Alle Beiträge von Michael Matzer

Lebt in der Nähe von Stuttgart. Journalist und Buchautor.

Guy Gavriel Kay – Das Komplott (Die Reise nach Sarantium 1)

Nach Byzanz segeln und überleben

Der vierteilige Doppelroman entführt den Leser in eine spätantike Zeit mit anderen Namen und anderem Geschichtsverlauf, doch es ist deutlich, dass Sarantium dem alten Byzanz (Ost-Rom) entspricht: Den Bänden sind Zitate aus dem Gedicht „Sailing to Byzantium“ des irischen Dichters W. B. Yeats vorangestellt.

Der 2001 bei Heyne veröffentlichte Zyklus „Die Reise nach Sarantium“ besteht aus folgenden Bänden:

1) Das Komplott (06/9141)
2) Das Mosaik (06/9142)
3) Der neunte Wagenlenker (06/9165)
4) Herr aller Herrscher (06/9166)

Der Autor
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Sally Nicholls – Zeit der Geheimnisse (Lesung)

Magisch: Mit dem Grünen Mann durch die Zeit der Trauer

Nach dem Tod ihrer Mutter leben die beiden Schwestern Molly und Hanna bei den Großeltern auf dem Dorf. Doch das Leben auf dem Land, die Dorfschule, all das ist nicht so leicht für die Mädchen aus der Stadt Newcastle. Molly, die Leseratte, flüchtet sich in Fantasien von einem seltsamen Mann, der von wilden Reitern verfolgt wird. Einbildung? Hirngespinste?

Merkwürdig ist nur, dass die Fantasien der Zehnjährigen der Legende vom Eichenkönig ähneln, der, so die Sage, jedes Jahr sterben muss, um wenig später wiedergeboren zu werden. Der ewige Kreislauf von Werden und Vergehen, von Winter und Sommer, aber auch von Sich-Verlieren und Sich-Wieder-Finden. (Erweiterte Verlagsinfo)

Die Autorin

Sally Nicholls, geboren 1983 in Stockton, studierte Philosophie und Literatur. Sie verfasste ihren Debütroman „Wie man unsterblich wird“ mit nur 23 Jahren. Er erschien 2008 in England und wurde bereits mit mehreren großen Literaturpreisen ausgezeichnet und in 18 Sprachen übersetzt (siehe meinen Bericht zum Hörbuch). Sally Nicholls lebt in London. (Verlagsinfo)

Die Sprecherin

Ulrike Claudia Tscharre (* 15. Mai 1972 in Urach) ist eine deutsche Schauspielerin. Sie besuchte von 1996 bis 1998 die Akademie für darstellende Kunst in Ulm. Im Fernsehen war sie erstmals als Susanne in der ARD-Serie Ina und Leo zu sehen. Sie gab ihr Kinodebüt 2004 in „Schöne Frauen“ als Karin Leiser unter der Regie von Sathyan Ramesh. Seitdem wirkte sie in zahlreichen TV-Produktionen mit. 2007 spielte sie an der Seite von Christoph Maria Herbst die weibliche Hauptrolle in der Comedy-Serie „Hilfe! Hochzeit! Die schlimmste Woche meines Lebens“. 2008-2009 drehte sie unter der Regie von Dominik Graf den Krimi-Mehrteiler „Im Angesicht des Verbrechens“ in der Rolle der Sabine Jaschke, 2009 übernahm sie die Hauptrolle in dem TV-Melodram „Letzter Moment“. Außerdem ist sie als Sprecherin bei Hörspielen und Hörbuch-Produktionen, wie „Der Schwarm“ und Henning Mankells „Wallander“-Reihe als Linda Wallander zu hören. Ulrike C. Tscharre lebt in Berlin. (Quelle: Wikipedia)

Die Musiker

Für die Produktion zeichnete Rudi Mika verantwortlich, der auch die Musik auswählte und selbst an Geige, Mandoline, Mundharmonika, Kantele und diversen Gitarren zu hören ist. Neben ihm spielen fünf weitere Musiker diverse Instrumente.

Für den Ton des Textes im auraton Studio zu Berlin war Patrick Ehrlich zuständig. Die Musikeinspielungen fanden im subtone Studio zu Dortmund statt, wo der Musiker Ralf Kiwitt Ton und Technik steuerte.

