zunächst überhaupt nicht am Kriminalfall interessiert. Als allerdings eine bekannte norwegische Politikerin gekreuzigt in ihrem eigenen Schlafzimmer und mit einem Koran zwischen ihren Beinen aufgefunden wird, drängt sich eine düstere Ahnung in Inger Johannes Bewusstsein.

Es dauert nicht lange, bis eine dritte bekannte Persönlichkeit unter mysteriösen Umständen ermordet wird, doch die Polizei tappt im Dunkeln, keine einzige Spur ist zu finden, niemand wurde am Tatort beobachtet und der Täter hat offensichtlich auch keine verwertbaren Spuren hinterlassen. Stubø und seine Kollegen jagen also ein Phantom, das sie nicht greifen können. Aber Inger Johanne wühlt in ihrer Vergangenheit beim FBI, die sie viel lieber vergessen würde, da sie so unvorstellbar große Wunden hinterlassen hat, dass sie nicht einmal mit ihrem Mann darüber sprechen kann. In ihrer Erinnerung findet sie eine Mordserie, von der ihr Ausbilder beim FBI in seiner Vorlesung erzählt hat und die viele Gemeinsamkeiten mit der jetzigen Mordserie aufweist. Was Inger Johanne aber am meisten Angst macht, ist der noch ausstehende fünfte Mord, denn hier wartet ein Anschlag auf den ermittelnden Polizeibeamten und seine Familie, was in diesem Fall Yngvar Stubø und Inger Johanne selbst sind. Die junge Mutter kann kein Auge mehr zutun und muss hilflos mit ansehen, wie der vierte Mord geschieht und sie die nächste auf der Liste ist.

Anne Holt inszeniert ein perfides Katz-und-Maus-Spiel, das von seinen Hauptfiguren lebt. Auch wenn man zunächst Hanne Wilhelmsen vermissen mag, so erinnert man sich schnell und gerne an „Das einzige Kind“ zurück – den ersten Fall, den Stubø und Inger Johanne einst zusammen gelöst haben. Doch „Was niemals geschah“ ist wahrscheinlich noch spannender und packender als dieser erste Stubø-Fall.

Auf den ersten Blick scheint es ein Mörder auf Prominente abgesehen zu haben, die in ihrem Leben etwas zu verbergen haben. Schnell kommt die Polizei dem dunklen Geheimnis des ersten Opfers auf die Spur und damit einem dringenden Tatverdächtigen. Doch nichts ist so, wie es scheint. Denn hinter der Mordserie steckt noch viel mehr. Und wie findet man eigentlich einen Mörder, der kein Motiv für seine Taten hat? Diese Frage muss sich die Polizei stellen, denn bei der erfolglosen Suche nach Spuren und Motiven tappt sie weiterhin im Dunkeln. Und auch wenn die Opfer genügend Feinde gehabt haben, so können doch alle Verdächtigen ein zumindest oberflächlich betrachtet wasserdichtes Alibi nachweisen.

Anne Holt wühlt im Privatleben ihrer Protagonisten und zerrt Geheimnisse ans Licht, die ihre Charaktere gerne im Dunkeln belassen hätten. So hat auch der Verlobte des zweiten Opfers einiges zu verbergen, was ganz nebenbei offenkundig wird. Es gibt daher neben den Mordopfern noch weitere Opfer zu beklagen, die im Laufe der Ermittlung plötzlich im Rampenlicht stehen und ihre Geheimnisse aufgedeckt finden. Bei Anne Holt haben alle Charaktere Ecken und Kanten, aber insbesondere auch einige Leichen im Keller. Doch wer hat das nicht? Wir lernen hier Personen kennen, die viel erlebt und auch Fehler gemacht haben, die sie nun gerne verheimlichen würden. Aber die Polizei deckt so manches davon auf, weil sie vergeblich hofft, dem Täter auf der Spur zu sein.

Die Charakterzeichnung ist absolut großartig und hält so einige Überraschungen für den Leser bereit, die erstmal verdaut werden wollen. Wir lernen die handelnden Figuren sehr genau kennen und blicken bis in ihr Innerstes. Besonders lobend hervorheben muss man hier die Beziehung zwischen Yngvar Stubø und Inger Johanne Vik, die eigentlich angesichts ihrer quietschfidelen Tochter überglücklich sein müssten, deren Glück aber überschattet wird von der grausamen Mordserie und von Inger Johannes düsteren Erinnerungen, die nun wieder ans Tageslicht kommen.

Stubø kann sich nicht damit abfinden, dass seine Frau nicht über ihre Zeit beim FBI reden möchte, obwohl die beiden doch ihr Leben teilen. Dies sorgt für prickelnde Spannung zwischen den beiden jungen Eltern, obwohl sowohl Stubø als auch Inger Johanne gerade in dieser schwierigen Situation doch alle Unterstützung von ihrem Partner benötigt hätten. Und dies sei vorweg genommen: Dieses Spannungsverhältnis ist noch nicht aus der Welt geschafft und hält genügend Potenzial bereit für weitere Kriminalromane mit diesem Ermittlerduo.

Langsam aber sicher kommt Stubø schließlich mit der Hilfe seiner Frau, aber auch mit der Hilfe des Täters selbst, dem Mörder auf die Spur. Doch was er hier entdeckt, kann er zunächst selbst kaum glauben, da er sich so etwas Perfides auch in seinen dunkelsten Alpträumen nie hätte vorstellen können. Anne Holt durchschreitet hier Abgründe, wie sie düsterer kaum sein könnten. Den Leser wiederum überrascht dies nicht wirklich, da er den Täter von Beginn an kennt und ihn auf seinen Wegen oftmals begleitet hat. Dies mindert allerdings weder Spannung noch Lesegenuss, da man immer gespannt darauf wartet, ob die Mordserie weitergeht oder ob die Polizei dem Täter noch rechtzeitig auf die Spur kommt, um den fünften Mord zu verhindern und dadurch Stubø und seine Familie zu retten.

Schade fand ich, dass Anne Holt einige Fragen offen lässt, die zum Teil wohl nie erklärt werden. Zur Abrundung des Buches hätte die Aufklärung der offenen Fragen sicher gutgetan, doch auch so bleibt ein durchweg positiver Eindruck zurück. „Was niemals geschah“ ist der gut durchkonstruierte zweite Kriminalfall eines sympathischen Ermittlerduos, das nicht nur bei der Arbeit, sondern auch privat einige Schwierigkeiten zu meistern hat.Doch wenn alles ganz einfach wäre, würde es sich ja nicht lohnen, ein Buch darüber zu schreiben. Trotz winziger Abzüge in der „B-Note“ freue ich mich schon jetzt auf den nächsten Fall, den Stubø und Vik zu lösen haben!

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Fischer, Claus Cornelius – Und vergib uns unsere Schuld

Eigentlich ist der Königinnentag in Holland ein Feiertag, doch während ganz Amsterdam feiert, irrt ein vierzehnjähriger Junge im Dunkeln durch einen Park und hat Angst. Er weiß, dass er etwas gesehen hat, das er nicht hätte sehen dürfen, und nun ahnt er, dass ihn etwas Gefährliches verfolgt. Und richtig, es dauert nicht lange, bis er Schritte hinter sich hört und weiß, dass es nun zu Ende ist für ihn. Einen Tag später wird der Junge ermordet aufgefunden. Aber es ist nicht nur irgendein Mord, den Commissaris Bruno van Leeuwen aufzuklären hat, dieser Mord setzt neue Maßstäbe: Dem Jungen ist nämlich der Kiefer aufgestemmt und das Gehirn entfernt worden. Bruno van Leeuwen ist eigentlich nicht schnell zu erschrecken, hat er doch schon viel erlebt in seiner Laufbahn als Kommissar, doch diese brutale Tat lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Langsam tastet er sich näher, er verhört Zeugen und befragt die Freunde des ermordeten Jungen, die am Tatabend eigentlich verabredet waren, doch haben die Freunde vergeblich warten müssen. Viele Hinweise sind es allerdings nicht, die van Leeuwen zur Verfügung stehen, doch das Schicksal ist auf seiner Seite: Während er eines Abends durch die Straßen Amsterdams irrt, entdeckt er ein junges Mädchen, das auf der Suche ist nach einem Mann, mit dem sie die Nacht oder auch nur eine Stunde verbringen kann. Van Leeuwen quartiert es einfach in einem Hotel ein, kann aber noch nicht ahnen, dass genau dieses Mädchen einen wichtigen Hinweis für ihn parat hat.

Aber der Mordfall ist nicht die einzige Sorge, die Bruno van Leeuwen plagt, denn seine geliebte Frau Simone ist schwer krank, sie hat keine Erinnerungen mehr und ist den ganzen Tag auf Pflege angewiesen. Doch mitten in den Ermittlungen weigert sich die Pflegerin, weiterhin den ganzen Tag bis spätabends bei Simone zu bleiben, weil Bruno nie pünktlich nach Hause kommt, um sich selbst um seine Frau zu kümmern. Er ist verzweifelt, zumal es nicht lange dauert, bis er vor die Wahl gestellt wird: entweder seine Frau oder sein Job. Da er Simone immer noch über alles liebt, fällt ihm die Wahl nicht schwer – bis ein weiterer, noch grausamerer Mord geschieht und van Leeuwen Dinge aus Simones Vergangenheit herausfindet, von denen er lieber nichts gewusst hätte …

Claus Cornelis Fischer begnügt sich nicht einfach damit, einen spannenden Kriminalfall zu schreiben, nein, er gibt seinem Kommissar so viel Profil, dass er schon als tragischere Figur erscheint, als es ein Kurt Wallander jemals gewesen ist. Nach und nach kommt Bruno van Leeuwen den Geheimnissen des Mörders, aber auch den Geheimnissen seiner Ehefrau auf die Spur, und man weiß als Leser eigentlich nicht, was schlimmer ist: eine Frau, die viel zu verbergen hat, aber sich an ihre Geheimnisse nicht mehr erinnern kann und deswegen keine Aussprache mehr möglich ist oder ein brutaler Mörder, der seinen Opfern das Hirn entwendet. Dieses Buch ist folglich nichts für Warmduscher; man sollte sich schon warm anziehen, wenn man den ersten Fall dieses holländischen Kriminalkommissars zu lesen beginnt.

