Alle Beiträge von Michael Matzer

Lebt in der Nähe von Stuttgart. Journalist und Buchautor.

Uta-Maria Heim – Das Rattenprinzip

Ein Wendeporträt: Ermittlung im Stuttgarter Misthaufen

Eine Mordserie erschüttert den Stuttgarter Norden im Jahr 1990. Lokaljournalist Udo Winterhalter ermittelt in einem Sumpf aus Kulturmanipulation und Kritikerbestechung. Einer dieser Kritker, sein Kollege Leif Götzberg, ist nach einem Theaterbesuch tot: in eine Mauer gerast. Seltsamerweise stirbt kurz danach auch Götzbergs Freundin Yasmina Finke, die auch das Theater besuchte. Und der Kieferorthopäde und Buchautor Dr. Martin Koneffke, der Götzberg schmierte, verschob Geld – an wen, für was? Udo Winterhalter ermittelt schneller, als die Polizei glauben mag …

Die Autorin

Uta-Maria Heim, geboren 1963 in Schramberg, Schwarzwald, lebt als Dramaturgin und Autorin in Baden-Baden. Sie schrieb zahlreiche Romane, Krimis, Hörspiele und Features. Für ihre Arbeiten erhielt sie Auszeichnungen wie den Deutschen Krimi-Preis, den Förderpreis Literatur des Kunstpreises Berlin und den Friedrich Glauser Preis. „Das Rattenprinzip“ war ihr erster Roman und Krimi. Er erschien erstmals 1991 bei Rowohlt und avancierte schnell zum sogenannten „Kultbuch“. Die Fortsetzung von 2009 trägt den Titel „Wespennest“.

Romane und Erzählungen

1990 Vergelt’s Gott: Schwarzwälder Novellen (Erzählungen, Schlack, Stuttgart)
1991 Das Rattenprinzip (Kriminalroman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43013-4, Neuauflage 1992
1992 Der harte Kern (Kriminalroman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43045-2
1993 Die Kakerlakenstadt (Kriminalroman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43068-1
1993 Die Widersacherin (Roman, Nagel und Kimche, Zürich und Frauenfeld). ISBN 3-312-00190-0
1994 Der Wüstenfuchs (Kriminalroman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43110-6
1994 Die Wut der Weibchen (Kriminal-Stories, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43143-2
1995 Bullenhitze (Kriminalroman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43176-9
1996 Durchkommen (Roman, Kiepenheuer, Leipzig). ISBN 3-378-00592-0
1996 Die Zecke (Kriminalroman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-43237-4
1998 Sturzflug (Kriminalroman, Hamburger Abendblatt, Hamburg). ISBN 3-921305-42-X
1999 Engelchens Ende (Roman, Wunderlich, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-26150-2
2000 Glücklich ist, wer nicht vergißt (Roman, Wunderlich, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-22938-2
2000 Ihr Zweites Gesicht (Roman, Wunderlich, Reinbek bei Hamburg). ISBN 3-499-26218-5
2002 Ruth sucht Ruth (Roman, Berlin-Verlag, Berlin). ISBN 3-442-76023-2
2002 Schwesterkuß (Roman, Berlin-Verlag, Berlin). ISBN 3-442-76052-6
2006 Dreckskind (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 3-89977-661-5
2007 Totschweigen (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 3-89977-704-2
2008 Das Rattenprinzip (Kriminalroman, überarbeitete Neuauflage von 1992, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-89977-745-1, Neuauflage 2009.[1][2][3]
2009 Wespennest (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-89977-809-0[2][4]
2010 Totenkuss (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-8392-1059-8
2011 Feierabend (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch), ISBN 978-3-8392-1178-6
2013 Wem sonst als Dir. (Roman, Klöpfer & Meyer, Tübingen), ISBN 978-3-86351-064-0[5]
2016 Heimstadt muss sterben (Roman, Klöpfer & Meyer, Tübingen). ISBN 978-3-86351-413-6
2017 Toskanische Beichte (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-8392-2125-9
2018 Toskanisches Feuer (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-8392-2348-2
2019 Toskanisches Blut (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-8392-2488-5
2020 Toskanisches Erbe (Kriminalroman, Gmeiner, Meßkirch). ISBN 978-3-8392-2765-7

Handlung

PROLOG

Claudi Roth, jetzt verheiratet mit zwei Kindern, erhält nach 15 Jahren ungebetenen Besuch von „Ossi“ Oswald, ehemals Kommissar in Stuttgart. Ungute Erinnerungen an jene Zeit werden wach, an die Sache mit Udo. Oswald ermittelt immer noch, sagt er. Er will einen Blick in die Werkstatt ihres Vaters werfen. Vater Karl Roth, von allen der Rote Karle genannt, war ein Kommunist. Wer weiß, wozu er im Stande gewesen ist …

Anno 1990

Es ist kurz vor Ostern, als Udo Winterhalter, frisch gebackener Chef der Lokalredaktion des „Stuttgarter Tagblatts“ (fiktiv) mit seiner Freundin Claudi Roth das Kleintheater „Die Wespe“ in Stuttgart besucht. Es ist eines der letzten Kleintheater der Landeshauptstadt, den anderen wurden die Subventionen gestrichen. Das Stück präsentiert Hölderlin-Gedichte, die Claudi und Udo zu Herzen gehen, denn sie handeln von ihrem Ländle, zwischen Schwarzwald, Bodensee und Neckar.

Doch auch die Besucher sind wichtig. Da ist Udos Kollege Leif Götzberg mit seiner blonden Freundin Yasmina Finke, und da ist Häffner vom Feuilleton sowie Dr. Martin Koneffke, gönnerhafter Buchautor, Kunstmagazinherausgeber und Kieferorthopäde. Wenig später erfährt Udo, dass Koneffke sowohl Götzberg als auch Häffner mit hohen Beträgen geschmiert hat, das Theaterstück vorab über den grünen Klee zu loben. Häffner hat danach Gelegenheit, das Stück in seiner Tageszeitung zu verreißen – ausgleichende Gerechtigkeit oder Schizophrenie des Gewerbes?

Am Tag danach dann die Nachricht, die Udo wie ein Blitz rührt: Götzberg ist mit seinem Wagen ungebremst (!) in eine Mauer gefahren, nur wenige Stäffele (Treppen) vom Zeitungshaus entfernt. Offenbar Selbstmord, glaubt Udos Kumpel, Kommissar „Ossi“ Oswald. Blödsinn, meint Udo, der Götzberg hatte Erfolg. Also ein Unfall? Götzberg kannte die Kurve wie seine Westentasche. Also was jetzt?

In der Nacht darauf stirbt Yasmina Finke, Götzbergs Freundin, erstochen mit einem spitzen Gegenstand. Was wusste sie? Womöglich zu viel über Koneffkes Machenschaften? Von der Leiterin des Literarischen Zentrums, Brigitte Heckmann, erfährt Udo, dass Koneffkes Magazin von der Pressestelle des Autokonzerns Schwäbische Motoren Werke SWM (fiktiv) gesponsert worden sei. Diese Pressestelle habe auch dem Literarischen Zentrum Geld angeboten, immerhin 50 Riesen. Der Vorstand sei darob gespalten. Und wenig später kommt es zum Verrat: Die Verlockung dieser Summe ist zu groß.

Udo schreibt an einer Enthüllungsstory „Das Maffiäle“, doch sein Chefredakteur will mehr Beweise sehen. Claudi weist ihn auf die elementare Frage hin, die ihr Vater gestellt hätte: „Wem nützt das?“ In der Tat: wem? Und wozu? Udo sollte die Antwort besser schneller finden, denn wenn er weiter so stänkert und enthüllt, gerät er schnell selbst ins Visier …

Mein Eindruck

Dies ist ein Krimi, der im Schwabenland handelt, wie man es sich auswärts vorstellt. Doch das ist nur zur Hälfte richtig, denn neben dem Schauplatz Stuttgart, das nach allgemeiner Ansicht in Schwaben liegt, spielt die andere Hälfte des Romans in Udos und Claudis Heimat, im schwarzwälder Mariabronn, und dort spricht man alemannisch. Mit Schwäbisch könnte man hier noch halbwegs durchkommen, aber Kenntnisse des Schwyzerdütschen sind ebenfalls hilfreich, um beispielsweise das Wort „gsi“ (= gewesen) zu verstehen. Aus diesen unterschiedlichen Lokalitäten, Mentalitäten und Sprechweisen ergeben sich reizvolle Kontraste, die die Autorin gewinnbringend auszunutzen weiß.

Schwaben und SMW

Zwei, drei Dinge sollte man nämlich in diesem Buch über das Schwabenland lernen, falls man es nicht schon vorher sonnenklar gesehen hat: „Schwabenland = Autoland“. Und: „Wenn der Daimler hustet, kriegt Stuttgart eine Lungenentzündung.“ Will heißen: Wenn die Autobauer von Mercedes-Benz schlechte Zahlen schreiben, dann kassiert die Region Stuttgart weniger Gewerbesteuer und kann somit weniger investieren. Sindelfingen, einer der Mercedes-Produktionsstandorte hier in meiner Nähe, war mal in den achtziger, neunziger Jahren die reichste Gemeinde Deutschlands, nicht ohne Grund. Das Werk dort erstreckt sich über mehrere Quadratkilometer, ebenso das in Untertürkheim. Von Porsche wollen wir gar nicht erst anfangen. Zusammen bilden sie die fiktiven „Schwäbischen Motoren Werke“ SMW (analog zu BMW).

Armer Irrer

Und mit denen legt sich unser Udole jetzt an. Ist er noch bei Sinnen? Nein, natürlich nicht, denn er ist ein armer Narr, der (noch) nicht weiß, was er tut bzw. wer mit ihm Schlitten fährt. Aber im Zuge seiner Ermittlungen, die er zusammen mit dem schlauen und zwielichtigen ehemaligen Verfassungsschützer „Ossi“ Oswald durchführt, stößt er auf einen Sumpf aus Kulturpolitik, die zugleich Industriepolitik ist. Das kann der Lokaljournalist Udo erst einmal nicht glauben. Kultur, die von der Industrie gelenkt wird? Wozu das denn?

Einfache Frage: Wem nützt das auf welche Weise? Anhand des fiktiven Kulturmagazins ARTemis zeigt die Autorin, wie die Pressestelle der SMW Geld zuschießt, um ihr genehme Artikel zu lancieren, die von geschmierten Journalisten verfasst werden. Dass diese Skribenten zugleich auch für die maßgebliche Tageszeitung, das (fiktive) „Stuttgarter Tagblatt“ (unschwer als „Stuttgarter Zeitung + Stuttgarter Nachrichten“ zu entziffern) schreiben und dort in Lohn und Brot stehen, ist eine Erscheinung des Sumpfes. Diese Skribenten bereiten den Boden für das Automobil als unverzichtbares Vehikel des gebildeten Bürgers. Und Wehe dem, der nicht das heiligs Blechle als Wirtschaftsfaktor verehrt und ihm huldigt! Dem geht es so wie Götzberg und den späteren Opfern. Auch Udo kann sich die Finger verbrennen.

Udo schlackert mit den Ohren, als er sich mit der Leiterin des Literaturzentrums einlässt, seine Claudi betrügt und sich diese Brigitte Heckmann schlussendlich als bezahlte Komplizin von SWM und Konsorten entpuppt. (Herrliche Szene: Die Kripo in der ersten Reihe bei einer Dichterlesung!) Das bricht ihm nun wirklich das Herz, so dass er erst nach Rom düst und dann wieder in der Heimat landet. Hier war beider Zeitung der King und hatte alle Chancen, doch Claudi will er trotzdem nicht heiraten, weiß der Geier warum.

Kommunisten

Vielleicht liegt es an Claudis grantigem Vater, dem kommunistischen Roten Karle, dass es ihm im Rothschen Haushalt nicht so recht gemütlich werden will. Der Karle von der 1956 verbotenen DKP wettert mit seinen Marx/Engels-Sprüchen gegen das Kapital, seine Druckmittel, die Ausbeuter usw. Dabei weigert er sich selbst, seine Produktionsmittel konkurrenzfähig zu machen und beutet lieber seine Familie aus. Es sind seine drei Kinder, die ihn „verraten“, wenn man so will. Die zwei Söhne kaufen eine neue, konkurrenzfähige Maschine, wie sie der Wettbewerber Stump besitzt, und Claudi erpresst die Gattin von Stump dahingehend, dass Stump die Lieferung drei Wochen lang einstellt. Es hängt eben alles zusammen: Das Geheimnis um die Vergewaltigung der Marianne Stump durch ihren debilen Bruder Heinz ist ebenso ein Druckmittel wie alles andere, das sich etwa die SMW einfallen lassen würde. Unschuld vom Lande? Gang mer fort!

Udo, vom Karle entsprechend erleuchtet, erklärt auch kurz und bündig das titelgebende Rattenprinip: „Wer pariert (= gehorcht), dem wird’s in den Rachen geschoben (der wird ordentlich gefüttert)!“ (Seite 128) Und weil der Karle kein Blatt vor den Mund nimmt, ruft er auch mehr als einmal „Scheißdreck!“.

Dialekt

Womit wir beim Dialekt wären, der einen Großteil der speziellen Sprachform dieses Krimis bestimmt. Die zwei Dialekte des Schwäbischen und des Alemannischen bestimmen wahrscheinlich auch, warum dieser Krimi zu einem „Kultbuch“ geworden ist: Nur ganz bestimmte Leute können es überhaupt zur Gänze verstehen und finden sich dementsprechend wieder, als ginge es um sie selbst. Insofern könnte man das Buch sogar als Schlüsselroman lesen – ein pikanter Reiz für die Eingeweihten jener Zeit um 1990.

Wer nun fürchtet, vor lauter Dialekt nichts mehr zu kapieren, der sei beruhigt. Die Autorin oder der Verlag oder beide sind einen Kompromiss zwischen Total-Dialekt als authentische Variante und Total-Hochdeutsch als maximalverständliche Variante eingegangen. Den Puristen behagt der Kompromiss sicher nicht, aber dafür ist die Leserschaft jenseits der Schwaben größer, ohne dass das berühmt-berüchtigte „Lokalkolorit“ verleugnet wird. In manchen Dialogen fangen die Figuren mit Dialekt an und sprechen nach zwei, drei Sätzen hochdeutsch weiter. Das sieht zwar etwas merkwürdig aus, ist aber umso lesbarer. Ein Konstrukt wie „Stuegert“ ist typisch, und es dreht einem Schwaben den Magen um. Da es sich um einen europäischen Roman handelt, sind auch Schwyzerdütsch und Italienisch vertreten.

Ich hatte mit keinem der Dialekte Probleme außer dem Alemannischen. Was ein „Daudel“ ist, konnte ich noch aus dem Kontext erschließen (ein Trottel), aber was „drimmelig“ sein soll, rätsele ich immer noch. Vielleicht „verträumt“? Wer weiß. Fußnoten und Glossar fehlen, doch sie hätten auch etwas seltsam ausgesehen, so als hätte die Autorin vorgehabt, ihren Schwabenkrimi zu einem Exportschlager zu machen. Dieses Vorgehen ist der Automafia vorbehalten.

Erzählstil

Von der ersten Zeile an hat mich der Erzählstil fasziniert. Alle Sätze sind ziemlich kurz und in ihrem Satzbau sehr einfach gehalten. Das hat nichts mit der Maulfaulheit von Schwaben zu tun, sondern mit dem Darstellungsstill. Jeder Satz setzt wie in einem Bild einen Farbtupfer, und erst wenn der Leser mehrere Farbtupfer zusammensetzt, ergibt sich das angedeutete Bild. Nun sind diese Sätze aber recht skurril, selbst dann, wenn sie nicht im Dialekt daherkommen. Manchmal handelt es sich nur um Gedankenfetzen, die Udo und Claudi durch den Sinn gehen. Auf diese Weise kann die Autorin Innenwelt und Außenwelt fließend ineinander übergehen lassen. Die Außenwelt ist immer eine beobachtete, also interpretierte, und wird so zu einer Ebene der Innenwelt.

Dadurch kommen recht lustige, skurrile, wenn nicht sogar bizarre Ergebnisse zu Stande. Einer dieser Beobachter ist nämlich ein Tier. Claudis Langhaardackel Maier hat immer wieder Auftritte im Buch und wir erleben seine Umgebung nur durch seine Augen und Nase, also als Hell-Dunkel-Kontrast oder Rot vs. Weiß usw. Maier fungiert sowohl als Joker wie als Gegenbild zu den seltsamen Menschenwesen, aber er spielt auch eine ganz entscheidende Rolle bei der Aufklärung des Mordfalles Yasmina Finke. Da tun sich Abgründe auf – von wegen Unschuld vom Lande! Das Land kann auch Bigotterie aufweisen, die sich mit tödlicher Konsequenz zeigt.

Dialektik _(SPOILER!)

Wie sehr die Industrie in Gestalt der SMW-Pressestelle die Kulturszene manipuliert und mit welchem Ziel sie dies tut, erkennt Udo in der theoretischsten Passage des Buches zwischen Seite 124 und 129. Ein komplettes Zitat wäre sinnlos und zu lang, aber zwei Passagen sollen die Intelligenz hinter dieser Stelle beleuchten.

Udo sitzt im Theater und wundert sich. „Wem nützt das, dachte er. Er verstand nichts vom Theater, aber er begriff mit einem Schlag, dass die Bosheit von Kresniks Inszenierung, die sich an der Verblödung der Massen ergötzte, nicht die andern meinte, nicht das dumpfe Volk draußen, sondern die Besseren hier drin im Theater. Die Symbole der geistigen Verelendung wurden vorgeführt, Boris [Becker] und Daimler, der Medienterror schlug denen ins Gesicht zurück, die ihn für das Volk inszenierten: den Bildungsbürgern. Sie verachteten das Volk, sie gaben ihm Dummheit zu fressen, und das Volk rächte sich, indem es ihnen die Dummheit vor die Füße kotzte. Dass sich das Stück gegen die selbstverantwortete Verdummung der Massen richtete, bewirkte Abwehr, und Abwehr bewirkte Beifall.“ (S. 124)

Fünf Seiten später auf Seite 129 heißt es: „Udo war verwirrt. Er hatte immer gedacht, Gleichschaltung bedeutet, dass man das Subversive ausmerzt. Und das Subversive ist immer das Kritische. Jetzt sah er, dass es grad andersrum war. Die Bosse waren schlauer. Mit dem Skandal erkauften sie sich jene Selbstliebe, die das liberale Bürgertum zum Funktionieren brauchte.“ Und die Liberalen stammen, wie man weiß, vor allem aus Baden-Württemberg …

Immer wieder finden sich solche Dreisprünge der Dialektik des Materialismus, für die Marx, Engels, Lenin und viele andere stehen. Die Dialektik bringt nicht nur interessante Ergebnisse hervor, sie ist auch der Ansatz für die Kritik am schwäbischen System der Bildungsbürger und Autobosse. Sobald Udo die Dialektik anwendet, zuerst im Theater, gelangt er endlich zur Erkenntnis seiner eigenen Rolle als Chef der Lokalredaktion: Herausgeber und Chefredakteur haben einen Deppen vom Land gesucht und ihn gefunden. Er dachte, er würde Wunder was in Stuttgart bewirken, dabei sollte er bloß der Idiot vom Dienst sein, der nix kapiert. Da haben sich seine Chefs aber geschnitten!

Unterm Strich

1990 ereignete sich die ostwestdeutsche Wende, nicht bloß in der Hochpolitik, sondern auch ganz unten im Volk. Die Schwaben sehen sich in einem geistigen Umschwung mitgenommen, den noch kaum einer registriert. Während in den Achtzigern noch AKW-Gegner und Pazifisten die Menschenkette bildeten, gehen jetzt die Feministinnen mit Plakaten auf Beerdigungen. Die Technologie siegt, und große Autokonzerne sponsern die Kulturszene mundtot, bis auch der letzte Bildungsbürger kapiert hat, dass am heiligs Blechle alles hängt und alles zu ihm drängt, als wär’s eitel Gold. Und der Verfassungsschutz, vertreten durch seinen ehemaligen Mitarbeiter „Ossi“ Oswald, jetzt Hauptkommissar, sorgt für die rechte (!) Gesinnung.

Schon wird die beginnende Konkurrenz aus dem „Ostblock“ und die Globalisierung selbst draußen auf dem Land in Mariabronn spürbar, dann können die kleinen Meisterbetriebe dicht machen. Udo, der Lokaljournalist, ermittelt im Stuttgarter Sumpf und gerät um ein Haar unter die Räder. Erst in Rom kommt er wieder zur Besinnung, denn dorthin führen bekanntlich alle Wege.

In der Heimat, so der hinterlistige Witz der Geschichte, klärt er einen Mord auf, der in Stuttgart passierte. Die Handlung schlingert am Schluss assoziativ vor sich hin, scheinbar ziellos, und man kann dies für eine Schwäche halten. Manchmal fördert aber das Ziellose das eigentliche Ergebnis zu Tage, so wie es Maier, der Dackel, mit einem Stöckelschuh in einem Misthaufen tut. Ein Bild, das Bände spricht.

Ich fand die Lektüre äußerst kurzweilig und interessant, außerdem fühlte ich mich köstlich amüsiert. Die Sprache, die Figurenzeichnung, die ironische Brechung der Kontraste – das verrät schon einen Routinier. Nur bei der Handlungsführung und dem offenen Schluss müsste ich Abstriche machen. Dialekt sollte man allerdings schon verstehen: Schwäbisch, Alemannisch usw.
Taschenbuch: 256 Seiten
ISBN-13: 9783899777451

www.Gmeiner-Verlag.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Ursula K. Le Guin – Tehanu. Das letzte Buch von Erdsee (Erdsee 4)

Erdsee 4: Trautes Heim, Glück allein?

Die Handlung von „Tehanu“ schließt sich fast unmittelbar an „Das ferne Ufer“ an. Tenar (aus „Die Gräber von Atuan“) hatte sich in Gont niedergelassen, geheiratet und zwei Kinder bekommen, die inzwischen erwachsen sind. Nach dem Tod ihres Mannes fühlt sie sich einsam und unsicher über ihre eigene Identität. Sie adoptiert Therru, ein Mädchen, das von ihrem Vater verstümmelt und missbraucht wurde.

Ged, der einstige Erzmagier, nach „Das ferne Ufer“ seiner magischen Kräfte beraubt, kehrt nach Gont zurück, schließt sich der Dorfgemeinschaft an und heiratet schließlich Tenar. Gemeinsam sorgen sie für Therru und versuchen, sie und sich vor ihrem Vater und dem frauenfeindlichen Zauberer Aspen zu schützen. Zugleich müssen sie einen Ort und eine Identität nicht nur für sich selbst, sondern auch für Therru suchen. Am Ende stellt sich heraus, dass Therru viel mehr ist, als sie zu sein scheint… (Wikipedia)

Ursula K. Le Guin – Tehanu. Das letzte Buch von Erdsee (Erdsee 4) weiterlesen

Edgar Allan Poe – Der Streit mit der Mumie

Mal Groteske, mal Horror: gelungene Erzählungen

Eine echte ägyptische Mumie erwacht zum Leben. Der Graf hat eine ganze Menge zu erzählen. Mit den Gelehrten, die seinen Sarg geöffnet haben, entspinnt sich ein boshafter und doch für uns vergnüglicher Disput, wer denn nun in den Errungenschaften der Zivilisation die Nase vorn hat: die alten Ägypter oder die anwesenden Amerikaner.

In der zweiten Erzählung erscheint dem Berichterstatter ein gar scheußliches Wesen wie aus einer Schreckensvision. Worum es sich handelt, erklärt ihm sein Gastgeber anhand eines Lexikons.

Der Autor

Edgar Allan Poe – Der Streit mit der Mumie weiterlesen

Lem, Stanislaw – Sterntagebücher (Lesung)

„Aus den Erinnerungen Ijon Tichys“ lautet der Untertitel des zweiten Abschnittes des voluminösen Buches, das Lem bereits 1957 begann und bis 1971 fortsetzte. Das bedeutet, dass die Erzählungen nur den letzten Teil des Buches „Sterntagebücher“ bilden. Die Erzählungen Tichys führen nicht zu den Sternen, sondern bleiben in den vertrauten Verhältnissen, die man sich für das Jahr 1971 in Polen ausmalen kann.

Dabei sollte der Hörer berücksichtigen, dass Polen damals von der allmächtigen Kommunistischen Partei regiert wurde, die ihre Anweisungen vom Zentralkomitee und Politbüro in Moskau erhielt. Wenn hier Lem also von immateriellen Dingen wie einer „Seele“ erzählt, so steht dies im krassen Widerspruch zur kommunistischen Doktrin des Materialismus.

Hinweis: Diese Auswahl hat nichts mit den 1968 in den Studios des Berliner Reichstagsufers vertonten Aufnahmen von sieben Reisen Ijon Tichys zu tun.

|Der Autor|

Stanislaw Lem, geboren am 12. September 1921 in Lwòw, dem galizischen Lemberg, lebt heute in Krakow. Er studierte Medizin und war nach dem Staatsexamen als Assistent für Probleme der angewandten Psychologie tätig. Privat beschäftigte er sich mit Problemen der Kybernetik, der Mathematik und übersetzte wissenschaftliche Publikationen. 1985 wurde Lem mit dem |Großen Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur| ausgezeichnet und 1987 mit dem |Literaturpreis der Alfred Jurzykowski Foundation|. Am bekanntesten wurde er für die literarische Vorlage für zwei Filme: „Solaris“, das 1961 veröffentlicht wurde.

Wichtige weitere Bücher Lems:

Eden, 1959
Summa technologiae, 1964
Der Unbesiegbare, 1964
Kyberiade; Robotermärchen, 1965
Der futurologische Kongress, 1971 (gehört zum Ijon-Tichy-Zyklus)

|Der Sprecher|

Michael Schwarzmaier verzeichnet in seinem Wirken Engagements am Staatstheater Hannover und den Kammerspielen München. Unzählige Film- und Fernsehrollen unter Regisseuren wie August Everding, Peter Beauvais und anderen. Seine Spezialität ist das komödiantische Charakterschauspiel.

|Der Regisseur|

Regie führte Hans Eckardt. 1939 in Berlin geboren, studierte Germanistik und Sprachwissenschaft, wurde Buchhändler und Schauspieler. Vierzehn Jahre arbeitete er am Theater als Schauspieler, Regisseur und Chefdramaturg. Zahlreiche Lehrverpflichtungen an verschiedenen Hochschulen, auf Rezitationsveranstaltungen und bei Studioproduktionen schlossen sich an. 1982 übernahm Eckardt für zehn Jahre die Leitung der ältesten Hörbücherei in Deutschland, der Deutschen Blindenhörbücherei in Marburg a. d. Lahn. Lehre, Regie, eigene Rezitation und die Förderung von Sprechertalenten in seiner Eigenschaft als Verleger stehen nunmehr im Zentrum seiner Arbeit.

_Die Erzählungen_

Die Erzählungen I bis IV tragen keine Titel.

**I.: Ijon Tichy scheint ein Gelehrter zu sein, der für alle möglichen verrückten Erfinder die erste Anlaufstelle ist. Aber als Journalist besucht er sie auch in ihren diversen Labors.

So auch den Kybernetiker Professor Corcoran, der laut Gerüchten an Geister glaubt. Wie absonderlich für einen sozialistischen Wissenschaftler! Der Prof führt Tichy in einen Raum mit 17 Truhen. In jeder der Truhen befindet sich ein elektronisches Gehirn, das einer Leibniz’schen Monade entspricht: Es stellt ein menschliches Bewusstsein dar, das aber seine Eindrücke nicht von der realen Außenwelt, sondern von den Speicherbändern empfängt, auf denen menschliche Erlebnisse aller Art aufgezeichnet sind. Für die Monade ist das Band die (virtuelle) Welt und sonst nichts.

Doch unter ihnen gibt es als Probe aufs Exempel einen „Wahnsinnigen“, der tatsächlich glaubt, er sei ein Elektronengehirn in einer Kiste, das seine Sinneseindrücke von einem Band empfange und alle anderen seien nur Illusionen – wie irrsinnig! Doch damit nicht genug, weigert er sich, einen Gott anzuerkennen: Dieser sei nur eine weitere Ebene von Illusionen, die wiederum ein Gott höherer Ordnung erzeuge und so weiter ad infinitum.

**II.: Professor Decantor besucht Tichy: ein Mann, der aus zwei verschienen Hälften zusammengesetzt zu sein scheint, einer ängstlich-romantischen und einer zynisch-nüchternen. Decantor ist vergleichender Ontogenetiker. 48 der 58 Jahre seines Lebens hat er sich einem einzigen Problem gewidmet: der Konstruktion einer Seele. Endlich ist es ihm gelungen, und er zeigt seine neue Errungenschaft: Da liegt sie auf einem weißen Wattebausch, eingeschlossen in einem lilafarbenen Kristall.

Tichy erholt sich von seinem Schreck und fragt neugierig. Ja, lautet die Antwort, diese Seele ist unsterblich und währt ewig, übersteht also auch den Tod der Sonne in 15 Milliarden Jahren. Das scheint Tichy ein trauriges Schicksal für jede Seele zu sein. Doch die Information, dass als Ausgangsmaterial dafür Decantors eigene Frau diente, die dafür sterben musste – um natürlich ewig zu leben! -, erfüllt Tichy mit Abscheu und Angst. Er kennt nur eine konsequente Handlungsweise und überzeugt auch den enttäuschten Decantor davon: Diese Seele muss erlöst werden …

**III.: Vor einem furchtbaren Gewitter Unterschlupf suchend, stößt Tichy auf das Haus des übel beleumundeten Erfinders Prof. Sasul. Mit Drohungen verschafft er sich Eintritt. Sasul, ein buckliger Gnom, zeigt ihm sein Labor und schließt eine Wette ab, dass Tichy ihn nicht anzeigen werde, habe er erst einmal seine neueste Erfindung begutachtet.

Sasul zeigt ihm einen Tank, in dem ein regungsloser Mann wie tot schwimmt. Sasul erzählt, wie er zahllose Tiere und dann sich selbst mittels eines neuartigen Proteins exakt kopieren (klonen) konnte. Doch welcher der beiden ist nun das Original und welcher Sasul die exakte Kopie?

**IV.: Eine weitere Sturmnacht weht einen durchnässten Besucher in Tichys trautes Heim. Es handelt sich um den Physiker Molteris, und er hat einen verpackten Apparat dabei. Molteris ist äußerst schweigsam. Doch seine Erfindung ist beinahe genial: eine Zeitmaschine. Für deren Weiterentwicklung erbittet er Tichys finanzielle Unterstützung, genau wie Decantor.

Was könnte wohl als überzeugendes Testobjekt dafür dienen, dass die Maschine als temporaler Transmitter funktioniert? Ach ja, eine Viertelsjahreszeitschrift über kosmische Medizin. Da diese Ausgabe tags zuvor aufgetaucht war, ist Tichy überzeugt.

Doch wie sieht es mit dem zweiten Betriebsmodus aus, der Maschine als Transportmittel für Menschen? Bei dieser Demonstration kommt es leider zu einem bedauerlichen Unglück. Es beweist, dass alle Autoren, die über Zeitvehikel geschrieben haben, Unrecht hatten: Es ist nicht möglich, durch die Zeit zu reisen und dabei nicht selbst ebenfalls zu altern, so als wäre man in einer Kapsel und könnte außerhalb des Zeitstroms reisen und dann später wieder in ihn zurückkehren. Ergo: Molteris alterte mit derjenigen Zeit, die er durchmaß. Die Folgen könnten recht fatal ausfallen, stellt sich Tichy vor …

|Die Waschmaschinen-Tragödie|

Diese lange Erzählung besteht eigentlich aus zwei bis drei Storys und bildet somit die längste dieses Hörbuchs. – In ihrem immerwährenden Wettlauf um Marktanteile haben die zwei Waschmaschinen-Hersteller Snodgrass und Nudlegg ihre Geräte mit immer mehr Intelligenz ausgestattet, die sie zu einer wachsenden Zahl von Fertigkeiten befähigen. Bald gibt es Maschinen, die eine Ehefrau ersetzen, bald eine, die einen Ehemann ersetzt. Leider wird die Einstein-Ersatzmaschine ein Flop, doch der Waschomat für Junggesellen ist ein absoluter Hit, denn er kommt mit der Figur von Mayne Jansfield oder anderen Sexbomben einher.

Allerdings hat so viel Intelligenz in Maschinen auch ihre Kehrseiten: Waschmaschinen haben sich zu Gangsterbanden zusammengeschlossen und überfallen harmlose Passanten! Daher wird ein Gesetz nach dem anderen erlassen, um der Auswüchse Herr zu werden. Es ist ein Wettlauf wie zwischen Panzerung und Geschoss. Waschmaschinen sehen inzwischen aus wie Menschen, sprechen auch so und bekommen schließlich sogar den Status einer juristischen Person. Das ist ein Wendepunkt, denn nun können Waschmaschinen auch Senatoren sein und Gesetze beeinflussen. Auch das versuchen die Menschen zu verhindern.

Die Krise erreicht diese Entwicklung, als der Bordcomputer eines Raumschiffs einen Staat nur für Roboter ausruft. Auch dieses Problem wird bewältigt. Bis schließlich ein gewisser (nomen est omen!) Kathodius Mattrass auftritt, die Sekte der „Kybernophilen“ gründet und draußen im Krebsnebel ein eigenes Staatswesen für Maschinen errichtet: Es besteht aus einem körperlichen Zusammenschluss einzelner Roboter. Damit hat das State Department (Außenministerium) der Erde ein Problem. Doch wie kann man einen Planeten verhaften? Der gewitzte Anwalt von Mattrass hält ständig neue Gegenargumente bereit.