Handlung

Molly Alice Brooke ist die jüngere von zwei Schwestern, die seit dem Tod ihrer Mutter bei den Großeltern draußen auf dem Land leben müssen, weil ihr Vater, ein freier Journalist in Newcastle, sich nicht alleine um sie kümmern kann. Abgesehen davon, dass sie die Stadt und alle ihre Freunde vermissen, müssen Molly und Hannah auch noch in die doofe Dorfschule, wo alle Kinder ungeachtet ihres Alters von nur einer Lehrerin unterrichtet werden. Wenigstens kriegt Moll im Laden ihres Großvaters immer einen Tee und kann eines ihrer vielen Bücher lesen. Niemand kann es jedoch Hannah rechtmachen. Sie liest auch nie was.

Die Begegnung

Hannah will abhauen, Moll muss ihr folgen. Doch die Straßen in Northumberland können vor allem in Dörfern sehr dunkel sein. Nur der Mond beleuchtet ihren Weg, als Moll ihre Schwester plötzlich aus den Augen verliert und spät abends nach Hause zurückgehen muss. Da hört sie Schritte, Reiter und das Hallen eines Horns und Hundegebell. Die Wilde Jagd ist unterwegs! Moll schließt die Augen, bis der Lärm verhallt ist. Als sie eine Böschung hinabrutscht, fangen starke Arme sie auf. Der Mann, hinter dem die Jäger her waren, beruhigt sie.

Sie sieht, wie jung er ist. Entsetzt starrt sie auf seine blutenden Wunden, da er weder Hemd noch Schuhe trägt. Er rät ihr, nach Hause zu gehen. Sie entgegnet, ihre Mom sei tot. Er warnt sie vor der Wilden Jagd, und Moll stolpert benommen zum Haus ihrer Großeltern. Sie erzählt alles ihrer Oma, die sie tröstet. Doch wo war Hannah, die auf sie achtgeben sollte, die ganze Zeit? Moll fühlt sich von ihr verraten.

Das Abbild

Auf einem Schulausflug der Schule erblickt Moll in der alten Dorfkirche eine Statue, deren Gesicht ihr bekannt vorkommt: So sah der Mann in der vergangenen Nacht aus. Miss Shelley erklärt ihr, dies sei der Grüne Mann. Er sei das Symbol für Wiedergeburt und finde sich deshalb sogar auf manchen Grabplatten abgebildet. Es sei ein uralter Gott, der jeden Winter sterbe und im Jrühjahr wiedergeboren werde. Diese Vorstellung findet Moll grässlich. Man sollte was dagegen tun.

Wiedersehen

Als Moll später an den Ort ihrer Begegnung zurückkehrt, folgt sie einer Blutspur. Über Zäune und durch Gatter gelangt sie zu einer baufälligen Scheune, die zunächst leer zu sein scheint. Doch dann hört sie ihn: „Ich bin hier.“ Er sieht genauso schlimm aus wie gestern, doch er behauptet, es gehe ihm gut und er brauche nichts. Kaum sieht sie einmal nicht hin, ist er verschwunden. Und als sie Hannah den Grünen Mann zeigen will, ist er natürlich nicht zu erblicken. Hannah ist wütend und spottet. Molly verteidigt sich, ihre Mutter Diana, gestorben mit 39 im August, hätte ihr geglaubt. Sie wusste, dass die Welt ein seltsamer, wundervoller Ort ist.

Beim nächsten Besuch in der Scheune staunt sie: Ein Babybaum wächst neben dem grünen Mann, und Gras und Efeu wachsen da, sogar eine Glockenblume. Als sie diese nach Hause bringt, wundert sich Jack, der Gärtner: „Hm, eine Glockenblume im Oktober!“ Sie fragt ihn, ob er an Magie glaube. Er überlegt: „Ja, aber nur in Bäumen.“ Sie fragt sich, welche Wünsche ihr ein Gott wohl erfüllen würde.

Als am Samstag Dad zu Besuch, fragt sie ihn, ob sie nicht wieder bei ihm leben könne. Sie würde kochen und putzen und alles. Doch er winkt ab, dass dies nicht gutgehen würde. Ein Besuch beim Grünen Mann tröstet sie über die Zurückweisung hinweg. Sie hat eine ganze Fragenliste angefertigt. Der Baum wächst zu einer stattlichen Eiche heran, die dem Dach entgegenstrebt. Er selbst sieht jetzt älter aus. Seinen Namen weiß er nicht. Älter sei er als eine Eichel. Und ihm werde nie kalt. Na, toll.