Was den vorliegenden Roman auszeichnet, ist die ausschmückende Sprache des Autors. Etwa die Hälfte des Umfangs verwendet er darauf, seine Charaktere von allen Seiten zu beleuchten, wir blicken mit Bruno van Leeuwen in die Vergangenheit, wir begeben uns an den Tag zurück, an dem er die schlimme Diagnose erfahren hat, wir durchleben die schwere Zeit mit, in der es Simone immer schlechter ging und sie es aber noch selbst bemerkt hat. Wir folgen auch jedem Gedanken des geplagten Ehegatten, der sich in seiner Fantasie oftmals ausmalt, wie es hätte kommen können, wenn Simone nicht krank geworden oder er selbst nicht so blind gewesen wäre. Manchmal gehen diese Tagträume allerdings so fließend in die Erzählung über und umgekehrt, dass man beim Lesen den Faden zu verlieren droht und den Gedanken nicht mehr so recht folgen kann. Claus Cornelius Fischer setzt seinen Schwerpunkt meiner Meinung nach etwas zu sehr auf die Figurenzeichnung und auf das tragische Familienleben des Kriminalkommissars. Klar, ich mag es auch, wenn die Charaktere an Profil gewinnen, wenn ein Autor erzählen und vor allem schön umschreiben kann, aber manchmal gerät der eigentliche Mordfall so sehr ins Hintertreffen, dass die Spannung arg absinkt und man ungeduldig die Seiten umblättert und auf den Moment wartet, wo es endlich wieder um die Ermittlungen geht.

Ein weiterer Minuspunkt ist die Konstruktion der gesamten Geschichte. Was sich Claus Cornelius Fischer da ausgedacht hat, ist zwar eine hochbrisante Tat mit spannendem Hintergrund, aber wie Bruno van Leeuwen dem Mörder schließlich auf die Spur kommt, ist mir persönlich mit zu vielen Zufällen verbunden. Immer wieder trifft er genau im richtigen Moment die richtige Person, die ihm netterweise den passenden Hinweis geben kann. Hier geraten van Leeuwens private Geschichte und seine beruflichen Ermittlungen zu sehr aneinander – was im Privatleben passiert, ist plötzlich das wichtige Aha-Erlebnis bei den Ermittlungen. Diese Schnittpunkte der beiden Handlungsstränge fügen sich allerdings nicht stimmig in die Geschichte ein, sondern sie werden so plump präsentiert, dass man den Eindruck gewinnt, dass der Autor sonst den Dreh nicht bekommen hätte.

Eigentlich schade, dass Claus Cornelius Fischer sich etwas in seiner Geschichte verfranst, denn sowohl sein Kommissar hat Potenzial als auch der Autor selbst, denn wenn man Fischer etwas zugute halten muss, dann, dass er sehr gut erzählen, Dinge beschreiben und Situationen so vortrefflich darstellen kann, dass man in der Geschichte versinkt. Nur leider versinkt man manchmal eben so sehr, dass man vergisst, hier einen Kriminalroman in den Händen zu halten. Was man Fischer für seinen hoffentlich nächsten Roman nur wünschen kann, ist, dass er die richtige Balance aus interessanter Rahmenhandlung und einem gelungenen Spannungsaufbau während der polizeilichen Ermittlungen findet; dann könnte der nächste Fall von Bruno van Leeuwen ein echter Leckerbissen und Lesegenuss für jeden Krimifan werden. Der erste Fall allerdings lässt leider noch ein paar Wünsche offen.

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Lukianenko, Sergej – Wächter der Ewigkeit

Band 1: [„Wächter der Nacht“ 1766
Band 2: [„Wächter des Tages“ 2390
Band 3: [„Wächter des Zwielichts“ 2910

_Was lange währt, wird endlich gut?!_

Wahrscheinlich wurde schon lange kein Buch mehr so sehnsüchtig erwartet wie Sergej Lukianenkos fulminanter Abschluss seiner beliebten Wächter-Reihe. Endlich ist es nun so weit, die „Wächter der Ewigkeit“ sind erschienen und bilden das Ende einer Fantasyreihe, wie sie erfolgreicher kaum sein könnte.

Und eines steht fest: Sergej Lukianenko hat sich seine Lorbeeren vollkommen zu Recht verdient; seine Figuren sind glaubwürdig, aber doch zwiegespalten, seine Geschichte ist packend, verschlungen und regt immer wieder zu eigenen Spekulationen an, denn oft genug durchschaut man die Gedanken hinter einer Handlung nicht, vor allem aber ist die Welt, die Lukianenko erfunden hat, düster, geheimnisvoll und absolut anziehend. Welcher Fantasyfan könnte sich dieser gelungenen Mischung schon entziehen?

Ich konnte es nicht und habe jede Leseminute genossen, auch wenn ich nicht immer vollkommen einverstanden war mit den Wendungen, die Lukianenko eingebaut hat. Doch nun ist es vorbei, das letzte Buch gelesen und die Geschichte hat für mich und alle anderen Lukianenko-Anhänger nun ihr Ende gefunden; doch ob es auch zufrieden stellend war, das schauen wir uns nun genauer an.

_Die Reise beginnt_

Die Geschichte nimmt dieses Mal ihren Beginn in Edinburgh zur Zeit des Festivals, als Viktor mit seiner Freundin Valerija dort Urlaub macht. Die beiden stammen aus Russland, und bei Viktors Vater handelt es sich nicht nur um einen bekannten Politiker, sondern auch um einen nicht-initiierten Anderen.

Als die beiden ein Gruselkabinett aufsuchen, ahnen sie noch nicht, dass nur einer von ihnen dieses lebend verlassen wird, denn auf dem Blutfluss wird Viktor plötzlich auffallend schweigsam – jedoch nicht, weil er seiner Freundin nichts mehr zu sagen hat, sondern weil jemand ihm seine Vampirzähne in den Hals geschlagen und ihn ausbluten gelassen hat. Diese merkwürdige Tat ruft folglich nicht nur die örtliche Polizei auf den Plan, sondern auch die schottische Wache und Geser, der Anton nach Schottland schickt, um dort auf eigene Faust zu ermitteln.

In Edinburgh angekommen, kommt Anton in einem merkwürdigen Hotel eines alteingesessenen Vampirs unter, wo er das lichte Zimmer beziehen darf, das komplett in Weiß, Beige und Rosa eingerichtet ist. Bei seiner Befragung findet Anton heraus, dass der Vampir nichts davon weiß, dass einer seiner „Artgenossen“ für die Tat im Gruselkabinett verantwortlich ist, also begibt sich Anton selbst dorthin und macht die Bekanntschaft eines verkleideten Angestellten, der die inzwischen geschlossene Einrichtung bewacht. Doch auch dieser kann Anton bei seinen Nachforschungen nicht behilflich sein.

Als Anton allerdings recht bald zu einem weiteren Mord ins Gruselkabinett gerufen wird, erfährt er auf unsanfte Art und Weise, dass der Angestellte vermutlich der Mörder gewesen ist, da er den diensthabenden Angestellten tot vorfindet und er sich eingestehen muss, dass es nicht derjenige ist, den er zuvor befragt hatte. Dennoch kann Anton eine wichtige Entdeckung machen, denn an Viktors Tod war kein blutdurstiger Vampir schuld, denn Viktors komplettes Blut befindet sich noch im Blutfluss, der sich diesen Namen nun zu Recht verdient hat. Was ist hier wirklich vorgefallen?

Bevor Anton sich zurück nach Russland begeben kann, macht er noch die unbequeme Bekanntschaft mit einem Roboter, der auf Anton schießt und ihn fast besiegt hätte, wäre ihm nicht ein Tiermensch zu Hilfe geeilt. Außerdem erfährt er, warum der Chef der schottischen Wache der Besitzer des Gruselkabinetts ist und was sich in den Schichten des Zwielichts unter der gruseligen Einrichtung verbirgt, denn dort hat der große Zauberer Merlin – der einzige Nullmagier, den es bislang gegeben hat – ein wichtiges Artefakt versteckt, das sich in der siebten und letzten Schicht des Zwielichts verbirgt.

Auf dieses nun machen drei Andere gemeinsam Jagd, wie Anton vom Chef der schottischen Wache erfahren muss. Wer ist es nur, der das Geheimnis von Merlins größtem Zauber aufdecken will? Um das herauszufinden, muss Anton weiterreisen nach Usbekistan, um einen alten Bekannten Gesers aufzufinden, der dort vor zig Jahren untergetaucht ist. Aber auch in Usbekistan erwarten mächtige Gegner den lichten Magier und machen ihm das Leben mehr als schwer, doch nach und nach kommt Anton seinen drei starken Widersachern auf die Spur, die für ihn keine Unbekannten sind.