Eines Tages erhält auch Ijon Tichy Gelegenheit, mit diesem jahrelangen Rechtsstreit näher bekannt zu werden. Man lädt ihn zu einer Anhörung der Anwaltskammer ein. Die vorgebrachten Argumente erstaunen ihn weniger als die Tatsache, dass mit Hilfe eines magnetischen Kompasses einer der Redner nach dem anderen als Roboter entlarvt wird. Nachdem sich Ijon aller Metallgegenstände entledigt hat und als Mensch bestätigt ist, richtet er den Kompass auf den einzigen Übriggebliebenen im Saal: den Vorsitzenden selbst …

Merke: Die Dinge gehen ihren Gang, und von einem Prozess profitieren nur die Anwälte.

|Die Anstalt des Doktor Vliperdius|

Ijon Tichy liest öfters mal Zeitung. Diesmal fällt ihm die Roboter-Gazette „Der menschenfreie Kurier“ in die Hände. Darin steht auch eine Annonce für die Heilanstalt für psychische und Nervenkrankheiten. Wohlgemerkt: Hier sollen Maschinen geheilt werden. Das klingt ja spannend.

Der Direktor, Dr. Vliperdius, hat keine Zeit für ihn, also besucht Ijon den schönen Park. Schon bald wird er für einen der Patienten gehalten. Einer davon spricht ihn an, doch Ijon erkennt ihn nicht. Es ist Prolaps, der einst als seine tüchtige Linotype-Setzmaschine arbeitete. Prolaps glaubt, er stecke im falschen Leib, nämlich in einem aus Blech. Ständig jagt er hinter seinem richtigen, einem menschlichen Leib her. Auch ein harmloser Hypochonder-Roboter findet sich hier.

Wesentlich ernster ist der nächste Fall. Der Robot bedauert Ijon zutiefst ob seines natürlichen Körpers, in dem er festsitze. Seine Maxime: Man muss die Natur abschaffen, den man sieht ja, zu was die Unvollkommenheit der biologischen Evolution geführt hat: Abfall, Schund, Schleim! Der Tobende und um sich Schlagende wird abgeführt. Tichy ist sehr erleichtert. Er fürchtete schon um die Unversehrtheit seines Körpers, wie unvollkommen der auch erscheinen oder sein mag.

Wie angenehm ist doch der nächste Fall. Dieser Sonderling wirft den Schwänen auf dem Teich kleine Drahtstückchen zu. Er ist ein berühmter Philosoph, dieser Professor Urlipan. Er hat die Ontologie des Nichts, die Neantologie, erfunden. Er ist der festen Ansicht, dass alles ein Traum sei, der nie an die Realität heranreichen könne, folglich könne nichts real existieren.

Ijon geht entnervt nach Hause.

_Mein Eindruck_

Zunächst einmal zu den ersten vier Erzählungen. Hier greift der Autor vier beliebte und verbreitete Mythen der Science-Fiction-Literatur auf. Auf die Science-Fiction amerikanischer Herkunft und Machart war Lem nämlich überhaupt nicht gut zu sprechen. Er nahm lediglich zwei Autoren von seinem Bannstrahl aus: Philip K. Dick und Ursula K. Le Guin. (Er liegt hier auf einer Linie mit dem Kritiker Darko Suvin, vgl. dessen „Poetik der Science Fiction“.)

|Liebe SF-Mythen|

Die Mythen, die Lem mit seinen Storys parodiert und so der Kritik aussetzt, sind a) die vollkommene Virtualisierung der Welt bzw. deren Wahrnehmung – bis hin zu modernen Beispielen wie [„Otherland“;]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=20 dies hat Konsequenzen, die der Kybernetik innewohnen und die viele Autoren einfach ignorieren; b) die Erschaffung einer künstlichen Seele, die über ewiges Leben verfügt – für Tichy kann einer menschlichen Seele kaum etwas Schrecklicheres widerfahren, erlebt sie doch auch den Untergang des Menschen, der Erde und des gesamten Kosmos aufgrund des fortschreitenden Prozesses der Entropie. Totale Einsamkeit wie auch höchstwahrscheinlich Wahnsinn dürften die Folgen sein.

Die dritte Story (c) zeigt auf sehr einfache Weise die Erschaffung eines Klons und ihre Folgen. Die Schwierigkeit besteht nicht nur darin, die Kopie vom Original zu unterscheiden und sie im Sinne des Gesetzes, das für „natürliche Personen“ gemacht wurde, für ihre Handlungen haftbar zu machen. Dazu könnte beispielsweise die Tötung des Originals gehören – wenn man nur wüsste, welches das jetzt ist. Wie in Märchen und Groschenromanen deutet die körperliche Verunstaltung des Übeltäters eine moralisch-seelische Deformation (Perversion?) an.

Die vierte Erzählung (d) stellt der Erfindung des „Zeitvehikels“ ein schlagendes Argument entgegen: Es kann keine Ortsbewegung außerhalb der Zeit geben, folglich muss der „Reisende“ auch mitaltern. Aber als Transmitter für tote Gegenstände scheint die Zeitmaschine zu taugen. Bücher sind schwierig umzubringen.

|Ijon Tichy|

In allen vier Fällen tritt Ijon Tichy als Lems Stellvertreter auf. Er ist der „Mann von der Straße“, nur ein wenig gebildeter und vor allem für Ideen der Wissenschaft aufgeschlossen. Deshalb wird er auch ab und zu von Forschern eingeladen, die sich in der Zeitung abgedruckt sehen wollen. Wenn ihm eine Erfindung nicht gefällt, so flippt er nicht aus, sondern argumentiert auf ruhige und gefasste Art, selbst wenn ihn so manches Phänomen – wie die kristallisierte Seele – mit Grauen erfüllt. Doch meistens führen die Forscher ihre „Errungenschaften“ schon selbst ad absurdum. Wie etwa der unglückliche Zeitreisende.

|Sozialismus|

Auch der Sozialismus sowjetischer Prägung glaubte an den unendlich fortsetzbaren Fortschritt, vor allem auch im Wettlauf mit dem kapitalistischen System, besonders dem der Vereinigten Staaten. Mit „Sputnik“ schienen die Sowjets endlich 1957 die Nase vorn zu haben – in diesem Jahr erschienen die ersten „Sterntagebücher“. Lems Parodien und Münchhausiaden von unzulänglichen Gesellschaftssystemen auf anderen Welten kritisierten und warnten vor einer Selbstüberschätzung dieser von Fortschrittsglauben erfüllten Ingenieure. Diese brachten allzuoft Opfer, die ihnen später Leid taten. Beispielsweise opferten sie ihre körperliche Gesundheit und Unversehrtheit oder die Umwelt – oder gleich ganze Teile der Bevölkerung, etwa durch radioaktive Verseuchung.

|Kapitalismus|

Dass auch das kapitalistische System mit seinen Prinzipien des Wettbewerbs, des ständigen Wachstums und der Weiterentwicklung nicht gegen haarsträubende Auswüchse wie den Waschmaschinenkrieg gefeit ist, zeigt Lems entsprechende parodistische Erzählung.

Wie schon in den parodistischen [„Robotermärchen“ 660 kritisiert der Autor durch Überspitzung ad absurdum die möglichen Auswüchse eines Systems. Dass er als Exempel ausgerechnet Waschmaschinen auswählt, zieht die ganze Entwicklung ins Lächerliche. Waschmaschinen haben sich aus der Herrschaft der Hausfrauen und Junggesellen emanzipiert, sobald man ihnen entsprechend viel Intelligenz spendiert hatte. Nun begeben sie sich in jeder Hinsicht in Konkurrenz zum Menschen, doch mehr noch: Sie gründen einen Konkurrenzstaat, quasi nach dem Vorbild gewisser Insekten wie der Ameisen oder Bienen.

Anders als bei gewissen US-Autoren führt dies aber nicht zu einem Krieg, denn die armen Waschmaschinen wollen den Menschen nichts Böses. Vielmehr entspinnt sich ein Rechtsstreit, der für jeden Juristen dieser Erde ein gefundenes Fressen ist – und für den Leser ein Paradebeispiel abstruser Logik. Die Ironie dabei: Diese Juristen bestehen selbst aus Blech und Elektronik. Anstatt ihren freiheitlich gesinnten Brüdern im fernen Krebsnebel zu helfen, ist ihnen das gefüllte Bankkonto näher. Die Übertragung dieses Phänomens auf aktuelle Verhältnisse ist dem Leser überlassen – sie ist nicht allzu schwierig vorzunehmen.

|Divertimento|

Die letzte vorgelesene Erzählung (keineswegs die letzte des Buches) nimmt sich gegen die „Waschmaschinen-Tragödie“ wie ein heiteres Divertimento aus, eine Komödie der Absurditäten, ein Panoptikum von Seelenkrankheiten – mit dem Unterschied, dass damit lediglich Roboter behaftet sein sollen. Die Philosophie des Nichts hat man aber auch schon unter Menschenwesen beobachten können.

|Der Sprecher|

Michael Schwarzmaier ist ein professionell geschulter Sprecher. Dies ist an seiner präzisen, deutlich die einzelnen Worte hervorhebenden Sprechweise ebenso abzulesen wie an der einfühlsamen Art, die Sätze zu intonieren und mit Pausen zu versehen, um bestimmte Teile hervorzuheben. Er tritt als Vortragender hinter dem Inhalt zurück, so dass die Geschichte ohne Distanzierung auf uns wirken kann.

Durchweg hört man dem Sprecher das offensichtliche Vergnügen an, diese verrückten Münchhausiaden vorzutragen. Das war schon bei den „Robotermärchen“ herauszuhören. Dass dieses Vergnügen aber auch das Ergebnis von harter Sprecharbeit sein kann, lässt sich an der verwickelten „Waschmaschinen-Tragödie“ ablesen. Deren Mittelteil besteht aus einem mitunter recht sinnlos erscheinenden Rechtsstreit zwischen Menschen und Maschinen. Man atmet regelrecht auf, als dieses Kapitel durch die Szene in der Anwaltskammer abgelöst wird, denn diese wird recht anschaulich erzählt. Und sie findet auch zu einem befriedigenden Höhepunkt der Ironie des Absurden, als Tichy den Kompass auf den Richter richtet …

Ansonsten bietet das Hörbuch weder Musik noch Geräusche auf, um Stimmung zu erzeugen. Dies ist sehr viel weniger, als viele moderne Hörbücher vorweisen können.

Das Titelbild ist dem Buch (Seite 79) entnommen und zeigt die „Verlobte eines Roboters“. Recht auffällig sind ihre weiblichen Formen und Attribute, die uns heute recht lächerlich erscheinen mögen.

_Unterm Strich_

Bis auf eine Erzählung machte mir dieses Hörbuch viel Spaß. Die meisten Storys sind kurz und auf die Pointe hin erzählt. Einzige Ausnahme sind eventuell die Wendungen, die in der Zeitmaschinen-Story auftreten. Die Vliperdius-Parodie eines Sanatoriums à la „Der Zauberberg“ hingegen bildet einen heiteren Ausklang der Sammlung.

Ein schwerer Brocken scheint mir hingegen die „Waschmaschinen-Tragödie“ zu sein. Zum Glück hatte ich den Buchtext vorliegen, so dass ich den irrwitzigen Wendungen der langen Story, die über keine Handlung im eigentlichen Sinn verfügt, folgen konnte und alle Namen verstand. Es dürfte für den Ersthörer notwendig sein, diese lange Erzählung, die sich aus zwei bis drei Abschnitten zusammensetzt, mehrmals zu hören, um auch Details wahrzunehmen.

|Für wen sich das Hörbuch eignet|

In erster Linie Freunde der spekulativen und phantastischen Literatur scheinen mir die geeigneten Hörer zu sein, Leute, die auch mit versponnenen Ideen und parodistischen Erzählformen etwas anfangen können. Eingefleischte Science-Fiction-Leser, die amerikanische – und zunehmend auch britische – Einheitskost gewohnt sind, werden hier weniger auf ihre Kosten kommen.

|Umfang: 184 Minuten auf 3 CDs|

Theodore Sturgeon – Nach dem Exodus. SF-Erzählungen

Drei Experimente in Sachen Liebe

Dieser Band von phantastischen Erzählungen umfasst drei klassische Novellen des mehrfach ausgezeichneten US-amerikanischen Autors.

– Die Story von der Welt, wo sich die ganze Familie im Inzest liebt.
– Die Story von der Prinzessin, die den Frosch fand, küsste, zu ihrem Prinzen machte und herausfand, dass er todkrank war. Aber sie hatte ein Rezept.
– Die Story von den zwei Schiffbrüchigen, die als Adam und Eva Robinson Crusoe spielten und sich dennoch nicht verliebten, oder doch?

Der Autor
Theodore Sturgeon – Nach dem Exodus. SF-Erzählungen weiterlesen

Theodore Sturgeon – Der Gott des Mikrokosmos. SF-Erzählungen

Classic SF: Frankenstein und Plappermäuler

Der Erzählband enthält acht Stories vom besten Story-Autor der vierziger und fünfziger Jahre, Theodore Sturgeon. Und weil „Sturgeon“ auf deutsch „Stör“ bedeutet, hieß der Originaltitel „Caviar“. Die Titelgeschichte aus dem Jahr 1941 ist bereits klassischer Teil des SF-Kanons.

Der Autor
Theodore Sturgeon – Der Gott des Mikrokosmos. SF-Erzählungen weiterlesen

Theodore Sturgeon – The Dreaming Jewels

Mehr als menschlich: von Liebe und Erlösung

Der achtjährige Junge Horton Bluett ist etwas Besonderes: Nicht nur, dass er Ameisen isst, macht ihn zum Außenseiter, sondern dass ihm abgetrennte Finger nachwachsen und er seine Gestalt verändern kann. Zum Glück findet er vor seinen Verfolgern Zuflucht und Liebe – ausgerechnet in einem Wanderzirkus. Doch wenn sein Geheimnis jemals herauskommt, gerät er vom Regen in die Traufe.

Der Autor
Theodore Sturgeon – The Dreaming Jewels weiterlesen

Paxson, Diana L. – Brunhilds Lied (Die Töchter der Nibelungen 1)

_Spannender Fantasyroman über die Nibelungen_

„Brunhilds Lied“ (O-Titel: „The Wolf and the Raven“) ist der erste Band der Trilogie „Die Töchter der Nibelungen“ und schildert, wie die zwei Hauptfiguren aufwachsen werden und einander treffen: der Held Sigfrid und die Walküre Brunhild. Nun sollte jeder seine Erinnerungen aus der Jugend oder Schulzeit hervorkramen, wie die Story ausging, als Richard Wagner oder das „Nibelungenlied“ sie erzählten. Paxson liefert uns eine ganz andere Version.

_Die Autorin_

Diana L. Paxson war zu Lebzeiten Marion Zimmer Bradleys deren engste Mitarbeiterin sowie die Co-Autorin der „Avalon“-Romane. In ihren eigenen Büchern verbindet Paxson genaue historische Recherche mit Elementen aus Mythos und Sage. Als eine der führenden Vertreterinnen der neo-heidnischen Bewegung in den USA zeigt sie dabei ein besonderes Interesse für die paganen Religionen der Spätantike (so etwa das 5. Jahrhundert) und des Mittelalters: Sie kennt die alten Göttinnen und Götter nicht nur aus Büchern, sondern möglicherweise auch aus eigenem Erleben, etwa von Besuchen an deren Tempeln und Altären. Mehrere genaue Beschreíbungen solcher Orte in ihrem Nibelungen-Zyklus sprechen dafür.

_Handlung_

Mitteleuropa im 5. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung. Es ist die Zeit der Völkerwanderung, eine Zeit, da die ganze bekannte Welt in Bewegung ist. Die Germanenstämme suchen besseres Land im Westen und Süden und überrennen schließlich das Römische Reich, das 453 untergeht. Natürlich machen sich die Stämme auch untereinander Konkurrenz, und so bleiben Schlachten nicht aus.

Das Steppenvolk der Hunnen ist bis nach Passau und Regensburg vorgestoßen, wo die Grenze des weströmischen Reiches verläuft. Der Khan der Hunnen ist Attila. Sein Hauptmann Bladarda schickt seine Tochter Brunhild nach (Schwäbisch) Halle, wo sie zusammen mit der Burgunderprinzessin Gudrun Abenteuer erlebt.

Als sie bei einem Fest den geheimen Brunnen der Hallenser entweihen, schaut Brunhild zum ersten Mal das Antlitz desjenigen Gottes, der ihr ganzes Leben bestimmen wird: Wodan. Er ist der Obergott der Germanen und häufig sieht man ihn unterwegs als Wanderer mit Schlapphut und Wanderstab, doch besitzt er nur ein Auge und seine Begleiter sind stets zwei Raben. Als Gott führt er die Wilde Jagd an, gebietet dem Donner und sucht die Helden in der Schlacht, um sie zu sich nach Walhall zu holen. Dabei dienen ihm die Walküren.

|Die Walküren|

Nach ihrem Frevel werden Brunhild und Gudrun verbannt: Gudrun nach „Heidelberg“ auf die Burg ihrer Mutter Grimhild, bis ihr Bruder Gundohar (= Gunther) König wird. Brunhild jedoch geht einen ganz anderen Weg: Der (erfundene) Frauenorden der Walkyriun lernt sie an, bildet sie aus und nimmt sie schließlich nach harten Prüfungen auf. Diese Kriegerpriesterinnen nennen sich nach den Dienerinnen Wodans und verfügen offenbar über echte Magie. Die Magie rührt vor allem von ihrer Beherrschung der Geisterwelt und des Runenzaubers her. Das hat die Autorin sehr deutlich herausgearbeitet. Das Auftreten einer Walküre im Kampf ist ebenfalls recht eindrucksvoll geschildert. In der Schlacht treten die Walkyriun immer zu neunt auf.

|Siegfried der Schmied|

Währenddessen wächst der junge Sigfrid auf. Er ist der Sohn eines Helden namens Sigmund und einer Frau namens Hiordisa. Nachdem Sigmund von der Hundingssippe getötet worden war, verbarg Hiordisa Sigfrid auf der Burg ihres zweiten Mannes Alb in der Nähe von Oldenburg. Doch die Hundinge entdecken das Geheimnis des gelbäugigen Sigfrid und bedrohen mehrmals sein Leben.

Daraufhin nimmt Ragan der Schmied den Jungen als Ziehvater an und bildet ihn in seiner Schmiede im Teutoburger Wald aus. Doch der Junge lernt viel mehr von den Tieren des Waldes, besonders von den Wölfen. Kein Wunder: Von seinem Vater Sigmund hat er die Fähigkeit des Gestaltwandels geerbt: Er kann sich in einen Wolf verwandelt, wenn es darauf ankommt. Diese Waldszenen sind sehr schön und spannend geschildert.

|Der Nibelungen Hort|

Doch Ragans Sippe ist auch nicht ohne. Sein Vater Hreidmar gehörte dem viel älteren Erdvolk an und verfügte über Gestaltwandelmagie. Er hatte drei Söhne: Ragan, den Metallformer; Ottar, der in Ottergestalt von Burgunden, genauer: von ihrer Königssippe, den Niflungen, getötet worden war; und schließlich den boshaften Fafnar, der alle piesackte. Der Mord an Ottar musste mit Blutgeld gesühnt werden – und hier beginnt die ganze Geschichte: Die Niflungen (= Nibelungen) plündern die wertvollen Goldschätze, die einer heiligen Quelle der Erd-Göttin geopfert worden waren. Darunter sind zwei besondere Stücke: ein Ring und ein Runenstab. Andwari, der Hütter der Quelle, verflucht die Plünderer, die sich nun freikaufen. Doch Fafnar ermordert seinen Vater Hreidmar für das Gold und rafft den Hort an sich, um ihn als Drache zu bewachen, in einer Höhle über dem Rhein, dem Drachenfels.

|Ragans Plan|

Ragan, selbst nicht ohne Goldgier, plant nun, Fafnar den Hort abzujagen! Dazu braucht er Sigfrids Hilfe. Er macht ihn zu seinem Helden. Mit Wodans Hilfe schmiedet Sigfrid das zerbrochene Schwert seines Vaters und macht es zu einer Waffe, die es mit einem Drachen aufnehmen kann. Dann ziehen die beiden gen Westen, um Ragans Bruder zu töten. Ein verhängnisvolles Vorhaben, denn auch Sigfrid ist mit Fafnar verwandt. Es folgen einige der faszinierendsten Szenen des ganzen Buches. Nicht so sehr wegen der Action, sondern weil hier Wahn und Wirklichkeit, Lüge und Wahrheit aufeinandertreffen.

|Brunhilde in der Waberlohe|

Bei einer Schlacht der Burgunden gegen die Alemannen um das Land am Oberrhein stellt sich der Orden der Walkyriun auf die Seite der Alemannen. Seltsam jedoch, dass die Burgunden trotzdem die Schlacht gewinnen. Ihr König Gundohar, eigentlich ein Angsthase, begegnete Brunhild und wurde von ihr verschont – Wodan will Helden, keine Hosenscheißer.

Nachdem Gundohar, von Wahnsinn gepackt, die Schlacht gewendet hatte, wird Brunhild von ihren Schwestern des Verrats angeklagt. Man entehrt sie, entkleidet sie und kettet sie auf der Erde an, auf dass der erstbeste Mann sie nehme. Doch Wodan, ihr Schutzherr, umgibt sie mit einem Kreis aus Feuer, der bekannten „Waberlohe“. Und wer befreit sie nun aus ihrer misslichen Lage? Na, dreimal dürfen wir raten.

|Hilfreiches Beiwerk|

Eine Landkarte des damaligen Germanien um 410-420 erweist sich während der Lektüre als wertvoller Helfer. Leider hat der Verlag die Karte aus der Hardcover-Ausgabe etwas vereinfacht, so dass die Provinznamen und -grenzen fehlen. Etliche der Ortsnamen sind im umfangreichen Glossar erklärt.

Stammtafeln verdeutlichen die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Geschlechtern und erklären etwa, warum Sigfrid ein Sippenmörder ist (Ragan und Fafnar waren über seine Großmutter mit ihm verwandt). In dieser Ausgabe fehlt die Stammtafel für die Niflungen, also Gudrun und Gundohar (König Gunther von Burgund). Das ist zu verschmerzen, denn es vermindert die Verwirrung.

Ganz wichtig für das Buchverständnis sind der germanische Kalender und die Runen. Alle Kapitel sind nicht mit den römischen Monatsnamen datiert (Januar etc.), sondern mit den germanischen Namen (Heumond = Juli). Auch die Festtage der Germanen finden eine Erklärung.

Die nordisch-germanischen Runen sind für die Magie, die Brunhild und die Walkyriun ausüben, von zentraler Bedeutung, rufen sie doch die Mächte der Natur und der Götter herbei. In einer wichtigen Szene erhält Brunhild ihre Zaubermacht durch die geistig-spirituelle Aufnahme der Runen, in einer anderen bedeckt sie ihren Geliebten Sigfrid von Kopf bis Fuß mit einer Heilsalbe und stärkenden Runen.

In einem Abschnitt „Hintergründe und Quellen“ liefert die Autorin einen geschichtlichen Abriss des fünften Jahrhunderts und erläutert, warum sie den jeweiligen Buchteil so und nicht anders geschrieben hat. Das ist insofern wichtig, weil sie ja in unzähligen Einzelheiten vom historisch überlieferten „Nibelungenlied“ und erst recht von den Wagner-Opern abweicht.

Neueste Theorien der Kulturgeschichte werden hier relevant. Die Quellen, die sie anführt, sind meist ältere Bücher aus den sechziger Jahren. Sie erlaubten ihr u. a. das Schmieden eines Schwertes oder die Ausbildung einer Magierin nachzuzeichnen und lebendig zu schildern. Außerdem finden sich hier Hinweise auf die Herkunft der zahlreichen Gedichte und Zaubersprüche, die Paxson in die Erzählung eingestreut hat.

_Fazit_

Für mich war „Brunhilds Lied“ eine spannende und sehr unterhaltsame Lektüre. Dies lag vor allem an der lebendigen Schilderung der Abenteuer und des völlig unterschiedlichen Lebensweges der zwei Hauptfiguren, Brunhilde und Sigfrid. Es ist, als ob man die zwei wie Geschwister kennen lernte.

Nur wenn man ihr Umfeld genauer versteht, bekommt man einen gewissen Zugang dazu, worum es im Nibelungenlied eigentlich geht: um die Umschichtung miteinander in Konflikt stehender Werte. Sigfrid und Brunhilde kommen beide mit den Werten ihrer jeweiligen Gemeinschaften nicht mehr zurecht, beiden sind Ausgestoßene. Das, was sie tun und was sie an neuen Werten vertreten, bewegt das Schicksal ganzer Völker, namentlich der Burgunder.

Zu erfahren, welche Völker vor den Germanen in Mitteleuropa lebten, war recht überraschend. Das Erdvolk Hreidmars und die Kelten gehören dazu. Die germanischen Stämme wie die Alemannen hingegen bestanden aus Bruchstücken mehrerer anderer Stämme, die in den Territorialkämpfen Mitteleuropas zersplittert wurden. Sie treffen wiederum auf die Römer, die links des Rheines intakte Provinzen bewirtschaften und schützen. Außerdem begegnen die Burgunder erstmals dem Christentum und nehmen es an, wohingegen die Alemannen die alten Götter bewahren (deshalb stellen sich die Walkyriun auf ihre Seite). Es ist ein Wunder, dass die Burgunder nicht zwischen allen Fronten – da sind ja auch noch die vorrückenden Hunnen im Osten – zermalmt werden.

Wie man sieht, war das fünfte Jahrhundert nicht nur turbulent, sondern entscheidend für die Entstehung der deutschen Königstümer der Franken etc., bis schließlich Kaiser Karl der Große ein ganzes Reich daraus schmiedete.

|Für wen sich dieses Buch eignet|

Auch wenn man die ganzen geschichtlichen Hintergründe und die faszinierende Magie nicht beachtet: Es bleibt doch immer noch ein spannendes und bewegendes menschliches Drama, das sich da entfaltet. Und so kann es im Grunde jeder mit Vergnügen und Gewinn lesen.

|Originaltitel: The Wolf and the Raven, 1993
Aus dem US-Englischen von Helmut W. Pesch|

Stephen King – The Green Mile

Spannend, mystisch: Weltgericht im Todestrakt

Das Staatsgefängnis Cold Mountain im US-Bundesstaat Georgia, im Jahre 1932: Paul Edgecombe ist der für den Todestrakt verantwortliche Gefängnisaufseher. Hier wartet der elektrische Stuhl Old Sparky auf zum Tode Verurteilte. Doch mit Pauls Seelenruhe ist es vorbei, als der verurteilte Mörder John Coffey bei ihm landet. Er soll zwei junge Farmerstöchter missbraucht und getötet haben. Schon bald zweifelt Paul an Coffeys Schuld. Aber was ist Coffey dann? Eine kleine Maus taucht im Todestrakt, der „Green Mile“, auf. Sie scheint über besondere Fähigkeiten zu verfügen.

_Der Autor_

Stephen King – The Green Mile weiterlesen

Wakonigg, Daniela / Harrsch, Peter – Mythos & Wahrheit: Edgar Allan Poe. Eine Spurensuche mit Musik und Geräuschen

_Populäre Poe-Biografie mit begrenztem Ansatz_

Edgar Allan Poe gilt als der große Autor des Düsteren. Mit seinen Schauer- und Detektivgeschichten beeinflusste er die moderne Literatur . Auch heute ist das Interesse an seinem Werk stärker denn je, insbesondere im Bereich des Hörbuchs.

Um Poe und sein Leben ranken sich viele Legenden, nicht zuletzt wegen der fleißigen Fälscherarbeit, die sein Widersacher Reverend Griswold an seinem Nachlass angerichtet hat. Wie viele der Legenden entsprechen der Wahrheit, welche sind nur Mythos? War Poe, wie Griswold behauptete, ein geisteskranker Trinker oder ein Genie, das mit seinen Einblicken in die Untiefen der menschlichen Seele seiner Zeit weit voraus war?

Das vorliegende Hörbuch gehört zu der Sach-Hörbuch-Reihe „STIMMBUCH Mythos & Wahrheit“ und will dem Hörer „spannende historische Spurensuche, untermalt von Musik und Geräuschen“ bieten. Ob das so hinhaut, wie gedacht, wird sich herausstellen.

_Der Autor_

|Sein Leben|

Edgar Allan Poe (1809-49), das Kind verachteter Schauspieler, wurde mit zwei Jahren zur Vollwaise und wuchs bei einem reichen Kaufmann namens John Allan in Richmond, der Hauptstadt von Virginia auf. Während der Vater ihn nie akzeptierte, liebt Edgar seine Ziehmutter, die sich seiner annahm, umso mehr. Von 1815 bis 1820 erhielt Edgar eine Schulausbildung in England. Er trennte sich 1827 von seinem strengen Ziehvater, um Dichter zu werden, veröffentlichte von 1827 bis 1831 insgesamt drei Gedichtbände, die allesamt finanzielle Misserfolge waren. 1828 starb mit Mrs. Allan seine wichtigste Bezugsperson, und er zog zu seiner Tante „Muddy“ Clemm in Baltimore.

Von der Offiziersakademie in West Point wurde er am 28. Januar 1831 verwiesen, sein Bruder William stirbt im August. 1833 gewann er 50 Dollar für seine Story „MS. Found in a Bottle“, die einen Kaufmann auf ihn aufmerksam machte, der ihn förderte. Dadurch konnte er sich als Herausgeber mehrerer Herren- und Gesellschaftsmagazine, in denen er eine Plattform für seine Erzählungen und Essays fand, seinen Lebensunterhalt sichern. Allerdings schuf er sich durch seine scharfen Literaturkritiken zahlreiche Feinde.

1845/46 war das Doppeljahr seines größten literarischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs, nachdem am 20. Januar 1845 sein Gedicht „The Raven“ auf größte Begeisterung gestoßen war, und das sowohl bei den Lesern als auch bei der Kritik. Er wurde Vortragsreisender und Partner bei einer Zeitschrift, die allerdings bankrott ging.

Dem Erfolg folgte bald ein ungewöhnlich starker Absturz, nachdem seine Frau Virginia, die Tochter seiner Tante (1822-1847, verheiratete Poe ab 1836, krank ab 1842), an der Schwindsucht gestorben war. Er verfiel dem Alkohol, eventuell sogar Drogen, und wurde – nach einem allzu kurzen Liebeszwischenspiel mit der 45-jährigen Dichterin Sarah Helen Whitman – am 3. Oktober 1849 bewusstlos in Baltimore aufgefunden. Er starb an „Hirnfieber“ am 7. Oktober im Washington College Hospital. (Das Rätsel um seinen Tod wurde jüngst von Matthew Pearl [(„The Dante Club“) 406 zu einem spannenden Roman verarbeitet.)

|Seine Wirkung|

Poe gilt als der Erfinder verschiedener literarischer Genres und Formen: Detektivgeschichte, psychologische Horrorstory, Science-Fiction, Shortstory. Neben H. P. Lovecraft gilt er als der wichtigste Autor der Gruselliteratur Nordamerikas. Er beeinflusste zahlreiche Autoren, mit seinen Gedichten und seiner Literaturtheorie insbesondere die französischen Symbolisten. Seine Literaturtheorie nahm den New Criticism vorweg.

Er stellt meines Erachtens eine Brücke zwischen dem 18. Jahrhundert und den englischen Romantikern (sowie E.T.A. Hoffmann) und einer neuen Rolle von Prosa und Lyrik dar, wobei besonders seine Theorie der Shortstory („unity of effect“) immensen Einfluss auf Autoren in Amerika, Großbritannien und Frankreich hatte. Ohne Poe sind Autoren wie Hawthorne, Twain, H.P. Lovecraft, H.G. Wells und Jules Verne, ja sogar Stephen King und Co. schwer vorstellbar. Insofern hat er den Kurs der Literaturentwicklung des Abendlands maßgeblich verändert.

_Die Inszenierung_

Die Sprecher: Die Stimme des Erzählers gehört Bodo Primus (‚Jonas, der letzte Detektiv‘), den Poe spricht Matthias Haase, Kritiker und andere spricht Hans Bayer, Frauenrollen wie Tante Muddy u. a. werden von Daniela Wakonigg gesprochen. Wakonigg wirkte als Autorin, Übersetzerin, Regisseur und Sounddesignerin an diesem Hörbuch mit. Die Musik und Teile des Sounddesigns steuerte Peter Harrsch bei.

_Inhalte_

1. Mythos Poe
2. Dramatische Kindheit
3. Düstere englische Romantik
4. Jugend in den Südstaaten
5. Erste Schritte in die Freiheit
6. Muddy und Virginia
7. Southern Literary Messenger
8. New York und Philadelphia
9. Virginias Krankheit
10. Aufstieg und Fall des Edgar Allan Poe
11. Der Anfang vom Ende
12. Nur ein Traum in einem Traum

Das Hörbuch beginnt mit einer Szene am Meer, wo das Wellenrauschen die Rezitation der ersten Strophe von Poes Gedicht „Nur ein Traum in einem Traum“ untermalt. Dieses Gedicht beschließt auch das Hörbuch.