Aber er sagt etwas Besorgniserregendes: „Der Stechpalmenkönig, mein Verfolger, wird stärker.“ Und er hustet schrecklich. Moll fragt ihn, ob er, als Gott der Wiedergeburt, auch ihre Mutter wieder lebendig machen könne. Er verschwindet. Miss Shelley sagt, der Stechpalmenkönig sei wieder Eichenkönig bzw. der Grüne Mann auch ein Gott. Er sei dessen Gegengewicht und herrsche im Herbst und Winter. Moll findet, dieser König sei böse. Und die Wilde Jagd? Von der gebe es verschiedene Geschichten.

Fortan gilt Molly Alice Brooke offiziell als plemplem. Denn sie ist die Einzige, die den Grünen Mann in der Scheune sehen kann. Aber noch ist das Jahr nicht zu Ende…

Mein Eindruck

Molly wird sogar von ihrem Dad verdächtigt, unerlaubten, ja unmoralischen Verkehr mit einem echten Mann zu haben, und schaltet die Polizei ein. In dieser komischen Episode wird natürlich kein Mann gefunden. Aber Dad ist wütend auf seine Großeltern, die angeblich die Kinder verkommen lassen. Unfreiwillig muss er sich um die Erziehung seiner Töchter kümmern, und das führt zu einer neuen, erfreulicheren Entwicklung. Es besteht also Hoffnung, dass die zwei Mädchen in die Stadt zurückkehren.

Aber wir wollen natürlich wissen, was aus dem Grünen Mann wird. Es ist völlig klar, dass er eine Einbildung Mollys ist, aber was, wenn es ihn tatsächlich gäbe? Für Molly macht es keinen Unterschied, und so stellt sie sich seinen Werdegang vor. Er kämpft im Winter mit seinem Widersacher, dem Stechpalmenkönig, wird alt unterliegt und verschwindet aus der Scheune. Doch zur Tagundnachtgleiche des Frühjahrs ist er wieder da, stark und heiter. Und er ist jetzt der Anführer der Wilden Jagd! Molly steigt auf sein feuriges Pferd, und zusammen jagen jetzt sie zur Abwechslung den Stechpalmenkönig…

Heilender Mythos

Diese Einbindung des Mythos in Mollys subjektives Erleben – alles wird im unmittelbaren Präsens erzählt – kann nur funktionieren, weil wir wissen, dass Molly sehr viel liest und sich deshalb gern in ihre fiktiven Welten verliert. Dort endet alles immer mit einem Happyend und alles hat seine Ordnung, begründet sie ihre Einstellung. Doch im Hinblick auf den Grünen Mann, der ein weitverbreiteter britischer Mythos ist, wird Molly enttäuscht: Er muss erst sterben, um im Frühjahr wiedergeboren zu werden. Man sollte etwas dagegen unternehmen, findet Moll. Denn er ist der einzige Mensch, der sie in ihrer Trauer getröstet hat, so wie es ein richtiger Vater tun sollte.

Der Auslöser für diese Phantasie ist der Tod von Mollys Mutter. Sie liebte ihre Mom Diana Elwanor Brooke sehr, und der Tod kam sehr plötzlich durch ein Aneurysma, also eine Art Gehirnschlag, als Diana gerade mal 39 Jahre alt war. So etwas ist ein enormer Schock für die junge Molly, doch die ältere Hannah reagiert völlig anders: mit Wut auf die Ungerechtigkeit der Welt. Interessanterweise sind es gleichermaßen Hannahs Wutausbrüche wie auch Mollys vermeintliches Fremdgehen mit einem Mann, die ihren Daddy dazu bringen, sich besser um sie zu kümmern.

Die eigentliche Lehre des Mythos besteht darin, dass er zwei Seiten hat. Der grüne Mann, den wir im Herbst zusammen mit Molly bedauern, weil unter dem Angriff des Stechpalmenkönigs sterben muss, ist der gleiche, der im Frühjahr wieder jung auftaucht und nun seinerseits den Stechpalmenkönig erbarmungslos als Anführer der Wilden Jagd verfolgt.

Ewiger Kreislauf

Offensichtlich lässt sich nicht sagen, dieser sei gut und jener sei böse, wenn sich doch ihre Rollen Jahr für Jahr immer wieder umkehren. Molly ist ebenso verwirrt wie wir. Und das ist der Sinn der Sache. Wir können nicht sagen, dass Mom Dianas Tod schlecht oder gut war, denn allein schon diese Kategorisierung ist gegenüber einer Naturgewalt – mythologisiert als Grüner Mann – unsinnig. Daher ist auch nicht sinnvoll, ewig zu trauern. Denn Werden und Vergehen entsprechen dem Lauf der Dinge, der dem ewigen Kreislauf (festgehalten im Mythos) gehorcht.