_Darf ich vorstellen – Merlin!_

Wieder einmal öffnet Sergej Lukianenko zu Beginn seines nächsten Wächterromans eine ganz neue Schublade. Uns erwartet hier ein neuer grausamer Mord, den es aufzuklären gilt und der uns ganz am Ende das Geheimnis des Zwielichts offenbaren wird. Denn dieses Mal werden wir uns bis hinab in die siebte Schicht des Zwielichts begeben, wo eigentlich nur ein Nullmagier hingelangen kann, also ein Anderer, der sämtliche Kraft von den Menschen abzieht. Nach Merlin kann dies nur Antons Tochter schaffen, denn sie ist die nächste Nullmagierin, sodass auch sie hier erstmals ihren Auftritt als große Andere haben wird.

Doch bevor es so weit kommt, reist Anton über den Globus und sucht geheimnisvolle Orte auf, die einen ganz eigenen Zauber haben. Wir begeben uns in das schöne Edinburgh, das im Zwielicht allerdings einiges zu verbergen hat. Denn hier hat der große Merlin gewirkt, der einst ein Lichter war, dann aber zum Dunkel übergetreten ist. Wir lernen also einen prominenten Magier kennen, den nicht erst Sergej Lukianenko für seine Geschichte erfunden hat, und ich muss ehrlich gestehen, dass Lukianenko es nicht nötig gehabt hätte, auf einen so bekannten Namen zurückzugreifen, denn bislang ist er auch mit seinen eigenen Ideen auskommen, und das ganz hervorragend. Glücklicherweise fügt Lukianenko seiner Erzählung genügend eigene Komponenten hinzu, sodass das Auftauchen Merlins nicht allzu störend auffällt.

_Geheimnisvolle Charaktere und Welten_

Die Geschichte seines vierten Wächterromans könnte kaum mysteriöser sein. Was ist nur im schottischen Gruselkabinett vorgefallen, als der junge Viktor brutal sterben musste? Schnell findet Anton heraus, dass Viktor offensichtlich im Spiegellabyrinth jemanden gesehen hat, den er kannte, der aber nicht entdeckt werden wollte. Dieser kleine Moment ist es, der Viktor sein Leben kostet, doch wen hat er wiedererkannt? Welcher Vampir war inkognito in Edinburgh und wollte unter keinen Umständen gefunden werden?

Nach und nach fügen sich die Einzelteile zu einem Ganzen zusammen und wir kommen den drei großen Zauberern auf die Spur, die sich gemeinsam auf die Jagd nach Merlins Geheimnis gemacht haben und dabei auch über Leichen gehen. In Edinburgh setzen sie einen Kampfroboter auf Anton an, aber auch in Usbekistan haben sie sich eine besondere Überraschung ausgedacht, denn dort nutzen sie die Menschen für ihre Zwecke aus und machen aus ihnen eine tödliche Waffe, wie Anton unsanft erkennen muss.

Ein besonderes Vergnügen ist wieder einmal die Figurenzeichnung, und es macht wirklich deutlich mehr Spaß, Anton jetzt auf seinen Reisen zu begleiten, wo er zu einem Anderen außerhalb jeder Kategorie geworden ist, denn dieser Aufstieg macht ihn spürbar zufriedener – ihm gelingen inzwischen viele Dinge, für die er vorher nicht mächtig genug war. So kann er sich auch einen angesehenen Vampir vorknüpfen und ihn mit Magie ausfragen, wo dieser ihm vorher überlegen gewesen wäre. Auch das Eintauchen in die tieferen Schichten des Zwielichts ist kein Problem mehr, sodass wir dort viel Zeit verbringen.

Aber auch die anderen Charaktere offenbaren wieder viel Potenzial und vor allem eine zwiegespaltene Persönlichkeit. Natürlich sind wir es bereits gewöhnt, dass viele Figuren kein ehrliches Spiel treiben, aber trotzdem schafft Lukianenko es erneut, uns zu überraschen und an der Nase herumzuführen. So begegnen wir eigentlich jeder auftauchenden Figur zunächst mit Misstrauen, doch wenn wir ihr angefangen haben zu vertrauen, zeigt sie plötzlich ihr wahres Gesicht und wir müssen eingestehen, dass Lukianenko wieder zu schlau für uns gewesen ist.

Einziges Manko ist die Tatsache, dass die mächtige Swetlana zu einer einfachen Hausfrau und Mutter mutiert ist, die sich damit zufrieden gibt, ab und an die Wahrscheinlichkeitslinien in Antons Zukunft zu lesen, die aber aktiv gar keine Rolle mehr spielt. Hier verspielt Lukianenko meiner Meinung nach einiges Potenzial, da er in den vergangenen Romanen viel Arbeit darauf verwendet hatte, Swetlana zu einer interessanten und sympathischen Figur auszubauen. Auch Jegor, einen weiteren nicht-initiierten Anderen treffen wir wieder, aber auch er hat mit dem eigentlichen Geschehen nichts zu tun, und das, obwohl wir seit „Wächter der Nacht“ darauf warten, dass er seinen großen Auftritt haben wird.

_Das war’s_

Nach nur 446 Seiten heißt es, das Buch zuzuklappen, und zwar ohne die Bemerkung, dass man im nächsten Wächterroman weiterlesen könnte. Das war wohl die erste Enttäuschung beim vorsichtigen Nach-vorne-blinzeln, bei dem ich feststellen wollte, ob es nicht vielleicht doch einen fünften Roman geben wird. Doch diese Hoffnung löst sich zunächst in Luft auf.

So blicken wir also zurück auf insgesamt vier Romane, in der uns Sergej Lukianenko seine Welt der Anderen und des Zwielichts präsentiert hat, und es ist wahrlich eine fantastische Welt, in die man äußert gerne eingetaucht ist. Aber am Ende kommt man doch nicht umhin, auch ein wenig Enttäuschung zu zeigen, denn hat Lukianenko uns eigentlich alle offenen Fragen beantwortet? Zugegeben, er hat uns den Unterschied zwischen Menschen und Anderen erklärt, er offenbart uns das Geheimnis des Zwielichts, aber was mich unter anderem brennend interessiert hätte, wäre eine nähere Beleuchtung der beiden großen russischen Chefs Geser und Sebulon gewesen, die beide in den Geschichten zuvor immer wieder ein undurchsichtiges Spiel getrieben hatten und meist keiner Seite so recht zuzuordnen waren. Denn bei Lukianenko ist Licht nicht gleich Gut und Dunkel nicht gleich Böse, doch wie diese Verwaschung der Grenzen zustande gekommen ist, was Sebulons und Gesers Intentionen hinter ihren Taten waren, das erfahren wir leider nicht.

_Abschied vom Zwielicht_

Insgesamt bleibt ein wenig Enttäuschung zurück angesichts vieler ungeklärter Fragen und einiger offener Handlungsstränge, die Lukianenko nicht zu Ende geführt hat. Erst auf den allerletzten Seiten präsentiert er uns im Schnelldurchgang seine Idee des Zwielichts, und wir erfahren, was es mit der siebten Schicht auf sich hat; doch alles wirkt etwas undurchsichtig und meiner Meinung nach auch weichgespült.

Lukianenko bastelt sich hier ein Happyend, das viel Spannung verpuffen lässt und nicht gerade zur Zufriedenheit des Lesers beiträgt. Keine Frage, auch „Wächter der Ewigkeit“ ist ein packender Roman mit gelungenem Spannungsbogen, der mit einigen lustigen Szenen, interessanten Figuren und spannenden Machtkämpfen aufwarten kann, doch als Abschluss einer genialen Fantasyreihe fehlen doch einige Erklärungen, die den Leser wirklich entspannt zurücklehnen lassen könnten. Für mich war „Wächter des Zwielichts“, also der dritte Teil der Wächterreihe, der deutlich stärkere Roman, sodass ich doch ein wenig enttäuscht bin, aber vielleicht beglückt uns Lukianenko ja irgendwann mit einer weiteren spannenden Fantasyreihe – wünschenswert wäre es.

http://www.heyne.de
http://lukianenko.ru/eng/

Setterfield, Diane – dreizehnte Geschichte, Die

|“Alle Kinder mythologisieren ihre Geburt. Das ist nur allzu menschlich. Du willst jemanden wirklich kennen lernen? Mit Leib und Seele? Dann frag ihn, wann und wo er das Licht der Welt erblickt hat. Du wirst nicht die Wahrheit zu hören bekommen, sondern nur eine Geschichte. Und nichts ist so aufschlussreich wie eine Geschichte.“|

Und genau eine solche Geschichte hat die berühmte Schriftstellerin Vida Winter zu erzählen. Viele Geheimnisse umranken ihre Person, niemand weiß, welcher Mensch sich wirklich hinter diesem Pseudonym versteckt, und niemand kennt ihre sagenumwobene dreizehnte Geschichte, denn wo diese stehen sollte, finden sich in ihrem Buch nur leere Seiten. Nun ist Vida Winter alt und sterbenskrank und genau in diesem Moment erhält die Buchhändlerin Margaret Lea einen geheimnisvollen Brief der Schriftstellerin, in welchem Vida Winter ihr anbietet, ihr erstmals die Wahrheit über ihr Leben zu erzählen. Doch obwohl Margaret Lea leidenschaftlich gerne liest und in alten Büchern stöbert, muss sie zugeben, dass sie noch keinen Bestseller von Vida Winter jemals gelesen hat. Als sie aber erst einmal mit Vida Winters Büchern zu lesen beginnt, ist sie sofort gefesselt von den Erzählungen und möchte der Person Vida Winters und auch ihrer dreizehnten Geschichte auf den Grund gehen. Und so reist Margaret Lea zu der sterbenden Autorin, um die Wahrheit zu hören und um die heißersehnte Autobiografie einer Autorin zu schreiben, von der eine ungeahnte Faszination ausgeht.