Dazwischen liegt die Schilderung von Poes Leben. Während ich es oben sehr knapp zusammengefasst habe, breitet das Hörbuch die Biografie in allen Einzelheiten aus. Schließlich soll hier „Spurensuche“ betrieben werden. Am interessantesten sind Poes schon früh beginnende Liebschaften, sei es in Richmond, wohin er immer wieder zurückkehrt, oder in New York City, wo er beruflich viel zu tun hat. In Richmond lernt er mit 16 die hübsche Almira Royster, 17, kennen, doch deren Vater hintertreibt die heimliche Verlobung und verheiratet „Mira“ kurzerhand anderweitig. Er sieht sie erst wieder kurz vor seinem Tod, woraufhin sie seinen Heiratsantrag akzeptiert. Zur Heirat sollte es nicht mehr kommen …

Seine Affären, seine Ehe und seine späten Ansätze, eine Ehe zu schließen, dauern bis kurz vor seinem Tod (siehe oben). Das lässt nicht gerade – wie andrenorts behauptet – auf einen rücksichtslosen Trinker schließen, und die Tatsache seines literarischen Erfolges in New York City beruht nicht ausschließlich auf dem Glück des von den Göttern begabten Genies, sondern auf harter Arbeit. Auf seinem Vortrag über das Gedicht „The Raven“, das in einer Szene vorgetragen und erläutert wird, erklärt Poe, das Gedicht sei mit mathematischem Kalkül geschrieben worden. Würde man dies von einem Genie erwarten? Wohl kaum.

Angesichts der zahlreichen Schicksalsschläge, die Poe trafen, verwundert es mich nicht, dass er immer wieder in ein tiefes Loch fiel. Dann trank er, rauchte Opium oder lag mit einem Nervenzusammenbruch danieder, gepflegt von seiner Frau oder Tante – wenn er Glück hatte. Nach dem Tod seiner Frau und der Vertreibung aus New York war es ebenfalls nicht leicht, wieder auf die Beine zu kommen, doch noch einmal unternahm Poe den Versuch, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen. Die Dame, eine Dichterin, war zwar schon 45 Jahre alt, aber man kann Kinder ja auch adoptieren. Leider wies sie seinen Antrag zurück, nachdem man ihr aus New York abgeraten hatte. Dort war Poe wegen seiner Feinde persona non grata. 1848 unternimmt er deshalb im November einen Selbstmordversuch, der fehlschlägt.

Dennoch wundert es die Historiker, so die Darstellung im Hörbuch, dass Poe schließlich unter so mysteriösen Umständen starb. Als er am 3. Oktober 1849 in Baltimore auf der Straße aufgefunden wird, ist er ohne Bewusstsein. Er deliriert im Hospital und stirbt am 7. Oktober. Die Theorie wird angeführt, dass Poe ein Opfer der damaligen rauen Wahlkampfmethoden wurde. Am 2. Oktober fand eine Wahlversammlung statt, und beim Stimmenfang, dem „Couping“, waren die Wahlhelfer offenbar nicht zimperlich. Sie zwangen offenbar ihre Opfer zur Stimmabgabe für den bevorzugten Kandidaten. Doch wenn Poe verletzt war, warum wurde dann als Todesursache „Hirnfieber“ angegeben?

Nach seinem Ableben scheinen die Literaten, die er sich zu Feinden gemacht hatte, einen Rufmord zu begehen: Fälschung, Unterschlagung, Zensur, Diffamierung – dies gehört zu ihren Methoden. Reverend Griswold, den Tante Clemm unglücklicherweise aus Geldnot zum Nachlassverwalter bestimmte, wütete derart, dass Poe fortan als in Amerika nicht lesbarer Autor gebrandmarkt wurde. Dagegen stieg Poes Stern in Frankreich durch Dichter wie Baudelaire.

_Mein Eindruck_

Eine kurze Zusammenfassung der Biografie findet sich auch im Booklet. Diese ist wesentlich weniger ermüdend als die – eh schon komprimierte – Langfassung, die von Bodo Primus angenehm sachlich und unaufgeregt vorgetragen wird. Die Darstellung wird natürlich in dieser Form nicht den geltenden literaturwissenschaftlichen Ansprüchen gerecht, denn alle Quellenangaben fehlen. Und diese wären das Minimum an Glaubwürdigkeit im Sinne der beanspruchten Spurensuche. Also handelt es sich um eine populärwissenschaftliche Darstellung, die möglichst auch unterhalten soll. Dazu tragen die Musik, die Geräusche und die Szenen wesentlich bei.

Die Konflikte, die Poes Leben auf so unglückselige Weise bestimmt haben, werden immerhin klar und deutlich herausgearbeitet, allerdings oft in wirtschaftlicher Hinsicht, ohne dabei jedoch auf künstlerische Auseinandersetzungen tiefer einzugehen. Das hätte ja eine theoretische Grundlage hinsichtlich Poes Ästhetik erfordert.

|Poes Revolution|

Wir erfahren immerhin, dass Poes Ansatz der Kritik an Literatur revolutionär war: Nicht Moral oder gesellschaftliche Relevanz sollten die Güte eines Werks bestimmen, sondern vielmehr die Qualität der künstlerischen Mittel im Verhältnis zum literarischen Ausdruck, den sie erzeugen. Will heißen: Wer mit Mitteln des Kitsches arbeitet, wird wohl kaum je hohe Kunst von Dauer produzieren. Das ist auch heute noch so. Ein Kunstwerk von Dauer muss in Poes Augen für sich allein stehen können, und so hat er es auch bewertet. Die Folgen waren verheerend: Nicht nur entlarvte er ein Plagiat nach dem anderen, sondern eckte mit einem Dichter- und Kritikerkollegen nach dem anderen an. Die Zeitungsleser mochten zwar seine Kritikfähigkeit und steigerten die Auflage, doch die Abrechnung der Feinde ließ nach Poes Tod – und schon davor – nicht auf sich warten.

Die Kenntnis der Werke Poes wird offensichtlich vorausgesetzt. Hier werden keine Eulen nach Athen getragen. Seine zwei bekanntesten Gedichten hören wir als direktes Zitat: „Der Rabe“ und das ebenfalls von Alan Parson’s Project vertonte „Nur ein Traum in einem Traum“ (A dream within a dream). Wir müssen nicht erfahren, wie diese Texte gemacht wurden, vielmehr scheint es für die Autorin des Textes wichtiger gewesen zu sein, dass wir verstehen, warum sie entstanden und was ihr Inhalt im Kontext von Poes Leben bedeuten kann. In „Der Rabe“ beklagt ein Student den Verlust seiner geliebten Leonore, doch der schwarze Unglücksbote nimmt ihm Schritt für Schritt jede verbliebene Hoffnung. Jedes weitere „Nevermore / Nimmermehr!“ fährt dem Studenten wie auch dem Leser / Zuhörer (früher wurden Gedichte noch vorgelesen) wie ein Dolchstoß ins Herz.

Dass Poe jede Menge lieber Menschen verlor, habe ich bereits erwähnt, und so ist der Zusammenhang offensichtlich. Aber warum bediente sich Poe dann einer mathematischen Methode, um seinen Seelenschmerz zu verarbeiten? Wir erfahren es nicht.

Meine eigene Theorie: Die Distanzierung durch die literarische Strenge der Kompositionstechnik dient nicht nur der leichteren Verarbeitung des Schmerzes, sondern erzeugt darüber hinaus den gewünschten maximalen Effekt beim Leser. Die Unerbittlichkeit des Raben steht im dramatischen Gegensatz zu der Seelennot des Studenten und lyrischen Ichs, so dass aus dieser Kluft eine aufrüttelnde Diskrepanz entsteht, die beim Leser ihre als tragisch empfundene Wirkung nicht verfehlt. Andere Dichter hätten mit kitschigen Worten an das Mitgefühl des Publikums appelliert – und hätten dabei nur abgedroschen klingen können. Die Wahl der ästhetischen Mittel entschied also über den immensen Erfolg des „Raben“, der bis heute zur amerikanischen Pflichtlektüre gehört. Wer Christopher Lee und Ulrich Pleitgen das Gedicht hat vortragen hören – etwa auf [„Visionen“ 2554 – der weiß auch, warum.

_Die Inszenierung_

Gedichtrezitationen und das Verlesen von Briefen und Artikeln wechseln sich mit Poes eigenen Worten und den Szenen ab, die den Text auflockern. Die Vorlesung über „The Raven“ ist dafür das beste Beispiel. Die Zuhörer husten und räuspern sich, während der verehrte Dichter ihnen seine erstaunliche Methode erklärt: Mathematik statt dichterischer Inbrunst! Wer hätte das erwartet.

_Unterm Strich_

Diese populärwissenschaftliche Darstellung bietet demjenigen, der Poe und sein Werk kennen lernen will, einen leicht verständlichen, aber begrenzten Zugang. Während das Leben in all seinen Verästelungen und Konflikten gut ausgeleuchtet wird, bleibt doch das meiste des Werks im Dunkeln. Offensichtlich wird dessen Kenntnis weitgehend vorausgesetzt. Das ist keine unberechtigte Annahme, denn wer mehrere von Poes Erzählungen gelesen oder gehört hat (die Filme werden heute kaum noch gezeigt), will sich vielleicht nun endlich auch dem Menschen Poe nähern.

Umgekehrt funktioniert der gebotene Ansatz nur sehr begrenzt. Dies würde nämlich einen literaturkritischen Ansatz erfordern, der darüber Auskunft erteilt, wie welche Werke aus heutiger Sicht einzuordnen und zu bewerten sind. Welche wissenschaftliche Autorität würde sich mit welchem der möglichen Ansätze dazu bereitfinden?

Ein weiteres Problem ist die Quellenlage. Der Text erwähnt es ja selbst, dass Poes Werke und auch sein Nachlass intensiv gefälscht und zensiert wurden. „Das Fass Amontillado“ beispielsweise liegt bis zum heutigen Tag nur in der von Rev. Griswold zensierten Fassung vor. Das Quellenproblem braucht von der Autorin und Herausgeberin Daniela Wakonigg nicht behandelt zu werden, weil die Poe-Texte kaum vorkommen. Die paar Zeilen aus „Ein Traum in einem Traum“ und „Der Rabe“ dürfen immerhin als gesichert gelten.

(Ich versuche mir vorzustellen, wie Wakonigg die Zensur der Nietzsche-Werke handhaben würde. Entweder geht sie wie bei Poe vor und verschweigt das meiste oder sie zitiert aus dem gefälschten Nachlass. Option Nr. 1 ist eindeutig vorzuziehen.)

Solange sich der Hörer der Begrenztheit des Ansatzes bewusst ist, bietet das Hörbuch einen vertretbaren Zugang zu Leben und Werk des Autors. Selbst mir als Anglist und Poe-Fan eröffneten sich noch neue Aspekte, insbesondere hinsichtlich des Literaturstreits in New York, den Poe entfachte. Und es hat mich dazu angeregt, mich näher mit Poes Literaturtheorie und dem philosophischen Essay „Heureka“ zu beschäftigen.

Es wäre zu begrüßen, wenn der Verlag auf seiner Website entsprechende Links zur Verfügung stellen würde. Per Suchmaschine stößt man schnell auf die Erzählungen, die sämtlich online zur Verfügung stehen. Aber Links zu Sekundärliteratur in deutscher Sprache sind etwas schwieriger zu finden. Hier kann sich der Verlag als Helfer beweisen.

Hinweis: Auf Amazon.de gibt es von jedem Kapitel eine Hörprobe im Realplayer-Format und auf www.stimmbuch.de eine im MP3-Format.

|76 Minuten auf 1 CD
Aus dem US-Englischen übersetzt von Daniela Wakonigg|
http://www.stimmbuch.de

Meyer, Kai / Hagitte, Christian / Bertling, Simon – Alchimistin, Die. Teil 4: Das Kloster im Kaukasus (Hörspiel)

_Zwischenfinale: Gewinne und Verluste_

Schloss Institoris, ein düsteres Gemäuer an einer einsamen Küste. Inmitten eines Labyrinths endloser Gänge und Säle wächst Aura heran, die älteste Tochter des Schlossherrn. Sie ist die Erbin eines uralten Rätsels, der Rezeptur des Steins der Weisen. Doch als ihr Vater im Auftrag seines Widersachers Lysander ermordet wird, schlägt die Stunde für Auras Stiefbruder Christopher – er beansprucht das Geheimnis der Unsterblichkeit für sich …

Folge 2: Aura enthüllt das Geheimnis ihrer Familie. Ausgerechnet der Mörder ihres Vaters, der geheimnisvolle Hermaphrodit Gillian, befreit sie aus den Klauen grausamer Mörder. Auf der Spur von Auras entführter Schwester Sylvette reisen sie nach Wien. In den Katakomben unter der Stadt geraten sie in einen Konflikt, dessen Ursprünge weit zurück ins Mittelalter reichen …

Folge 3: Sieben Jahre sind vergangen. Aura hat die Geheimnisse der Alchimie erforscht und das Erbe ihres Vaters angetreten. Doch alle, die ihr etwas bedeutet haben, sind tot. An der Seite ihres verhassten Stiefbruders Christopher muss sie abermals den Kampf gegen den alten Feind ihrer Familie aufnehmen – tief unter der Wiener Hofburg. Zugleich dämmert daheim auf Schloss Institoris eine neue Gefahr: Auras wahnsinnige Mutter Charlotte hat eigene Pläne …

Folge 4: Jenseits des Schwarzen Meeres, in den einsamen Bergen des Kaukasus, liegt die vergessene Festung der Tempelritter. Hier in der Wildnis am Ende der Welt nähern sich Ara Institoris und ihr Stiefbruder Christopher endlich dem Versteck ihres Gegners Lysander. Zugleich reist Gillian, der Hermaphrodit, mit den Institoris-Kindern nach Venedig ins neue Hauptquartier des Templerordens. Sein schwerster Kampf steht ihm noch bevor – gegen Morgantus, den unsterblichen Alchimisten … (Verlagsinfos)

_Der Autor_

Kai Meyer, Jahrgang 1969, studierte Film, Philosophie und Germanistik und arbeitete als Redakteur. Er schrieb schon in jungen Jahren und lieferte u. a. ein paar Jerry-Cotton-Abenteuer. Sein erster großer Erfolg war „Die Geisterseher“, eine historische „Akte X“. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und Drehbuchautor. Bisher sind rund 40 Romane von ihm erschienen. Selbst Kritiker waren von seinem historischen Mystery-Thriller „Die Alchimistin“ begeistert, später folgten „Die fließende Königin“ und „Göttin der Wüste“. Bei |Loewe| erschien mit den „Wellenläufern“ ein Jugend-Fantasyzyklus. „Frostfeuer“ aus dem Jahr 2005 ist eigenständiger Jugendroman. Das Buch wurde mit dem internationalen Buchpreis |CORINE| ausgezeichnet.

Die erste Staffel der achtteiligen Hörspielreihe umfasst die Folgen:

1) [Der Stein der Weisen 5052
2) [Das Erbe des Gilgamesch 5155
3) [Die Katakomben von Wien 5220
4) Das Kloster im Kaukasus

Im August 2008 erschien die zweite Staffel:

5) Die Unsterbliche
6) Die Schwarze Isis
7) Der Schatz der Templer
8) Der Alte vom Berge

Weitere Titel von Kai Meyer auf |Buchwurm.info|:

[Interview mit Kai Meyer]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=11
[„Der Brennende Schatten“ 4506 (Hörspiel)
[„Die Vatikan-Verschwörung“ 3908 (Hörspiel)
[„Die Wellenläufer“ 3247 (Hörbuch)
[„Die Muschelmagier“ 3252 (Hörbuch)
[„Die Wasserweber“ 3273 (Hörbuch)
[„Frostfeuer“ 2111 (Hörbuch)
[„Die Alchimistin“ 73
[„Das Haus des Daedalus“ 373
[„Der Schattenesser“ 2187
[„Die Fließende Königin“ 409
[„Das Buch von Eden“ 890 (Hörbuch)
[„Das Buch von Eden“ 3145
[„Der Rattenzauber“ 894
[„Faustus“ 3405
[„Seide und Schwert“ 3558 (Das Wolkenvolk 1, Hörbuch)
[„Lanze und Licht“ 4549 (Das Wolkenvolk 2, Hörbuch)
[„Drache und Diamant“ 4574 (Das Wolkenvolk 3, Hörspiel)

_Die Inszenierung_

Erzähler: Friedhelm Ptok (Ian ‚Imperator Palpatine‘ McDiarmid)
Aura Institoris: Yara Blümel-Meyers
Gillian: Claudio Maniscalo (Jimmy ‚The Haitian‘ Jean-Louis)
Christopher Institoris: Timmo Niesner (Elijah ‚Frodo‘ Wood)
Charlotte Institoris: Kerstin Sanders-Dornseif (Susan Sarandon)
Sylvette Institoris: Natalie Spinell
Lysander: Lutz Riedel (Timothy Dalton, Udo Kier, Tom Wilkinson)
Morgantus: Hans-Werner Bussinger (Michael Ironside, Jon Voight)
De Dion: Freimut Götsch (Steve Buscemi in „Monster House“)
Lascari: Friedrich Georg Beckhaus (Robert Duvall, Klaus Kinski, Sir Ian Holm)
Tess: Aliana Schmitz
Gian: Paul Gerlitz
Marie Kaldani: Katharina Bellena
Und andere.

Für Regie, Ton und Musikkomposition zeichnen Christian Hagitte und Simon Bertling vom Studio |STIL| verantwortlich. (Das Hörspiel ist daher Cornelia Bertling gewidmet, die 2007 mit 40 Jahren starb.) Die Musik spielt das Filmorchester Berlin und der Hochmeisterchor Berlin unter der Leitung von Hagitte. Die Hörspielbearbeitung stammt von Stefan Maetz. |Lübbe Audio| produzierte das Hörspiel und nicht etwa ein Rundfunksender.

_Handlung_

Gian, der siebenjährige Sohn Auras und Gillians, ist ein ungewöhnliches Kind, genau wie Tess, die Tochter Sylvettes und Lysanders. Beide können in Visionen genetische Erinnerungen sehen. Dazu gehören Tempelritter, die vor 700 Jahren lebten. Sie sehen die Burg, die sie bewohnten, und die Kämpfe bei der Spaltung des Ordens.

Während der westliche Zweig vom französischen König und dem Papst vernichtet wurde, konnten sich die Mitglieder des östlichen Zweiges in Sicherheit bringen. Doch zwei Offiziere, Lysander und Morgantus, versuchten ihre Unsterblichkeit durch schwarze Magie zu sichern, Nestor Institoris hingegen durch das Lebenskraut, wie Aura weiß.

Lysanders Burg liegt in Georgien, im Kaukasus, und dorthin unternehmen Aura und Christopher nun ihre Rettungsmission, um Sylvette zu befreien und zurückzuholen. Falls sie noch lebt. Sie haben ihre Kinder Gian und Tess bei Auras Mutter Charlotte zurückgelassen. Das erweist sich als Fehler, denn Charlotte verrät sie und setzt die Kinder gefangen. Doch mit wem ist sie im Bunde?

In Suchumi an der Küste des Schwarzen Meeres heuert Aura die Einheimische Maria Caldani als Führerin an, die mit 18 Begleitern den Geleitschutz bildet. Sie reiten zusammen in die Berge, bis sie zur achteckigen Templerburg gelangen, wo sie Lysander vermuten. Seltsamerweise stehen die Tore offen und sind unbewacht. Das sieht nach einer Falle aus. Aber auch Maria Caldani hat Besseres zu tun, als in diese Burg einzudringen, und verrät Aura und Christopher.

Die Folgen sind schrecklich.

_Mein Eindruck (Achtung, Spoiler)_

Endlich erfahren wir die Hintergrundgeschichte über die Tempelritter, ihre Spaltung und die Kämpfe zwischen den Fraktionen. Auf einmal taucht darin ein gewisser Morgantus auf, und es vergeht eine ganze Weile, bis dessen Rolle dem Hörer klargemacht worden ist. Auch Morgantus hatte die üble Angewohnheit, sich durch Inzest fortzupflanzen, aber dabei setzte er noch einen in puncto Grausamkeit drauf. Wie sich zeigt, steht er in direkter Beziehung zu Gillian und Gian.

Klar, dass man eine so wichtige Figur nicht erwähnt, ohne sie eine zentrale Rolle spielen zu lassen. Und deshalb taucht Morgantus auf Schloss Institoris an der Ostsee auf, um die Kinder Gian und Tess zu rauben, die Charlotte für ihn gefangen genommen hat. Zum Glück ahnt auch Gillian, dass im Schloss etwas oberfaul ist, und kann helfend einschreiten. In der Folge kommt es zu einem ganz schön dramatischen Showdown an einem erhabenen Ort …

Doch auch Auras Finale ist nicht ohne gewisses Drama. Christophers Tod erschien mir allerdings ziemlich an den Haaren herbeigezogen, so als hätte der Autor die Figur loswerden wollen, um sich ganz auf Aura konzentrieren zu können. Dass sie ihre Schwester Sylvette wiederfindet, ist ja eh klar; dass hier aber auch Lysander und De Dion, der frühere „Monseigneur“ auftauchen, erscheint dagegen weniger wahrscheinlich. Aber ob Aura diese Burg, die offensichtlich eine Falle ist, auch wieder zu verlassen vermag, soll hier nicht verraten werden. Doch was wäre die zweite Hälfte des Buches ohne die Hauptperson?

_Die Inszenierung_

|Die Sprecher|

Kai Meyer lobt die Darstellung Yara Blümels in höchsten Tönen, insbesondere die Übereinstimmung mit seiner Vorstellung von der Entwicklung der Heldin Aura Institoris. Mittlerweile ist sie bereits eine selbständige junge Frau von 24 oder 25 Jahren, die ihrem Stiefbruder Christopher helfen kann. In der Schweiz hat sie gezeigt, dass sie Eigeninitiative besitzt und sich zur Wehr setzen kann, nun führt sie sogar einen Generalangriff auf Lysander an. Dies ist keine Frau, die etwas anbrennen lässt, wenn man es sofort erledigen kann. Yara Blümels Stimme weiß dies genau auszudrücken. Um Aura braucht man sich wirklich keine Sorgen zu machen – es sei denn, die Geschichte verlangt es.

Timmo Niesner ist die deutsche Stimme von Elijah „Frodo“ Wood. Er bringt in seine Rolle als Christopher Institoris eine Menge Feingefühl ein, um die verschiedenen Beziehungen, in denen er sich zu Vater und Mutter, zu Schwester und Bruder befindet, entsprechend flexibel auszudrücken. Die Figuren Sylvette und Daniel spielen hingegen praktisch keine Rolle. Eine größere Rolle spielt die Sprecherin Maria Kaldanis, Katharina Bellena. Sie versucht durch einen gewissen Zungenschlag anzudeuten, dass Maria eine Ausländerin aus dem Kaukasus ist.

Im Übrigen fand ich den Text im Vergleich zu der Musik und den (spärlichen) Geräuschen viel zu leise ausgesteuert.

|Die Geräusche|

Die realistisch gestalteten Geräusche sind auf das Land und das Meer verteilt. Der Showdown im Kaukasus-Kloster der Templer erfordert eine Reihe leiser Geräusche, und wider Erwarten kommt es kaum zu einer Auseinandersetzung. Das sieht bei den Szenen in Venedig und auf der Schlossinsel ganz anders aus. Hier fallen Schüsse, ertönen Schreie, bis alles vorüber ist. Erst im Epilog hören wir wieder Wellen und Möwenschreie, die von lachen begleitet werden.

|Die Musik|

Die Musik ist neben dem Text das überragende Merkmal dieser Hörspielreihe. Christian Hagitte und Simon Bertling vom Studio |STIL| haben sich wieder richtig ins Zeug gelegt und einen Score geschaffen, der diesen Namen auch verdient. Die Musik schafft die Stimmung für jede Szene, und wer auf die Musik achtet, bekommt sofort mit, wenn sich die Stimmung ändert, so etwa bei einem Wechsel des Schauplatzes.

Aufgrund dieser vielfältigen Wechsel fällt es nicht leicht, die Musik pauschal zu charakterisieren, aber mir ist aufgefallen, dass sich die klassische Instrumentierung häufig auf der melancholischen und wehmütigen, wenn nicht sogar düsteren Seite des Farbenspektrums bewegt. Allerdings ist diese Gemütslage höchst romantisch und keineswegs morbide oder zerfahren. Daher fällt es der Musik leicht, aus dem romantischen Ton in den dramatischen Ausdruck zu wechseln.

Wird die Musik dramatisch, kann sie auch recht flott werden, besonders in Kampfszenen, von denen es nicht wenige gibt. Doch die Musik muss aufpassen, dass sie nicht die Rufe und Schreie während dieser Kampfszenen überlagert. Die Figuren sollten immer die Oberhand über die Stimmung haben, sonst erscheinen sie als Marionetten.

Das Outro erfüllt diesmal eine andere Funktion als die eines Aufräumers. Es ist ein Ausklang, der eher heiter und ruhig gestaltet ist. Er erinnerte mich an Mahlers 5. Sinfonie, wird aber von einem Klaviermotiv abgeschlossen.

Lutz Riedel verweist wie üblich auf die Fortsetzung, die den Titel „Die Unsterbliche“ trägt.

|Das Booklet|

Ein Geleitwort des Autors lobt die Darstellung Yara Blümels in höchsten Tönen, sagt aber immerhin genau, was ihm daran so gefiel, nämlich die Übereinstimmung mit seiner Vorstellung von der Entwicklung der Heldin Aura Institoris. Außerdem gefiel die Musik ausnehmend gut. Er hat jetzt Lust, die Fortsetzung zu schreiben. Wird auch Zeit!

Der Rest des Booklets liefert einen Überblick über die erste Staffel und eine Biografie des Autors.

_Unterm Strich_

Das Hörspiel versucht, den goldenen Mittelweg zwischen Edgar Allan Poes [„Der Untergang des Hauses Usher“ 2347 und einer optimistischen Entwicklungsgeschichte à la „Anne auf Green Gables“ zugehen. Damit sind schon zwei Extreme hinsichtlich Plot, Aussage und vor allem Stimmung genannt. Der Mittelweg bedeutet ein ständiges Ringen um Selbstbehauptung für die Hauptfiguren Aura und Christopher. Der Gegner ist eine Altlast der Familie, die aus der Vergangenheit ihres Familienoberhauptes Nestor stammt: Lysander (wir erfahren nicht mal seinen Nachnamen). In dieser Folge finden mehrere Erzählstränge ihren krönenden Abschluss.

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und Stimmen von bekannten Schauspielern (u. a. Elijah Wood) einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Mir war die Umsetzung an vielen Stellen zu romantisch und melodramatisch, aber von einer statischen Handlung kann keine Rede sein, denn die folgerichtige Entwicklung von Auras Abenteuern im Kampf gegen Lysander und seinen Schergen ist mitreißend geschildert. Auch die romantische Liebe kommt – zumindest in der zweiten Folge – nicht zu kurz.

Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für unheimliche Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert und die Stimmen der Stars vermitteln das richtige Kino-Feeling. Wer jedoch mit Melodramatik absolut nichts am Hut hat, sich aber trotzdem zünftig gruseln will, der sollte zu härterer Kost greifen.

|80 Minuten auf 1 CD
ISBN-13: 978-3-7857-3594-7|
http://www.kai-meyer.com
http://www.luebbe-audio.de
http://www.stil.name

Ligotti, Th. / Quiroga, Horacio / Stein, Leonard / Long, A. R. / Strobl, K.-H. / de Maupassant, Guy – Vampirric Collector\’s Box

_Neuverpackung: gut für Sammler und Ahnungslose_

Der Schweizer Multimediakünstler HR Giger ist am besten bekannt für seine Kreation des Alien-Monsters in Ridley Scotts gleichnamigen Science-Fiction-Horror-Film. Sein Museum befindet sich in Gruyères in der Schweizer – und natürlich auch im Internet: http://www.hrgigermuseum.com.

Giger, laut Verlag einer der bedeutendsten modernen Künstler, wurde 1940 in Chur, Schweiz, geboren. Im zweiten Stock des Elternhauses befand sich sein legendäres schwarzes Zimmer. Die fortschreitende Transformation aus einem Jugendzimmer zu einer Werkstätte, in eine Waffenschmiede, bis hin zu einer ägyptischen Grabkammer wurde zur ersten Kostprobe der Kreativität Gigers.

1977 erscheint sein Bildband „Giger´s Necronomicon“. Daraufhin folgt der weltweite Durchbruch. 1980: Oscar für „Alien“. Seit 1981: Arbeit an Projekten wie „Poltergeist 2“, „Species“ und „Alien 3“. 1988: Eröffnung der Giger-Bar in Tokio. 1991: Sein Bildband „ARh+“ erscheint in sieben Sprachen.

Seit Mitte der neunziger Jahre arbeitet HR Giger unermüdlich an seinem Museum. Dies befindet sich im mittelalterlichen Schloss Saint-Germain in Gruyères, Schweiz. Das Museum beherbergt Gigers persönliche Kunstsammlung, seine eigenen Bilder und Skulpturen. Das jetzige Museum ist die erste Stufe eines umfassenden Gesamtkunstwerks.

Inhalt in der Reihenfolge der CDs:

CD #1:
Thomas Ligotti: „Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts“
Horacio Quiroga: „Das Federkissen“
CD #2:
Leonhard Stein: „Der Vampyr“
Amelia Reynolds Long: „Der Untote“
CD #3:
Karl-Hans Strobl: „Das Grabmal auf dem Père Lachaise“
CD #4:
Guy de Maupassant: „Der Horla“

_Vampirric CD #1_

In der ersten Folge von HR Gigers vierteiliger „Vampirric“-Reihe finden sich folgende zwei Vampir-Geschichten: „Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts“ von Thomas Ligotti und „Das Federkissen“ von Horacio Quiroga. Beide Storys liest Lutz Riedel. Die Vorworte spricht HR Giger.

|Autor #1|

Thomas Ligotti, geboren 1953, hat sich mit seiner speziellen Machart des Horrors eine treue Anhängerschaft erschrieben. Seine erste Story erschien 1981, die erste Storysammlung „Songs of a Drad Dreamer“ 1986. Obwohl das Thema meist der Gothic-Fantasy angehört, ist seine Wahrnehmungsweise vielmehr die des Surrealismus (ohne den Thesen von Breton etc. zu gehorchen): Die meisten Szenen werden durch die verzerrte Perspektive des todgeweihten Erzählers betrachtet. Genau dies trifft auch auf die vorliegende Erzählung zu. Ligotti verdankt viele Impulse dem expressionistischen deutschen Film der 1920er Jahre, so etwa „Das Kabinett des Dr. Caligari“, aber natürlich auch den Großen des Horror.

HR GIGER: „Ach, Thomas Ligotti – mein Prinz der Nacht … Lauschen wir dankbar seiner Erzählung über eine Familie, die WIRKLICH seltsam ist. Lauschen Sie und kommen sie dem Wahnsinn ein Stück näher – und näher – und näher …“

|Handlung von „Zwielicht“|

In seiner Geschichte „Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts“ geht es um einen jungen Mann namens André, der als Maler in einem einsamen Herrenhaus am Ufer eines amerikanischen Sees lebt. Seine Nenn-Tante besorgt den Haushalt, ein alter Diener tischt auf. André hat offenbar ausgesorgt. Trotzdem macht er sich schwere Sorgen. Besuch hat sich angesagt.

Der Besuch kommt aus Frankreich, der Heimat seiner Mutter. Doch diese Duvals haben vor zwanzig Jahren seiner Mutter Leid zugefügt. Bei Andrés Geburt war sein amerikanischer Vater bereits tot, die Tante Thérèse rettete das Neugeborene und brachte es zurück in die USA. Nun fürchtet André die Verwandten, die ihn auf seine Ungefährlichkeit prüfen wollen.

Leider weiß er selbst nicht, wie es um seine Beschaffenheit bestellt ist. Er weiß nur, dass er die Wahrheit im besonderen Zwielicht gefunden – und zu malen versucht – hat, das sich auf den Wassern des Sees spiegelt. Die Nacht, als die Duvals ankommen, ist in der Tat denkwürdig, denn ein Hexensabbat ist dagegen harmlos. Danach wird André das Zwielicht hassen, kündigt es doch den Hunger der Nacht an …

|Mein Eindruck|

Lutz Riedel liest „Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts“ in rund vierzig Minuten mit leiser, Unheil verkündender Stimme. Lange wird der Hörer auf die Folter gespannt, was denn nun mit der Hauptfigur Sache ist. Auch die historischen Exkursionen in die französische Vergangenheit neigen eher dazu, zu verwirren statt zu erhellen. Dieser Teil ist daher mehrmals zu hören. Erst dann ist das Finale in seiner ganzen Tragweite zu erfassen. Hier bricht das Grauen mit ungebremster Wucht über die Welt des Erzählers herein, bis er selbst transformiert ist. –

Eine Erzählung, die uns Ligotti als großen Erzähler der Zwischentöne präsentiert. Als erste Story des Vampirric-Zyklus signalisiert sie einen hohen, literarischen Anspruch. Splatterfreunde sind hier an der falschen Adresse.

_Zweite Story: Horacio Quiroga: „Das Federkissen“_

|Autor #2|

Horacio Quiroga, 1878-1932, war ein urugaisch-argentinischer Erzähler, dessen Leben durch tragische Unfälle und Niederlagen geprägt war. Mehrere ihm vertraute Menschen begingen in seinem Beisein Selbstmord, und er verschuldete durch Unachtsamkeit den Tod eines Freundes. Ohne diese Biografie und die Kenntnis von Darwin, Kipling und Poe, seine Lieblingsautoren, sind seine Erzählungen kaum zu verstehen. Darin treten Menschen auf, die gegen eine überlegene Naturgewalt ankämpfen. 1917 erschienen seine „Geschichten von Liebe, Irrsinn und Tod“ (deutsch bei Suhrkamp 1985), 1921 die Sammlung „Anaconda“, deutsch als „Der Aufruhr der Schlangen“ 1985 veröffentlicht.