Der Mythos, den die Autorin in ihre Geschichte gewoben hat, ist nur notwendig, weil er eine Geschichte darstellt, die selbst kleine Kinder verstehen können, und für sie eine wichtige Lehre bereithält. Je einfacher ein Mythos, desto beständiger ist er. So wie der vom Garten Eden und einem Goldenen Zeitalter der Unschuld. So etwas hat es ja auch nie gegeben.

Die Sprecherin

Ulrike Claudia Tscharre hat eine sehr flexible und ausdrucksstarke Stimme, der man sofort anmerkt, dass sie einer Schauspielerin gehört. Hannah spricht ganz anders als die sanfte Molly, nämlich energisch und vielfach wütend. Wenn ein Mann wie Jack spricht, senkt sie ihre Tonhöhe stark ab. Sprechen die Schulkinder, gibt es immer was zu lachen.

Sie kann auch ihr Sprechtempo unvermittelt steigern oder verlangsamen, stockend oder gar im Stakkato hetzend – das ist spannend. Mit Hilfe eines Filters klingt ihre Stimme verzerrt wie durch ein altes Telefon. Kurzum: Dieser Vortrag erweckt die Geschichte und ihre Figuren zum Leben.

Die Musik

Die Musikbeiträge bilden einen wesentliche Bestandteile des Hörbuchs. Sie füllen die Pausen zwischen Szenen, erklingen aber manchmal auch im Hintergrund des Vortrags. Die Beiträge bestehen meist aus schottischen, irischen und nordenglischen Volksmusikstücken. Im Booklet sind folgende Stücke aufgeführt:

– „John Barleycorn must die“ (englisch)
– „Sally Gardens“ (irisch)
– „The Trees They Grow So High“ (englisch)
– „The Harvest Home“ (Hornpipes, irisch)
– „Molly Brannigan“ (irisch)
– „Annie Laurie“ (schottisch)
– „Bonnie At Morn“ (schottisch)
– „Peggy Gordon“ (schottisch)
– „In the Bleak Midwinter“ von Gustav Holst (1974-1934)
– „O Little Town of Bethlehem“ von Lewis H. Redner (1831-1908)

Die Musik erklingt in der Regel zwischen den Szenen des Hörspiels. Vielfach ist die Wirkung erleichternd, weil sie so heiter und beschwingt ist, manchmal aber auch besinnlich und ruhig. Als integraler Bestandteil des Hörbuchs ergänzt sie den Vortrag ideal, quasi komplementär, aber auch kontrastiv.

Unterm Strich

Wer nun meint, nur weil es um die Verarbeitung eines Todesfalls gehe, müsse die Geschichte ebenfalls todtraurig und melancholisch sein, der irrt gewaltig. Denn Molly und Hannah müssen sich mit vielen neuen Dingen auseinandersetzen und gewinnen Freunde in der Schule, die ihnen viel Spaß bereiten – oder sie total abnerven. Dazu bietet die Geschichte viele lustige Szenen, vor allem wenn sie das Thema des Grünen Mannes ironisch durch die Brille der zynischen Vernunft beleuchten.

So bilden Humor, Phantasie, Musik und Mythos ein unterhaltsames und lehrreiches Gewebe aus vielerlei Themen. Man sollte allerdings ein wenig Aufgeschlossenheit gegenüber alten geschichten und Phantasie aufbringen, sicherlich auch gegenüber britischer Folk Music – die im Übrigen ausgezeichnet dazu passt. Am Schluss ist Moll gewachsen, körperlich wie auch seelisch, und wir begleiten sie bei diesem Prozess und ihrer seelischen Reifung.

Das Hörbuch

Die als Schauspielerin ausgebildete Sprecherin erweckt die Figuren zum Leben und kann ebenso gut dynamische Szenen schaffen, die den Hörer in ihren Bann schlagen. Soe muss ein Vortrag sein. Die ideale Ergänzung bildet die Musik. Sie besteht vielfach aus nordenglischen (dem Schauplatz der Handlung), schottischen und irischen Volksweisen, ergänzt durch zwei weitere Stücke.

Im Lied „John Barleycorn Must Die“ steckt eine weitere Verkörperung des Grünen Mannes. Es gibt unzählige Aufnahmen davon, doch diejenige, die die Gruppe Traffic (mit Steve Winwood als Sänger) in den Siebzigern aufnahm, ist eine der besten und längsten.