Doch noch immer kann sich Margaret keinen Reim darauf machen, warum gerade sie diesen Brief erhalten hat und warum Vida Winter gerade ihr die Wahrheit erzählen will, kennen die beiden Frauen sich doch nicht und hat Margaret Lea niemals eine Biografie eines noch lebenden Autors geschrieben. Dennoch fühlt Margaret sich magisch von der rätselumwobenen Schriftstellerin angezogen, denn auch Margaret umgibt ein Geheimnis. Noch als sie klein war, hat sie herausgefunden, was ihr immer gefehlt hat, warum sie sich nie komplett gefühlt hat, denn Margaret hatte einst eine Zwillingsschwester, die allerdings kurz nach der Geburt gestorben ist. Margarets Mutter ist an diesem Verlust zerbrochen und konnte nie ein normales Mutter-Tochter-Verhältnis aufbauen, und genau aus diesem Grund wollte sie Margaret vor der schrecklichen Wahrheit bewahren. Umso neugieriger ist Margaret nun, Vida Winters Familiengeschichte zu hören, denn auch Vida Winter, die einst einen anderen Namen trug und in Angelfield aufgewachsen ist, hatte eine Zwillingsschwester. Doch bei einem schrecklichen Feuer in Angelfield kam Vidas Schwester ums Leben. Niemand hat aber jemals die Wahrheit erfahren über die Nacht des Feuers.

Viele Geschichten sind zu entwirren, viele Geheimnisse aufzudecken, als Vida Winter damit beginnt, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Sie berichtet von Isabelle und ihrem Bruder Charlie, die eine innige Liebe miteinander verbindet. Als Isabelle einen anderen Mann kennen lernt, plagt Charlie die Eifersucht und er tröstet sich stattdessen mit zahlreichen anderen Frauen. Isabelle heiratet Roland schließlich und bekommt Zwillinge von ihm. Doch kurz nach der Geburt der beiden Mädchen stirbt Roland und Isabelle kehrt nach Angelfield und zu ihrem rastlosen Bruder zurück. Der Verlust des Mannes und die ganz unbrüderliche Liebe ihres Bruder entfremden Isabelle von ihren Kindern, sodass das Hausmädchen sich um die Erziehung von Adeline und Emmeline kümmert. Die jedoch ist dieser anspruchsvollen Aufgabe kaum gewachsen, denn Adeline ist ein rücksichtsloser Wildfang, Emmeline dagegen ein stilles, zurückhaltendes und vielleicht auch zurückgebliebenes Mädchen, das sich immer wieder stillschweigend von seiner Schwester quälen lässt. Als später Hester als Kindermädchen für die beiden eingestellt wird und auf die Idee kommt, die Zwillinge voneinander zu trennen, beschwört sie damit eine Tragödie herauf, die das ganze Leben auf Angelfield für immer verändern wird …

Es ist eine stille und ganz sensible Geschichte, die uns Diane Setterfield in ihrem Roman zu erzählen hat. Mit großem Sprachgefühl und viel Einfühlungsvermögen bringt sie uns die Lebensgeschichte der handelnden Personen und vor allem ihre Gefühle, ihre Sorgen und ihre Stimmungen näher. Ganz geschickt hat Setterfield verschiedene Geschichten ineinander verwoben, denn es ist nicht nur die Geschichte der Familie Angelfield, die wir zu hören bekommen, sondern auch die von Margaret Lea und ihrem merkwürdigen Aufenthalt bei Vida Winter. So verschlingen sich Gegenwart und Vergangenheit ineinander und wir entwirren nur ganz allmählich die Gedankengänge der Autorin und die zugrunde liegenden Zusammenhänge.

Was die gesamte Romanhandlung, die sich über insgesamt 520 Seiten erstreckt, trägt, sind die persönlichen Beziehungen zwischen den handelnden Figuren und die eingehende Charakterstudie, die Setterfield anstellt. Ganz vorsichtig und zaghaft berichtet sie von Lieben, die nicht sein dürfen, von Geschwisterbeziehungen, die nie zustande kamen bzw. die fast krankhafte Zustände annehmen, und von den Sorgen, die die einzelnen Personen mit sich durchs Leben tragen. Auf dem Wege zur schlussendlichen Auflösung kommen wir allen Charakteren so nah, dass man das Gefühl hat, man würde sie persönlich kennen.

Margaret Leas persönliches Schicksal ist es, das sie regelrecht in die Geschichte der Familie Angelfield hineinzieht, denn auch dort geht es um die Liebe zwischen Geschwistern und um die Beziehung zwischen Zwillingen, die kaum voneinander lassen und ohne einander scheinbar nicht leben können. Und obwohl die persönlichen Beziehungen der Charaktere so unglaublich sind, dass sie sich jedem Menschenverstand entziehen, so können wir sie doch nachfühlen, können wir nachvollziehen, warum die Figuren handeln, wie sie eben handeln müssen. Das ist der Verdienst von Diane Setterfields einfühlsamen und eindringlichen Schreibstil, der in jeder Situation so weit ins Detail geht, dass wir plötzlich mitten in der Geschichte stehen und alles hautnah miterleben können. Jede Kleinigkeit findet Erwähnung und Setterfield zieht unzählige Metaphern heran, um auch alles ganz genau zu beschreiben, bis wir es bildlich vor Augen haben. Es ist wahrlich meisterhaft, was wir hier zu lesen bekommen.

Aber auch der Spannungsbogen, der nur ganz zurückhaltend immer wieder aufblitzt, ist äußerst gelungen, denn wir möchten unbedingt erfahren, welche Geheimnisse sich um Vida Winters Kindheit ranken, welch schreckliche Dinge in der Nacht des Feuers geschehen sind und wie die dreizehnte Geschichte lautet. Als dann mitten im Buch plötzlich ein geheimnisvoller Mann auftaucht, der als Baby ausgesetzt worden und nun auf der Suche nach seiner Familie ist, kann der Leser diesen neuen Handlungsstrang zunächst nicht in das Gesamtgefüge einordnen, doch nach und nach legt Setterfield die Verbindungen dar und wir erhalten immer mehr Hinweise, die schließlich zum großen Aha-Erlebnis führen werden.

„Die dreizehnte Geschichte“ ist ein ganz stiller und leiser Roman, der zwar unter der Fassade auch Mord, Familienzwistigkeiten und menschliche Tragödien verborgen hält, aber dennoch sind es andere Elemente, die zu genau der gleichen Faszination führen, die auch Margaret Lea gepackt hat, als sie Vida Winters Geschichte zu hören bekommt. Diane Setterfields Schreibstil ist unglaublich lautmalerisch, einfühlsam und detailreich, sodass jeder Satz ein reines Vergnügen ist, und dennoch – trotz all der Lobeshymnen – ist „Die dreizehnte Geschichte“ wohl doch auch ein Frauenroman, denn es wird wahrscheinlich nur wenige männliche Leser geben, die sich so sehr in die Erzählung eindenken und einfühlen wollen, wie es notwendig ist, um sich von Diane Setterfield mitreißen zu lassen. Aber wenn man sich auf die Geschichte einlässt, dann gibt es Großartiges zu entdecken!

|Originaltitel: The Thirteenth Tale
Originalverlag: Orion
Aus dem Englischen von Anke und Dr. Eberhard Kreutzer
Gebundenes Buch, 528 Seiten, 13,5 x 21,5 cm|
[Verlagsspezial]http://www.randomhouse.de/dynamicspecials/setterfield__geschichte/
http://www.thethirteenthtale.com/

Safier, Daniel – Mieses Karma

Das Leben nach dem Tod birgt schon seit Urzeiten eine Faszination, der sich kaum jemand entziehen kann. Die Anhänger der unterschiedlichen Religionen haben verschiedene Vorstellungen vom Leben nach dem Tod – aber dass die Möglichkeit besteht, als Ameise wiedergeboren zu werden, um genug Karma für das Nirwana zu sammeln, das kann man sich wohl nur schwer vorstellen; umso größer ist Kim Langes Überraschung, als ihr genau das widerfährt.

Kim ist eine berühmte Talkshowmoderatorin, die auf dem Gipfel ihrer Karriere steht, als sie zum Deutschen Fernsehpreis fährt. Auch wenn sie durch die Verleihung den fünften Geburtstag ihrer Tochter Lilly verpasst und Kim sich endgültig eingestehen muss, dass ihre Ehe zu Alex gescheitert ist, und auch wenn sie von Versace versehentlich das falsche Kleid für die Preisverleihung zugeschickt bekommt (und dann einen hochnotpeinlichen Moment überstehen muss), so hat dieser denkwürdige Tag doch immerhin (im wahrsten Sinne des Wortes) einen Höhepunkt, nämlich den großartigen Sex mit ihrem gutaussehenden Kollegen Daniel Kohn.

Doch als Kim nach dem Sex auf das Dach des Hotels steigt, um dort frische Luft zu schnappen, passiert das Undenkbare: Das Waschbecken einer russischen Raumstation fällt ihr auf den Kopf und Kim stirbt bei diesem Unfall.

Doch damit ist die Geschichte noch lange nicht vorbei, denn nachdem ihr Leben an ihr vorbeigezogen ist und sie ein helles Licht gesehen hat, von dem sie zurückgestoßen wurde, steht sie Buddha gegenüber, der ihr in Form einer Ameise erscheint und ihr eröffnet, dass nun ihr Leben nach dem Tod begonnen hat – als Ameise. Denn Kim war zu Lebzeiten alles andere als nett zu ihren Mitmenschen, und so bleibt ihr das Nirwana verschlossen, bis sie genug gutes Karma gesammelt hat, um schlussendlich ins Nirwana aufsteigen zu können.