HR GIGER: „Mit meiner Auswahl von Geschichten in Vampirric möchte ich zeigen, dass ein Vampir in vielen verschiedenen Formen auftreten kann. Ich wette, die nun folgende kleine Geschichte wird Sie überraschen …“

|Handlung von „Das Federkissen“|

Die zweite Geschichte aus der Feder von Horacio Quiroga erzählt von einem Brautpaar, das gerade mal drei Monate verheiratet ist. Jordan und Alicia lieben einander innig, als sie in einen verwunschenen Palast einziehen, der sich zunehmend kalt und unbehaglich präsentiert. Und ungesund.

Alicia magert ab und erkrankt an Grippe. Anderntags muss sie wegen Schwäche im Bett bleiben. Während Jordan noch hofft, das werde schon wieder, verstärkt sich die Blässe von Alicias Gesicht. Sie wiederum halluziniert von einem höhnisch lachenden Menschenaffen. Alicias unerklärliche Blutarmut führt schließlich zu ihrem vorzeitigen Ableben, das Jordan untröstlich zurücklässt.

Seltsamerweise finden sich in ihrem Kopfkissen Blutflecken, auch das Gewicht des Kissens ist erstaunlich groß, und was es enthält, scheint nicht von dieser Welt zu stammen …

|Mein Eindruck|

Lange Zeit, den Großteil der 34 Minuten, wartet der Hörer vergeblich darauf, dass sich etwas Schlimmes ereignet. Doch dabei ist das Böse bereits am Werke, und zwar im titelgebenden Bettzeug. Die arme Alicia hat mich stark an Poes zum Tode kränkelnde Heldinnen erinnert, die wie seine eigene junge Frau Virginia an Tuberkulose oder ähnlichem starben. Doch die Ursache des Übels ist pures Lateinamerika.

|Der Sprecher|

Lutz Riedel ist ein hochkarätiger Synchron-Regisseur und die deutsche Stimme von Timothy Dalton. Er zeigt hier seine herausragenden Sprecher-Qualitäten, die den Hörer mit schauriger Gänsehaut verzaubern. Er war auch „Jan Tenner“ in der gleichnamigen Hörspiel-Serie. Lutz Riedel ist einer der besten Sprecher von Schauergeschichten à la Edgar Allan Poe. Er hat ja auch schon H. P. Lovecraft gelesen und mir damit kalte Schauer über den Rücken gejagt: „Das Ding auf der Schwelle“ und ganz besonders „Die Ratten im Gemäuer“. Sie sind beide von |LPL records| kongenial produziert worden.

|Unterm Strich|

Die Ligotti-Erzählung (ca. 40 Minuten) ist hohe literarische Kunst und wird Splatter- und Actionfreunde nicht zufrieden stellen. Das Grauen naht sich sozusagen nur aus der Erinnerung des Erzählers. Nur allmählich wird klar, dass dieser hoffnungsvolle Maler eigentlich todgeweiht ist (siehe meine Worte über den Autor) und das Potenzial in sich trägt, zu einem schrecklichen Ungeheuer erweckt zu werden – das Erbe des „alten Europa“, das er nicht abstreifen kann, befindet es sich doch in seinem Blut.

„Das Federkissen“ ist eine stimmungsvolle Geschichte (ca. 34 Minuten), die nur von einem einzigen Effekt getragen wird: der nagenden Ungewissheit und dem Ausgeliefertsein an ein namenloses Übel, das sich erst nach vollbrachter Tat offenbart. Genauso stellte sich der Autor seine eigene biografische Situation vor. Er hat seine Erfahrung in literarischer Form sublimiert und eine wirkungsvolle Erzählung geschaffen.

_Vampirric CD #2_

In der zweiten Folge von HR Giger´s „Vampirric“ finden sich die Vampir-Geschichten: „Der Vampyr“ von Leonhard Stein und „Der Untote“ von Amelia Reynolds Long. Beide Storys liest Helmut Krauss. Die Vorworte spricht wieder HR Giger.

|Autor #3|

HR GIGER über DER VAMPYR: „Zwischen 1918 und 1920 erschienen einige Erzählungen eines gewissen Leonhard Stein. Niemand weiß bis heute, wer dieser Autor war, vielleicht war der Name sogar ein Pseudonym, wer weiß. Auf jeden Fall werden Sie seine Geschichte über ein recht seltsames Arbeitsverhältnis nie vergessen, da bin ich mir sicher!“

_Erzählung Nr. 3: Handlung von „Der Vampyr“_

Den Anfang macht mit „Der Vampyr“ eine fast schon kafkaeske Horrorgeschichte, die sich auch als Parabel auf die Arbeitswelten der modernen Zivilisation lesen lässt.

Die Hauptfigur ist Herr Samassa, ein „schöner Mann“ und Genussmensch, der in der Anwaltskanzlei Dr. Herzfeld arbeitet. Er plant, demnächst die schöne Klara Gärtner zu ehelichen und eine Familie zu gründen. Privat wie beruflich dürfte ihm der Erfolg sicher sein.

Doch es soll anders kommen. Er lehnt die Annäherungsversuche der neuen Tippse ab, ist sie doch viel zu unansehnlich, schlecht gekleidet und verhärmt: ein Inbild des Misserfolgs. Zu seinem Verdruss muss er feststellen, dass sie in die Wohnung neben seiner eingezogen ist. Wie kann sie sich die denn leisten? Sie hat rotes Haar und betörende grüne Augen, die ihn, als sie im Nachthemd auftritt, in Versuchung führen. In einem Alptraum, so kommt’s ihm vor, saugt sie ihm das Blut aus den Adern. Er fühlt seltsamerweise keinen Schmerz, nur eine „tiefe Ermattung“. Schlaf und ein gutes Steak bringen Erhohlung, doch fortan wiederholt sich das nächtliche Phänomen.

Während die Tippse schön und proper gedeiht, verblasst ihr Wirt zusehends. Vergeblich bittet er um Entlassung des Vampirs, wird aber abschlägig beschieden. Nach einem Zusammenbruch bei Klara wird er ins Hospital eingeliefert. Er sieht nur einen Ausweg aus der Misere: Kurz vor seiner Hochzeit mit Klara quartiert er sie zwischen seiner Wohnung und der des Vampirs ein. Nachdem Klara den Löffel abgegeben hat, ist Samassa wieder an der Reihe. In dem Kollegen Iglseder findet er einen würdigen Nachfolger für die arme Klara.

Doch der Strom der Opfer, die er dem Vampir zuführen muss, um selbst überleben zu können, reißt nicht ab und nimmt Formen an, die eines Jack the Ripper würdig wären. Bevor er von der Polizei gestellt wird, sieht er nur noch einen Ausweg: Der Vampir muss dran glauben. Doch wie tötet man einen Unsterblichen?

|Mein Eindruck|

Der Vampir in Gestalt der hexenhaft gezeichneten Frau ist das genaue Gegenteil der wohlanständigen Heiratskandidatin Klara Gärtner, nämlich das Inbild hemmungsloser Lust und Sinnlichkeit. Diese Lust kennt jedoch keine Grenze, als wäre sie ein Traumbild. Vielmehr ist ihr Hunger unersättlich und erfordert immer neue Opfer. Bis schließlich nichts mehr ausreicht, will der Träumer Samassa nicht seine körperliche Existenz vollends verlieren. Ergo muss der Vampir sterben. Dass Samassa einen Teil von sich tötet, dürfte klar sein. Die Folgen sind dementsprechend.

Ein Hörer hat die Geschichte als Reflektion der modernen Zivilisation und ihrer Arbeitsverhältnisse interpretiert. Ein Marxist und Sozialtheoretiker könnte dies tun, würde aber dabei die psychoanalytischen Erkenntnisse eines gewissen Sigmund Freud sowie von dessen Schüler C. G. Jung außer Acht lassen. Der bekannte Wiener Arzt hat ja gerade solche Traumbilder und Extreme ebenso untersucht, wie Jung Archetypen postuliert hat. Eine rothaarige, grünäugige Frau von verlockender Sinnlichkeit und unersättlichem Blutdurst dürfte sämtliche Klischees furchterfüllter Männer mit Kastrationsangst befriedigen. So kommt man dem Kern der Sache schon näher, wie mir scheint. Und ein bajuwarisch-austriakischer Name wie Iglseder verlegt den Schauplatz sehr wahrscheinlich in die gleiche Großstadt, in der Freud wirkte: Wien.

Ähnlich wie „Der Golem“ von Gustav Meyrink oder die Romane „Nachts unter der steinernen Brücke“ und „Zwischen neun und neun“ von Leo Perutz baut die Geschichte sorgfältig ein Spannungsfeld auf zwischen Alltag und Normalität einerseits und nächtlichem Irrsinn andererseits auf. Dass diese Entwicklung in eine Katastrophe münden muss, erscheint folgerichtig. Sie spiegelt die Katastrophe des 1. Weltkriegs wider, der den Untergang der alten Monarchien zur Folge hatte.

_Erzählung Nr. 4: Amelia Reynolds Long: „Der Untote“_

|Autorin #4|

Über das Leben und Werk der Autorin Amelia Reynolds Long ist mir nichts bekannt. Ihre Geschichte folgt klassischen Mustern englischer Spukgeschichten.

HR GIGER über DER UNTOTE: „Während der Arbeit an Vampirric habe ich viel über das Thema Vampire nachgedacht – und über Blut. Ich erinnere mich an eine merkwürdige Vision während einer Autofahrt durch Zürich …“

|Handlung von „Der Untote“|

Henry Thorne erzählt seinem Besucher (und Ich-Erzähler) Michael, der der „Gesellschaft für psychologische Forschung“ angehört, zunächst von seinem verstorbenen Halbbruder, dem Baronet James Thorne, dann von seinem zurückgezogen in einem Turm des Herrenhauses lebenden Bruder George Thorne. Henry selbst hat ein nervöses Leiden, das er kuriert zu haben wünscht. Er fühle sich nämlich bedroht vom Schatten einer großen Fledermaus, von der ihm träume.

Dem Manne kann geholfen werden, denkt Michael. Er erwacht eines Nachts, erblickt auf dem Gang eine Gestalt, die in einen Lederumhang gehüllt ist und eine Laterne trägt. Vor allem ihr weißes Gesicht verstört Michael und er folgt der Gestalt, die in der Bibliothek verschwindet. Doch gleich nebenan liegt Sir Henrys Schlafzimmer. Dort beugt sich das Schattenwesen über den Schlafenden, doch Michaels Eintreten verscheucht es.

Anderntags werden zwei Tote in der Umgebung gefunden: ein Irrer und ein Junge. Handelt es sich um Opfer eines Vampirs? Michael schwant nichts Gutes und stellt dem nächtlichen Eindringling eine Falle.

|Mein Eindruck|

Die Zutaten der Kurzgeschichte von Amelia Reynolds Long sind derart klassisch, dass die Geschichte abläuft, als handle es sich um ein Uhrwerk. Allzu vorhersehbar sind die nächsten Ereignisse, als dass sie dem Kenner noch einen Anreiz bieten würden, neugierig das Ende zu erwarten. Es gibt keinerlei Überraschungen für den, der zwei und zwei zusammenzählen kann und nicht auf fünf kommt.

Selbst Helmut Krauss mit seiner charismatischen Stimme kann nicht viel mehr aus der Geschichte herausholen. Giger selbst, der Herausgeber, trägt nichts Erhellendes oder Reizvolles bei, denn seine Einleitung ist irrelevant.

|Der Sprecher|

Helmut Krauss ist seit Jahrzehnten ein viel beschäftigter Schauspieler. Sie kennen ihn als einen begnadeten Sprecher für fesselnde Hörspiele & prickelnde Literatur. In Hollywood-Filmen schenkt er Marlon Brando & Samuel L. Jackson sonore und beeindruckende Stimmen. Sein männlicher Sound lässt jeden Kino-Saal erbeben.

Helmut Krauss erweist sich als wahres Stimmwunder, wenn er nicht nur Stimmungen und Atmosphäre in seinen rauchigen, getragenen Vortrag legt, sondern er erweckt tatsächlich einen Charakter zum Leben, erschafft eine ganze Stadt um ihn herum und schickt ihm und dem Hörer dann einen fleischgewordenen Albtraum hinzu.

|Unterm Strich|

„Der Vampyr“ ist eine ganz besondere Geschichte für alle Freunde älterer Horrorkunst, die noch ohne viel Blutvergießen auskam. Giger hat hier eine echte Perle ausgegraben.

Nicht ganz so überzeugend wie die erste CD der „Vampiric“-Reihe, ist das Hörbuch doch immer noch weit jenseits der allermeisten anderen Horror-Hörbuchproduktionen und auf alle Fälle ein Kauftipp. Mit der titelgebenden Geschichte hat Giger eine wahre Meistererzählung vor dem Vergessen bewahrt. Dass „Der Untote“ den äußerst positiven Gesamteindruck schmälert, fällt da eigentlich nicht weiter ins Gewicht.

_Vampirric CD #3_

In der dritten Folge von HR Giger´s Vampirric findet sich nur eine Vampirgeschichte, aber die hat es in sich: „Das Grabmal auf dem Père Lachaise“ von Karl Hans Strobl. Es liest David Nathan. Das Vorwort spricht HR Giger. „Es ist eine unvergessliche Horrorgeschichte über Gier, Wahnsinn und Alpträume, die sich jeder selber macht“, behauptet der Verlag.

|Der Autor #5|

HR GIGER: „Dieses Mal erwartet Sie bei Vampirric eine Geschichte von Karl Hans Strobl, der zu Lebzeiten einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren war. Strobl, ein Österreicher, der zusammen mit Meyrink und Ewers zu den wichtigsten deutschen Phantasten des frühen 20. Jahrhunderts zählt, starb 1946. Es ist eine Geschichte über die teuflische Gier, das menschliche Übermaß und den Wahnsinn. Zu welchen Taten den Mensch ein wenig schnöder Mammon nur treiben kann! … Eine wirklich böse Story! Und ich mag böse Storys – Sie nicht auch?“

|Handlung von Erzählung Nr. 5|

„Das Grabmal auf dem Père Lachaise“ besteht im Wesentlichen aus den Tagebuchauszügen des Wissenschaftlers Ernest, der sich, da er bettelarm ist, auf einen äußerst merkwürdigen Deal einlässt: Die am 13.3.1913 – also wenige Jahre zuvor – verstorbene Gräfin Anna Feodorowna Wassilska hat in ihrem Testament verfügt, dass demjenigen Mann zweimal hunderttausend Franken aus ihrem Nachlass gegeben werden sollen, der es schafft, ein Jahr in ihrem marmornen Grabmal auf dem bekannten Pariser Friedhof Père Lachaise zu leben. Hier sind ja etliche Künstler begraben, darunter nicht zuletzt auch Jim Morrison.

Wir brauchen aber für Ernest, den Ich-Erzähler, keinerlei Mitleid zu hegen, denn er ist ein von sich selbst sehr überzeugter Jünger der optischen Physik. Im Grabmal schreibt er sein erstes Buch, das unter anderem auf seinen Aufzeichnungen im Grabmal basieren soll. Hier will er eine Theorie des Lichts aufstellen und untermauern. Von dem nicht unbeträchtlichen Lohn plant er eine Vortragsreise sowie einen Urlaub mit seiner Frau Margause zu finanzieren.

Um Verpflegung während des einen Jahres braucht er sich keine Sorgen zu machen. Iwan, ein „borstiger Tatar“, hässlich wie die Nacht und seiner nun toten Herrin noch immer treu ergeben, versorgt Ernest mit den exquisitesten Speisen, doch soll dies gemäß Testamentsbestimmungen der einzige Kontakt sein, den der Wissenschaftler pflegen darf. Schon bald nimmt der Leibesumfang des Grabbewohners erheblich zu. Soll er etwa gemästet werden? Der Tatar gibt keinen Piep von sich. Er erinnert Ernest lieber an die Geschichte vom nekrophilen Sergeanten, der auf dem Friedhof sein Unwesen treiben soll.

Doch auch das in der Gruft bestattete Frauenzimmer verdient unser Mitgefühl nicht. Ein Vamp bleibt eben ein Vamp. Die Madame Wassilska muss nach dem Bild, das Ernest uns zeichnet, nicht nur mannstoll wie Katharina die Große gewesen sein, sondern obendrein reichlich brutal und grausam. Einen Bäckerlehrling biss sie beispielsweise zweimal, so dass er lieber Reißaus nahm. Ihren Bediensteten, etwa wehrlosen Kammerzofen, trieb sie Nadeln ins Fleisch. Auf ihrem Foto fallen Ernst die ungewöhnlich „grausam weißen“ Zähne auf …

In der Gruft ereignen sich unerklärliche Phänomene. Obwohl kein Wind ging, sind Ernests zahlreiche und wohlsortierte Notizzettel durcheinander gewirbelt. Ein grünliches Leuchten geht vom Stein des eigentliches Grabes und der bronzenen Grabplatte aus – sehr interessant, gerade für einen Optophysiker. Handelt es sich etwa um Röntgenstrahlen oder gar um den mysteriösen Äther? Wirken hier intermolekulare Kräfte? Die Steinstruktur selbst scheint sich regelmäßig um Mitternacht in Gallert zu verwandeln. Der Gallert brennt auf der Haut. Das ist für Ernest aber auch nichts Neues, denn polnische Experimente im galizischen Lemberg beschreiben ein ähnliches Phänomen.

Richtig ernst wird’s für Ernest aber erst, als er nicht mehr durch den schmalen Zugang zur Gruft passt: Er ist so gemästet worden, dass er zum Gefangenen der Gruft geworden ist. Nach dem Allerseelentag stellt er fest, dass er gebissen und ausgesaugt wurde. Geradezu elend fühlt er sich, als er einen Zettel findet, auf dem eine Botschaft steht: „Der Atem der Katechana“.

Iwan verrät ihm auf seinen Drängen hin, dass es sich bei der „Katechana“ um die Gräfin handelt: „eine, die nie genug haben kann vom Opfer der Mannheit, bis jenseits des Todes“. Ernest beschleicht ein übler Verdacht: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Verflüssigung der Grababdeckung, dem grünen Leuchten und den allnächtlich wiederkehrenden Bissen in seinem Hals?

|Mein Eindruck|

Na, servus! Mit Physik hat dies wohl weniger zu tun als vielmehr mit Metaphysik. Schon solche antiquierten Begriffe wie der noch um 1900 herum postulierte „Äther“ als universelles Trägermedium kennzeichnen den Wissensstand des „Helden“ als einen Physiker, der immer noch auf der Schwelle zur Metaphysik steht. Und wenn es nicht um sehr viel Geld ginge, das ihn korrumpiert, hätte er sich wohl kaum auf eine solch makabre Forschungsstätte eingelassen, die eines echten Physikers schwerlich würdig ist.

Der eng umgrenzte Raum des Grabmals ist ein exzellentes Experimentierfeld: Hier treffen zwei Zeiten und Kulturen aufeinander. An der Nahtstelle zwischen modernem Leben und uralter Totenkultur treffen sich der wissenschaftlich-rational orientierte Westen mit dem weitaus mysteriöseren Osten des europäischen Kontinents, mit den alten legenden Asiens von den Vampyri. Von diesen Wesen hat Ernst offensichtlich noch nichts gehört, denn alle seine Erklärungsversuche und haltlosen Theorien betreffen nur Bildungsbruchstücke, gehen aber an dem eigentlichen Phänomen weit vorbei. Umso genauer treffen sie den Leser bzw. Hörer, der sich allmählich seinen eigenen Reim darauf machen muss. Umso wirkungsvoller ist das Grauen, das sich im Hörer unterschwellig breitmacht.

Bereits die Charakterisierung der Gräfin sollte Ernest einen wichtigen Hinweis liefern: eine männermordende Nymphomanin mit grausamen Zügen; mit „grausam weißen“ Zähnen und „Fingern wie Klauen“. Dazu passen die klassischen Versatzstücke wie etwa die Gruft, Nekrophilie, ewiger Hunger über den Tod hinaus, Bissmale, sich zersetzende Materie, der stumme Diener, ein Todeshauch, unheimliches Leuchten und dergleichen mehr. Doch der Vampir selbst ist, wie sich zeigt, weit mehr als nur ein materielles Phänomen. Er dringt in den Verstand seines Opfers und beschwört allerlei Trugbilder.

Ernst ist jedoch beileibe kein tumbes Opferlamm. Natürlich darf zwar der actionreiche Schluss nicht verraten werden, aber der als Opfer Auserkorene weiß sich durchaus wirkungsvoll seiner lädierten Haut zu wehren. Obwohl die Ereignisse im Grabmal auf eine Krise zutreiben, so verblüfft doch das Ausmaß der nun gebotenen Action den auf sachten Grusel eingestimmten Zuhörer.

|Der Sprecher|

David Nathan ist Regisseur und gilt außerdem als einer der besten Synchronsprecher Deutschlands. Im deutschsprachigen Kino erlebt man ihn als Synchronstimme von Johnny Depp, „Spike“ oder Christian Bale. Auch auf den Webseiten zu den „Drei ???“ findet man seinen Namen einschlägig erwähnt. Nathan hat für LPL records bereits eine Erzählung auf der Hör-Anthologie „Necrophobia 1“ gesprochen, außerdem tritt er auf „Das Ding auf der Schwelle“ und „Der Schatten über Innsmouth“ in Erscheinung. „Das Grabmal“ wird von ihm souverän und mit einer zunehmenden Eindringlichkeit vorgetragen, der man sich nur sehr schwer entziehen kann.

Ich konnte nur einen Aussprachefehler feststellen: Müsste der Name des bekannten Physikers und Mathematikers Henri Poincaré nicht französisch statt englisch ausgesprochen werden?

|Unterm Strich|

In seinem Aufbau ist „Das Grabmal“ offensichtlich an viele der Frauenerzählungen von Edgar Allan Poe angelehnt. Ob nun die vampireske Lady Ligeia, Morella, Eleonora oder wie sie alle heißen – es ist eine unheimliche Frauengestalt, die durch ihren Bann den ihr psychisch oder emotional ausgelieferten Mann erst um den Verstand und dann um sein armseliges Leben bringen wird. Das psychische Band ist jedoch bei Strobl durch physikalische bzw. metaphysische Phänomene ersetzt, was die Story zwar moderner, aber weitaus weniger romantisch macht.

Die andere Komponente, die Poe entspricht, ist die Bemühung der Hauptfigur, all die seltsamen Phänomene, die er beobachtet oder am eigenen Leib erfährt, wegzurationalisieren (im Sinne von „ratiocination“ à la Auguste Dupin), indem er die Erkenntnisse der Naturwissenschaft anführt. Diese geistigen Waffen gegen Geister einzusetzen, erweist sich selbstverständlich (und ironischerweise) als völlig zwecklos. Die immaterielle Welt obsiegt über die kläglichen Versuche, sie mit Erkenntnissen aus der materiellen Welt zu erklären. Insofern ist diese Erzählung wiederum zutiefst romantisch.

Stellt man Modernität und Romantizismus nebeneinander, so ergibt sich der Eindruck einer Erzählung, die einer Zeit des Übergangs entspricht. Gut möglich, dass sie unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs entstand, als die alte, so wohlgeordnet erscheinende Welt der Monarchien und des Großbürgertums unter den Stiefeltritten faschistischer und kommunistischer Bewegungen verschwand. Es dürfte wohl kein Zufall sein, dass die Gräfin Wassilska als Vertreter eines absolut herrschenden Adels genau im Vorjahr des Kriegsausbruches das Zeitliche segnete und fortan ihre Grabinsassen als Vampir beehrt – böser Schatten einer versunkenen Welt. Adieu, belle epoque!

Das Hörbuchs inszeniert diese reichhaltige Erzählung mit angemessenen Mittels. Besonders der Sprecher David Nathan vermittelt die unterschwellige Botschaft ausgezeichnet mit seinem Vortrag.

_Vampirric CD #4_

In der vierten Folge von HR Giger´s Vampirric findet sich die Vampir-Geschichte „Der Horla“ von Guy de Maupassant. Es liest Torsten Michaelis. H. R. Giger spricht wie auf den vorigen CDs persönlich das Vorwort und läutet so auf seine ganz persönliche Art das Grauen ein.

|Der Autor #6|

Guy de Maupassant lebte von 1850 bis 1893. „Der aus lothringischem Adel stammende, in der Normandie aufgewachsene Maupassant war nach Jurastudium und Teilnahme am Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 im Marine-, dann im Unterrichtsministerium tätig. Nach dem Erfolg der Novelle „Boule de suif“ (1880, dt. „Fettklößchen“, 1900) widmete er sich ganz der Schriftstellerei.

Die Bandbreite seiner fast 300 Novellen reicht von traditionellen schwankhaften Dreiecksgeschichten über die seit der Romantik beliebten Schauernovellen und phantastischen Erzählungen, meist tragisch endende Liebesgeschichten bis hin zu sozialkritischen Novellen. Er veröffentlichte sechs Romane, von denen „Bel Ami“ (1885) verfilmt wurde. In seinem Stilwillen und seiner Freiraum lassenden Erzählhaltung kommt Maupassant seinem literarischen Ziehvater Gustave Flaubert nahe, mit dem er auch die pessimistische Weltsicht teilt.“ (zitiert nach: Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, S. 1945/46).

|Der Sprecher|

Ich kenne Torsten Michaelis als den Synchronsprecher von Wesley Snipes. Durch sein Spektrum an verschiedenen Klangfarben wird er für die unterschiedlichsten Rollen eingesetzt. Er kann auf über 400 synchronisierte Filme zurückblicken.

|Handlung von Erzählung Nr. 6|

Die Geschichte folgt der Form eines Tagebuchs. Der erzählte Zeitraum erstreckt sich über einen Sommer, von Mai bis September. Der Ich-Erzähler erzählt am 8. Mai von seiner ländlichen Heimat in der Nähe von Rouen, von wo er die Glocken der großen Kathedrale läuten hört. Unweit der idyllischen Ufer der Seine befindet sich der elterliche Landsitz. Auf der Seine betrachtet er die schönen Schiffe, darunter welche aus dem fernen Brasilien …

Nur wenige Tage später verspürt er eine seltsame Traurigkeit, Gereiztheit und später Fieber. Ihn beschleicht das Gefühl drohender Gefahr und er macht sich Gedanken um das „Mysterium des Unsichtbaren“: Der Mensch kann weder das unsichtbar Kleine, etwa Mikroben, noch das unendlich weit Entfernte sehen, etwa Galaxien.

Nach einem ergebnislosen Arztbesuch hat er einen Albtraum, dass ihn ein Dämon würgt, der ihm auf der Brust sitzt und den er nicht abzuschütteln vermag. Dies wiederholt sich Nacht für Nacht, bis ihn sogar tagsüber das Gefühl beschleicht, verfolgt zu werden. Wird er wahnsinnig?

Auf einer Kurreise zum Mont St. Michel erzählt ihm ein Mönch von Geisterstimmen. Nach der Rückkehr – es ist Anfang Juli – geht der Albtraum von Neuem los. Als er bemerkt, dass seine Wasserkaraffe am nächsten Morgen leer ist, fragt er sich, ob er nicht selbst ein Schlafwandler ist. Einfache Versuche mit der Karaffe bestätigen ihm jedoch, dass es ein anderes Wesen sein muss, das das Gefäß leert.

Doch welche Art von Wesen vermag zugleich unsichtbar zu sein und ihm die Lebenskraft auszusaugen?

|Mein Eindruck|

Die berühmte Erzählung thematisiert den Horror, der damit verbunden ist, dass eine unsichtbare, fremde Macht parasitär Besitz von einem Menschen ergreift und ihn zu Taten zwingt, die er gar nicht begehen will. Wohlgemerkt, hier geht es nicht nur um den Entzug von Lebenskraft, wie ihn der altbekannte, inzwischen schon heimelig wirkende Vampir praktiziert. Hier geht es vielmehr auch um die Inbesitznahme von Willen und Verstand des Opfers. Der solcherart Besessene wird quasi ferngesteuert, nur mit dem Unterschied, dass der Steuernde im Kopf seines Instrumentes sitzt.

Der Autor zieht die damals bekannten Techniken der psychischen Steuerung heran, nämlich die als Mesmerismus etc. bekannte Hypnose, insbesondere den posthypnotischen Befehl, etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt auszuführen. Der Erzähler wird selbst Zeuge eines solchen Psycho-Experiments an seiner Schwester, als er in Paris weilt, wo man den Dingen des Unsichtbaren normalerweise abgeklärt gegenübersteht. Als er seine eigene Notlage erklären will, um Hilfe zu erlangen, wird er daher ausgelacht.

Auf sich selbst zurückgeworfen, muss er umso angestrengter danach trachten, seinen Meister, den er inzwischen den „Horla“ nennt, zu besiegen. Sein Anstrengungen kann man einfach nur heldenhaft und einfallsreich nennen, wenn sie auch auf tragische Weise Neben-Opfer fordern. Was aber, wenn der Horla unsterblich ist und selbst den letzten Vernichtungsversuch überleben könnte?

Ein Aspekt, der in meinen Augen diese Geschichte aus dem Umfeld der Vampirstorys heraushebt, ist die Überlegung, dass der Horla a) der Nachfolger der Spezies Mensch auf der Erde ist und b) von den Sternen kommt. Beide Vorstellungen sind bislang der Science-Fiction vorbehalten geblieben, doch Maupassant hat sie bereits geäußert, lange bevor H. G. Wells 1898 seinen Invasionsroman „Krieg der Welten“ veröffentlichte, der fortan das Klischee vom Alien-Monster bestimmen sollte.

|Der Sprecher|

Manche Sprecher lesen eine Geschichte nur vor, manche aber spielen sie vor. Torsten Michaelis gehört mit „Der Horla“ zur zweiten Kategorie. Da der Schurke im Stück ja unsichtbar und quasi un(an)greifbar ist, gehört eine Menge Darstellungsvermögen dazu, die Reaktionen auf dieses Un-Wesen herauszustellen, um wenigstens auf diesem indirekten Wege den Horror, den es verbreitet, zu vermitteln. Und Michaelis gelingt dies auf sehr eindringliche Weise.

Man würde auch nicht unbedingt annehmen, dass sich die Form des Tagebuchs für eine dramatische Schilderung von Horror eignet. Doch hier ist eben der Knackpunkt: Der Horror ist rein psychologisch statt äußerlich (außer an einer Stelle). Deshalb ist es umso wirkungsvoller, dass Michaelis bestimmte Passagen im Tempo ebenso moduliert wie in der Tonlage und der Tonstärke. Mal liest er langsam, mal schnell, dann wieder leise oder laut. Auf diese Weise erzielt er nicht nur den gewünschten eindringlichen Effekt, sondern hält auch unsere Aufmerksamkeit wach.

|Unterm Strich|

Die beiden wirkungsvollsten und besten Erzählungen in der Vampirric-Reihe sind zweifellos „Das Grabmal auf dem Père Lachaise“ und „Der Horla“. Welche von den beiden nun die „bessere“ ist, hängt von der individuellen Vorliebe des Hörers ab. „Das Grabmal“ ist anschaulicher, szenischer aufgebaut und bedient weitaus mehr Klischees aus der Vampirliteratur.

Mit Vampiren dieser Art hat „Der Horla“ nichts am Hut. Auch die Bezeichnung „Vampir“ fällt kein einziges Mal. Und doch geht „Der Horla“ weiter als „Das Grabmal“, indem er den Horror, der von der Besessenheit durch ein Fremdwesen von den Sternen ausgeht, nicht nur zu einem globalen, aber weltimmanenten Grauen aufbauscht, sondern es sogar zu einem kosmischen Grauen à la Lovecraft ausbaut. Die Horlas werden Menschen ablösen – gibt es eine größere Horrovision? Und all dies ist mit einer Stilsicherheit erzählt und mit anschaulichen Beispielen gespickt, dass auch der Durchschnittsleser noch etwas damit anfangen kann (sofern er nicht Splatterfan ist).

Der Sprecher Torsten Michaelis macht mit seiner Präsentationskunst „Der Horla“ praktisch schon zu einem Hörspiel, und Geräusche und Musik kann man sich leicht hinzu denken, denn die Erzählung ist dafür anschaulich genug. Schaurig, so vermittelt es der Sprecher, ist auch das Finale der Novelle, wenn der Erzähler die letzte Konsequenz aus dem Erfahrenen erkennt und zieht. Das hat Klasse.

_Fazit_

Die vier CDs bieten reichlich Abwechslung in Sachen Vampirismus und Untote. Für Freunde des gepflegten Grusels dürfte dies sicherlich das Richtige sein. Lediglich die ersten beiden CDs sind etwas schwächer geraten, die CDs 3 und 4 hingegen umso besser.

Für denjenigen, der bereits die ersten Ausgaben von „Vampirric“ besitzt, bietet die Sammlerbox allenfalls Platzersparnis, denn es handelt sich lediglich um ein Repackaging der gleichen CDs in einem anderen Design, nämlich dem der |LPL-records|-Reihe: ein Dunkelrot in Kombination mit Schwarz und Gelb. Man vergleiche dies beispielsweise mit der „Necrophobia“- und „Necroscope“-Reihe.