4 Audio-CDs mit 233 Minuten Spieldauer
Originaltitel: Season of Secrets
Aus dem Englischen übersetzt von Birgitt Kollmann
ISBN-13: 978-3893533381

http://www.oetinger.de

_Sally Nicholls bei |Buchwurm.info|:_
[„Wie man unsterblich wird – Jede Minute zählt“ (Hörspiel)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6118

Dan Simmons – Im Auge des Winters (Elm Haven 2)

Ungewöhnlicher, spannender Geister-Thriller

„Im Auge des Winters“ ist die Fortsetzung des preisgekrönten Horror-Romans „Sommer der Nacht“. Dreißig Jahre nach dem mysteriösen Mord, der seine Jugend überschattet hat, kehrt Dale Stewart, Professor an der Universität von Montana, gealtert in die kleine Provinzstadt Elm Haven in Illinois zurück. Vieles hat sich verändert – doch eines ist gleich geblieben: Das Böse ist immer noch dort.

Diesmal ist die Landschaft winterlich und unsicher. Nicht alle Wesen, denen Dale Stewart, begegnet, sind menschlich, auch wenn ihm das nicht sofort auffällt. Und es ist auch nicht immer eindeutig klar, ob Dale Stewart selbst ein Mensch ist. Möglicherweise ist er nach seinem gescheiterten Selbstmordversuch beides: ein Mensch UND ein Geist. Das würde zumindest einiges erklären…
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Franz Fühmann – Prometheus. Griechische Sagen (Hörspiel)

Prometheus‘ Geheimnis: das Experiment Mensch

Das Hörspiel des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) aus dem Jahr 2001 beruht auf den zwei Romanen „Prometheus. Die Titanenschlacht“ und „Prometheus. Die Zeugung“ des DDR-Autors Franz Fühmann (siehe unten).

Fühmann, schon immer ein Freund der literarischen Gattung Mythos, verarbeitet die ältesten griechischen Sagen über die Entstehung von Himmel und Erde, die Titanen, ihre Niederlage gegen die (neuen) Götter, das Schicksal des Prometheus und seine Erschaffung der Menschen. Wie es danach weiterging, muss man bei Gustav Schwab nachlesen, denn Fühmanns Romane blieben unvollendet.

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Amélie Nothomb – Mit Staunen und Zittern (Lesung)

Aus Übermut und Neugier hat Amélie eine Stelle bei einem japanischen Unternehmen angenommen. Als Dolmetscherin, so glaubte sie, doch sie wird wegen ungebeten guter Leistungen alsbald strafversetzt – in die Buchhaltung. Dort wird ihr ein Crashkurs in Sachen Hierarchie erteilt. Da wird ihr klar: Eine Frau, zumal eine Langnase aus Europa, kann nur ganz unten einsteigen. Und noch tiefer fallen. Amélies letzte Wirkungsstätte sind daher folgerichtig die Toiletten. Und an diesem Örtchen verbringt sie die lustigste Zeit ihres Lebens.

Die Autorin

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Patricia McKillip – Das Lied des Basilisken

Poetische Fantasy: Ein Lied von Rache und Erlösung

Diese Fantasy ist die wunderbar erzählte Geschichte einer Vergeltung für erlittenes Unrecht, eine Geschichte von Erlösung und Befreiung. Der Stil ist literarisch, die Bilder poetisch und komisch, der Schauplatz erinnert an die italienische Renaissance und den hohen Norden.

Dieses Buch sowie „Schatten über Ombria“ werden der amerikanischen Autorin hoffentlich endlich den deutschen Durchbruch als eine der bedeutendsten Fantasyautorinnen bescheren.
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King, Stephen – Brennen muss Salem (Lesung)

_Anti-Dracula: Vampire in Neuengland_

Ben Mears, ein mittelmäßiger Schriftsteller, kehrt nach Jahren in seine Heimatstadt Salem’s Lot zurück. Er interessiert sich auffällig für das Marstenhaus, das als Spukhaus gilt und seit dem rätselhaften Tod seiner Bewohner im Jahr 1939 leer steht. Von diesem Haus geht eine unheimliche Kraft aus, und bald zeigt sich, wer in Salem’s Lot sein Unwesen treibt: ein Vampir. Ben Mears wagt es mit einigen Helfern, darunter einem alten Mann, einer jungen Frau und einem Jungen, den Kampf gegen die Macht des Bösen aufzunehmen. Doch dieses Wagnis kostet furchtbare Opfer …

Der Roman ist die amerikanische Antwort auf Bram Stokers Klassiker [„Dracula“. 3489

_Der Autor_

Stephen King, geboren 1947 in Portland, Maine, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Schon als Student veröffentlichte er Kurzgeschichten, sein erster Romanerfolg, „Carrie“ (verfilmt), erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit 400 Millionen Büchern in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der |National Book Foundation| für sein Lebenswerk. (Verlagsinfo) Er lebt in Bangor, Maine, und Florida. Seine Erstleserin ist immer noch seine Frau und Schriftstellerkollegin Tabitha King. Inzwischen schreibt auch sein Sohn Joe Hill erfolgreich: „Blind“ ist bei |Heyne| erschienen.