So findet sich Kim plötzlich inmitten einer Horde fleißiger Ameisen wieder, die gerade dabei sind, ein klebriges Gummibärchen zu transportieren. Doch ganz so leicht ist das Leben als Ameise nicht, denn Kim stirbt einige Tode als Ameise, wird aber immer wieder neugeboren. Langsam gewöhnt sie sich fast an das ständige Sterben und Wiedergeborenwerden, zumal sie im berühmten Casanova einen Leidgenossen gefunden hat, der ebenfalls seine Sünden als Ameise abarbeiten muss. Gemeinsam beschließen sie, gutes Karma zu sammeln, um die Reinkarnationsleiter aufzusteigen.

Und tatsächlich, bald werden sie wiedergeboren – als Meerschweinchen. Passenderweise leben die beiden als Meerschweinchen bei Kims Familie, die noch in tiefer Trauer wegen Kims Tode ist. Doch muss Kim erkennen, dass ihre ehemals beste Freundin Nina, die schon immer ein Auge auf Alex geworfen hatte, bereits in den Startlöchern steht, um Kims Platz einzunehmen. Die Zeit eilt also, denn Kim möchte auf jeden Fall verhindern, dass Nina sich in ihre Familie einschleicht. Ein guter Plan muss also her, was aber gar nicht so einfach ist als Meerschweinchen …

Daniel Safier erzählt eine Geschichte, wie sie schräger und absurder kaum sein könnte. Wir lernen die rücksichtslose Kim Lange kennen, die für ihre Karriere über Leichen geht und diese Sünden im Tode büßen muss. Besonders herzerfrischend ist allerdings die Figur des Casanova, der inzwischen seit etwa 200 Jahren sein Nach-Leben als Ameise fristet und gar nicht daran denkt, gutes Karma zu sammeln. Doch als er Kim kennen lernt, wird sein Ehrgeiz plötzlich angestachelt und die beiden schließen sich als grandioses Karma-Sammel-Team zusammen, auch wenn sie noch gar nicht wissen, was am Ende der Reinkarnationsleiter auf sie warten wird, denn Buddha hält sich mit seinen Informationen sehr bedeckt, wenn er nach erneutem Ableben bei den beiden auftaucht und ihnen einen guten Spruch für den weiteren Weg mitgibt.

So ganz kann Casanova sich an die merkwürdigen Zeiten ohne Kutsche nicht gewöhnen, vieles ist ihm fremd, aber als er sich dann in Kims Widersacherin Nina verliebt, ist er wieder ganz in seinem Element und unterstützt Kim bei ihren Racheplänen mit voller Kraft. Allerdings sind Rachepläne natürlich schwer vereinbar mit dem Sammeln von gutem Karma, und so sterben die beiden einen Tod nach dem anderen und müssen sich immer spitzfindigere Pläne ausdenken, um ihr zwischendurch gewonnenes Karma nicht wieder zu verlieren.

Safiers Geschichte wird immer abgedrehter, immer witziger und immer erfrischender, denn obwohl Kim und Casanova meist aus ziemlich eigennützigen Motiven handeln, so wünscht man ihnen doch von ganzem Herzen Erfolg bei ihrer Mission. Denn obwohl Nina merkwürdigerweise – wie Kim zähneknirschend eingestehen muss – ihrer Familie offensichtlich besser tut als sie selbst, sammelt sie beim Leser doch kaum Sympathiepunkte, weil Casanova und Kim absolut im Mittelpunkt der gesamten Romanhandlung stehen.

Mit großem Tempo, viel Wortwitz und ohne Atempause erzählt Safier die Geschichte von Kim Lange und Casanova, die sich beherzt auf den Weg die Reinkarnationsleiter hinaufmachen und dabei die kuriosesten Abenteuer zu überstehen haben. Denn wer hätte sich vorher wohl ausmalen können, dass sie als Versuchsmeerschweinchen in einem Tierlabor landen und dort einen Affenaufstand anzetteln würden, oder dass Kim als Kuh dafür sorgt, dass alle ihre „Mit-Kälber“ eingeschläfert werden und sie dadurch wieder einiges Karma verliert. Am abgefahrensten wird die Geschichte aber, wenn Kim und Casanova als tierisches Duo Infernale versuchen, die Hochzeit zwischen Alex und Nina zu verhindern.

Selten habe ich bei einem Roman so sehr geschmunzelt, gelacht und mich königlich amüsiert wie bei diesem. Daniel Safier beweist unglaublich viel Einfallsreichtum, Wortwitz, Ironie, Humor und Sprachgefühl, dass es ein absolutes Vergnügen ist, „Mieses Karma“ zu verschlingen. Und auch wenn manche Szenen vielleicht etwas weichgespült sind, so bin ich schon jetzt sehr gespannt auf den nächsten Roman von Daniel Safier, den ich mit Sicherheit wieder lesen und dann hoffentlich genauso gut unterhalten werde wie dieses Mal.

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Clare Clark – Vermesser, Der

Im Jahre 1855 war London noch nicht die moderne und pompöse Metropole, wie wir sie heute kennen. Nein, vor gut 150 Jahren, also in der Zeit, in der Clare Clarks Debütroman „Der Vermesser“ spielt, ging London unter in seinem eigenen Unrat. Schon auf dem vorderen Buchdeckel wird Patrick Süskinds berühmter Roman [„Das Parfum“ 3452 als Vergleich herangezogen, denn auch das „Parfum“ spielt in einer Zeit, in der eher die „Un-Wohlgerüche“ das Leben der Menschen beherrschten. Und genau wie schon Patrick Süskind zuvor, schafft es auch Clare Clark, ihren Lesern diese Gerüche, diesen Gestank und diesen dreckigen Moloch so nahe zu bringen, dass diesen ein kalter Schauer nach dem anderen den Rücken herunterläuft …

Schon in der ersten Szene begleiten wir den Vermesser William May hinunter in das Labyrinth im Untergrund. May ist unser Roman“held“, der gezeichnet und verwundet aus dem Krimkrieg zurückgekehrt ist und zu seinem Glück eine sehr angesehene und gut bezahlte Stelle als Vermesser erhält. Zur Zeit der Romanhandlung wird in London an einer gewaltigen Kanalisation gebaut, die das Abwasserproblem lösen soll und an der May als Vermesser entscheidend beteiligt ist. Immer wieder zieht es ihn in den Untergrund zurück, wo er einmal die zahllosen Gänge erforscht, wo er aber auch die Abgeschiedenheit nutzt, um sich selbst mit dem Messer zu schneiden, um seine Wunden aus dem Krimkrieg zu vergessen.

Auch die zweite Hauptfigur, der Kanaljäger Tom, lebt von den Kanälen im Untergrund Londons, wo er Ratten fängt, um diese an einen Kneipenwirt zu verkaufen, der diese für Hundekämpfe einsetzt, in denen die Hunde so viele Ratten wie möglich in einer Minute totbeißen müssen. Tom lebt recht gut von dieser Arbeit, sieht aber bereits das Ende der Rattenfänge gekommen, wenn nämlich die Kanalisation immer besser von den Ausspülern bewacht wird und auch zu viele andere Kanaljäger sich über die Ratten hermachen. Als er eines Abends einen Hundekampf besucht, fällt ihm ein Hund auf, der still und nicht besonders gefährlich aussieht. Später auf dem Heimweg läuft ihm der Hund wieder über den Weg und Tom beschließt, Lady – so hat er die Hundedame getauft – mit zu sich nach Hause zu nehmen. Zu seiner großen Überraschung erweist sich Lady als wahre Kampfmaschine gegen die Ratten, was auch nicht dem „Captain“ entgeht, der auf der Suche nach einer solchen Kampfmaschine ist und sich bereit zeigt, eine Menge Geld für einen solch gefährlichen Hund auszugeben. Tom braucht das Geld für seinen Ruhestand und für die Zeit, in der er kein Geld mehr mit Kanalratten machen kann, also beschließt er schweren Herzens, sich von seinem geliebten Hund zu trennen. Noch ahnt er allerdings nicht, dass er damit in eine Falle tappt.

Aber auch May trifft das Schicksal hart: Ganz ungewollt verscherzt er es sich durch seine gewissenhafte Arbeit als Vermesser mit dem Ziegeleibesitzer Alfred England, der einen ersehnten Auftrag nicht erhält. Eines Abends läuft May in den düsteren Straßen Londons dem wütenden Ziegeleibesitzer über den Weg, der William bedroht. May weiß sich keinen anderen Weg als die Flucht in die Kanalisation, die er wie seine Westentasche kennt. Dort jedoch verliert er das Bewusstsein und kriegt nur in einem tranceartigen Zustand mit, wie ein grausamer Mord geschieht, an den er sich zunächst nicht erinnern kann. Nach diesem schrecklichen Erlebnis wird May sehr krank, als er sich jedoch auf dem Wege der Besserung befindet, wird er plötzlich des Mordes an Alfred England beschuldigt. Ihm droht der Galgen – und genau in diesem kritischen Moment wendet sich selbst Mays geliebte Frau Polly von ihm ab …