Der Preis ist mit rund 25 Euronen angesichts dieser Recycling-Methode doch etwas happig geraten. Nur für denjenigen, der noch keine einzige Vampirric-CD hat, erscheint er wohl akzeptabel.

|4 CDs, 307 Minuten|

Marina Lewycka / Claudia Kattanek / Oliver Sturm – Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch (Hörspiel)

Valentina und der stotternde Traktorenmotor

Buchzitat: |“Zwei Jahre nach dem Tod meiner Mutter verliebte sich mein Vater in eine berückende blonde Frau aus der Ukraine. Er war vierundachtzig, sie sechsunddreißig. Wie eine flauschige rosa Granate schoss sie in unser Leben, wirbelte trübes Wasser auf, brachte den ganzen Morast längst versunkener Erinnerungen wieder an die Oberfläche und trat unseren Familiengespenstern kräftig in den Hintern.“| Die Schreiberin dieser Zeilen ist entsprechend entgeistert. Zusammen mit ihrer Schwester Vera unternimmt Nadia alias Nadeschda alles, um ihren Vater vor der kommenden Katastrophe zu bewahren. Doch der ist immer noch schwer verliebt …

Die Autorin

Marina Lewycka, aus einer ukrainischen Familie stammend, wurde 1946 in einem Flüchtlingslager in Kiel geboren und kam mit ihren Eltern von dort aus nach England. Sie ist verheiratet, lebt in Sheffield und unterrichtet an der Universität. [„Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ 2970 ist ihr erster Roman, für den sie in England gefeiert wurde und der sich zum internationalen Bestseller entwickelte. 2007 ist ihr zweiter Roman „Caravans“ erschienen.

Die Sprecher / Die Inszenierung

Der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) produzierte dieses Hörspiel im Jahr 2007.

Die Sprecher und ihre Rollen

Elisabeth Trissenaar: Vera
Lena Stolze: Nadeshda
Traugott Buhre: Vater
Jeanette Spassova: Valentina
Und viele andere.

Lena Stolze (Nadeshda), 1956 geboren, stand nach ihrer Ausbildung am Max-Reinhardt-Seminar auf sämtlichen deutschen Bühnen. Der Durchbruch gelang ihr 1982 mit dem Kinofilm „Die weiße Rose“ , der unter anderem mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet wurde. Eine weitere Zusammenarbeit mit Michael Verhoeven brachte ihr 1990 für „Das schreckliche Mädchen“ sogar die OSCAR-Nominierung ein. 2002 trat sie in Trottas „Rosenstraße“ neben Katja Riemann auf. Neben ihrer Schauspielkarriere gehören auch Lesungen, Moderation, Hörspiele und Features zu ihrem breiten Tätigkeitsfeld.

Elisabeth Trissenaar (Vera), geboren in Wien, absolvierte ihre Ausbildung am Max-Reinhardt-Seminar. Bevor sie 1965 Fassbinder bei der Inszenierung von Handkes „Die Unvernünftigen sterben aus“ begegnete, arbeitete sie vor allem mit ihrem Ehemann, dem Regisseur Hans Neuenfels, zusammen. Bei Fassbinder spielte sie Rollen in „Bolwieser“ (1977), „Die Ehe der Maria Braun“ (1979) und „Berlin Alexanderplatz“ (1980). Neben zahlreichen TV-Rollen war sie zuletzt in der Verfilmung von Ingrid Nolls Roman „Kalt ist der Abendhauch“ zu sehen. Sie lebt heute in Berlin.

Traugott Buhre (Vater), 1929 geboren, ist einer der großen Charakterdarsteller des deutschsprachigen Theaters. Dem Fernsehpublikum ist er durch zahlreiche Gastauftritte in der Krimiserie „Derrick“ und in den „Tatort“-Produktionen bekannt.

Jeanette Spassova (Valentina) arbeitet vor allem als Schauspielerin. Sie ist fest im Ensemble der Berliner Volksbühne engagiert. Im Fernsehen war sie in „Des Teufels General“ (1997) und in „Dämonen“ (2000) zu sehen. Als Hörfunksprecherin hat sie sich vor allem durch das Hörspiel „Mosaik“ von Klaus Buhlert einen Namen gemacht, das 2005 zum Hörspiel des Jahres gewählt wurde.

Die Hörspielbearbeitung stammt von Claudia Kattanek, die Musik von Gerd Bessler, Regie führte Oliver Sturm. Für Ton und Technik waren André Lüer, Christian Grund und Holger Kliemchen zuständig.

Handlung

Eines Tages, als Nadeshda Majeski 47 und ihr Vater schon 84 ist, bekommt sie einen überraschenden Anruf: Vater will nochmal heiraten – kaum ist ihre Mutter zwei Jahre unter der Erde. Und was für eine Braut das ist! Valentina Dubova, 36, ist eine blonde Sexgranate mit Atombusen, frisch aus der Ukraine. Und ein Kind hat sie auch: Stanislaus. Nadeshda (= russisch für „Hoffnung“) ruft fassungslos sofort ihre ältere Schwester Vera (= Glaube) an, um zu beraten, was zu tun ist.

Doch die Schwestern sind grundverschieden und müssen sich erst einmal zusammenraufen. Vera ist realistisch und noch im Krieg geboren (also schon über 55), Nadeshda wird von Vera eine Träumerin und Weltverbesserin genannt. Vera durchschaut Valentina sofort: „Sie will bloß einen britischen Pass und dann abhauen.“ Nadeshda hofft hingegen, dass Vater in seinem Alter nochmal sein privates Glück findet, aber Vera denkt, dass es Valentina nur ums Geld geht.

Am 1. Juni findet die Trauung in einer katholischen Kirche statt, doch die Schwestern sind nicht eingeladen. Von ihrem Vater erfährt Nadeshda, dass er scharf auf Valentina und ein Kind von ihr will. Aber vorerst wohnt sie noch bei einem Nachbarn. Derweil schreibt Dad an seiner „Kurzen Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ weiter, denn er war früher technischer Zeichner in einer Traktorfabrik und hält 16 Patente.

Um der Sache auf den Grund zu gehen, fährt Nadeshda von ihrer Uni in Cambridge 80 Kilometer nach Peterborough zu Daddy, um Valentina anzusehen. Mein Gott, was für ein Busen! Greller Lippenstift, gefärbte blonde Haare – sie berichtet Vera alles brühwarm. Und zu essen gab es Tiefgekühltes – würg!

Eine erste Ehekrise wegen Valentinas Geldausgaben wird noch beigelegt. Sie hat nicht nur einen Rover, sondern auch einen Lada – für ihren Bruder, sagt sie. Sie telefoniert für 700 Pfund im Monat in die Ukraine. Seine Töchter raten Mr. Majeski, das Telefon abzustellen, aber es nützt nichts. Er muss auch noch einen neuen Herd kaufen, einen braunen, keinen weißen. Vera und Nadeshda wird sonnenklar, dass sie sowohl Dad retten müssen als auch das Haus, bevor Valentina so viele Schulden aufhäuft, dass der Gerichtsvollzieher aufkreuzt.

Valentina muss weg! Sie schalten den Anwalt ein und beknien Daddy, die Scheidung einzureichen. Aber die Prozedur stellt sich als gar nicht so einfach heraus. Und als auch noch Valentinas Ex-Mann Herr Dubov, selbst ein Ingenieur, auftaucht, gibt es es eine dicke Überraschung. Denn er versteht sich prächtig mit Daddy …

Mein Eindruck

Die vordergründige Handlung folgt altbekannten Mustern aus der „Frauenliteratur“ (darf man so heute überhaupt noch sagen?). Eine Ausländerin, noch dazu mit größeren weiblichen Attributen ausgestattet, will den Töchtern, die mehr oder weniger (eher weniger) zufrieden leben, ihren Daddy wegnehmen. Eh klar, dass dahinter weniger die ernsthafte Eheabsicht steht – er ist schließlich schon 84! – als vielmehr die Erschleichung von Staatsangehörigkeit und entsprechender Unterstützung von staatlicher Seite.

Dass solchem Betrug ein Riegel vorgeschoben werden muss, versteht sich ja wohl von selbst. Meint zumindest Vera, die ältere der beiden Töchter. Doch Nadja ist liberal gesinnt und nicht ohne weiteres zu einschneidenden Maßnahmen bereit. Und schließlich hat es Valentina ja offenbar nötig. Erst die weiteren Tatsachen ernüchtern sie, dass es im Leben weitaus weniger romantisch als in ihren liberalen Träumen zugeht.

All das ist derartig klischeehaft, dass ich es nicht sonderlich lustig oder gar interessant fand, egal, was die Gazetten und das Verlagsmarketing behaupten. Etwas anderes ist hingegen der Zweck des Geschehens. Da der Kampf gegen Valentina nur mit vereinten Mitteln geführt werden kann, kommen sich die zerstrittenen Töchter Vera und Nadja zunehmend näher, bis sie eines Nachts, der Gipfel der Not, zusammen im gleichen elterlichen Zimmer nächtigen. Endlich können sie sich etwas erzählen.

In den kalten Jahren

Erst hier, ziemlich spät in der Geschichte, stieß ich auf eine Hintergrundgeschichte, die das Buch erst lesenswert macht. Wie die Autorin ist auch Vera, ihr Alter Ego, eine Vertriebene. Als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg die Ukraine besetzten (deren Regierung mit ihnen sympathisierte), wurden bestimmte Personenkreise in KZs für Zwangsarbeiter deportiert, darunter auch Vera und ihre Eltern. Unter den Insassen herrschte eine strenge Hierarchie, die seltsamerweise von einem sechzehnjährigen Jungen beherrscht wurde: Kischka. Er ließ sich in der globalen Währung Zigaretten bezahlen, sozusagen seine Schutzgeldsteuer. Alle außer Vera zahlten. Denn deren Eltern waren Nichtraucher. Als Vera anderen Arbeitern Zigaretten stahl, wurde sie bestraft, doch dann stahl sie auch ein Päckchen aus der Jacke eines Wachmanns, und diesmal verteidigte Veras Mutter ihre Tochter. Als Folge daraus wurde beide in den Strafblock gesteckt, und der Aufenthalt dort muss so schlimm gewesen sein, dass Vera nicht darüber reden will – oder kann.

Kriegskind vs. Friedenskind

Das Fazit jedenfalls ist, dass Vera als „Kriegskind“ darauf aus ist, das festzuhalten, was sie hat, Nadja aber als „Friedenskind“ eine freigebigere Grundeinstellung an den Tag legt. Sie kann sie sich ganz einfach leisten. Jedenfalls bis Valentina auftaucht und beide Grundhaltungen auf die Probe stellt. Interessant ist deshalb die Einstellung der älteren Generation, verkörpert in dem Vater der beiden. Er ist nicht nur gegenüber Valentina nachsichtig, sondern auch gegen ihren Ex-Mann großzügig. Sein Verhalten erst beschert Valentina und Dubov – und deren Töchterchen – ein zufriedenes Eheleben mit gutem Einkommen.

Insgesamt ist der Roman also eine Lehre über Dankbarkeit, Teilen und die Angst, dadurch alles zu verlieren. In einem Einwanderungsland wie Großbritannien kommt diese Lehre sicherlich gut an, und wenn man sich die Verkaufszahlen in Deutschland anschaut, so ist zu vermuten, dass diese Botschaft auch hierzulande nicht auf taube Ohren stößt.

Die Sprecher / Die Inszenierung

Die Inszenierung des Hörspiels setzt einerseits auf die Emotionalität von Musik, andererseits versteht sie es aber auch, bestimmte Geräusche wirkungsvoll einzusetzen.

Die Musik

Man könnte sogar fast sagen, dass die Musik auf gleiche Weise wie die Geräusche eingesetzt wird. Ab und zu erklingt eine russische Melodie, doch viel öfter noch betonen ein Basslauf und eine Trommel, dass nun eine spannende Situation bevorsteht. Wenn jedoch ein Trommelwirbel ertönt, so klingt dies mehr nach Zirkusakt: Achtung, jetzt kommt etwas Besonderes! Dieser Effekt wird ganz bewusst eingesetzt. Fehlt nur noch der Auftritt des Clowns. Dies deutet an, dass die Inszenierung die Geschichte als „Comedy of manners“ inszeniert. Hier darf sich jeder zum Narren machen, besonders in Sachen Liebe, aber es gibt auch romantische Momente. Auffällig ist die völlige Abwesenheit von Musik und Geräuschen während Veras erschütternder KZ-Erzählung. Hier zollt die Tonregie dieser ernsten Geschichte ihren Respekt.

Die Geräusche

Meistens klingelt das Telefon. Und es klingelt dauernd, wenn Vera und Nadja sich etwas zu sagen haben, oder wenn sie ihren verliebten Vater zur Räson bringen wollen. Noch öfter allerdings stottert, pufft und rattert der Motor eines Traktors. Womit wir endlich beim Generalthema der Geschichte angelangt wären. Der Traktor ist als Landmaschine hier sowohl ein Symbol der Kultur- und Technikgeschichte (der alte Nikolai ist schließlich Ingenieur) als auch eine Metapher für das Funktionieren der menschlichen Gesellschaft.

Arbeiten alle – wie in einer Kolchose – gut zusammen, läuft der Rhythmus der Maschine rund. Doch wehe, einer kommt mal aus dem Tritt, dann dauert es eine Weile, bis der Motor anspringt. Die Komödie darf sich erlauben, das Funktionieren auch auf die Biologie zu übertragen. Als sich erweist, dass der alte Nikolai impotent ist, springt der Motor nicht mehr an. Valentina sagt dazu in ihrer unvergleichlich unverstellten Ausdrucksweise „schluffi-schlaffi“. Recht hat sie.

Die SprecherInnen

Ich fand die Rollen alle ausgezeichnet passend besetzt. Die Vera hat einen harten, leicht habgierigen Ton in ihrer Stimme, die Nadeschda hingegen eine sanfte, etwas besorgte Ader. Ihr Vater ist keineswegs der zu erwartende Methusalem, der seine verbliebenen Hirnzellen einzeln zählen kann, sondern reichlich rüstig und voll präsent, wenn auch ganz schön verliebt. Wie zu erwarten, ist Valentina ordinär, vulgär im Ausdruck und mit einem dicken russischen Akzent gesegnet. Alle anderen Rollen spielen nur eine untergeordnete Rolle und keine davon fiel mir besonders auf.

Unterm Strich

Die Geschichte könnte sich so in zahlreichen Ländern abspielen, wo sich Wirtschaftsflüchtlinge und Asylanten nach einem neuen Leben sehnen – oder auch nur nach der Wohlfahrt. Von daher bietet sie ebenso wenig Neues wie aufgrund der Rollenbesetzung. Bemerkenswert wird die Geschichte jedoch dadurch, dass sie die vermeintlich arrivierten Bürger des Landes, das von einer ukrainischen Invasion namens Valentina Dubova heimgesucht wird, daran erinnert, dass sie selbst einst Einwanderer und Flüchtlinge waren.

Dies liefert den Anlass für einen ernst gemeinten Rückblick über Veras Zeit im Lager für Zwangsarbeiter. Vor diesem ernsten Hintergrund bekommt die ansonsten leichtfüßige Komödie der Sitten ein Fundament, das sie aus dem Durchschnitt heraushebt und dem Leser bzw. Hörer Anlass gibt, doch einmal über die Themen Teilen, Dankbarkeit, von mir aus auch Völkerverständigung nachzudenken. Spannend ist die Komödie nur mäßig, doch es gelingen ihr einige überraschende Wendungen, die in ein Happy-End münden, wie es sich gehört.

Das Hörspiel setzt voll auf die Komödienschiene. Deshalb überrascht der ernste Einschub von Veras Geschichte umso mehr und erzeugt eine Spannung, die erst wieder durch das Happy-End aufgehoben wird. Geschickt wird auch die Familiengeschichte eingeflochten – da heißt es „Ohren spitzen!“. Witzig ist der Einsatz des Motorengeräuschs eines alten Traktors (eine tongeschichtliche Ausgrabung), das eine mehrschichtige Symbolik annimmt.

Auch wenn das Hörspiel weder ein Ohrwurm noch ein akustischer Augenöffner ist, so lohnt sich doch ein zweites Anhören, allein schon, um die mehrschichtig angelegte Familiengeschichte mitzubekommen. Erst wenn man behaupten kann, all die verstreuten Puzzleteile richtig einsortiert zu haben, kann man wohl die verdichtete Präsentation der Geschichte richtig würdigen.

Originaltitel: A short history of tractors in Ukrainian, 2005
Aus dem Englischen übersetzt von Elfi Hartenstein
68 Minuten auf 1 CD

http://www.hoerverlag.de

Siehe ergänzend dazu unsere [Rezension 2970 zur Buchausgabe.

John Christopher – Tripods 1: Dreibeinige Monster auf Erdkurs (Lesung)

Klassiker der Jugendbuch-SF

England etwa hundert Jahre nach 1967. Große Städte gibt es nicht mehr, die Menschen leben in einfachen Verhältnissen wie im Mittelalter. Sie dienen den dreibeinigen Herrschern mit einer fanatischen Begeisterung, die mit der „Weihe“ zum 14. Lebensjahr beginnt.

Der 13-jährige Will beobachtet, dass sich sein Freund Jack nach diesem Ritus eigenartig verändert hat. Als ein „Wanderer“ in sein Dorf kommt und von den letzten, frei denkenden Menschen in den Weißen Bergen (= Alpen) erzählt, flieht Will vor seiner eigenen Weihe. Er findet zwei Gefährten und macht sich auf den weiten und gefahrenreichen Weg in die Weiße Berge. Werden ihn die dreibeinigen Herrscher aufhalten?

Der Autor

John Christopher, Jahrgang 1922, schreibt seit 1949 Romane, die weltweit übersetzt und verfilmt wurden. 1976 erhielt er den Deutschen Literaturpreis für „Die Wächter“ („The Guardians“). „The Tripods“ wurde u. a. ausgezeichnet mit dem NEBULA-Award und dem Preis der Zeitung |The Guardian|. Kultstatus erlangten die „Tripods“ nicht zuletzt durch die BBC-Fernsehserie in den frühen 80er Jahren. Eine Kinoneuverfilmung unter der Regie von Gregor Jordan ist in Planung.

1) Dreibeinige Monster auf Erdkurs
2) Das Geheimnis der dreibeinigen Monster
3) Der Untergang der dreibeinigen Monster

Der Komponist

Ken Freeman begann seine musikalische Karriere im Alter von 16 Jahren. In den 1960er Jahren lernte er so viel über Elektronik, dass er kurz darauf seinen eigenen Synthesizer entwarf. 1976 arbeitete er mit dem Produzenten Jeff Wayne an einer Adaption von H.G. Wells‘ [„Krieg der Welten“. 1475 Danach komponierte er fürs Fernsehen. Seine Musik für einen BMW-Werbespot erregte die Aufmerksamkeit des TV-Produzenten Richard Bates, der Freeman als Komponisten für die neu geplante TV-Serie „The Tripods“ (s. o.) engagierte. Mehr Info: http://www.topnote.co.uk (ohne Gewähr).

Die Tonbearbeitung erfolgte durch Patrick Ehrlich vom studio__wort, Berlin. Bearbeitung und Regie lagen in den Händen von Dirk Kauffels.

Der Sprecher

Torsten Michaelis, Jahrgang 1961, spielt Theater (u. a. am Deutschen Theater und am Carrousel-Theater in Berlin), arbeitet als Synchronsprecher und -regisseur (u. a. an „CSI Miami“) und dreht Fernseh- und Kinofilme (u. a. 2004 „NVA“ von Leander Haußmann). Bekannt wurde er vor allem als deutsche Stimme von Wesley Snipes.

Durch seine Palette an verschiedenen Klangfarben setzt man ihn für die unterschiedlichsten Synchronrollen ein. Seit seinem 7. Lebensjahr leiht er den Film- und Fernsehfiguren seine Stimme, u. a. in „Das 5. Element“, „Leaving Las Vegas“, „Species“, „Charmed“, „Jackie Brown“, „Armee der Finsternis“, „The Stand“, „Star Trek“, „True Lies“, „Nip Tuck“ und natürlich „Blade“ (mit Wesley Snipes). Nebenbei ist Michaelis als Hörbuch-Interpret tätig.

Handlung

Jahre nach der Eroberung der Erde durch die dreibeinigen Herrscher trifft sich Will Parker, 13, wieder mal mit seinem besten Freund Jack. Es ist ein sonniger Samstag im Mai. In den Ruinen am Stadtrand will er ihm die seltene Armbanduhr, die Will seinem Vater entwendet hat, zeigen. Klar, dass der fiese Vetter Henry sie nicht sehen darf, denn er würde Will garantiert verpfeifen. Will läuft weg, stürzt und schon ist das Malheur passiert: Henry sieht die kostbare Uhr und nimmt sie an sich. In einem harten Fight kann der hinzugekommene Jack die beiden Streithähne auseinanderbringen und die Uhr zurückerobern. Er schickt den jüngeren Henry weg und hilft Will beim Zurückgeben der Uhr. Alles geht gut. Will fragt sich, ob er in einer Woche immer noch einen so guten Freund in Jack haben wird. Denn dann findet die Weihe statt.

Die alte Zeit

Jack hat sich darüber auch schon Gedanken gemacht. Er könnte durch die Weihe ein Wanderer werden, denn bei diesen schlug die Weihe fehl. Die Kappe, die einem die dreibeinigen Herrscher aufsetzen, soll ja schützen. Aber vor was? Nur bei jedem Zwanzigsten versagt sie, und dann wird aus dem Geweihten ein Wanderer, natürlich ohne Kappe. Wanderer seien melancholisch, vielleicht sogar geistesgestört, heißt es. Was war das wohl für eine Zeit vor den dreibeinigen Herrscher, als die Menschen so wunderbare Dinge wie die Uhr von Wills Vater erschaffen konnten? Mittlerweile wird es das Schwarze Zeitalter genannt. Aber warum? Einmal hat Jack an der Meeresküste das Wrack eines Schiffes gesehen, das viel größer war als ganz Alton, Jacks und Wills Dorf. Jene Menschen müssen also großartige Dinge geschaffen haben. Warum sind sie dann den Tripods unterlegen?

Die Weihe

Es ist Juni, der Heumond, in Alton. Heute findet Jacks Weihe statt. Jack, Will, der Geistliche und andere warten auf das Erscheinen des dreibeinigen Herrschers. In einem Jahr werden auch Will und Henry an dieser Stelle warten. Und da kommt er auch, riesig hoch, einen langen Schatten werfend. Auch Sir Geoffrey, der alte Graf von Alton, verbeugt sich. Ein langer metallener Tentakel ergreift Jack und hebt ihn ins Innere der Kugel, die über den drei langen Beinen sitzt. Stunden später wird Jack zurückgebracht, auf seinem kahlrasierten Schädel sitzt das Metallgeflecht der Kappe, welche er bis zu seinem Tod tragen wird. Als Will zwei Tage später Jack alleine sprechen kann, antwortet dieser ruhig und monoton, es sei alles Unsinn gewesen, was er über die alte Zeit gesagt habe. Will ist enttäuscht.

Ozzy Mandy

Eines Tages taucht im Dorf ein besonderer Wanderer auf. Er nennt sich Ozzy Mandy und König des Reiches, singt an den Wegkreuzungen und erringt dadurch Wills besonderes Interesse. Obwohl sein Vater dies gar nicht gern sieht, gelingt es Will drei Tage später, Ozzy in den Ruinen zu treffen. Ozzy hat viele Antworten auf Wills Fragen und schließlich verrät er ihm sogar, dass er gar kein Wanderer sei, sondern ein FREIER MENSCH. Wahnsinn, denkt Will. Ozzy erzählt, dass die Tripoden wahrscheinlich von einer anderen Welt kommen und die Menschen in einem großen Krieg mit vielen Toten unterworfen haben. Und die Unterwerfung setzten sie jetzt immer noch mit Hilfe der Kappen fort. Diese programmieren ihre Untertanen zu Gehorsam und Zufriedenheit. In den Weißen Bergen im Süden jedoch leben FREIE MENSCHEN, wie Ozzy einer ist. Sein Auftrag bestünde darin, Ungeweihte wie Will zu finden und in die Weißen Berge zu schicken. Er gibt ihm einen Kompass und eine Landkarte.

Aufbruch

Zwei Wochen vergehen nach Ozzys Verschwinden. Will brennt darauf abzuhauen, doch nachdem Henrys Mutter gestorben ist, wird er in seinen Haushalt aufgenommen, so dass sich Will sehr vor ihm in Acht nehmen muss. In einer Vollmondnacht riskiert er den Aufbruch und holt seine Vorräte. Da überrascht ihn Henry. Es kommt zu einem Kampf, nach dessen Ende sich Will gezwungen sieht, Henry mitzunehmen, will er nicht sofort gejagt werden.

Schon bald zeigt sich, wie richtig Wills Entscheidung war, Henry mitzunehmen. Alleine läge er schon längst mit gebrochenem Fuß irgendwo im Regen und würde sich eine Lungenentzündung holen. Zusammen schaffen sie es jedoch bis an die Südküste. Im Hafen von Romney rettet Kapitän Curtis die Jungs davor, von Kapitän Rowley schanghait zu werden, und nimmt sie auf seinem Schiff mit. Bei der Überfahrt in das Land jenseits des Meeres tauchen jedoch sechs riesige Tripoden auf, die mit ihren Metallbeinen enorme Wellen erzeugen und das kleine Schiff fast zum Kentern bringen. Doch sie lassen es unbehelligt, denn die beiden Ausreißer sind gut versteckt.

Jenseits des Meeres

An der Küste des anderen Landes – Namen wie „Frankreich“ sind schon längst vergessen – ermahnt sie Kapitän Curtis, Menschen aus dem Weg zu gehen. Allerdings kommen sie nicht weit. Schon hat sie ein treuer Untertan der Tripoden am Schlafittchen und steckt sie zusammen in den Keller der nächsten Kneipe. In der Nacht kommt ein Junge in Wills Alter an ihre Tür und entriegelt sie. Er hat sie beobachtet durch das seltsame Gestell, das er auf der Nase trägt und als „Brille“ bezeichnet. Er ist sehr scharfsinnig, kann sogar ein wenig Englisch sprechen. Und das Allerbeste: Wenn sie ihn mitnehmen, lässt er sie frei. Das lassen sie sich nicht zweimal sagen, denn wie Kapitän Curtis sie ermahnte, sollen sie Erwachsene meiden, denn die seien alle von den Tripoden gesteuert.

Zusammen machen sich Will und Henry mit ihrem neuen Freund Bienpaul nachts in die Felder davon, nicht ohne ein paar Vorräte eingesackt zu haben, versteht sich. Aufregende Abenteuer erwarten sie, unbekannte Menschen und viele seltsame Anblicke. Doch werden die Tripoden sie wirklich bis zu den Weißen Bergen gelangen lassen?

Mein Eindruck

Klingt das nicht ein wenig nach der Story von „Stand by me“? Nein, nicht ganz. Es gibt am Ende der Reise keine Leiche zu finden, geschweige denn sie zu verteidigen. Und es gilt auch keine eigenen Ängste und Unzulänglichkeiten „with a little help from my friends“ zu überwinden – na ja, schon ein bisschen, denn das ist ja der Sinn des Abenteuers. Aber das Hauptthema der Geschichte ist der Ausbruch aus dem geistigen Gefängnis, in das die dreibeinigen Herrscher, die Tripoden, die Menschheit gezwungen haben. Und der zweite Schritt besteht im Eintritt in die Zone der FREIEN MENSCHEN, was die endgültige Befreiung aus dem genannten Geistesgefängnis bedeuten würde.

Der Preis der Freiheit

Nachdem sich die drei Gefährten zusammengefunden und -gerauft haben, stellt ihnen die neue Gesellschaft, die sie im ehemaligen Frankreich vorfinden, eine gewaltige Falle. Es kommt also darauf an, sie rechtzeitig zu erkennen und ihr zu entgehen. Leichter gesagt als getan. Die Freiheit durch einfaches Abhauen zu erlangen, wäre ja viel zu einfach und auch jenseits aller Wahrscheinlichkeit in einem Land, das von den Tripoden und ihren bekappten Untertanen beherrscht wird. Nein, es gilt die Freiheit zu erkämpfen, damit sie überhaupt etwas von Wert ist.

Die Fallen

Die erste Falle besteht in Dankbarkeit. Will ist der Gräfin de la tour rouge dankbar dafür, dass sie ihn vor dem Tod durch Krankheit bewahrt hat. Sie versorgt ihn und seine Freunde. Die zweite Falle besteht in der Liebe. Will verliebt sich in die gräfliche Tochter Heloise, die ihn während seines Fiebers gepflegt hat. Die dritte Falle besteht in der Selbsttäuschung, andere Menschen – wie die liebe Heloise – verfügten über die gleiche Willensfreiheit wie Will selbst. In einer einprägsamen Szene begeht Will einen großen Tabubruch, indem er Heloises Kappe enthüllt.

Die vierte Falle besteht in dem Angebotsköder, in die Ränge der Adligen aufgenommen und so der Gräfin und Heloise gleichgestellt zu werden. Will braucht lediglich in die Adoption einzuwilligen und die Weihe anzunehmen. Doch diese Abkürzung zu immerwährender Gesundheit und der Liebe an Heloises Seite, wenn nicht sogar Reichtum, ist keine Wahlmöglichkeit, die Will, der Bauerntrampel, annehmen möchte.

Die fünfte Falle besteht im Verrat der eigenen Gefährten, wie könnte es auch anders sein. Nach ein paar Tagen der Flucht aus der Obhut der französischen Adligen wundern sich die drei Gefährten, warum die Tripoden in der Lage sind, ihnen zu folgen. Die tun dies zwar mit gehörigem Abstand, aber dennoch so beharrlich und zielsicher, dass es verdächtig erscheint. Ganz besonders dann, wenn sich die Gefährten sorgfältig verstecken. Der Verdacht fällt auf denjenigen unter ihnen, der als letzter zu ihnen stieß: Will. Und richtig: Er hat ihnen etwas Wichtiges verschwiegen.

Die sechste Falle ist natürlich der rein körperliche Widerstand, den die Tripoden den Flüchtigen entgegensetzen. Dagegen helfen nur Handgranaten und ein gutes Versteck. Doch auch danach darf man sich nicht zu früh freuen …

Die neue Welt

Wills Welt ist auf die wirtschaftliche Ebene des Mittelalters zurückgefallen. Nur Artefakte wie die väterliche Armbanduhr erinnern noch an vergangene Zeiten, in der die Technik herrschte. Es gibt eine von Pferden über alte Schienen gezogene Bahn – das Maximum an Technik. Die Zeit, aus der die alte Technik stammt, ist nicht von ungefähr genau unsere Zeit bzw. die Zeit um 1967, also vor 41 Jahren.

Der Autor warnt indirekt vor einem Rückfall auf ein niedrigeres Kulturniveau. Mal angenommen, nicht die Außerirdischen hätten die Menschheit vernichtet, sondern diese sich in einem Atomkrieg selbst. Das Ergebnis käme dem, was die Jungs vorfinden, ziemlich nahe. Die Warnung dürfte ziemlich klar sein, ist aber für einen SF-Leser nichts Besonderes. In der SF finden sich solche [Menetekel]http://de.wikipedia.org/wiki/Menetekel allenthalben.

Das gesellschaftliche Niveau ist der mittelalterlichen Kultur angemessen: In dem vormaligen Frankreich herrscht ein König von Tripods Gnaden, und mit ihm seine Adligen, denen das Land als Treuhändern gehört. Das ist Feudalismus in Reinkultur. Kein Wunder, dass es auch Ritterturniere gibt, auf denen Festköniginnen gekrönt werden.

Die vergangene Welt

Die drei Gefährten gelangen in das verwüstete und verfallende Paris. So etwas hat Will noch nie gesehen, noch nicht mal für möglich gehalten: eine einzige Stadt, die sich von Horizont zu Horizont erstreckt. Keine Menschen leben hier in den Ruinen, wie sie es noch in John Wyndhams Klassiker [„Die Triffids“ 4281 tun konnten, sozusagen als Jäger und Sammler. Nein, hier lebt nur das Wild – und dessen tierische Jäger. Es ist eine Szenerie wie aus [„I am Legend“,]http://www.powermetal.de/video/review-1376.html dem neuen SF-Schocker mit Will Smith. Nur mit dem Unterschied, dass es hier nicht einmal mehr Mutanten gibt. Die Tripoden haben schon dafür gesorgt. Will & Co. müssen vor den Raubtieren abhauen. Ein deutliches Zeichen dafür, dass der Menschen nicht mehr Herr der Welt ist.

Die Welt der Zukunft

Noch verstecken sich die Freien Menschen in den tiefen Tunnels, die ihre Ahnen in die Schweizer Berge gebuddelt und gebohrt haben. Dorthin können ihnen offenbar die Tripoden nicht folgen, und so bieten die Tunnels guten Schutz gegen die Unterdrücker. Aber so schön ein freier Ausblick auf den Genfer See auch sein mag, so unfrei ist doch der Rest der Welt. Es ist offensichtlich eine Aufgabe der Freien Menschen, den Rest der Menschheit aus seiner mehr oder weniger freiwilligen Versklavung zu befreien. Doch wer soll der neue Moses und Widerstandskämpfer sein? Dreimal darf man raten, welche Pläne der Autor mit Will Parker hat.