Sein Hauptwerk, das zeigt sich immer deutlicher, ist der Zyklus um den dunklen Turm. Er besteht aus folgenden Bänden:

„Schwarz“ (ab 1978); „Drei“; „Tot“; „Glas“; „Wolfsmond“; „Susannah“; „Der Turm“ (2005).

_Stephen King bei |Buchwurm.info|_ (Auswahl):

[„Brennen muss Salem – Illustrierte Fassung“ 3027
[„Briefe aus Jerusalem“ 3714 (Audio)
[„Friedhof der Kuscheltiere“ 3007 (Audio)
[„Puls“ 2383
[„Trucks“ 2327 (Audio)
[„Colorado Kid“ 2090
[„The Green Mile“ 1857 (Audio)
[„Das Leben und das Schreiben“ 1655
[„Atemtechnik“ 1618 (Audio)
[„Todesmarsch“ 908
[„Der Turm“ 822 (Der Dunkle Turm VII)
[„Der Sturm des Jahrhunderts“ 535
[„Tommyknockers – Das Monstrum “ 461
[„Achterbahn“ 460
[„Danse Macabre – Die Welt des Horrors“ 454
[„Christine“ 453
[„Der Buick“ 438
[„Atlantis“ 322
[„Das Mädchen“ 115
[„Im Kabinett des Todes“ 85
[„Duddits – Dreamcatcher“ 45

_Der Sprecher_

Jürgen Kluckert hat an der Schauspielschule „Ernst Busch“ studiert und spielte Rollen im „Tatort“, bei „SOKO“ und „Liebling Kreuzberg“. Auch am Theater und als Synchronstimme, u. a. von Morgan Freeman, Nick Nolte, Robbie Coltrane und Chuck Norris, wurde er bekannt. 1994 übernahm er die Synchronisation von Benjamin Blümchen.

Kluckert liest die ungekürzte Romanfassung der Übersetzung von 1995. Die Aufnahme erfolgte in den dc-Tonstudios, NRW-Berlin, unter der Regie von Kati Schaefer. Die Musik stammt von Dennis Kassel und Dicky Hank, die Aufnahmeleitung oblag Klaus Trapp.

_Handlung_

Als Ben Mears in sein Heimatstädtchen Jerusalem’s Lot zurückkehrt, lernt er die junge Frau Susan Porter kennen. Sie wiederum erkennt den Autor vom Umschlag seiner Bücher wieder, die sie in der Ortsbücherei ausgeliehen hat. Was er ihr verschweigt: Eigentlich wollte er es in der Großstadt zu etwas bringen, aber der Tod seiner Frau Miranda bei einem Motorradunglück hat ihn aus der Bahn geworfen.

Nun will er sich den Dämonen seiner Vergangenheit stellen und ein neues Buch darüber schreiben. Erst wenn er wieder mit sich im Reinen ist, so hofft er, kann er einen Neuanfang wagen. Und für diesen Exorzismus muss er noch einmal in das Marstenhaus zurück. Dieser alte Kasten thront auf einem Hügel über der Stadt wie ein dunkler Gott. Als er einmal bei einer Mutprobe in das Haus ging, stieß er auf die von der Decke baumelnde Leiche des bereits 1939 gestorbenen Besitzers Hubert Marsten. Er hatte sich erhängt, nachdem er seine Frau erschossen hatte. Hatte sich Ben dieses Erlebnis nur eingebildet oder war es real? Um dies herauszufinden, muss Ben noch einmal in das verfluchte Haus gehen. Da sieht er zu seinem Erstaunen ein Auto davor stehen.

Beim lokalen Immobilienmakler will er das Haus mieten, muss jedoch erfahren, dass es bereits verkauft wurde, an einen Mann namens Straker und seinen Partner, einen gewissen Mr. Barlow. Straker eröffnet einen Antiquitätenladen in der Hauptstraße. Ben ist enttäuscht, doch die freundliche Zuneigung Susans muntert ihn wieder auf. Sie stellt ihn ihren Eltern vor, doch die sind überrascht. Ist Susan denn nicht mehr die Verlobte von Floyd Tibbits? Susan sagt nein, doch Floyd scheint noch nichts davon zu wissen. Das dürfte Ärger geben, und Susans Mutter lehnt Ben, diesen „windigen Schreiberling anrüchiger Romane“, von vornherein ab.