Es ist eine düstere, stinkende und bedrohliche Welt, in die Clare Clark uns entführt. Wie in Patrick Süskinds großartigem Roman „Das Parfum“ begibt man sich auch hier Schritt um Schritt in eine fremde Welt, in die uns die eindringlichen Worte der Autorin entführen. Clarks Situationsbeschreibungen könnten nicht realistischer und eindrucksvoller sein; sie verwendet viele Metaphern, um uns die dunklen Straßen Londons und vor allem die dreckige Kanalisation vor Augen zu führen. Sie verwendet viele Worte, um ihrer Erzählung eine Atmosphäre einzuhauchen, die es dem Leser ermöglicht, vollkommen in die Geschichte einzutauchen und alles um sich herum zu vergessen. „Der Vermesser“ ist die ideale Lektüre für einen dunklen Winter- oder Herbstabend, wenn draußen der Regen auf die Fensterbänke prasselt und am besten noch Blitze am Himmel zucken, die den Leser zwischendurch immer wieder aufschrecken lassen. Es sind die düstersten Ecken Londons, die zwielichtigsten Kneipen und die unratüberspülten Kanäle, die Clare Clark als Kulisse für ihren spannenden und atmosphärisch dichten Debütroman auswählt. Und eins ist sicher: Sie braucht den Vergleich mit Patrick Süskind nicht zu scheuen. Denn es ist nicht nur die dramatische Szeneriebeschreibung, die für Clare Clark spricht, sondern es ist darüber hinaus die authentische und gefühlvolle Zeichnung zweier Charaktere, die im London des 19. Jahrhunderts ein eher tristes Leben fristen.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Titelfigur William May, der als Vermesser sein Auskommen hat, aber trotz der gut bezahlten Arbeit sein Glück nicht findet. Der schreckliche Krimkrieg steckt ihm immer noch in den Knochen, außerdem hat er die seelischen Wunden, die ihm damals zugefügt wurden, noch nicht überwunden. Seine Zuflucht findet William May in den scheinbar unbeobachteten Kanalgängen, in denen er sich Wunden zufügen und sein eigenes Blut schmecken kann. Mays Psyche scheint angeknackst, seine Ehe nicht sonderlich glücklich, da Polly mit ihren Forderungen zu viel von ihrem Ehemann einfordert. Sie macht Pläne, mietet ein Haus, stellt ein Hausmädchen ein und wird ein zweites Mal schwanger, doch William entzieht sich immer mehr seiner wachsenden Familie und findet in ihr auch keinen Rückhalt, als er des Mordes beschuldigt wird und seine einzige Hoffnung in seinem Pflichtverteidiger liegt, der jedoch nicht so recht an Mays Unschuld glauben mag und darüber hinaus seinen allerersten Mandanten zu verteidigen hat.

Ungeahnte Schützenhilfe erhält William May in dieser ausweglosen Situation allerdings von dem Kanaljäger Tom, der übers Ohr gehauen wurde und nun auf Rache sinnt. Obwohl er ebenfalls von Mays Schuld überzeugt ist, da er selbst ihn mit einem blutigen Messer am Tatort entdeckt hat, muss Tom doch erkennen, dass May und er den gleichen Feind haben und dem gleichen Schlitzohr aufgesessen sind. Eine verzweifelte Rettungsaktion beginnt, die sowohl Toms wie auch Williams Leben retten soll. Doch ob dies gegen einen so übermächtigen Gegner gelingen kann, das ist fraglich.

Clare Clark nimmt sich viel Zeit, um ihre Protagonisten vorzustellen und dem Leser die Straßen ober- und unterhalb Londons zu schildern, in denen sich alles abspielen wird. Fast die Hälfte des Buches braucht Clark für ihre Vorbereitungen, bis es schließlich zu dem grausamen Mord kommen kann, der auf dem Buchrücken bereits angekündigt wird. Der Spannungsbogen setzt demnach erst recht spät ein, steigt dann kontinuierlich an und fesselt den Leser zum Schluss des Buches aber vollends, sodass man unbedingt weiterlesen und wissen muss, ob William May gerettet werden kann, und um zu erfahren, was nun tatsächlich vorgefallen ist. Doch obwohl der Spannungsbogen erst auf der Mitte des Buches einsetzt, ist die erste Hälfte keineswegs langweilig, da Clark hier die Voraussetzungen schafft und uns in das schmutzige London entführt, in dem wir zusammen mit dem Protagonisten umherirren werden.

„Der Vermesser“ ist ein literarischer Leckerbissen, den sich kein Buchwurm entgehen lassen sollte. Auf der Handlungsebene mag vielleicht nicht allzu viel passieren, dennoch hat Clare Clark ein beeindruckendes Debüt vorgelegt, das man einfach würdigen muss. Alle Lobeshymnen sind hier vollkommen berechtigt, da Clark ein Buch geschrieben hat, das sich positiv aus der Masse anderer Krimis heraushebt und durch seine dichte Atmosphäre, die eindrucksvollen Beschreibungen und die glaubwürdigen Figurenzeichnungen zu überzeugen weiß. An diesem Buch stimmt einfach alles, sodass ich nur eine uneingeschränkte Empfehlung aussprechen kann!

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Soininvaara, Taavi – Finnisches Blut

Nur ein kleiner Moment der Unachtsamkeit ist es, der Generalmajor Raimo Siren zum Verhängnis wird: Während er am Steuer seines Autos eine Nummer im Speicher seines Autotelefons sucht, hört er einen dumpfen Aufprall und sieht plötzlich Blut über die Windschutzscheibe laufen. Doch es ist nicht nur die Angst, einen Menschen umgebracht zu haben, sondern auch die Tatsache, dass er zum Abendessen nicht wenig getrunken hat, die Siren dazu verleiten, Fahrerflucht zu begehen und sich anschließend um den unliebsamen Vorfall zu kümmern, der ihn seine Karriere kosten könnte. Zu Hause angekommen, kann ihn nicht einmal die Musik von Sibelius beruhigen, doch Siren beginnt bereits, Pläne zu schmieden, die ihn retten könnten, denn er weiß ganz sicher, dass man ihn als Fahrer des Unfallwagens wird identifizieren können …

Von diesem drohenden Ungemach ahnt Arto Ratamo derweil noch nichts, während er nachts im Labor steht, um ein Gegenmittel gegen Ebola-Helsinki zu testen. Er ist sich sicher, dass auch diese Version des Gegenmittels nicht anschlagen wird, als ihn im übermüdeten Zustand eine überraschende Entdeckung erwartet, denn sein Gegenmittel wirkt tatsächlich! Da es inzwischen frühmorgens ist, beschließt Ratamo, sofort nach Hause zu gehen, ohne den notwendigen Teil der Bürokratie zu erfüllen. So schreibt er lediglich eine kurze Nachricht für seine Kollegen, dass ein Gegenmittel gefunden ist und begibt sich anschließend nach Hause zu seiner Frau Kaisa und seiner kleinen Tochter Nelli, die von der bevorstehenden Aufregung noch nichts ahnen.

Raimo Siren spinnt nämlich bereits einen teuflischen Plan, in dem die Familie Ratamo eine wesentliche Rolle spielen wird. Als er von der Entdeckung eines Mittels gegen Ebola-Helsinki hört, schickt er ein Erschießungskommando zu Ratamos Chef Manneraho und auch zu Ratamo nach Hause. Er lässt den Mord an Manneraho so aussehen, als habe Ratamo selbst ihn erschossen. Als Ratamo von einem Killer aufgesucht wird, kann er sich nur knapp retten, doch seine Frau Kaisa wird vor Ratamos Augen erschossen. So wird der Virenforscher plötzlich zu einem gejagten Mann. Allerdings weiß Siren nicht, dass er nicht der Einzige ist, der dringend die Formel für das Gegenmittel haben möchte, und so beginnt eine atemberaubende Hatz auf Ratamo, der nicht nur um sein eigenes Leben fürchten muss, sondern auch um das seiner kleinen Tochter Nelli …

Nachdem im Deutschen bereits drei Kriminalromane von Taavi Soininvaara veröffentlicht wurden, erfreut uns der |Aufbau|-Verlag endlich mit dem ersten Roman der Arto-Ratamo-Reihe, der nun erklärt, wie aus dem Virenforscher ein Ermittler der finnischen SUPO werden konnte. Und wie wir es von Taavi Soininvaara gewohnt sind, stürzt er sich ohne langes Vorgeplänkel sofort mitten in die Geschichte. Schon früh lernen wir Arto Ratamos mächtigen und gefährlichen Gegner kennen, nämlich Raimo Siren, der auf Teufel komm raus sein eigenes Leben retten möchte und dabei auch über Leichen geht. Raimo Siren spinnt ein Netz von Lügen um sich, mit dem er selbst seine rechte Hand, Pekka Vairiala, täuschen kann, der ohne sein Wissen zu Sirens Handlanger wird.

Auch dieser allererste Kriminalroman von Taavi Soininvaara, in dem Arto Ratamo noch ein harmloser Forscher ist und mit lebensgefährlichen Situationen und Ermittlungen noch nicht viel am Hut hat, lebt von seinem Hauptcharakter. Wir lernen Ratamo hier noch als Familienvater und unglücklich verheirateten Mann kennen, der von Zweifeln geplagt wird, weil ihm die Arbeit im Labor keinen Spaß mehr macht. Ratamo hat bereits erkannt, dass seine Ehe mit Kaisa gescheitert ist und nur noch wegen Nelli aufrecht erhalten wird, dennoch hat er ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Schwiegermutter Marketta, die ihm nach Kaisas Tod eine große Hilfe ist, als sie nämlich Nelli in Sicherheit bringt, obwohl sie doch den Tod der einzigen Tochter verkraften muss.

Ratamo schlägt sich schon in diesem Buch beachtlich, obwohl er doch völlig unverhofft in diese lebensbedrohliche Situation geraten ist und hierbei zum tragischen Helden wird. Schnell erkennt er, dass er nur eine einzige Chance hat, nämlich indem er die Medien einschaltet. So wendet er sich in seiner Verzweiflung an eine engagierte und mutige Journalistin, die seiner Geschichte Glauben schenkt und ihn in ihrer Wohnung verstecken will. Doch auch bei Pirkko Jalava zu Hause ist Ratamo vor den Killern nicht sicher. Wohin er auch geht, überall sind seine Gegner ihm einen Schritt voraus, doch so schnell gibt Ratamo sich nicht geschlagen, denn der Gedanke an seine Tochter erhält ihn aufrecht.