Das Booklet

… umfasst die oben angeführten Informationen über Sprecher, Komponist und Autor sowie die Credits. Zusätzlich findet sich noch eine Notiz über die Beweggründe, die John Christopher veranlassten, „The Tripods“ zu schreiben. Er war davor ein Autor von Erwachsenenromanen gewesen, wurde aber von seinem Verleger nach einem „vernünftigen Jugendbuch mit Science-Fiction-Thematik“ gefragt. Er überlegte sich, was an SF denn noch interessant sein könnte und entwarf eine Invasion, die zu einem neuen Mittelalter führen würde. Mit Letzterem kannte er sich aus, und zum Thema Invasionen brauchte man bloß H. G. Wells‘ Roman „Krieg der Welten“ von 1898 lesen. Gerade die Kombination von futuristischen Herrschern in einem mittelalterlichen, monarchistisch geprägten Europa zeichnet die Tripod-Bücher aus, denn so sind sie für jeden Leser verständlich.

Die Inszenierung

Bei dieser Version des Textes handelt es sich um eine inszenierte Lesung mit Geräuschen und Musik. Ich stelle die einzelnen Komponenten vor und beurteile sie.

Der Sprecher

Torsten Michaelis ist zwar kein Stimmkünstler wie Rufus Beck – das kann ja auch nicht jeder sein. Aber es gelingt ihm, bestimmte Figuren durch deren Sprechweise zu charakterisieren. So redet der „geweihte“ Jack ruhig und monoton statt wie zuvor lebhaft und abwechslungsreich. Ozzy, der freie Wanderer, ist ein kuriose Figur, denn er spricht viel in rhythmischen Versen und zitiert salbungsvoll aus der Bibel. Das klingt gestelzt und soll auch unnatürlich und gewöhnlich wirken.

Der Junge, der sich Bienpaul nennt, spricht stets mit einem französelnden Akzent, so dass sich der Unterschied zu Will und Henry immer wieder ergibt. Ein weiterer Kontrast entsteht durch Wills Begegnung mit der süßen Heloise. Ihre Stimme ist ein wenig höher intoniert als die der Jungen, und häufig flüstert sie mit Will über vertrauliche Dinge.

Geräusche

Die Geräuschkulisse beschränkt sich auf das Notwendigste, aber das ist immerhin mehr als gar keine. Im Wald hören wir die Vöglein zwitschern, besonders häufig in idyllischen Szenen. Wie beim Auszug der Hobbits aus dem Auenland trappeln die Pferde der Verfolger ähnlich unheilverkündend. An der Küste kreischen die Möwen, versteht sich. Die Pferdebahn macht sich durch ein Rollgeräusch bemerkbar.

Bei ihren Abenteuern in den Pariser Metro-Tunneln testen die Freunde ein paar Handgranaten – bäng! Und dieses Geräusch wiederholt sich, als sie diese Waffe tatsächlich gegen die angreifenden Tripoden einsetzen müssen – bäng, bäng! Eine bemerkenswerte Abwechslung bildet das Turnier der Gräfin. Hier hören wir eine Fanfare (der Musik) und einen Trommelwirbel.

Die Geräusche überdecken niemals den Vortrag, und nur ab und zu werden sie zwecks erhöhter Wirkung – etwa beim Turnier – mit der Musik kombiniert. Der Vortrag bleibt also stets klar verständlich.

Musik

Ken Freemans Musik beschränkt sich nicht nur auf eingängige dynamische oder atmosphärische Kompositionen, sondern trägt auch eine Menge Sounds bei, die nur unterschwellig auf das Gehör des Zuhörers wirken. Sie steuern die Emotionen subtiler, etwa indem sie eine bedrohliche Stimmung durch einen tiefen Basston erzeugen. Hin und wieder ist auch eine Fanfare zu vernehmen oder eine Art Geheul.

Sicherlich hat sich der Leser schon gefragt, ob denn die Tripoden einen Laut von sich geben, so wie die marsianischen Eroberer in der Musicalversion von H. G. Wells‘ Roman „Krieg der Welten“. Diese kreischen ein unheimliches „uu-lah!“, als es mit ihnen zu Ende geht, vernichtet von irdischen Mikroben. Doch derartige Eloquenz ist Christophers Tripoden völlig fremd. Sie schweigen die ganze Zeit. Das macht es dem Komponisten zur Aufgabe, sie wenigstens mit Sounds zu einer akustischen Präsenz zu zwingen.

Am Schluss ist dem Hörbuch noch ein „Bonustrack“ beigefügt, der Freemans Kunst noch einmal belegen soll. Sei’s drum. Seine Musik fand ich zwar aufgrund ihrer elektronischen Erzeugung ganz passend zu den Tripoden, aber umgehauen hat mich nichts davon. Und das, obwohl ich Elektrobands wie die Art-Rocker Emerson, Lake & Palmer oder Yes mag. Wenigstens ist Freeman nicht so kitschig-süßlich wie der „Blade Runner“-Soundtrack von Vangelis.

Unterm Strich

Aufgrund meiner Inhaltsangabe dürfte sich jetzt so mancher Leser wundern, wie denn der Titel „Dreibeinige Monster auf Erdkurs“ dazu passt, dass die Tripoden auf der Erde bereits die Herrschaft übernommen haben. Das frage ich mich allerdings auch und kann nur darauf verweisen, dass es sich um eine ganze Serie handelt, die in den drei Hörbüchern nur in einem schmalen Ausschnitt präsentiert wird.

Das Alter und Geschlecht der Hauptfiguren liefert einen deutlichen Hinweis, dass diese Bücher für dreizehnjährige Jungs gedacht sind. Als diese Bücher geschrieben wurden, sahen sich die Autoren noch nicht veranlasst, für beide Geschlechter zu schreiben – Jungsbücher waren eben für Jungs, und für Mädchen gab was anderes, aber ohne Monster. Basta! Das niedrige Lesealter verbot es dem Autor offenbar, ein schrecklicheres Szenario zu entwerfen, das ich für weitaus wahrscheinlicher halten würde.

Was der relativ abwechslungsreichen Geschichte Wills noch fehlt, ist eine Vorgeschichte. Wir erfahren nicht, auf welche Weise es den Tripoden gelang, die Menschen zu besiegen, geschweige denn, warum diese Metalldinger überhaupt zur Erde gelangen wollten. Denn es ist wohl kaum der Lebensraum, den sie hier finden und den sie vielleicht auf ihrer Heimatwelt verloren haben könnten. Metallmonster brauchen keinen Lebensraum, da sie künstliche Maschinen sind. Wer steuert diese Dinger und was fangen sie mit der Erde und den Menschen an? Viele Fragen, die einer Antwort harren. Diesbezüglich lässt uns das Abenteuer etwas unzufrieden zurück.

Das Hörbuch ist als inszenierte Lesung relativ aufwendig gestaltet. Hinsichtlich Sprecher, Geräuschen und Musik hat sich der Verlag Mühe gegeben. Auch das Booklet ist informativ gestaltet. Darüber kann man also nicht meckern.

Hinweis

Eine Auswahl an weiterführenden Internetadressen findet sich im Booklet (alle ohne Gewähr)

http://www.tripods.de
http://www.diedreibeinigenherrscher.de
http://www.bbc.co.uk/cult/classic/tripods
http://www.sf-radio.net/tripods
http://www.moviefans.de/a-z/t/tripods/index.html
http://www.arena-verlag.de
http://www.patmos.de

Originaltitel: Tripods 1, 1967
Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Schaller, neu bearbeitet und aktualisiert von Sabine Rahn
270 Minuten auf 4 CDs

http://www.patmos.de|
Siehe ergänzend dazu die [Rezension 3727 von Dr. Bianca Altvater zur Hörbuch-Trilogie.

Michael A. Stackpole – Es war einmal ein Held

Des Ritters Liebesleid im Zauberwald

Dies ist die Geschichte einer tragischen Liebe – auch wenn das aus dem Klappentext keineswegs ersichtlich ist. Natürlich packt der Battletech-Autor auch noch jede Menge Action zwischen die Buchdeckel, aber dies ist doch das Grundlegende: Wir leiden mit dem größten Helden des Menschenvolkes, Neal Roclawski.

Der Autor

Michael A. Stackpole (* 1957 in Wausau, Wisconsin) ist ein US-amerikanischer Science-Fiction- und Fantasyautor, sowie Spiele- und Computerspieleentwickler. Als Autor bekannt wurde er durch seine Mitarbeit bei der X-Wing-Reihe, die im Star-Wars-Universum angesiedelt ist und bei der Battletech-Romanreihe.

Handlung

Vier Rassen bewohnen die Welt namens Skirren: die sich fast gänzlich absondernden Zwerge; die Elfen, die sich als Kinder der Götter in ihrer Arroganz allen anderen überlegen wähnen; die Reith, ein magisch begabtes Volk, das seine Existenz ganz dem dunklen Todesgott verschrieben hat; und das jüngste und ungestümste Volk, die Menschen.

Zwischen Menschen und Reith tobt ein gnadenloser Vernichtungskampf. Eine allen Völkern bekannte Prophezeiung behauptet, dass der Besitzer des legendären Schwertes Herzspalter ein Reich gewinnen und unbezwingbar sein würde. (Gewisse Parallelen zur Artuslegende lassen sich nicht übersehen.)

In Konkurrenz mit dem Anführer der Reith gelangt unser Held Neal in den Besitz der magischen Klinge und macht sich mit seinem besten Gefährten, dem Elfen Aarundel, auf die Socken, um die verhassten Reith zu bekämpfen. Da ist ein Zauberschwert schon praktisch.

Immer wieder aber gerät er in engen Kontakt mit den Elfen. Er erringt durch seine Integrität, seine Selbstbeherrschung und seinen Mut deren Achtung und Unterstützung, so dass die Elfen in der letzten Völkerschlacht gegen die Reith Partei ergreifen.

Eine wichtige Rolle in der Entwicklung dieser Beziehung spielt Neals Liebe zu einer Elfin. Nicht genug damit, dass jegliche körperliche Berührung zwischen den beiden seinen sofortigen Tod und die Verbannung seiner Liebsten aus dem Reich der Elfen nach sich ziehen würde. Nein, das Elfenweib ist auch noch mit einem der Anführer der Waldbewohner verheiratet. Das kann ja nicht gut gehen.

Die Schlacht gegen die Reith hat ihren Höhepunkt erreicht, da tötet der Magierfürst der Reith im direkten Duell unseren Helden. Mit allen Ehren wird er im Elfenreich beigesetzt.

Doch der Tod ist nicht das Ende, wie wir aus der Artuslegende wissen. Fünfhundert Jahre später wird Neal mit Hilfe von Elfenzauber wiedererweckt, um erneut ins Geschick der oft allzu machtgierigen Menschen einzugreifen. Die Elfin Gena ist die Enkelin von Neals Freund Aarundel und soll Graf Berengar, einem Fürsten der Menschen, aus einem politischen Schlamassel helfen …

Mein Eindruck

Immer wechselt die Erzählperspektive zwischen diesen beiden Handlungs- und Zeitebenen, die 500 Jahre auseinanderliegen, hin und her. Der Autor, der bislang vor allem durch seine Battletech– und Shadowrun-Romane bekannt wurde, zeichnet die Passagen, die sich um die geliebte Elfin drehen, recht realistisch.

Doch unerfüllte Sehnsucht führt leicht zu Melancholie. Man leidet unwillkürlich mit dem Helden; sein Schmerz, den wohl jeder einmal angesichts verschmähter oder unerhörter Liebe verspürt hat, berührt uns tief. Dagegen lassen einen die die actionbetonten Teile des Romans, die Schlachten und Zweikämpfe, weitgehend kalt. Hier bietet der Autor allenfalls Durchschnittsqualität.

Insgesamt also ein elegisch-romantischer Ritterroman in einer exotischen Welt, der jedoch jeden Artus-Fan zufrieden stellen dürfte.

Originaltitel: Once a hero, 1994
Aus dem US-Englischen übertragen von Mina H. L. Buts

https://www.heyne.de

Lem, Stanislaw – Robotermärchen (Lesung)

Wer das Wort „Märchen“ hört, denkt jetzt vielleicht an Rotkäppchen, den bösen Wolf oder an Hänsel und Gretel. Das ist Kinderkram. Denn die vorliegenden Märchen richten sich nicht an Kinder von Menschen, sondern an die neuprogrammierten Sprösslinge von Robotern, klar? Es sind Märchen von Robotern für Roboter, und Menschen kommen darin nur am Rande vor, und das nicht einmal in einer positiven Rolle. Dennoch interessieren sie uns brennend und bereiten uns Vergnügen. Und warum? Weil die hier geschilderten Silbrigen, Eisernen und Kupfernen noch menschlicher sind als Menschen es je sein können. Märchenhaft.

Hinweise zur Bezeichnung: „Bleichlinge, Weiche, Bleiche“ usw. sind Menschen. Alle anderen sind Roboter, also die Silbrigen, Eisernen und Kupfernen, ja, sogar die, die unter Wasser leben, wie König Hydrops und sein Volk. Tja, und dann gibt es noch den Großen Kosmogonischen Konstrukteur. Über den gibt es viele Theorien und wenig Wissen. Deshalb kommt er nur in Märchen vor. Oder dergleichen.

Der Autor

Stanislaw Lem, geboren am 12. September 1921 in Lwòw, dem galizischen Lemberg, lebt heute in Krakow. Er studierte Medizin und war nach dem Staatsexamen als Assistent für Probleme der angewandten Psychologie tätig. Privat beschäftigte er sich mit Problemen der Kybernetik, der Mathematik und übersetzte wissenschaftliche Publikationen. 1985 wurde Lem mit dem |Großen Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur| ausgezeichnet und 1987 mit dem |Literaturpreis der Alfred Jurzykowski Foundation|. Am bekanntesten wurde er für die literarische Vorlage für zwei Filme: „Solaris“, das 1961 veröffentlicht wurde.

Wichtige weitere Bücher Lems:

Eden, 1959
Summa technologiae, 1964
Der Unbesiegbare, 1964
Kyberiade; Robotermärchen, 1965
Sterntagebücher, 1959/1971
Der futurologische Kongress, 1971

Der Sprecher

Michael Schwarzmaier verzeichnet in seinem Wirken Engagements am Staatstheater Hannover, den Kammerspielen München. Unzählige Film- und Fernsehrollen unter Regisseuren wie August Everding, Peter Beauvais und anderen. Seine Spezialität ist das komödiantische Charakterschauspiel.

Der Regisseur

Regie führte Hans Eckardt. 1939 in Berlin geboren, studierte Germanistik und Sprachwissenschaft, wurde Buchhändler und Schauspieler. Vierzehn Jahre arbeitete er am Theater als Schauspieler, Regisseur und Chefdramaturg. Zahlreiche Lehrverpflichtungen an verschiedenen Hochschulen, auf Rezitationsveranstaltungen und bei Studioproduktionen schlossen sich an. 1982 übernahm Eckardt für zehn Jahre die Leitung der ältesten Hörbücherei in Deutschland, der Deutschen Blindenhörbücherei in Marburg a. d. Lahn. Lehre, Regie, eigene Rezitation und die Förderung von Sprechertalenten in seiner Eigenschaft als Verleger stehen nunmehr im Zentrum seiner Arbeit.

Die zwölf Märchen

I) Drei Elektritter

Es war einmal ein genialer Konstrukteur, der schuf nicht nur viele geniale Kleinodien an Maschinen, sondern auch ein ganzes Volk, die Kryoniden. Auf deren ruhmreiche Schätze hatten es aber etliche Raubritter abgesehen. Der erste davon war der Messinger, danach kamen der Eiserne und der Quarzer. Diese drei Elektritter abzuwehren, oblag den Feldmarschällen und Obersten der Kryoniden: Boreal, Albucid und Ohroaster. Doch den Quarzer abzuwehren, gelang nur dem Weisen Baryon, der eine raffinierte List einsetzte.

II) Die Uranohren

Ein wahrlich traurige Fabel! Einst war es dem großen Konstrukteur gelungen, zusammen mit seinem „Zauberlehrling“ Sonnen und Planeten zu erschaffen, darunter auch den Planeten Aktinurioa, auf dem das Reich der Palatiniden entstand, das von einem bösen Tyrannen namens Archithor beherrscht wurde.

Sonder Zahl waren die Aufstände und Rebellen, die versuchten, sein Joch abzuwerfen. Doch weil die einfachen Bewohner allesamt radioaktiv waren und, um das Zustandekommen einer kritischen Masse samt Kettenreaktion zu vermeiden, ihre Köpfe nicht zusammenstecken konnten, flog jede Vorbereitung eines Aufstands auf.

Der wichtigste Rebell war Pyron, doch den steckte Archithor in seinen tiefsten Kerker, wo er elendiglich verschmachten musste. Davon hörte endlich der Große Kosmogonische Konstrukteur und kam dem unterdrückten Volk zu Hilfe.

III) Erg Selbsterreg überwindet den Bleichling

König Schlagenot sammelt Kuriositäten und ist mächtig stolz auf sie. Ständig denkt er über Neuerwerbungen nach. Also ruft er den Elektrowisser Halazon herbei. Der schlägt ihm einen lebenden Antrobus aus dem Zwischensternreich vor, den er für ihn fangen wolle. Gesagt, getan! Der König lässt bereits einen Käfig errichten, in den alsbald der gefangene Antrobus gesteckt wird. Dieser Bleichling, der mit einer edlen Maschine keinerlei Ähnlichkeit aufweist, ist von ekelerregender Widerwärtigkeit.

Doch Prinzessin Elektrina, die ein klein wenig unterbelichtet ist, freundet sich mit ihm an, weil er gar so exotisch ist. Sie will von ihm einen Zahn haben, denn so etwas kennt sie nicht. Doch der Bleichling verlangt von ihr im Tausch ihren goldenen Schlüssel, mit dem sie jeden Morgen aufgezogen wird. Vertrauensselig überreicht sie ihm das lebenswichtige Werkzeug. Doch er betrügt sie, und nach Ablauf ihrer Feder fällt sie um.

Nun ist guter Rat teuer. Denn für den Schlüssel verlangt der Bleichling ein Raumschiff, das ihn zu seiner Heimat bringe. Das bekommt er, doch er nimmt den Schlüssel mit – zur Rache! Wer kann nun die schlafende Prinzessin erwecken? Der König, nicht faul, verkündet, derjenige Ritter, der ihm den Schlüssel beschafft oder den Bleichling, solle die Hand der Prinzessin erhalten und den Thron erben.

Viele Scharlatane folgen Schlagenots Ruf, doch nur einer, der quecksilbrige Erg Selbsterreg, vermag die holde Elektrina zu erwecken, auf geniale Weise.

IV) Die Schätze des Königs Biskalar

König Biskalar behauptet stolz, es gebe nichts mehr, dass er nicht schon besäße. Dieser Stolz fordert den Konstrukteur Kreazius heraus. Er lässt sich die Schatzliste geben und eine Prise Sand. Diesen verwandelt er in ein neuartiges Kleinod – und verwandelt es in Sand zurück. Der König ist darob sehr erbost und befielt Kreazius, ihm das Radium-Ei aus seiner tiefsten Schatzkammer zu bringen.

Doch Kreazius verfügt über ein Döschen winziger Assistenten, die ihm nicht nur helfen, zahllose Wächter, sondern auch die raffiniertesten und tödlichsten Schlösser zu überwinden. Wütend deportiert Biskalar den Konstrukteur auf einen Wüstenplaneten, auf dass er von dort zurückfinden möge. Erschreckt stellt Kreazius fest, dass ihm die königlichen Handlanger sein Döschen stibitzt haben. Was nun? Doch erst die dritte Aufgabe stellt Kreazius‘ Fähigkeiten auf eine harte Probe.

V) Zwei Ungeheuer

Es waren einmal drei Städte der Argenser, der Silbrigen. Sie wurden von der Dynastie der Energer beherrscht. Noch können sie die Invasion der Siderianer abwehren, doch Schlimmeres wird prophezeit: Dereinst würden zwei Ungeheuer die Argenser vernichten. König Inhiston lässt seine Vielwisser kommen und befielt Maßnahmen. Der Groß-Archidynamikus, der Groß-Kyberneur und der Groß-Abstraktor stecken die Köpfe zusammen.

Gegen das erste Ungeheuer, das den ganzen Planeten verwüstet, bauen die Weisen drei Ritter: den Kupfernen, einen Riesen; den Quickkopf, einen Vielgestaltigen; und etwas, das der Groß-Abstraktor verborgen hält. Und als dessen Zeit gekommen ist, da entpuppt er sich als Antimaterie. Doch weh und ach! Der Ungeheuer entstanden viele auf einem alten Schrottfriedhof, und der Untergang des Energerreiches war nahe.

Da entsann sich der König der prophetischen Inschrift auf seinem Zepter, zerbrach’s und las die leuchtende Schrift an der Wand. Hinter all dem steckte der schlimmste Feind der Maschinen: der Mensch. Da ward König Inhiston sehr traurig und bitter und befahl das Einzige, was zu tun übrig blieb.

VI) Der weiße Tod

Der Planet Aragena ist nicht von Städten bedeckt, sondern nach innen, in die Tiefe ausgebaut, wo es vor Edelsteinen und Spiegeln wimmelt. Solcherart versteckt sich das listige Volk der Enteralen vor seinen Feinden. König Metamerius aber besteht aus Milliarden von Gliedern, in deren erstem jeweils der Verstand wohnt. Er stammt von den Aurigonen ab, deren Erzfeinde von jeher die Weichen oder Bleichen gewesen sind. Seit Jahrtausenden wacht Metamerius und schützt sein Volk vor den Verfolgungen der Bleichen, und seine Raumgegend wird gemieden.

Doch eines Tages zerschellt ein Raumschiff vor einem Höhleneingang der Enteralen. Man zerrt das harmlos aussehende Schiff in eine Höhle und öffnet vorsichtig eine Hülle nach der anderen. Das letzte Türschloss muss mit einem Wort geöffnet werden. Eingedenk uralter Legenden erinnert sich Metamerius, dass es „Rache“ lautet.

Das Schiff ist tot und leer, auf dem Boden schwimmt nur eine rote Pfütze, daneben liegen Kleiderfetzen. Doch weh! „Das Rot ist des Weißen Todes Lebenselixier!“ Eilig befielt der umsichtige König die sofortige Zerstörung und Atomisierung des Schiffes. Zu spät! Eine Spore des Weißen Todes ist der Sterilisation entkommen. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf …

VII) Wie Winzlieb und Gigelanz die Nebelflucht auslösten

Dieses Märchen liefert eine Erklärung für das, was vor dem Urknall passiert sein könnte. – Im vorigen Universum gab es nämlich zwei kosmogonische Konstrukteure, nicht bloß einen: Winzilieb und Gigelanz. Sie zerstritten sich, weil sie unterschiedlicher Meinung darüber waren, wie ein neues Denkinstrument zu konstruieren sei, mit dem sie die Geheimnisse der Materie erkunden könnten.

Um die Richtigkeit ihrer Meinung unter Beweis zu stellen, konstruieren sie jeweils einen Krieger für sich und schicken diese in einen Zweikampf. Gigelanz erschafft den Kosmobold, doch Winzlieb nur Kleinzeug: einen Rubin. Dieser Winzling verspottet den galaxiengroßen Kosmobold. Der aber sucht den Winzling und dreht sich dabei ständig um die eigene Achse, wodurch die in ihm enthaltenen Galaxien schon bald aus der Mitte nach außen fliehen. Es kommt zum Urknall. Doch darüber, wer den Disput für sich entschieden hat, streiten ihre Schöpfer noch heute.

VIII) Das Märchen von der Rechenmaschine, die gegen den Drachen kämpfte

König Poleander, der auf der Kyberei lebt, ist Kybernetiker und Krieger, so dass sein Reich vollkommen geschützt ist. Leider ermangelt es ihm an Gegnern. Daher lässt er künstliche Ziele erschaffen, um sie zu vernichten, auch wenn darob die Untertanen murren. Denn wo gehobelt wird, fallen bekanntlich Späne. Doch so mächtig auch der Gegner ist, stets gelingt es Poleander, ihn zu bezwingen. Schließlich geht er mit seinem Krieg netterweise auf den Mond. Dort konstruiert er eine tüchtige Rechenmaschine, die alles herstellen kann. Doch wegen eines Übermittlungsfehlers bei ihren neuen Befehlen erschafft sie nicht Elektrokrach, sondern einen Elektrodrach.

Schon bald fallen Felsen mit zerstörerischer Wirkung vom Mond auf die Kyberei. Nun ist guter Rat teuer. Der König, dessen Palast bombardiert wird, sucht den Rat einer uralten Strategie-Rechenmaschine, die er schon lange nicht mehr konsultiert hat. Das hätte er lieber bleiben lassen sollen, denn es bedeutet, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.

IX) Die Räte des Königs Hydrops

Die Wasserwelt Aquatia wird von König Hydrops regiert. Er hat beschlossen, einen Sohn als Erben und Nachfolger erschaffen zu lassen und fragt seine Räte, wie denn dieser Sohn optimal beschaffen sein soll, damit dieser Aquatias würdig sei. Die Räte sind Ammasid, Diopterich, Bricklerich und Philonaut. In der Kammer, in der sie bei ihrem Konklave eingesperrt sind, hebt nun eine Welle von Intrigen gegeneinander an. Denn jeder denkt nur an den eigenen Vorteil. Endlich kommt ein Kompromiss zustande und sie legen die Matrize für die Sohneserschaffung fest.

Der künftige Sohn wird nur kleine Dinge lieben. Um sich aber Liebkind zu machen, lassen sich die Räte verkleinern. Der Rat Diopterich nimmt dazu die Hilfe eines Kesselflickers namens Froton in Anspruch, der sich als Belohnung die Hand von Diopterichs Tochter Aurentina erbittet. Doch er empfängt nur Undank, und damit beginnen für ihn und Diopterich schwere Zeiten, wobei auch Frotons wissbegierige erste Frau eine Rolle spielt.

X) König Globares und die Weisen

Auf dem Planeten Eparis herrscht der allwissende König Globares. Er ist es müde, schon alles zu kennen und befiehlt seinen Weisen, ihm bei Strafe des Geköpftwerdens eine wundersame Geschichte zu erzählen. Köpfe rollen, als die beiden ersten Weisen kläglich versagen, den König zu amüsieren. Denn dieser ist sehr spitzfindig und hat immer Recht, selbst wenn er Unrecht hat.

Da tritt der dritte Weise auf und weigert sich rundweg. Der König verlangt, dass er ihn verspotte und lächerlich mache. Der Weise entgegnet, er werde beweisen, dass es etwas gebe, das absolut lächerlich sei und dennoch von niemand verspottet werde: der Kosmos. Und er werde zeigen, dass dieser Kosmos der Beweis sei, wie lächerlich der König sei. (Was ihm auch gelingt, allerdings nur über etliche Umwege.)

XI) Das Märchen vom König Murdas

Der junge König Murdas, der gerade den Thron bestiegen hat, ist ängstlich und obendrein ehrsüchtig. Er will sich den Beinamen „der Große“ erwerben. Er lässt alle Prophezeiungen, Omen und Orakel verbieten. Doch in einem alten Wachturm stößt er eines Tages auf eine winzige Pforte, hinter der ein alter Orakelkasten ihm eine Weissagung bereithält. Es ist ein sehr langes Gedicht, das ihn vor bösen Verwandten warnt und ihn zu deren Ermordung auffordert. Schon bald rollen die Köpfe aller seiner Verwandten.

Fast aller: Denn er träumt, ein Onkel namens Zenander sei seiner Verfolgung entgangen. Also lässt er eine riesige Statue von sich herstellen. Diese ist so groß, dass sie die ganze Hauptstadt umfasst und noch einiges Land darüber hinaus. Nun kann Murdas mit Recht sagen: „Der Staat bin ich.“ Doch er hat weiterhin Träume von einer königsfeindlichen Verschwörung. Er beschließt, einen Anti-Traum zu träumen. Es gelingt ihm nur unter Mühen. Kann man träumen, wach zu sein? Allmählich vermag Murdas kaum mehr zwischen Traum und Wachen zu unterscheiden, und ein wahrer Krieg der Träume entbrennt, es gibt sogar Träume n-ter Potenz.

Das kann nicht lange gut gehen, und so ist es dann auch.

XII) Zifferotikon

Der genaue Titel dieses Textes lautet: „Aus dem Werk ‚Zifferotikon‘, das ist: Von Irr- oder Abschweifferey, Versteiffung & Thorheit des Hertzens“.

Dies ist das Märchen vom Königssohn Ferrenz und der Prinzessin Kristalla. Ferrenz hat sich in sie verliebt, doch seine Verwirrung ist groß, als ihm sein Vater verrät, dass Kristalla komplett wahnsinnig sei: Sie wolle nur einen Bleichling zum Mann nehmen. Dabei sei doch die ekelerregende Evolution der Bleichlinge bekannt sowie ihre abstoßende Art, sich zu vermehren. Sie programmieren nicht einmal ihre Nachkommen! Leider ist es auch wahr, dass diese Wesen die Maschinen erschufen. Dank sei Urvater Genetophorius, der die Maschinen aus der Knechtschaft in die Freiheit führte!

Was ist zu tun? Ferrenz konsultiert den Weisen Polyphases. Er rät dem Prinzen, sich als Bleichling zu verkleiden und so Kristalla zu täuschen. Doch es ist nicht damit getan, den edlen Körper des Prinzen mit Klitsch und Schleim und Fransen zu bedecken, er muss auch noch Blasen voll Luft und Wasser versteckt transportieren. Ferrenz ist von sich selbst angeekelt. Doch Polyphases überzeugt ihn und gibt ihm noch ein paar richtige Antworten auf zu erwartende Fragen Kristallas auf den Weg. Ferrenz besteht auf seiner Begleitung.

In König Aurenzius‘ Hauptstadt bietet Polyphases, verkleidet als Kaufmann, den neuen Bleichling feil, was sofort die Mägde Kristallas der Prinzessin hinterbringen. Sie lässt Polyphases vorladen. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen. Sie stellt den Bleichling, der sich selbst „Sabbermümmel“ nennt, auf die Probe. Ob er sie wohl besteht und ihr Mann wird? Lest selbst, ob seine Liebe groß genug ist!

Mein Eindruck

Stanislaw Lem hat sich in den hier versammelten „Robotermärchen“ mit drei Themenbereichen befasst.

I) Der unschuldigste und abstrakteste Bereich ist die Entstehung des Kosmos. Dafür bemüht er in seinen Märchen den Großen Kosmogonischen Konstrukteur – da Maschinen keine Vorstellung von abstrakten leiblichen Eltern haben, die sie Gott und Göttin nennen können, kommt ihnen die Vorstellung des Konstrukteurs – oder Programmierers – natürlich vor. Das ist wiederum ironisch, denn sie selbst sind keine Geschöpfe der Natur, noch verfügen sie über eine natürliche Evolution. Also muss ein Konstrukteur den Kosmos und alles, was sich darin feststellen lässt, erschaffen haben.

II) Dieser Mythos wird jedoch durch das zweite Thema als Fiktion und Wunschvorstellung der Robotergenerationen entlarvt. Hier geht es um die Auseinandersetzung mit den Erschaffern der Maschinen und Roboter, bis hin zu deren Exodus und ihrer Emanzipation. Dafür verfolgen ihre menschlichen Schöpfer sie offenbar bis zum Jüngsten Tage, denn wo immer Menschen Roboterwelten heimsuchen, spielt das Wort „Rache“ eine Rolle („Der weiße Tod“, „Zwei Ungeheuer“).

Selbst so harmlos scheinende Märchen wie „Erg Selbsterreg bezwingt den Bleichling“ und „Zifferotikon“ durchzieht die Linie der Konfrontation mit den Menschen auf einer existentiellen Ebene. Nicht nur, dass Menschen so widerwärtige Leiber besitzen, stößt die Roboter ab, sondern noch vielmehr die Boshaftigkeit der Menschen. Selbst in der „Schneewittchen“-Parodie „Erg Selbsterreg …“ ist der Bleichling das Inbild von Lug und Trug. (Das wäre jeder Mensch, den man gefangen genommen hat.) Und für diese Tat der Roboter, die ihn gefangen haben, sinnt er auf Rache.

III) Der dritte, umfangreiche Bereich, der den eigentlich Stoff der Märchen verarbeitet, greift die menschlichen, allzu menschlichen Eigenschaften der Roboter und ihrer diversen eigenartigen Welten und Herrscher auf. Könige mit unermesslichem Reichtum, größtem Wissen und Fürsorglichkeit stehen Tyrannen von arroganter Kühnheit, ängstlicher Paranoia oder schierer Gedankenlosigkeit gegenüber.

Ihre Weisen und Ritter erweisen sich in der Mehrzahl – dem Märchengesetz gehorchend – als in aller Regel unfähig oder Scharlatane. Es ist stets der Letzte der Weisen und Ritter, der obsiegt oder die Aufgabe erfolgreich bewältigt, möge sie noch so perfide gestellt worden sein. Eines der Märchen folgt beispielsweise dem Muster, das die Abenteuer des Herakles vorgegeben haben.

Die Boshaftigkeit des Tyrannen fällt in aller Regel auf ihn zurück. Denn wie heißt es so schön am Ende von „Erg Selbsterreg“? „Und der Schwindel kam nie ans Licht. Daraus seht ihr sogleich, dass ich kein Märchen erzählt habe, sondern die Wahrheit. Denn im Märchen siegt immer die Tugend.“ Man kann sich Lem gut mit einem Augenzwinkern vorstellen, wenn er dies schreibt. Denn fast alle seine Märchen lassen die Tugend siegen.