Noch ahnt keiner außer einem Totengräber, dass ein Hund tot aufgefunden wurde. Er wurde an das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs gehängt. In der folgenden Nacht wird einer der beiden Jungen der Glicks vermisst. Ralph war mit seinem Bruder Danny auf dem Weg durch den Wald, um Mark Petries Monstersammlung zu bewundern, als etwas im Wald sie angriff. Aber was war es? Als Danny ohne seinen Bruder wieder auftaucht, ist er schwer verletzt und steht unter Schock.

Ben Mears beteiligt sich sofort an der Suche nach Ralph, die jedoch ergebnislos verläuft. Der Arzt Jimmy Cody stellt bei Danny Glick mit Verwunderung hochgradige Anämie fest und bemerkt die kleinen Bisswunden an Dannys Hals nicht. Vielleicht hält er sie für Abschürfungen. Am nächsten Tag muss er bestürzt Dannys Tod feststellen. Als Ben davon erfährt, kommt ihm die Häufung dieser Fälle, die noch nicht als Verbrechen erkennbar sind, als nicht ganz zufällig vor. Er bringt sie gefühlsmäßig in Zusammenhang mit dem Auftauchen von Straker und Barlow im Marstenhaus. Da liegt er goldrichtig.

Noch ahnen er und Susan nichts von der wahren Natur der Gefahr, doch der Schatten des Verhängnisses macht sich bemerkbar, als der Totengräber, der den Hund fand, Danny Glicks Sarg öffnet und die Leiche darin die Augen aufschlägt und ihn hypnotisiert. Den Biss in den Hals spürt Mike Ryerson kaum noch …

_Mein Eindruck_

Anders als sein Romandebüt „Carrie“ erreicht Kings Vampirroman „Brennen muss Salem“ (1975) ein klassisches Niveau, auf dem es seine Aufgabe als moderne, amerikanische Antwort auf Stokers „Dracula“ (1897) erfüllen kann. Selbstredend kannte King das britische Vorbild und hat es immer wieder gelesen, wie er im Vorwort zur Ausgabe von 1999 schreibt. Kings Roman beschreibt das gleiche Gefühl einer Invasion durch etwas Falsches, zieht die Geschichte aber völlig anders auf.

|Anti-Dracula|

Während Stoker seinen Grafen die Invasion Britanniens aus den Gräbern heraus vorantreiben lässt, quasi als Rache der Toten, so beginnt Kings Roman völlig im Normalen, nämlich in der typischen neuenglischen Kleinstadt – mit einem Unterschied: Das Marsten-Haus ist wieder bewohnt. Die Invasion hat bereits begonnen, doch es vergeht mindestens ein Drittel des Buches, bis sie als solche erahnt, benannt, erörtert wird, und noch einmal ein Drittel, bis sie auch bekämpft wird. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf, zumal in der Kleinstadt, wo jeder jeden kennt.

Lieber halten sich die Einwohner an den zurückgekehrten Neuling Ben Mears und nennen ihn einen Eindringling, der weiß Gott was im Schilde führt. Man bekämpft lieber den Teufel, den man kennt (pfui, ein Schriftsteller!) als einen Teufel, von dem man noch gar nicht zugeben will, dass er vielleicht existieren könnte. Bis es dann schließlich zu spät ist.

|Invasion|

Die perfide Invasion geht mit überraschender Leichtigkeit vonstatten. Zum einen hat der Tod keine Macht mehr über die vom Obervampir infizierten Opfer. Diese wiederum infizieren ihre Nächsten: Freunde, Eltern, Geschwister, Geliebte. Die Invasion weist die Charakteristika einer Epidemie auf. Doch die Überträger müssen, ähnlich wie Elfen und anderes Zaubervolk, willkommen geheißen und ins Haus gebeten werden. Das setzt die Bekanntheit, ja Vertrautheit mit dem Überträger voraus. Auf diesem Infektionsweg ist es gerade die private und intime Mitmenschlichkeit, die den Opfern den Garaus macht und schließlich zum Untergang der Stadt führt. (Auch „The Stand – Das letzte Gefecht“ beginnt mit einer Seuche …) Auch Ben Mears wird dadurch zur Zielscheibe.