Taavi Soininvaara schlägt ein Erzähltempo an, das durchaus Dan-Brown-Qualitäten hat: Seine Kapitel sind kurz, seine Sprache sind sonderlich aufwändig. Immer wieder zieht er das Tempo durch schnelle Szenenwechsel und das Auftauchen neuer Hinweise oder Figuren an, sodass „Finnisches Blut“ zu einem echten Pageturner wird. Allerdings lässt Soininvaara auch in diesem Krimi das Tempo zwischendurch etwas schleifen durch zu viel Lokalkolorit von Städten, die zumindest mir nicht bekannt sind, und auch durch politische Exkurse, die sich ohne Vorkenntnisse nur schwerlich nachvollziehen lassen.

Nichtsdestotrotz gefällt auch „Finnisches Blut“ ausgesprochen gut und erklärt dem Arto-Ratamo-Fan endlich, wie der ehemalige Forscher bei der SUPO landen konnte und wie alles begann. Soininvaara überzeugt wieder einmal durch seine gelungene Figurenzeichnung, die dafür sorgt, dass die Lesersympathien klar verteilt werden. Außerdem gelingt ihm erneut ein Spannungsbogen, der es in sich hat und ein Weglegen dieses Buches praktisch unmöglich macht.

|Taavi Soininvaara bei Buchwurm.info:|
[„Finnisches Requiem“ 1909
[„Finnisches Quartett“ 2988

Szerb, Antal – In der Bibliothek

|“Das, was hier geschah, war die Interferenz von Lieben. Wenn sich zwei Lieben in einem Herz treffen, dann verstärken sie sich entweder, oder sie schwächen sich gegenseitig ab, so wie jedes Licht, jeder Ton und jede andere Welle oder schwingende Bewegung. Einmal war ich in zwei Frauen zugleich verliebt, und diese beiden Lieben trafen sich in einer so unglücklichen Phase in meiner Seele, daß sie sich gegenseitig aufhoben und ich mich gezwungen sah, mich in eine dritte zu verlieben.“|

Diese wunderbaren Worte, die den Leser in der Seele treffen und anrühren, können eigentlich aus kaum einer anderen Feder stammen als aus der des ungarischen Literaturprofessors Antal Szerb, den der |Deutsche Taschenbuchverlag| nun endlich für sich entdeckt hat. Im vorliegenden Buch „In der Bibliothek“ sind insgesamt 14 Kurzgeschichten des verstorbenen Autors zusammengestellt, die sich im ersten Teil vornehmlich der Liebe widmen. Doch das Thema „Liebe“ greift Szerb immer wieder auf und beleuchtet es von allen Seiten. Und so kurios manche Geschichten anfangs auch anmuten mögen, bei genauerem Hinschauen fällt immer wieder auf, dass Szerb den Nagel auf den Kopf trifft.

Da begegnen wir beispielsweise Lancelot, der unsterblich, aber auch unglücklich in die schöne Königin Guinever verliebt und nun losgezogen ist, um gegen einen Drachen zu kämpfen und von diesem den Schuh der schönen Königin wiederzuerlangen. Auf seiner Reise verbringt Lancelot eine Nacht im Hause des Zauberers Klingsor und schüttet diesem sein Herz aus, weil er ja so unglücklich sei, da seine Angebetete mit König Artus verheiratet ist. Des Nachts fängt Klingsor die Liebe ein und verschließt sie in einer Phiole, woraufhin Lancelot plötzlich von seiner blinden Liebe zu Guinever befreit ist. Doch anstatt sich seiner neu gewonnenen Freiheit zu freuen, bemerkt er bald, dass er ganz ohne die Liebe – und sei sie noch so unglücklich und unerfüllt – eben auch nicht leben kann. Auf den ersten Blick mag sich das merkwürdig anhören, aber hat Lancelot – bzw. Antal Szerb – damit nicht vollkommen Recht? Wer möchte denn schon ganz ohne Liebe sein?

Aber wir lernen in den einzelnen Geschichten noch ganz andere bemerkenswerte Charaktere kennen, die wir ein Stück ihres Weges begleiten. In der Titelgeschichte erzählt uns Tamás, wie seine große (ehemalige) Liebe aus Studienzeiten Edit ihn brieflich bittet, ihrer Cousine Ilonka die Bibliothèque Nationale zu zeigen, in der Tamás den Großteil seiner Zeit verbringt. Zunächst ist der Ich-Erzähler skeptisch und malt sich schlimme Visionen dieser Ilonka aus. Als er eines Tages aber eine unsichere junge Dame bemerkt, die ihn zu suchen scheint, stellt er fest, dass Ilonka alles andere als unscheinbar oder gar hässlich ist, sondern sehr attraktiv. Tamás zeigt ihr daraufhin die Bibliothek, geht mir ihr Kaffee trinken und zeigt ihr einen Teil des Pariser Lebens, ohne allerdings zu bemerken, wie er sich nach und nach in die schöne Ilonka verliebt. Als diese ihm seine Liebe gesteht, weist Tamás sie aber zurück. Diese kleine Geste ist es, die die Beziehung der beiden grundlegend verändert.

Bei Antal Szerb sind es im Übrigen meist die kleinen Dinge, die eine entscheidende Wende herbei führen, wie auch in der Geschichte, in der ein Mann sich auf den ersten Blick in die wunderschöne Delia Danthorp verliebt, die eigentlich nur Augen für seinen guten Freund, den Pianisten János, hat und die dennoch eigentlich nur auf Frauen steht. Als Delia ihn aber zu einem Tee zu sich nach Hause einlädt und ihm unmissverständlich klarmacht, dass diese Einladung ohne jegliche Hintergedanken ausgesprochen wurde, gibt es dennoch diesen einen winzigen Moment, in dem der Ich-Erzähler das Richtige tut und anschließend mit einer schier unglaublichen Liebesnacht belohnt wird.

Im zweiten Teil des Buches widmet Antal Szerb sich mehr den historischen bzw. fabelhaften Figuren und dem Übersinnlichen. Er erzählt die Geschichte des jungen Parzivals, der den schrecklichen roten Ritter besiegt und am Ende mit dem Kelch des Himmels belohnt wird, wir erfahren die Geschichte von Ajándok, die sich in einen schwarzen Magier verliebt, und wir lesen, wie das Unglück einer Stadt durch seine Kälte alle Kinder dahinrafft.

Mit einer großen Liebe zum Detail und vor allem einem fantastischen Sprachgefühl erzählt Antal Szerb uns Geschichten seiner Alltagshelden, die in diesen Erzählungen aber dennoch ganz wunderbare Dinge erleben. Auch wenn das Einlesen einige Mühen kostet, da man sich in zahlreiche Kurzgeschichten neu einfinden muss, wird man als Leser doch mit herrlichen Erfahrungen belohnt und vor allem mit Szerbs ganz besonderer Sprache, seiner genauen Beobachtungsgabe, seinem großen Sprachtalent und wunderbaren Formulierungen, die man sich am liebsten alle aufschreiben möchte, um sie später bei geeigneter Gelegenheit zitieren zu können. Antal Szerbs Geschichten, aber auch seine einzelnen Sätze sind wie kleine Schätze, die man beim Lesen ausgräbt und die einem richtig das Herz erwärmen können. Seine Erzähler und Figuren sind so sympathisch, manchmal auch ein klein wenig naiv, aber doch immer so herzensgut, dass wir mit ihnen fiebern und mit ihnen traurig sind, wenn sich die große Liebe und das große Glück am Ende dann doch nicht einstellen wollen.

Aus jeder dieser Geschichten kann man etwas mitnehmen, das Szerb uns sagen möchte. Seine Erzählungen stecken voller Botschaften, die er mit seiner genauen Beobachtungsgabe analysiert und aufdeckt. Antal Szerb vermittelt uns das Gefühl, als habe er nicht nur das menschliche (Un-)Glück durchschaut, sondern auch das menschliche Verhalten generell. Oftmals hält er uns einen Spiegel vor und führt uns vor Augen, wie irreal wir uns verhalten und wie unlogisch unsere Handlungen sein können, wenn doch das Gefühl und die Liebe im Spiel sind. Szerbs Geschichten sind fein und zerbrechlich und sie entfalten ihre volle Wirkung erst, wenn man das Buch zugeschlagen und das Gelesene verdaut hat. Erst beim anschließenden Nachsinnen entdeckt man vieles, das Szerb zwischen den Zeilen versteckt hat und was dazu führt, dass man immer wieder zurückblättert, um seine Worte ein weiteres Mal auf sich einwirken zu lassen.

„In der Bibliothek“ ist wieder einmal eine literarische Entdeckung, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Wer Antal Szerb noch nicht kennt, der hat wahrlich etwas verpasst, denn auch wenn sich seine Geschichten nach heutigen Gesichtspunkten vielleicht nicht ganz so einfach runterlesen lassen, so wird man doch durch Szerbs feine Ironie, sein Sprachgefühl, seine scharfe Beobachtungsgabe, seine beachtlichen Charaktere und seine wunderbaren Erzählungen belohnt, die dem geneigten Leser ein Lächeln auf die Lippen zaubern.