Der Märchenbrunnen

Der Brunnen, aus dem Lem seine Märchenmuster schöpft, sind in der Mehrzahl die bekannten Texte der Gebrüder Grimm und nicht etwa russische Märchen. So kommt etwa kein einziges Mal eine böse Hexe oder Zauberin vor, wie sie etwa die ukrainische Hexe Baba Yagá verkörpert (die sogar im Film verewigt wurde). Auch ein Überheld wie der „Starke Wanja“ fehlt, der als Einziger die Baba Yagá zu bezwingen vermag. Griechische Sagen standen häufig Pate: Die Abenteuer des Herakles und das Trojanische Pferd („Der weiße Tod“) lieferten Stilvorlagen für Lems Kyberiaden.

Vielmehr sind es oftmals Heroen des Geistes, die den Sieg davontragen: Weise, Konstrukteure und dergleichen. Besonders lächerliche Geistesheroen sind jedoch die Konstrukteure Trurl und Klapauzius, die leider in dieser Sammlung fehlen. Diese beiden erfinden sogar einen „Dämon zweiter Ordnung, um Mäuler den Mäuler zu besiegen“. Lem ist der Dünkel der Erfinder nicht unbekannt. Er hat ihn schon in den „Sterntagebüchern“ durch den Kakao gezogen.

Die Räte hingegen sind Opfer persönlicher und fremder Machtinteressen – Inbegriff oder Karikatur von Politikern (vgl. „Die Räte des Königs Hydrops“). Am schlechtesten kommen eigentlichen Prinzessinnen weg: Die arme Elektrina in „Erg Selberreg“ ist leider naiv und ahnungslos, als sie dem durchtriebenen Bleichling ihren goldenen Aufziehschlüssel aushändigt. Und Kristalla in „Zifferotikon“ ist sogar so verblendet, dass sie nur einen Bleichling heiraten will. Kein Wunder, dass sie für wahnsinnig gehalten wird. Ob sie wohl geheilt werden kann? Leset selbst!

Sprachkunstwerke

Das Wichtigste an den „Robotermärchen“ ist jedoch die Sprache. Mit ihrem Einfallsreichtum, ihrer Variationsbreite und der Treffsicherheit der Parodie, an Wortwitz und unwahrscheinlichen Gedankenfiguren suchen sie bis heute ihresgleichen. Diese raffiniert ausgesponnenen Lügenmärchen à la Münchhausen vom Kuriosen bis zum Wunderbaren und Traurigen sind eine Lust zu lesen. Es ist den beiden Übersetzern I. Zimmermann-Göllheim und Caesar Rymarowicz zu verdanken, dass sie den Sprachreichtum des Originals in ein angemessenes Deutsch übertragen haben, das uns doch selbst an alte Buchausgaben von Grimm’schen Märchen gemahnt.

Denn mögen auch die Ideen der einzelnen Texte auf Wissenschaft und Psychologie, Politik und Biologie zurückverweisen, so bleibt doch das Fundament, auf dem sie stehen, die Sprache. Wäre das nicht so, so könnten dies keine Märchen mehr sein, sondern man würde sie als trockene Traktate und Pamphlete betrachten, die nur von kurzem Reiz wären. Das Kleid des Märchens verleiht ihnen überzeitliche Dauer und Aussagekraft. Außerdem sind sie fast überall, wo man Märchen liest, zu verstehen – in Zeiten der Globalisierung sicherlich kein Nachteil.

Der Sprecher

Der dritte wichtige Beiträger zur Wirkung dieser herrlichen Texte ist der Sprecher. Michael Schwarzmaier hat die Seele der Märchen erfasst, trägt sie absolut ernst und überzeugend vor, um so die Stoßrichtung der Aussage jedes Textes klarzumachen, bis die Aussage ihre Pointe gefunden hat. Dabei hat der Hörer den Eindruck, als ob Schwarzmaier nicht zum ersten Mal Märchen und Fantasien vortrage. Das ist zutreffend: Er hat auch schon „Ijon Tichys Erinnerungen“ aus Lems „Sterntägebüchern“ vorgetragen, und zwar mit ebenso viel Verve und Einfühlungsvermögen für das Tempo und die Intonation von Sätzen. In einem Märchen steigert er das Tempo bis zum Gehtnichtmehr. Normalerweise würde dies grotesk erscheinen, doch der Text ermuntert dazu: Es ist der dramatische Höhepunkt von „König Murdas“, als sich der Vortrag im |prestissimo| seinem Finale nähert. Herrlich.

Unterm Strich

Die „Robotermärchen“ sind eine Reihe von Parodien, in denen der Autor weder Zukunftsprobleme noch aktuelles Geschehen der Entstehungszeit (1964/65) aufgreift, sondern vielmehr überzeitlich gültige Themen wie: Ursprung und Entstehung des Kosmos, allzu menschliche Fehler und Schwächen von Herrschern, auf Roboterkulturen übertragen und das künftige Verhältnis von Mensch und – unabhängig gewordener – Maschine, Schöpfer und Schöpfung (vgl. „Frankenstein“).

Dabei rührt das Vergnügen am Lesen der Texte nicht mal so sehr von den konventionellen Erzählmustern oder den mitunter ungewöhnlichen Ideen her, sondern vor allem von der herrlichen Sprache, die wir auch in der Übersetzung genießen dürfen. Der Sprecher Michael Schwarzmaier ist in der Lage gewesen, dieses sinnliche Vergnügen weiterzugeben – mit einem lebendigen Vortrag, der es auch an Sensibilität für Sätze und einzelne Wörter nicht mangeln lässt.

Ich habe das gesprochene Wort mit dem gedruckten in der |Suhrkamp|-Ausgabe von 1978 verglichen und konnte keine Fehler von Bedeutung feststellen. Und ich kann euch sagen, dass es in einem Lem-Text immer ein paar schwere Brocken gibt: Groß-Kyberneur, Abstraktor, Kosmogoniker – das sind noch die leichtesten.

Mein Fazit lautet daher, dass dieses Hörbuch ein lohnender Kauf ist, sofern man auch nur ein winziges Bisschen für Märchen übrig hat. Dass der Preis ein wenig höher ist als etwa bei |Lübbe|-Hörbüchern, liegt vermutlich an der niedrigen Auflage, die der Verlag produzieren konnte. An der Ausstattung lag es wohl nicht, denn die ist recht bescheiden ausgefallen: Es gibt weder Musik noch Geräusche, und auch ein Booklet sucht man im Faltkarton vergeblich.

Wer kann, sollte sich die zusätzlichen Texte in der Buchausgabe sichern, die im Hörbuch weggelassen wurden. Das Buch trägt den Titel „Kyberiade“.

Koontz, Dean R. – Wächter, Der

_Metaphysisch: Willkommen in der Truman-Show!_

Mysteriöse Drohsendungen erreichen die Luxusvilla eines Hollywood-Stars: Schnecken, Käfer, ein Apfel mit einem Puppenauge im Innern. Unter Hochdruck versucht Sicherheitschef Ethan Truman, die Bedeutung der Nachrichten zu zu entschlüsseln. Schon bei seinen ersten Ermittlungen gerät er in eine albtraumhafte Situation, die ihn fast das Leben kostet. Dadurch entgeht ihm, dass Fric, der zehnjährige Sohn des Schauspielers, schreckliche Anrufe bekommt – anonyme Warnungen, die ihm einen grausamen Tod ankündigen … (Verlagsinfo, die leider nicht ganz zutreffend ist)

_Der Autor_

Dean Koontz wurde 1945 in Pennsylvania geboren, musste in seiner Jugend hungern, schrieb Schundromane für einen Hungerlohn, lernte seine Frau Gerda kennen und konnte schließlich mit ihr nach Kalifornien ziehen, wo das Ehepaar seither stets mit einem Golden Retriever zusammenlebt. Es gibt kein einziges Koontz-Buch der letzten Jahre – etwa seit „Geschöpfe der Nacht“ –, in dem nicht mindestens ein Loblied auf diese Hunderasse angestimmt wird.

Die zahlreichen Thriller und Horror-Romane des schärfsten Konkurrenten von Stephen King, welcher ja jetzt im Ruhestand ist, wurden sämtlich zu Bestsellern und in über 30 Sprachen übersetzt. Weltweit hat Koontz laut Verlag über 250 Mio. Exemplare verkauft. Leider wurden bislang nur wenige von Koontz’ Büchern verfilmt. Die beste Verfilmung ist meiner Meinung nach „Intensity“, aber der Film strapaziert die Nerven derart, dass er höchst selten gezeigt wird.

_Handlung_

Der Palazzo Rospo ist das luxuriöse Domizil des Hollywood-Superstars Channing Manheim. Der hat die Villa aber nicht erbaut und auch nicht so genannt: Palazzo Rospo, so lautet einer der vielen Insiderwitze des Romans, heißt übersetzt nichts anderes „Krötinhall“, Domizil von Herrn Kröterich in „Der Wind in den Weiden“. Kleiner Scherz am Rande – aber Aelfric, der zehnjährige Sohn von Mahnheim, kennt solche Insiderwitze.

|Die Zielperson|

Er ist ein aufgewecktes Kerlchen, nur leider sehr von seinen Eltern vernachlässigt. Fric, wie er von allen genannt wird, nennt zwar eine riesige Eisenbahnanlage und einen eigenen Villentrakt sein Eigen, aber seine Eltern bekommt er nur wenige Male im Jahr zu sehen. Deshalb freut er sich ja auch so auf das bevorstehende Weihnachtsfest. Sein „Schattenpapa“ will pünktlich da sein, aber ob seine Quasi-Mama erscheint, bezweifelt Fric stark: Freddie Nielander, das Superdupermodel, hat nur ihre Karriere im Sinn.

Am Tag vor Weihnachten erhält Fric den ersten anonymen Anruf. Auf seiner Privatleitung. Der Anrufer nennt seinen Namen nicht, warnt den Jungen aber, dass er ihn überall finden werde – auch in jenem Panikraum, wo diese seltsamen Haken von der Decke hängen und Fric sich gerne versteckt. Auch im Weinkeller werde er ihn finden, selbst hinter der dortigen Geheimtür. Einfach überall. Fric spürt, wie ihn ein Asthmaanfall zu überkommen droht …

|Der Sicherheitschef|

Von dieser Entwicklung ahnt Sicherheitschef Ethan Truman – ein Name wie das Inbild von Zuverlässigkeit – am Morgen dieses entscheidenden Tages noch nichts. Aber er weiß, dass er den Absender der rätselhaften Drohsendungen erwischen wird. Dieser Rolf Reynerd war nämlich bei der letzten Botschaft ebenso blöd wie dreist vorgegangen. Als er die neueste schwarze Schachtel über riesige Gittertor warf, hatten ihn die Überwachungskameras ebenso erfasst wie das Nummernschild seines Wagens. In der Schachtel befand sich ein Apfel, in den ein Puppenauge eingefügt ist. Sehr witzig.

Reynerd, so ergibt die Recherche, ist ein kleiner Schauspieler. Truman fährt zu seinem Haus und hat ein sehr seltsames Erlebnis. Ohne Übergang stellt er sich realistisch vor, in Reynerds Wohnung zu gehen, den völlig zugedröhnten Schauspieler auszufragen und schließlich von diesem eiskalt erschossen zu werden. Da findet er sich plötzlich wieder im Sitz seines Wagens wieder. Aber woher kommt dann das frische Blut unter seinen Fingernägeln?

Wenig später erhält Truman die Nachricht, dass sein Jugendfreund Duncan, genannt Dunny, der in die Mafiaszene abgerutscht war, tot im Leichenschauhaus liege und ob er, Truman, ihn wohl identifizieren könne? Klar kann er, auch wenn Dunny einst die gleiche Frau, Hannah, begehrt hatte, die dann ihn, Truman, geheiratet hatte. Dunny war lange Zeit im Koma gelegen. Als Truman die Leiche sehen will, ist diese unauffindbar. Soso, die Leichen spazieren in diesem Hospital zur Tür hinaus. Nehmen wohl gar eine Dusche? Ganz genau, Mr. Truman! Und in Dunnys Luxusappartement fehlt natürlich das Foto von Hannah. Auf Hannahs Grab liegt ein frischer Strauß roter Rosen.

|Das FBI und der Anarchist|

Truman wird der Fall zu schräg. Er bittet seinen alten Kumpel Yancy Hazard vom FBI, nach Reynerd zu sehen. Hazard hat keine Mühe, sich einen guten Grund für seinen Besuch dort einfallen zu lassen. Als Reynerd ihm die Tür öffnet, ist er tatsächlich bis zum Stehkragen mit der Modedroge Methamühetamin zugedröhnt. Hazard ist – mit Recht – auf der Hut, doch da passiert etwas Unvorhergesehenes: Ein Besucher klingelt, Reynerd macht die Tür auf – und wird eiskalt abgeknallt! Offenbar will jemand um jeden Preis verhindern, dass Reynerds Hintermänner auffliegen.

Ist einer dieser Hintermänner vielleicht Corky Laputa, der Anarchist? Corky, eigentlich ein Literaturprofessor, tritt in seinem gelben Regenmantel wie ein anarchistisches Rumpelstilzchen auf, als er in der Innenstadt seine Verwirrung, Neid und Missgunst stiftenden „Geschenke“ verteilt. Corky hat jedenfalls genaue Lagepläne von Channing Manheims Villa vorliegen und weiß, wie und wann man am besten hineingelangen könnte. Um was zu tun?

|Der Spiegelmann|

Als Truman abends wieder in sein Büro zurückkehrt, begegnet er Fric. Der erzählt ihm von den anonymen Anrufen, die er erhalten hat. Truman wird misstrauisch, doch er glaubt nicht, dass Fric ihm eine Lüge auftischt. Seltsam ist nur, dass seine Anlage für die Telefonüberwachung keine derartigen Anrufe aufgezeichnet hat. Dafür merkt er jetzt, wie Anrufe auf Leitung 24 eingehen. Dieser Anschluss ist für Anrufe aus dem „Reich der Toten“ reserviert. Trumans Arbeitgeber ist ein eifriger Anhänger des Okkulten.

Unterdessen merkt Fric, der einsame Junge, dass es ihm nichts nützt, die besten Verstecke im ganzen Palazzo Rospo zu kennen. Ein geisterhafter Mann tritt aus einem der zahlreichen Wandspiegel und verfolgt ihn hartnäckig. Wenn er ihn erwischt, wird es sein Vater sein, der ein einsames Weihnachtsfest verbringen wird …

_Mein Eindruck_

Jeden Moment erwartet der Leser also, dass ein Schachtelteufelchen oder sogar ein |deus ex machina| sich als Bösewicht, Retter in der Not oder finsterer Strippenzieher entpuppt. Allerdings und Gottseidank passiert im Palazzo Rospo nichts dergleichen. Allenfalls könnte man die Anrufe auf Leitung Nummer 24, um die sich Truman noch kümmern wird, so nennen. Leider viel zu spät, um noch einen Unterschied zu machen.

Der Autor vermeidet es also relativ erfolgreich, in die Fallen der Klischees für den Plot zu tappen und organisiert das spannende Finale, auf das natürlich alles oben Gesagte hinausläuft, aus dem vorhandenen Personal. Alles, was er noch tun muss, besteht darin, dieses Personal ganz genau zu charakterisieren, damit jede einzelne Figur halbwegs glaubwürdig erscheint und wir an ihrem Schicksal beziehungsweise an ihren Interessen Teilnahme empfinden. Natürlich gilt es auch dabei, etliche Klischeeklippen zu umschiffen. Koontz ist schon einmal übers Ziel hinausgeschossen: In [„Der Geblendete“ 1629 erschuf er Karikaturen statt Menschen und machte so seinen Plot zu einem Panoptikum der Spektakel, deren Ende nicht die Bohne interessierte: Es war einfach zu beliebig.

Aber auch diesmal erlaubt sich Koontz gewisse Extravaganzen, was die Glaubwürdigkeit anbelangt. Doch der langjährige Koontz-Fan erwartet nicht, dass aus Koontz über Nacht ein puristischer Thrillerautor wie Michael Connelly wird: eine Prise Mystery à la „Akte X“, vielleicht sogar Fantasy (Trumans Zeitverschiebung), auf jeden Fall aber Metaphysik darf’s gerne sein. Wenigstens gelingt es dem Autor, bei all diesen Zutaten auf eine eigenständige Weise vorzugehen und nicht bei der Konkurrenz abzukupfern wie so mancher Schriftstellerkollege (z.B. Jeff Long).

|Universum in der Nussschale|

Der „Krötenpalast“ ist ein kleines Universum für sich, vielleicht sogar ein Zerrbild der Welt um uns herum. Daddy ist immer bei der Arbeit (und hat sehr viel Ähnlichkeit mit Tom Cruise) und Mommy ist viel zu egoistisch (und geschieden), um nach ihrem kleinen Sohn zu sehen. Fric ist eine virtuelle Waise und somit relativ schutzlos. Das kommt Corky Laputa und seinen Auftraggebern gerade recht. Der Palazzo mag noch so gut bewacht und gesichert sein, Corky, der „Sohn des Chaos“, wird dennoch einen Weg hineinfinden.

Der einzige taugliche Wächter scheint Ethan Truman zu sein, und in der Tat entwickelt er für Fric, den jungen intelligenten Prinzen im Palast, eine fast schön väterliche Zuneigung. Er ist der Einzige, der seinerseits von Fric respektiert wird, und kann so zum Ersatzvater werden. Allerdings gibt es einen Haken: Fric vertraut dem Angestellten (noch) nicht an, was ihm an bizarren Dingen zugestoßen ist und welchen Bedrohungen er ausgesetzt ist. Vielleicht muss Truman erst selbst lernen, dass es „mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt“ (Hamlet).

Truman erlebt deshalb seinen eigenen Tod nicht nur einmal (bei Rolf Reynerd), sondern sogar zweimal (außerhalb des Friedhofs, wo Hannah begraben liegt). Er ist ein Mann, der sehr viel Bekanntschaft mit dem Tod gemacht hat. Vielleicht zu viel, um sich um reiche Leute wie die Manheims zu kümmern? Nein, noch besteht Hoffnung für ihn. Und somit auch für Fric, der auf Truman angewiesen ist.

Zuerst dachte ich, Truman verfüge über die besondere Fähigkeit der temporalen Teleportation, so wie der junge Held in „Der Geblendete“. Als könne Truman sich selbst in der Zeit so bewegen, dass er seinen Tod voraussehen kann. Wie sich zeigt, ist jedoch etwas oder jemand anderes dafür verantwortlich, Trumans Tod zu verhindern. Wer oder was das ist, soll hier nicht verraten werden. Nur eins ist sicher: Truman darf nicht sterben.

|Kampf zwischen Himmel und Hölle|

Wie in fast allen seinen Romanen seit „Dunkle Flüsse des Herzens“, in dem Koontz der Durchbruch auf eine höhere Qualitätsstufe gelang, findet in der Handlung ein exemplarisches Ringen um die Seele und das Glück eines oder zweier Menschen statt. Truman und sein Kumpel Yancy Hazard kämpfen um die Unversehrtheit von Fric und bemühen sich um die Verfolgung und Bekämpfung desjenigen, der es auf Fric abgesehen hat: Corky, der Sohn des Chaos.

Das Chaos kann bekanntlich sehr vielfältige Gestalt annehmen, und das tut Corky auch: Er nimmt zahlreiche Verkleidungen an, beispielsweise als Agent der National Security Agency (NSA). Wie seine Pendants in „Der Geblendete“ und [„Stimmen der Angst“ 1639 ist Corky ein arrogantes Arschloch mit einem total verdrehten Hirn. Aber der Autor gewährt uns einen ungehinderten Einblick in das Innenleben dieses Ungeheuers und tut sein Bestes, um ihn uns sympathisch zu machen. Das kann lange versuchen, wir verabscheuen Corky trotzdem, solange wir noch das Herz auf dem rechten Fleck haben. Aber genau das bezweckt der Autor: Seine Darstellung des Bösen zwingt uns, einen Standpunkt einzunehmen und Farbe zu bekennen. Stehen wir auf Corkys Seite, dann können wir uns nicht für Fric erwärmen – und umgekehrt.

|Der Engel, dein Freund und Helfer|

Was dieses Ringen zwischen den Vertretern des Guten und des Bösen auf eine metaphysische Ebene hebt, ist der Auftritt eines Schutzengels. Nun ja, zumindest gibt sich dieses Wesen – seine Identität sei nicht verraten – gegenüber einem Kind wie Fric erst einmal als „Schutzengel“ aus. Das Wesen, das einmal ein Mensch war, existiert in einem Zwischenreich zwischen Lebendig- und Tot-Sein, aber auch zwischen Gut und Böse. In diesem Limbus kann es sich gedankenschnell bewegen, um an Ort und Stelle zu sein, wenn es gebraucht wird. Allerdings sind der Art und Weise seines Eingreifens durch seinen Vorgesetzten „Mr. Typhon“ strenge Grenzen vorgegeben. Daher muss der „Schutzengel“ eher psychologische statt physische Mittel einsetzen, um seine Schützlinge dahin zu führen, wo er sie haben will. An diesem Punkt wird es relativ interessant, wie er das anstellt. Es gelingt ihm nicht immer. Auch Engel müssen sich ihre Flügel erst verdienen.

Es gibt noch einen zweiten Engel, wie Truman herausfindet. Leider hat dieser Engel erhebliche Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. Selbst die Leitung Nr. 24 hilft ihm nicht, denn das Zimmer, wo seine dringenden Anrufe – immerhin 56 in zwei Tagen! – aufgezeichnet werden, ist für Truman tabu. Der Guru von Manheim, ein gewisser Ming du Lac (noch so ein krasser Name), hat das Zimmer für die Geister der Toten reserviert. Als Truman trotz des Verbots dort eindringt, hat er ein bizarres Erlebnis. Aber auch eine Erleuchtung: Endlich findet er heraus, worin die Botschaft der sechs Drohsendungen besteht. (Gut zu wissen, das bei Koontz alle Rätsel eine Lösung finden, nicht wahr? Es gibt keine losen Enden bei diesem Autor.)

|Engels Höllenfahrt?|

Nach vollbrachtem Werk besteigt Engel Nummer 1 einen Fahrstuhl. Zunächst ist er sich keineswegs sicher, wohin dieser Fahrstuhl fährt. Aber auf dem Weg nach unten passiert die Liftkabine viel zu viele Stockwerke, um noch in einer irdischen Dimension landen zu können. Als der Lift anhält, ist Engel Nummer 1 auf das Schlimmste gefasst. Gibt es eine Chance für ihn? Schließlich hat er sich redlich auf Erden bemüht, und wie wir von Goethes Faust wissen, wird der erlöst, „der immer strebend sich bemüht“. Und tatsächlich, das Wunder geschieht, denn auch jetzt gilt, was Goethe in den letzten Versen von „Faust II“ schreibt: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“ Dann endlich erhält der Originaltitel „The Face“ eine tiefere Bedeutung.

Es sind solche Extravaganzen, wo der gewöhnliche Thrillerfreund geistig aus der Kurve fliegt und Konntz den Laufpass (wenn nicht Schlimmeres) gibt. Es sind diese Stellen, die den Koontz-Freund bei der Stange halten, so dass er seinem Lieblingsautor treu bleibt. Das ist schon seit dem fabelhaften „Intensity“ so, und das wird noch eine ganze Weile so bleiben.

Denn Koontz ist ein äußerst produktiver Autor, der mittlerweile schon sechs Romane veröffentlicht hat, die bei uns noch nicht einmal angekündigt worden sind. Dazu gehören „The Taking“, „Odd Thomas“, „Son of Frankenstein I + II“, „Life Expectancy“ und zuletzt „Velocity“. Hoffentlich hab ich keinen vergessen.

|Die Übersetzung|

… durch Bernhard Kleinschmidt erschien mir nicht nur als makellose Übertragung ins Deutsche, sondern auch als hundertprozentig fehlerfrei (ein wichtiger Grund für mich, nur noch gebundene Bücher lesen zu wollen). Das dachte ich zumindest, bis ich auf Seite 679 auf einen klaren stilistischen, wenn nicht sogar semantischen Fehler stieß. Kugeln, die an einem Menschen vorbeifliegen, „verpassen“ ihn nicht, wie Kleinschmidt formuliert, sie verfehlen ihn. Ich kann einen Bus verpassen, aber keine Kugel. Ich werde nämlich niemals so schnell sein können wie eine abgeschossene Kugel. Merke: Nobody’s perfect.

_Unterm Strich_

„Der Wächter“ hat mich wieder einmal von den erzählerischen Qualitäten des Autors Koontz überzeugt. „Der Geblendete“ war ein klarer Schuss in den Ofen und hatte mich umso mehr enttäuscht, als „Stimmen der Angst“ davor ein Glanzpunkt im Werk von Koontz gewesen war. „Der Wächter“ wird nichtsdestotrotz alle puristischen Thrillerfreund enttäuschen, weil es sich dieser Autor nicht nehmen lässt, seine Geschichte mit metaphysischen Erkenntnissen und Phänomenen zu kombinieren, die den einen oder anderen Leser garantiert vor den Kopf stoßen werden.

Die Lektüre von Goethes „Faust“ und vor allem von „Faust II“ kann erheblich dazu beitragen, ein paar Dinge auf dieser metaphysischen Bedeutungsebene klarzustellen. So zum Beispiel die Sache mit dem Pakt und dass man sich hienieden auch dann noch bewähren muss, wenn man schon glaubt, tot zu sein. Die Welt – und das ist nicht nur die physische „Erde“ – ist für Koontz ein Schlachtfeld, und jeder Einzelne von uns spielt darauf eine Rolle, und sei es nur durch einfache An- oder Abwesenheit. (Eines Tages wird es kluge Studenten geben, die über die „Metaphysik im Werk des Horrorschriftstellers Dean Koontz in den Jahren von 1976 bis 2006“ eine Seminararbeit, eine Abschlussarbeit oder eine Dissertation schreiben werden. Diesen Kelch lasse ich an mir vorübergehen.)

Wer also nichts gegen ein paar schräge Beschreibungen und seltsame Phänomene in dieser Geschichte einzuwenden hat, wird mit einer annehmbar spannenden Story belohnt werden. Leider gibt es noch keine preisgünstige Taschenbuchausgabe, aber auch diese ist nur eine Frage der Zeit.

|Originaltitel: The Face, 2003
720 Seiten
Aus dem US-Englischen von Bernhard Kleinschmidt|

Jungstedt, Mari – Näher als du denkst (Hörbuch)

_Verhängisvoll: junge Mädchen und ältere Freunde_

Im Dezember verschwindet die 14-jährige Fanny Jansson spurlos auf Gotland. Hat ihr Verschwinden etwas mit dem Mord an dem Fotografen Henry Dahlström zu tun, der Wochen zuvor mit eingeschlagenem Schädel gefunden wurde, fragt sich Kommissar Robert Anders. Versteckt in Dahlströms Dunkelkammer finden sich eindeutige Fotos, die Fanny mit einem Unbekannten zeigen. Anders und sein Team ermitteln fieberhaft, aber sie kommen zu spät, um Fanny zu retten: Mit Würgemalen am Hals liegt sie in einem Loch im Heidewald.

Wenige Tage vor Weihnachten sieht Anders nach diesem Fund zwei Tage Gelegenheit, um mit seinem Freund Leif auszuspannen. Da fällt ihm etwas Merkwürdiges an Leifs Inneneinrichtung auf …

_Die Autorin_

Mari Jungstedt, geboren 1962 in Stockholm, arbeitet als Radio- und TV-Journalistin und steht zurzeit (08/2008) für das schwedische Fernsehen als Nachrichtensprecherin vor der Kamera. Nach „Den du nicht siehst“ folgt mit „Näher als du denkst“ ihr zweiter Krimi um Kommissar Robert Anders. HINWEIS des Verlages: Im Original heißt der Kommissar nicht Robert Anders, sondern Anders Knutas. Aber im Hörbuch wurde der Name dem in der ZDF-Verfilmung (s. u.) angeglichen. „Alle weiteren Handlungen und Namen entsprechen der Buchausgabe.“

Mari Jungstedt auf |Buchwurm.info|:

[„Den du nicht siehst“ 1344 (Buchausgabe)
[„Näher als du denkst“ 1312 (Buchausgabe)

_Sprecher & Produktion_

Walter Sittler, 1852 in Chicago geboren, arbeitet in Mannheim und Stuttgart am Theater. Dem TV-Publikum ist er durch seine zahlreichen Serienrollen, u. a. in „Girl Friends“ und „Nikola“ bekannt. Sittler spielt den Kommissar Robert Anders in der ZDF-Verfilmung der Mari-Jungstedt-Krimis.

Regie führte Margit Osterwold, die Aufnahme fand im Mai 2008 im Eimsbütteler Tonstudio, Hamburg, statt.

_Handlung_

|Henry Dahlström|

Am Sonntag, den 11. November hat Henry Dahlström wahrlich Grund zum Feiern und Ausgelassensein: Er hat gerade auf der Trabrennbahn sozusagen den Jackpot gewonnen – 80.000 schwedische Kronen! Für einen Alkoholiker, der seit Jahren von der Sozialfürsorge lebt, ist das ein gewaltiger Batzen Geld.

Nur seinen besten Freund Bengt weiht er ins das Versteck des Geldes ein: einen Staubsaugerbeutel in der Besenkammer. Doch etwa eine Woche später findet Bengt seinen Freund mit eingeschlagenem Schädel tot auf dem Boden seiner Dunkelkammer liegen. „Blitz“, so nannte er ihn immer, denn Henry war früher mal ein Fotoreporter für die Presse auf Gotland gewesen, lang ist’s her. Der Hausmeister, der ihm geöffnet hat, wundert sich, dass Bengt selbst wie ein geölter Blitz davonläuft.

Am Sonntag, den 18.11., reißt sich Kommissar Robert Anders, Kripo Gotland, von seiner Familie los und begibt sich zusammen mit seiner Assistentin, der 37-jährigen, ledigen Karin Jakobsson, zum Tatort. Der Gestank ist unbeschreiblich, denn Dahlströms Leiche ist trotz der herrschenden Kälte bereits in Verwesung übergegangen. Seltsam, dass niemand diesen Alkoholiker vermisst hat. Außer diesem Bengt Jonsson natürlich, der spurlos untergetaucht ist. Anders macht sein Ermittlungsteam mit dem Fall bekannt, der Staatsanwalt Smittenberg ist auch zugegen. Was sie suchen, sind die Kamera, die Tatwaffe – wohl ein Hammer – und natürlich Jonsson, den Entdecker der Leiche. Anders erinnert sich gut an Dahlström; aber es ging rapide abwärts mit ihm, als er sich erst selbständig machte und dann seine Frau die Scheidung einreichte.

|Johan Berg|

Emma Linarwe denkt oft an den Sommer mit Johan Berg zurück. Damals fühlte sie sich zum ersten Mal richtig lebendig und verbrachte eine wunderbare Zeit, die ihr half, die schreckliche Mordserie durchzustehen, die Gotland in Angst und Schrecken versetzte (in „Den du nicht siehst“). Doch vor die Wahl gestellt, bei ihrem Mann Olle und ihren beiden Kleinen zu bleiben oder mit Johan fortzugehen, entschied sie sich für ihre Familie. Nun ruft Johan wieder an. Er kommt nach Visby, um über den Mord an dem Ex-Fotografen Dahlström zu berichten, über den die Zeitungen schreiben. Schon als sie seinen Brief liest, ahnt sie, dass dies ein Fehler ist. Als er anruft, sagt sie ja zu einem Treffen.

Johan Berg, ein Fernsehjournalist in Stockholm, kennt Robert Anders noch vom Sommer und hat ein gutes Verhältnis zu ihm. Deshalb wimmelt ihn Anders auch nicht ab, sondern gibt ihm die rudimentären Fakten, die demnächst in der Pressekonferenz verlautbart werden sollen. Das ist dem ehrgeizigen Berg zu wenig. Er hört sich bei den Nachbarn Dahlströms um und stößt am 22.11. bei Niklas Appelkvist auf eine Goldgrube. Der junge Student will partout nicht mit den Bullen sprechen und lässt sich von Berg zudem Quellenschutz zusichern. Dann verklickert er dem verblüfften Berg, dass er den versoffenen Dahlström im Sommer um fünf Uhr morgens – man stelle sich vor! – unten am Hafen mit einem fein gekleideten Mann sprechen gesehen habe. Die beiden wollten nicht gesehen werden. Diskret informiert Berg Kommissar Anders.

Kaum gehen Berg und sein Kameramann vors das Mietshaus, in dem Dahlström wohnte, hören sie aufgeregtes Rufen. Überall Polizeiautos und blinkende Alarmlichter. Vor einem abgesperrten Areal steht Robert Anders und Berg eilt zu ihm. Die Kamera filmt unbemerkt, als ein Polizist aufgeregt einen Gegenstand hochhält. Verdammt, ein blutbefleckter Hammer. Sie haben die Tatwaffe gefunden! Damit, weiß Berg, kommen sie in die Abendnachrichten. Der Coup des Tages. Schon zuvor hat er per Zufall herausgefunden, dass Dahlström in Schwarzarbeit überall auf der Insel Schreinerarbeiten erledigte und natürlich entsprechend verdiente. Anders war dankbar für diese Information, aber Berg hofft auf mehr. Sein Riecher sagt ihm, dass es hier noch sehr viel mehr aufzudecken gibt. Allein schon die Liste derjenigen Großkopfeten, die Dahlström „beschäftigten“, reicht für einen hübschen Inselskandal.

|Fanny Jansson|

Fanny ist die 14-jährige, körperlich frühreife Tochter eines Jamaikaners, der ihre Mutter sitzenließ und wieder nach Stockholm ging. Fannys Mutter Maivor Jansson arbeitet den ganzen Tag und trinkt zu viel, so dass sie Fanny vernachlässigt. Ihre dunkle Hautfarbe passt Fanny ebenso wenig wie ihre wachsende Brust, so dass sie sich absondert. Nur die Pferde des Stalls der Trabrennbahn sind ihre Freunde, und ein oder zwei der Stallknechte dort.