_Antal Szerb bei |Buchwurm.info|:_

[„Reise im Mondlicht“ 1292
[„Reise im Mondlicht“ 2724 (Hörbuch)
[„Die Pendragon-Legende“ 955
[„Die Pendragon-Legende“ 2135 (Hörbuch)
[„Das Halsband der Königin“ 1855

Gillian Flynn – Cry Baby

Die Werbekampagne des Scherz-Verlages für den Debütroman der hübschen Autorin Gillian Flynn war groß und edel angelegt: Im Börsenblatt blickte einem eine dunkelrote zweiseitige Anzeige entgegen, das Buch wird in einem ansprechend bedruckten Pappkarton und mit einem schicken Schutzumschlag angeliefert und ist schon auf den ersten Blick ein Hingucker. Doch auch wenn man in das Buch hineinschaut und -liest, wird man feststellen, dass einem nicht zu viel versprochen wird durch die schicke Optik, sondern dass dieses Werk in der Tat etwas ganz Besonderes ist…

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Buticchi, Marco – dritte Prophezeiung, Die

Das Interesse von Verschwörungsfanatikern an den Templern ist nach wie vor ungebrochen und auch die katholische Kirche ist immer wieder für einen packenden Thriller gut. So bedient der gefeierte italienische Autor Marco Buticchi sich zweier erfolgversprechender Komponenten für seinen Thriller „Die dritte Prophezeiung“. Und wenn man den Lobpreisungen auf den Umschlagseiten glauben darf, so hält man hier das Buch des italienischen Dan Brown in Händen, der nun endlich der Erste sein könnte, der den großen Brown von seinem Bestsellersockel stoßen könnte. Die Erwartungen sind also hoch, wenn man das Buch aufschlägt und zu lesen beginnt. Schauen wir uns an, was uns zwischen den Buchdeckeln geboten wird:

Zu Beginn begegnen wir im Jahre 1918 dem Unteroffizier Igor Drostin, der der Hinrichtung der Familie Nikolaj Romanows beiwohnt und später in den Kleidern der Romanows eine wertvolle Entdeckung macht, nämlich zahlreiche kostbare Juwelen, von denen er einige auf die Seite schafft. Seinem Enkel Josif Drostin vermacht Igor ein paar abgenutzte Schreibhefte, in denen er verschlüsselt den Weg zu den vergrabenen Juwelen offenbart. Doch noch ahnt Josif nichts von seinem anstehenden Glück und verzweifelt immer mehr an seiner frustrierenden Arbeit in der Fabrik, bei der er zusätzlich von einem cholerischen Vorgesetzten gequält wird. Bevor Josif es allerdings zu großem Reichtum bringt, muss er einige Schicksalsschläge überstehen; seine Freundin wird ermordet und er selbst wird als mutmaßlicher Mörder gesucht. Der Zufall will es aber, dass Josif in russischen Mafiakreisen immer weiter aufsteigt und es schließlich zum mächtigsten Waffenhändler bringt. Ein besonders gefährlicher Auftrag führt Josif allerdings auf eine Kreuzfahrt, die zum Himmelfahrtskommando auszuarten droht.

Im Jahre 1978 beginnt die Erzählung um Pat Silver und seinen besten Freund Derrick Grant, die bei einer manipulierten spiritistischen Sitzung das Herz von Maggie Elliot und Annie Ferguson erobern wollen. Als Pat mit seinem Schauspiel beginnt, fällt Maggie jedoch tatsächlich in Trance und verkündet in einer fremden Sprache, dass sich die Prophezeiung zu erfüllen droht. In den Jahren darauf hat Maggie immer wieder ihre Ahnungen, in denen sie zukünftige Geschehnisse sehen kann und beispielsweise auch das Attentat auf Papst Johannes Paul II. im Jahre 1981 voraussieht. Diese Gabe verhilft Maggie zu einer erstaunlichen Fernsehkarriere, nur privat läuft es alles andere als rosig. Denn ihre heimliche Liebe zu Pat Silver steht unter keinem guten Stern; die beiden kommen einfach nicht zusammen, sodass Maggie schließlich Timothy Hassler heiratet. Pat kann sie allerdings nie vergessen. Der jedoch dreht ein krummes Ding nach dem anderen und verdient sich eine goldene Nase durch seine illegalen Computertricks. Doch das Schicksal der vier Collegefreunde wird eng miteinander verbunden bleiben und auf einer noblen Kreuzfahrt schließlich ein fulminantes Finale hervorbringen …

Diese beiden Haupterzählstränge, die zunächst nichts miteinander zu tun haben, verbinden sich, als Derrick Grant seine drei Jugendfreunde auf die Kreuzfahrt mit dem größten Passagierschiff der Welt einlädt. Auf diesem Schiff reist nämlich auch Josif Drostin, der eine gefährliche Ladung zu übergeben hat.

Eine weitere Erzählebene widmet sich Geschehnissen, die einige hundert Jahre in der Vergangenheit liegen. Hier erleben wir im Jahre 1291 in Akkon das Ende des letzten Großmeisters der Templer mit. Die weiteren historischen Ereignisse schildern die gefährliche Reise des jungen Ritters Bertrand de Rochebrune, der dem Gemetzel in Akkon entfliehen konnte, aber in den darauffolgenden Jahren noch viele Abenteuer zu überstehen hat. Spät offenbart uns Marco Buticchi schließlich auch das Bindeglied zwischen den historischen Ereignissen im ausklingenden 13. und beginnenden 14. Jahrhundert und den Geschehnissen am Ende des 20. Jahrhunderts. Bis dahin heißt es für den Leser Rätsel raten …

In seinem packenden Verschwörungsthriller hat uns Marco Buticchi offensichtlich viele Geschichten zu erzählen. Stilistisch hat er sich in der Tat von Dan Brown und seinen Erfolgen inspirieren lassen, denn er fügt seinem Buch die gleichen erfolgversprechenden Komponenten hinzu und schlägt ein unglaubliches Erzähltempo an, das durch die schnellen Wechsel der Schauplätze immer weiter gesteigert wird. Immer dann, wenn es in der Gegenwart besonders spannend wird, springt Buticchi zurück in die Vergangenheit, wo wir Bertrand de Rochebrune auf seinen Reisen begleiten. Die Wechsel zwischen den verschiedenen Erzähl- und Zeitebenen schaffen allerdings oft genug auch einige Verwirrung, da Buticchi viele Lebensjahre seiner Protagonisten beleuchten will. So zieht sich alleine die Geschichte um Maggie Elliot und ihre Freunde vom Jahre 1978 bis zum Jahre 1999.

Im vorliegenden Roman erwartet einen folglich eine wahre Informationsflut, der man stellenweise kaum folgen kann. Marco Buticchi bemüht sich zwar, seinen Charakteren Leben einzuhauchen, allerdings empfand ich viele der präsentierten Auskünfte als überflüssig. Nehmen wir nur allein die unglückliche Liebe zwischen Maggie Elliot und Pat Silver, die sich über viele Jahre hinzieht und in einem Seitensprung auf dem Luxusdampfer endet. Auf vielen Seiten breitet Buticchi Pat Silvers kriminelles Berufsleben aus, er umschreibt ausschweifend die Eheprobleme zwischen Maggie Elliot und Timothy Hassler, aber all dies bringt die Erzählung kein Stück voran. Diese Handlungen im Leben der Figuren haben nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun, also nichts mit dem geplanten Anschlag auf das Kreuzfahrtschiff. Derlei schmückendes Beiwerk findet sich an vielen Stellen im Buch und stört sowohl den Spannungsaufbau als auch die Glaubwürdigkeit. Meiner Meinung nach hätte sich Marco Buticchi wie sein großes Vorbild Dan Brown auf das Wesentliche konzentrieren sollen. Im Übrigen hat Buticchi an so mancher Stelle eher schlecht geklaut, denn seine Bösewichte verpackt Buticchi so dürftig, dass selbst der ungeübte Leser diese Verräter schnell enttarnt haben dürfte.

Gelungen fand ich in weiten Teilen den Spannungsbogen des Buches, der durch die schnellen Szenenwechsel immer weiter ansteigt und dafür sorgt, dass man das vorliegende Buch nicht mehr aus der Hand legen kann. Auf der anderen Seite hätte ich mir gewünscht, dass Buticchi seine Erzählebenen enger miteinander verknüpft. Zwar offenbart der Autor uns die Verbindung zwischen den Ereignissen im 13./14. Jahrhundert und denen im ausklingenden 20. Jahrhundert, aber mir persönlich war diese Verbindung zu locker. Es ist nicht deutlich geworden, welchen inhaltlichen Sinn die historischen Exkurse hatten und insbesondere hat Buticchi uns nicht klar gemacht, was genau hinter dem Anschlag auf das Kreuzfahrtschiff steckt. In vielen Szenen treffen wir auf mysteriöse Gestalten, die sich hinter einer Kutte verborgen halten und die offensichtlich zum Templerorden gehören, aber ihre Beweggründe sind mir nicht klar geworden.

So kann Marco Buticchi in Ansätzen zwar überzeugen und man entdeckt auch das schriftstellerische Potenzial, das in ihm steckt. An vielen Stellen hätte man sich allerdings ein strafferes Lektorat gewünscht und insbesondere auch den roten Faden, der die einzelnen Ereignisse miteinander verknüpft und den Leser durchs Buch führt. Denn an vielen Verzweigungen seiner Handlungsstränge lässt Buticchi uns alleine stehen und zeigt uns nicht deutlich genug, wo es eigentlich langgehen soll. Viele Fragen bleiben am Ende offen, die einen etwas unbefriedigt zurück lassen, auch wenn „Die dritte Prophezeiung“ durchaus Unterhaltungswert hat und nett zu lesen ist. Aus der Masse der zahllosen Verschwörungsthriller hebt sich das vorliegende Buch allerdings leider nicht ab.

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