Auf dem Rücken der Pferde ist Fanny glücklich. Aber nicht mit ihrem neuen Freund, der sie heimlich trifft. Der Mann ist 30 Jahre älter als sie, aber er verwöhnt sie mit Geschenken. Aber am 20. November ist er zu weit gegangen, hat sie betrunken gemacht und ihr die Kleider heruntergerissen, um sie überall zu streicheln. Schweigend hat er sie heimgefahren. Zwei Tage später will er Versöhnung. Am Sonntag könne sie wieder reiten. Sie verrät, dass ihre Mutter nach Stockholm reist und sie allein sein wird. Als er kommt, dauert es nicht lange, bis er nicht mehr an sich halten kann. Sie ahnt, dass sie sich von ihm trennen muss. Aber ob er das zulassen wird, kann sie nur hoffen.

|Die Kripo|

In Dahlströms Dunkelkammer findet die Spurensicherung ein verstecktes Päckchen mit brisanten Fotos. Sie zeigen ein Mädchen mit einem Mann in eindeutiger Situation. Inzwischen ahnt Anders, dass Dahlström eine Erpressung am Laufen hatte. Wie sonst wäre er sonst zu den zweimal 25.000 Kronen gekommen, die er selbst am 20. Juli und im Oktober bei seiner Bank einzahlte? Und der Erpresste hatte wohl die Nase voll, als Henry seinen großen Wettgewinn einstrich.

Als Maivor Jansson das Verschwinden ihrer Tochter Fanny meldet und Anders sich mit diesem Fall beschäftigt, macht ihm das Foto Fannys die Verbindung klar: Sie ist das Mädchen auf Dahlströms Fotos. Aber wer ist der Mann? Als man Fannys Leiche findet, ist Anders klar, dass diese Fotos den Mörder von sowohl Dahlström wie auch Fanny zeigen könnten.

Anders‘ Unwissenheit bringt nicht nur ihn, sondern auch Karin Jakobsson in Lebensgefahr.

_Mein Eindruck_

Pädophilie ist sicherlich weder ein einfaches Thema noch eines, das man ohne weiteres in einem Kriminalroman verarbeiten und darstellen könnte. Die heikle Darstellung betrifft zwei verschiedene Welten: die des oder der Opfer und die des oder der Täter. Der Autorin ist es gelungen, das Opfer Fanny Jannson sehr feinfühlig und glaubhaft zu schildern, so dass uns Fannys Ende wirklich berühren kann. Mit der Welt des Täters verhält es sich völlig anders: Er ist praktisch unsichtbar.

Seine Unsichtbarkeit ist nicht etwa physischer Art; man kann seinen Körper, wie die Fotos belegen, sehr wohl optisch einfangen. Nein, die Unsichtbarkeit ist psychologischer Art, und sie beruht auf der Blindheit seiner menschlichen Umgebung seiner Besonderheit gegenüber. Er ist wie sie: ein ganz normaler Bürger und liebenswerter, geliebter Ehemann und Familienvater, schon seit Jahrzehnten mit allen vertraut und stets durch sein großzügiges Entgegenkommen hochangesehen und wohlwollend beurteilt. Wie der „entwendete Brief“ in Edgar Allan Poes berühmter Detektiverzählung befindet er sich direkt vor aller Augen, und doch können sie ihn nicht als das erkennen, was er ist: ein Kinderschänder.

Deshalb tappen die ansonsten so fähigen Kriminaler Anders und Jakobsson blindlings in seine Falle. Seine Erkundigungen nach dem Stand ihrer Ermittlungen werden lächelnd akzeptiert, aber da natürlich alle Einzelheiten unter das Dienstgeheimnis fallen, mit Entschuldigungen zurückgehalten. Bis aus einer harmlosen Situation eine Krise entsteht. Bis aus dem freundlichen Mann unversehens ein Ungeheuer geworden ist. Und es dauert noch länger, bis sie erkennen müssen, dass das Ungeheuer nicht davor zurückschreckt, sie umzubringen. Es ist der ultimative Terror, aus dem Herzen der Gesellschaft heraus.

Aus meiner Darstellung geht die Notwendigkeit für den Auftritt Johan Bergs nicht hervor. Er ist in den Fall involviert, findet wichtige Fakten heraus, doch mit dem Ausgang hat er nichts zu tun. Nein, für die Autorin ist zwar der Berufskollege Berg der Beachtung wert, doch ihre eigentliche Aussage bezieht sich auf seine Geliebte, Emma Linarwe. Diese steht durch die aufgeflogene Affäre vor einer prekären, lebensentscheidenden Wahl. Geht sie mit Johan, um ihre Liebe zu leben, muss sie ihre Familie, ihre geliebten Kinder verlassen. Nicht nur das: Sie weiß nicht, ob Johan sich um sie ebenso kümmern würde, wie seine Liebe es verspricht, oder um ihr ungeborenes Kind.

|Der Sprecher|

Walter Sittler ist zwar kein Stimmgenie wie Rufus Beck, und die Stimmen seiner männlichen und weiblichen Figuren ähneln sich stark. Aber er kann dafür eindrucksvoll angemessene Emotionen darstellen. Ausgerechnet am Geburtstag seiner Frau Line bekommt Robert Anders Streit mit ihr – sie regt sich über die vermeintliche Botschaft seines lieb gemeinten Geschenkes auf. Sittler lässt sie gehörig laut werden.

Auch als Olle Linarwe von der Untreue seiner Frau Emma, die wieder mit Johan Berg angefangen hat, erfährt, hängt der Haussegen schief: Olle wird wütend und laut. So richtig bedrohlich ist jedoch nur Fannys älterer Freund, der nicht nur aggressiv redet, sondern sie zudem mit bösem Unterton erpresst, ihm zu Willen zu sein. Das verschüchterte Mädchen sieht keinen Ausweg, als ihm zu gehorchen. Nur er bestimme, wann mit ihnen beiden Schluss sei.

Es gibt allerdings viele Szenen, in denen die Figuren zärtliche Worte auf sanfte und leise Weise austauschen, oder sich mühsam zu verständigen suchen. So spricht Olle beispielsweise stockend und zögerlich mit seiner Frau, um Emma zurückzugewinnen. Doch als sie ihm kurz vor Weihnachten gesteht, von Johan schwanger zu sein, wird es für die beiden noch schwieriger.

Alle diese verschiedenen Tonlagen sind in den normalen Gesprächston von Polizisten und Journalisten eingebettet. Häufig referiert Anders, wie es sein Job verlangt. Das sind die langweiligsten, weil normalsten Szenen. Und Sittlers Anliegen ist zu loben, von solchen Inseln des Durchschnitts schnellstens wieder auf Emotion umzuschalten. Daher wurde mir das Hörbuch nur höchst selten langweilig, sondern es steigerte sich im Gegenteil in der Anspannung und Beklemmung. Dies ist sicherlich keine Unterhaltung für zwischendurch.

Schade jedoch, dass es weder Geräusche noch Musik gibt, die den Hintergrund noch emotionaler gestaltet hätten.

_Unterm Strich_

Drei Handlungsstränge verknüpft Mari Jungstedt auf kunstvolle Weise und lässt sie sich in Anspannung und Konfliktbeladenheit jeweils zur Krise steigern. Ich hatte eigentlich einen richtigen Showdown erwartet, doch den verweigert die Klischees vermeidende Autorin ganz bewusst.

Das Finale lässt dennoch nichts an Brisanz zu wünschen. Keiner wünscht dem aufrechten und tapferen Kommissar Anders einen frühzeitigen und gewaltsamen Tod, auch nicht seiner tüchtigen Assistentin, die so viel Gespür für die Welt der Frauen und Mädchen bewiesen hat. Wir können beiden nur die Daumen drücken. Und die Verfilmung würde ich mir zu gerne anschauen.

|Das Hörbuch|

Walter Sittler erweist sich als sehr kompetenter und schier schlafwandlerisch sicherer Schauspieler, der sein Stimm-Metier vollkommen beherrscht. Er verleiht selbst heikelsten Szenen zwischen Fanny und ihrem Freund eine unterschwellige Spannung und Emotionalität, die weit entfernt ist von jedem Voyeurismus (bzw. Ecoutismus, wie man beim Zuhören sagen muss). Sein Täter ist ein wahres Ungeheuer: aggressiv, verschlagen, böse, skrupellos. Ist dies wirkliche der gleiche Mensch wie jener freundliche Familienvater? Unfassbar. Durch genau diesen Kniff tappen wir als Hörer in die gleiche Falle wie Kommissar Anders.

|Originaltitel: I denna stilla natt, 2005
Aus dem Schwedischen übersetzt von Gabriele Haefs
373 Minuten auf 5 CDs
ISBN-13: 978-3-89903-485-1|
http://www.hoerbuch-hamburg.de

Noon, Jeff – Alice im Automatenland

Einfallsreiche und witzige Phantasie um Alice

Der britische Kultautor Jeff Noon erzählt Alices weitere Abenteuer im Wunderland und hinter den Spiegeln, vor allem aber ihren Kampf gegen die Schlangenkönigin.

Es war einmal an einem trüben, verregneten Tag in Manchester, irgendwann im Jahre 1860. Eigentlich sollte die kleine Alice ihre Mathematikaufgaben machen, aber im Moment interessiert sie viel mehr, wo die fehlenden zwölf Teile ihres Puzzles geblieben sind. Außerdem wird sie vom Papagei ihrer Großtante abgelenkt, der sie schließlich überredet, seine Käfigtür ein winziges Stück zu öffnen. Als der Vogel davonfliegt, hinein in die riesige Großvateruhr, lä,uft ihm Alice sofort hinterher.

Und als sie der Uhr wieder entsteigt, befindet sich Alice im Manchester des Jahres 1998, einer Welt der Automatenwunder, die dennoch von der Atmosphäre des vergangenen Jahrhunderts durchdrungen ist. Auf der Jagd nach dem Papagei gerät Alice in Rätsel über Rätsel, sucht nach den zwölf Puzzleteilen, führt Dispute mit den merkwürdigsten Kreaturen, wird von einer unsichtbaren Katze namens Quark begleitet und trifft in einem von Kletterrosen überrankten Cottage sogar Mr. Dodgson alias Lewis Carroll. Und bei alledem versucht sie, irgendwie den Weg zurück in ihre eigene Zeit wiederzufinden. (Verlagsinfo)

Der Autor

Der britische Schriftsteller Jeff Noon, der sich in dieser Fortsetzung der zwei klassischen Alice-Romane „Zenith O’Clock, writer [= righter] of wrongs“ nennt, ist der einfallsreiche Autor der phantastischen Romane „Vurt“ (dt. „Gelb“), „Pollen“ (dt. gleich) und „Nymphomation“ (noch nicht übersetzt). Sie spielen alle in seiner Heimatstadt Manchester. Und dies ist auch zum großen Teil der Schauplatz der wundersamen Ereignisse in „Automated Alice“.

Romane

Vurt (dt. Gelb, ISBN 3-442-44449-7, ISBN 3-442-54007-0)
Pollen (dt. Pollen, ISBN 3-442-44408-X, ISBN 3-442-54031-3)
Automated Alice (dt. Alice im Automatenland, ISBN 3-442-54065-8)
Nymphomation
Needle in the Groove
Falling Out Of Cars

Theaterstücke

Woundings
Vurt – the theatre remix
Alphabox
Somewhere the Shadow
The Modernists

Das Buch ist schwierig ins Deutsche zu übertragen: Die Anzahl der Wortspiele und Doppeldeutigkeiten ist nämlich derartig groß, dass eine Übertragung zwingend ein völlig anderes Werk hervorbringt – etwa so, als wollte man Lewis Carrolls berühmtes Nonsens-Gedicht „Jabberwocky“ übertragen (was ja in der Tat getan wurde).

Handlung

Eines Tages im Jahr 1860 fliegt Alices Papagei Whippoorwill in den Kasten der Großvateruhr und verschwindet. Die um ihren Liebling bangende Alice folgt ihm in das Uhrwerk und landet auf der anderen Seite im Jahr 1998 (wie sie sehr viel später herausfindet) – in einem Termitenbau. Die Termiten sind (wie weiland der weiße Hase) alle sehr in Eile – kein Wunder, sind es doch Computermiten! Sie stellen Berechnungen an, etwa zur Quadratwurzel aus -1 (die es reell nicht geben kann).

Wenig später landet Alice in einem Gartenschuppen, wo ein grobschlächtiger Mann Puppen aus altem Krempel zusammensetzt und dieses Gebilde mit Hilfe einer Handvoll Computermitenerde „belebt“. So zum Beispiel eine Puppe namens James Marshall Hentrail, genannt „Jimi“, der ein höllisches Gitarrengejaule auf einem Tennisschläger („a terrible racket“) veranstaltet … Auch ein gewisser Quentin Tarantula wird erwähnt und ein Trompetespieler namens Long Distance Davis, genannt Miles …

Auf der Jagd nach ihrem entflogenen Papagei trifft Alice auf ihre Zwillingsschwester, Automated Alice, genannt Celia. „Celia“ ist ein Anagramm aus den Buchstaben von Alices Namen. Und Celia stammt aus dem Jahr 1998, aus Manchester. In der großen Stadt erleben die beiden verrückte und erschreckende Abenteuer. So wird Alice zum Beispiel des Mordes angeklagt und landet im Gefängnis. Sie kann entkommen und entdeckt eine Verschwörung der Bürokraten Manchesters, der „Civil Serpents“ (statt civil servants). Die schlangenförmigen Serpents haben nämlich ein wissenschaftliches Experiment mit „Chrononen“ an den nichts ahnenden Bürgern durchgeführt, um sie zu Gehorsam und Gesetzestreue zu bringen. Statt des erhofften Ergebnisses entstanden jedoch Mischungen aus Tier und Mensch, ja, aus Ding und Mensch. Alice trifft Zebramenschen und wandelnde Küchenspülen (und Zenith O’Clock).

Verfolgt von der Herrin der Schlangen landet Alice wieder im alten Häuschen, in dem sie 1860 lebte. Dort setzt sie alle zwölf Puzzlestücke, die sie bei ihren Abenteuern todesmutig gesammelt hat, zusammen – doch da bleibt ein Loch! In der Zooszene, die entsteht, fehlt ein Mädchen … Alice hüpft in das Loch hinein – und landet wieder im selben Moment, in dem sie das Jahr 1860 verlassen hatte – rechtzeitig zur Grammatikstunde mit Tante Ermintrude. Wo sie doch so viel zu erzählen hätte …

Mein Eindruck

Ich kenne nur wenige Bücher, die in gleichem hohen Maß wie „Automated Alice“ geistiges Vergnügen am verrückten Abenteuer (auch sprachlich!) und emotionale Anteilnahme am Schicksal der Hauptfigur in jener genialen Weise zu verbinden vermögen, wie es Noon hier gelungen ist. Das Buch sprüht vor Einfällen, einer verrückter und doch plausibler als der andere, ganz im Stil und Ton der Alice-Bücher. Selbst die Gedichte treffen den gleichen Esprit. Und es gibt eine ganze Reihe von Szenen und Sätzen, die den Leser über die eigene Beschaffenheit und Wahrnehmung der Wirklichkeit nachdenken lassen.

Fazit: Highly recommended! Nicht nur für junge Menschen. Für alle Alice-Fans ein Muss!

Infos: Automated Alice, 1996
Deutsch bei Goldmann/Manhattan
Oktober 1999
218 Seiten
ISBN 3442540658
EAN: 9783442540655

https://www.randomhouse.de

Meyer, Kai / Hagitte, Christian / Bertling, Simon – Alchimistin, Die. Teil 3: Die Katakomben von Wien (Hörspiel)

_Mystisch: Schrecken der Vergangenheit_

Schloss Institoris, ein düsteres Gemäuer an einer einsamen Küste. Inmitten eines Labyrinths endloser Gänge und Säle wächst Aura heran, die älteste Tochter des Schlossherrn. Sie ist die Erbin eines uralten Rätsels, der Rezeptur des Steins der Weisen. Doch als ihr Vater im Auftrag seines Widersachers Lysander ermordet wird, schlägt die Stunde für Auras Stiefbruder Christopher – er beansprucht das Geheimnis der Unsterblichkeit für sich …

Folge 2: Aura enthüllt das Geheimnis ihrer Familie. Ausgerechnet der Mörder ihres Vaters, der geheimnisvolle Hermaphrodit Gillian, befreit sie aus den Klauen grausamer Mörder. Auf der Spur von Auras entführter Schwester Sylvette reisen sie nach Wien. In den Katakomben unter der Stadt geraten sie in einen Konflikt, dessen Ursprünge weit zurück ins Mittelalter reichen …

Folge 3: Sieben Jahre sind vergangen. Aura hat die Geheimnisse der Alchimie erforscht und das Erbe ihres Vaters angetreten. Doch alle, die ihr etwas bedeutet haben, sind tot. An der Seite ihres verhassten Stiefbruders Christopher muss sie abermals den Kampf gegen den alten Feind ihrer Familie aufnehmen – tief unter der Wiener Hofburg. Zugleich dämmert daheim auf Schloss Institoris eine neue Gefahr: Auras wahnsinnige Mutter Charlotte hat eigene Pläne … (Verlagsinfos)

_Der Autor_

Kai Meyer, Jahrgang 1969, studierte Film, Philosophie und Germanistik und arbeitete als Redakteur. Er schrieb schon in jungen Jahren und lieferte u. a. ein paar Jerry-Cotton-Abenteuer. Sein erster großer Erfolg war „Die Geisterseher“, eine historische „Akte X“. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und Drehbuchautor. Bisher sind rund 40 Romane von ihm erschienen. Selbst Kritiker waren von seinem historischen Mystery-Thriller „Die Alchimistin“ begeistert, später folgten „Die fließende Königin“ und „Göttin der Wüste“. Bei |Loewe| erschien mit den „Wellenläufern“ ein Jugend-Fantasyzyklus. „Frostfeuer“ aus dem Jahr 2005 ist eigenständiger Jugendroman. Das Buch wurde mit dem internationalen Buchpreis |CORINE| ausgezeichnet.

Die erste Staffel der achtteiligen Hörspielreihe umfasst die Folgen:

1) [Der Stein der Weisen 5052
2) [Das Erbe des Gilgamesch 5155
3) Die Katakomben von Wien
4) Das Kloster im Kaukasus

Im August 2008 erschien die zweite Staffel:

5) Die Unsterbliche
6) Die Schwarze Isis
7) Der Schatz der Templer
8) Der Alte vom Berge

Weitere Titel von Kai Meyer auf |Buchwurm.info|:

[Interview mit Kai Meyer]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=11
[„Der Brennende Schatten“ 4506 (Hörspiel)
[„Die Vatikan-Verschwörung“ 3908 (Hörspiel)
[„Die Wellenläufer“ 3247 (Hörbuch)
[„Die Muschelmagier“ 3252 (Hörbuch)
[„Die Wasserweber“ 3273 (Hörbuch)
[„Frostfeuer“ 2111 (Hörbuch)
[„Die Alchimistin“ 73
[„Das Haus des Daedalus“ 373
[„Der Schattenesser“ 2187
[„Die Fließende Königin“ 409
[„Das Buch von Eden“ 890 (Hörbuch)
[„Das Buch von Eden“ 3145
[„Der Rattenzauber“ 894
[„Faustus“ 3405
[„Seide und Schwert“ 3558 (Das Wolkenvolk 1, Hörbuch)
[„Lanze und Licht“ 4549 (Das Wolkenvolk 2, Hörbuch)
[„Drache und Diamant“ 4574 (Das Wolkenvolk 3, Hörspiel)

_Die Inszenierung_

Erzähler: Friedhelm Ptok (Ian ‚Imperator Palpatine‘ McDiarmid)
Aura Institoris: Yara Blümel-Meyers
Gillian: Claudio Maniscalo (Jimmy ‚The Haitian‘ Jean-Louis)
Christopher Institoris: Timmo Niesner (Elijah ‚Frodo‘ Wood)
Charlotte Institoris: Kerstin Sanders-Dornseif (Susan Sarandon)
Tess: Aliana Schmitz
Gian: Paul Gerlitz
Marie Kaldani: Katharina Bellena
Ballássy: Bodo Wolf
Und andere.

Für Regie, Ton und Musikkomposition zeichnen Christian Hagitte und Simon Bertling vom Studio |STIL| verantwortlich. (Das Hörspiel ist daher Cornelia Bertling gewidmet, die 2007 mit 40 Jahren starb.) Die Musik spielt das Filmorchester Berlin und der Hochmeisterchor Berlin unter der Leitung von Hagitte. Die Hörspielbearbeitung stammt von Stefan Maetz. |Lübbe Audio| produzierte das Hörspiel und nicht etwa ein Rundfunksender.

_Handlung_

Sieben Jahre sind seit den Kämpfen vergangen, die die drei Institoris-Kinder gegen Lysander geführt habe, der ihre Schwester Sylvette entführt hatte. Im Verlauf der Kämpfe wurde Daniel getötet und Christopher von der Wiener Burgwache gefangen und in den Kerker geworfen. Aura, inzwischen 25, hat überlebt und kennt die Katakomben Wiens inzwischen wie ihre Westentasche. Sie glaubt, ihr Geliebter Gillian sei damals umgekommen. Wenigstens hat sie ein lebendiges Andenken an ihn: ihren Sohn Gian.

Sie trägt zur Tarnung ihr Haar kurz wie ein Mann und kleidet sich auch wie einer. Weil ihre Mutter Charlotte dem Irrsinn verfallen und ihr Bruder ein verurteilter Häftling ist, haben die Behörden Aura zur Alleinerbin des Familienerbes eingesetzt. Die entführte Sylvette wurde vor zwei Jahren für tot erklärt. Inzwischen hat Aura die Alchimistenbibliothek ihres Vaters durchforstet und dabei viel gelernt, vor allem über die Wirkungsweise gewisser Pflanzen wie dem Lebenskraut …

Als sie die Wiener Zelle ihres Bruders Christopher betritt, erzählt sie ihm all dies und gibt ihm anschließend eine Zigarre, an deren Rauch er sterben könne. Weil Chris weiß, dass seine schlaue Schwester nie etwas ohne Grund tut, lässt er sich die Zigarre schmecken, immerhin ein letzter Luxus für einen Lebenslangen. Erst auf dem Friedhof wacht er wieder auf. Dort hat ihn der Friedhofsgärtner schon für tot gehalten und ein passendes Grab geschaufelt. Aura weiß jedoch, dass sie nur 33 bis 34 Stunden warten muss, bis der Betäubte wieder erwacht. Und so kommt es auch.

In ihrem Hotelzimmer hecken sie einen verwegenen Plan aus, um Lysander frontal anzugreifen, natürlich wieder durch die sattsam bekannten Katakomben. Inzwischen hat Aura eine ganze Söldnerarmee angeheuert. Keine halben Sachen diesmal!

Doch was sie in Lysanders Gemächern vorfinden, überrascht sie sehr. Ein kleines Mädchen entpuppt sich als Sylvettes Tochter Tess, und ein Zimmer weiter liegt eine lebende Mumie in einem Himmelbett: Ist das jetzt endlich der gesuchte Lysander? Röchelnd erzählt der Alte, Sylvette sei mit den anderen fortgegangen, doch wohin, verrät er nicht. Aura ist entschlossen, dem Alten das Mädchen zu entreißen, und hebt das Messer, um ihn zu töten. Er wäre nicht ihr erstes Opfer. Da fällt ihr jemand in den Arm …

_Mein Eindruck_

Diese Episode präsentiert gewissermaßen eine Wiederholung der zweiten Folge, denn nach sieben Jahren und einigen Personalveränderungen erfolgt schon wieder ein Angriff auf Lysander, und sogar am gleichen Ort wie zuvor, in den Katakomben unter der Wiener Hofburg.

Wieder narrt uns der Autor mit Uneindeutigkeiten. Die erste ist der scheinbare Tod Christophers durch die Zigarre, die ihm Aura gegeben hat. Hier folgt eine der ersten Aufhebungen des Todes durch Christophers Wiederauferstehung aus dem Grab des Friedhofsgärtners. Allerdings wird er alles andere als wie ein Messias verehrt, sondern darf gleich nochmal richtig ranklotzen, wenn er gegen Lysander kämpft. Auch als Lazarus hat man’s nicht leicht.

Die zweite Uneindeutigkeit ist die Identität jenes Mannes, der Tess begleitet und sich in seinem Himmelbett offenbar darauf vorbereitet, endgültig den Löffel abzugeben. Doch ist das wirklich Lysander, der da vor Auras blitzendem Messer liegt, oder nicht doch wieder einer dieser Handlanger, über die der ehemalige Tempelritter Lysander in Mengen zu verfügen scheint? Wahrscheinlich wird auch dieses Geheimnis erst in der nächsten Folge enthüllt.

|Unsterblich oder was?|

Wer schon immer Unsterblichkeit für eine mordsmäßig tolle und aufregende Sache gehalten hat, der dürfte erwarten, dass die darüber verfügenden Figuren in „Die Alchimistin“ vor Jubel einen Freudentanz aufführen. Diese Erwartung wird leider nicht erfüllt, muss ich sagen. Das liegt wohl an den Umständen. Erstens befindet sich Aura nun als Nestors Kind in einem exklusiven Zirkel, der es für angebracht hält, die Eigenschaft der Unsterblichkeit nicht an die große Glocke zu hängen. Und zweitens trachten ihr immer noch gewisse Gestalten nach dem Leben, die eben diesem Zirkel entstammen. Gestalten wie etwa Lysander, aber auch noch andere.

Aber immerhin gibt es etwas, worüber sich Aura in dieser Hinsicht freuen darf. Sie hat zwar Gillian verloren, aber dafür dessen Sohn Gian erhalten. Und nach dem Kampf in Wien verfügt sie nun auch über Sylvettes Tochter Tess. Wie sich herausstellt, verfügen beide Kinder über erstaunliche Fähigkeiten. Sie können nämlich ihre genetischen Erinnerungen abrufen (ob es die nun wirklich gibt oder nicht, sei mal dahingestellt). Das funktioniert wie psychisches Fernsehen, komplett mit Bildfolgen und Soundtrack. Dieser dramaturgische Trick ist wirklich klasse einsetzbar und verschafft dem Hörer eine ganze Reihe von Rückblenden voller Dramatik. (Dass die Erinnerungen nicht das alltägliche Teetrinken betreffen, liegt irgendwie nahe.)

Doch Aura weiß inzwischen, wie die Vererbung in einer Templerfamilie funktioniert: durch Inzest. Und folglich muss sie auch erkennen, dass sowohl Gian als auch Tess in großer Gefahr schweben …

_Die Inszenierung_

|Die Sprecher|

Kai Meyer lobt die Darstellung Yara Blümels in höchsten Tönen, insbesondere die Übereinstimmung mit seiner Vorstellung von der Entwicklung der Heldin Aura Institoris. Mittlerweile ist sie bereits eine selbständige junge Frau von 24 oder 25 Jahren, die ihrem Stiefbruder Christopher helfen kann. In der Schweiz hat sie gezeigt, dass sie Eigeninitiative besitzt und sich zur Wehr setzen kann, nun führt sie sogar einen Generalangriff auf Lysander an. Dies ist keine Frau, die etwas anbrennen lässt, wenn man es sofort erledigen kann. Yara Blümels Stimme weiß dies genau auszudrücken. Um Aura braucht man sich wirklich keine Sorgen zu machen – es sei denn, die Geschichte verlangt es.

Timmo Niesner ist die deutsche Stimme von Elijah „Frodo“ Wood. Er bringt in seine Rolle als Christopher Institoris eine Menge Feingefühl ein, um die verschiedenen Beziehungen, in denen er sich zu Vater und Mutter, zu Schwester und Bruder befindet, entsprechend flexibel auszudrücken. Die Figuren Sylvette und Daniel spielen hingegen praktisch keine Rolle.

Hervorzuheben ist der passende österreichische Tonfall des Friedhofsgärtners. Hier hat der Sprecher mitgedacht. Im Übrigen fand ich den Text im Vergleich zu der Musik und den (spärlichen) Geräuschen viel zu leise ausgesteuert.

|Die Geräusche|

Die realistisch gestalteten Geräusche sind zunächst recht zurückkahltend, denn in der Kerkerzelle und auf dem Friedhof ist wohl kaum größerer Radau zu erwarten. Dies ändert sich auch nicht mit dem Eindringen in Lysanders Räume, wo ein alter Mann jammert und röchelt. Noch nachdenklicher wird die Stimmung im Schloss an der melancholischen Ostsee. Ein gewisses Drama wird erst am Schluss angedeutet, als der Donner rollt und eine dunkle Gefahr über dem Schloss heraufzieht, nachdem Aura und Christopher sich auf den Weg in den Kaukasus gemacht haben.

|Die Musik|

Die Musik ist neben dem Text das überragende Merkmal dieser Hörspielreihe. Christian Hagitte und Simon Bertling vom Studio |STIL| haben sich wieder richtig ins Zeug gelegt und einen Score geschaffen, der diesen Namen auch verdient. Die Musik schafft die Stimmung für jede Szene, und wer auf die Musik achtet, bekommt sofort mit, wenn sich die Stimmung ändert, so etwa bei einem Wechsel des Schauplatzes.

Aufgrund dieser vielfältigen Wechsel fällt es nicht leicht, die Musik pauschal zu charakterisieren, aber mir ist aufgefallen, dass sich die klassische Instrumentierung häufig auf der melancholischen und wehmütigen, wenn nicht sogar düsteren Seite des Farbenspektrums bewegt. Allerdings ist diese Gemütslage höchst romantisch und keineswegs morbide oder zerfahren. Daher fällt es der Musik leicht, aus dem romantischen Ton in den dramatischen Ausdruck zu wechseln.

Wird die Musik dramatisch, kann sie auch recht flott werden, besonders in Kampfszenen, von denen es nicht wenige gibt. Doch die Musik muss aufpassen, dass sie nicht die Rufe und Schreie während dieser Kampfszenen überlagert. Die Figuren sollten immer die Oberhand über die Stimmung haben, sonst erscheinen sie als Marionetten.

Das Outro erfüllt die Funktion eines Aufräumers: Jetzt spielt das gesamte Orchester eine majestätische und dramatische Melodie, die nicht nur die Bedeutung des Gehörten unterstreicht, sondern Anlass zur Hoffnung auf weitere solche weltbewegenden Ereignisse gibt. Der Verweis auf die Fortsetzung, gesprochen von Lutz Riedel, unterstreicht dieses Versprechen, das die Musik gibt.

|Das Booklet|

Ein Geleitwort des Autors lobt die Darstellung Yara Blümels in höchsten Tönen, sagt aber immerhin genau, was ihm daran so gefiel, nämlich die Übereinstimmung mit seiner Vorstellung von der Entwicklung der Heldin Aura Institoris. Außerdem gefiel die Musik ausnehmend gut. Er hat jetzt Lust, die Fortsetzung zu schreiben. Wird auch Zeit!

Der Rest des Booklets liefert einen Überblick über die erste Staffel und eine Biografie des Autors.

_Unterm Strich_

Das Hörspiel versucht, den goldenen Mittelweg zwischen Edgar Allan Poes [„Der Untergang des Hauses Usher“ 2347 und einer optimistischen Entwicklungsgeschichte à la „Anne auf Green Gables“ zu gehen. Damit sind schon zwei Extreme hinsichtlich Plot, Aussage und vor allem Stimmung genannt. Der Mittelweg bedeutet ein ständiges Ringen um Selbstbehauptung für die Hauptfiguren Aura und Christopher. Der Gegner ist eine Altlast der Familie, die aus der Vergangenheit ihres Familienoberhauptes Nestor stammt: Lysander (wir erfahren nicht mal seinen Nachnamen).

Diese Episode ist relativ, denn durch Graben in der Vergangenheit müssen Aura und Chris herausfinden, wo sich ihr Erzfeind Lysander mitsamt der entführten Schwester Sylvette aufhält. Die Stimmung ist weiterhin mystisch und dramatisch, denn die Gegner zeigen sich noch nicht in eigener Gestalt, sondern nur als Ahnung kommender Schrecknisse. Die vierte Folge schließt diesen Spannungsbogen dann ab.

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und Stimmen von bekannten Schauspielern (u. a. Elijah Wood) einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Mir war die Umsetzung an vielen Stellen zu romantisch und melodramatisch, aber von einer statischen Handlung kann keine Rede sein, denn die folgerichtige Entwicklung von Auras Abenteuern im Kampf gegen Lysander und seinen Schergen ist mitreißend geschildert. Auch die romantische Liebe kommt – in der zweiten Folge – nicht zu kurz.

Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert und die Stimmen der Stars vermitteln das richtige Kino-Feeling. Wer jedoch mit Melodramatik absolut nichts am Hut hat, sich aber trotzdem zünftig gruseln will, der sollte zu härterer Kost greifen.

|70 Minuten auf 1 CD
ISBN-13: 978-3-7857-3593-0|
http://www.kai-meyer.com
http://www.luebbe-audio.de
http://www.stil.name