Ben Mears blickt schon frühzeitig durch, weil in ihm das Misstrauen gegen das Marsten-Haus tief sitzt: Er hat dort einmal ein Horrorerlebnis gehabt, als er noch ein Junge war. Aber er weiß auch aus seiner Lektüre, was ein Vampir ist, was er tut und womit man ihn bekämpft. In diesem Wissen wird er durch den Lehrer und durch den Pfarrer unterstützt. Nur das richtige Wissen über den Feind kann zum Sieg über ihn führen, das wusste schon Sun Tzu im alten China. Allerdings gibt es etwas, was Ben Mears und seine Mitstreiter brauchen, das ihnen in ganz Neuengland nur eine einzige Institution geben kann: die katholische Kirche.

|Segen von oben|

Diese Bedingung kam für mich doch etwas überraschend. In „Dracula“ begnügen sich die wackeren Vampirjäger um Prof. Van Helsing mit Eichenpflöcken, silbernen Kruzifixen und allerlei frommen Sprüchen, aber keiner braucht den Segen der Mutter Kirche. Ganz anders in Salem’s Lot: Hier müssen die Vampirjäger – Mears, Cody, Mark Petrie – in Pater Callahans Kirche erst die Beichte ablegen und um Vergebung ihrer Sünden bitten, bevor der Pater sie segnen kann und ihnen Weihwasser etc. mitgibt.

Was hat dies zu bedeuten? Nun, ganz offensichtlich geht es darum, einen Exorzismus auszuführen, und den kann man nicht erfolgreich durchziehen, wenn das eigene Gewissen nicht absolut rein und gesegnet ist. Denn die schwarzen Flecken auf der Seele würde der Widersacher als Erstes aufs Korn nehmen, in der Erwartung, dass sich sein Opfer vor Schuldgefühlen windet, wodurch es eine leichte Zielscheibe wird. Der Widersacher, in diesem Falle Barlow, ist ein uraltes Wesen aus den Tiefen der Zeit und nimmt keine Rücksicht auf irgendwelche amerikanischen Gernegroß-Vampirjäger. Es erlebt jedoch eine Überraschung nach der anderen. Katholisch gesegnete Amerikaner haben eben doch einiges an Artillerie vorzuweisen …

|Exorzist|

Man sollte bedenken, dass nur fünf Jahre vor „Brennen muss Salem“ „Der Exorzist“ veröffentlicht wurde und dessen Verfilmung durch William Friedkin alle Besucherrekorde schlug. Von diesem Film könnte sich King ein paar Tipps hinsichtlich eines ordentlichen Exorzismus‘ abgeschaut haben. Und wie dort muss auch in „Brennen muss Salem“ der Priester einen hohen Preis bezahlen.

|Bewährtes Muster|

An diesem frühen Roman lässt sich schon das Strickmuster vieler späterer Bestseller Kings ablesen, wie etwa „Tommyknockers“ und „ES“. Es ist die detailliert geschilderte Kleinstadt mit ihrem engmaschigen Netz aus Beziehungen und Abhängigkeiten, die der Autor einer plötzlichen, fremdartigen Bedrohung aussetzt. Das Übernatürliche wird häufig mit einem bestimmten Ort, etwa wie in „das Haus Usher“, verbunden und lässt sich dort am besten bekämpfen. Die Kämpfer sind ganz unterschiedlich, ebenso wie ihre Methoden und ihr Glaubenssystem. Denn ohne Glaube, Liebe und Hoffnung – in dieser Dreieinigkeit – ist der Kampf von vornherein verloren.

|Der Sprecher|

Tobias Kluckert ist ein vielseitiger und sehr erfahrener Sprecher, der Morgan Freeman, Chuck Norris und Nick Nolte seine Stimme geliehen hat. Insbesondere Freeman und Nolte sind mir als Charakterdarsteller bekannt, und besonders Freeman ist eine hohe Integrität zu eigen. Diese Integrität kommt wiederum dem Erzähler der Geschichte von Salem’s Lot zugute, denn sie verleiht ihm eine Glaubwürdigkeit und Autorität, die für die Präsentation eines so ungeheuren Geschehens wie dem Kampf gegen einen uralten Vampir notwendig ist.

Kluckert gelingt es, die Emotionalität einer Szene ebenso wiederzugeben wie eine Figur genau zu charakterisieren. Sein Sheriff Gillespie spricht behäbig und sehr tief, ganz im Gegensatz zu dem agilen Ben Mears. Die Frauenfiguren wie Susan und Ann Porter haben allgemein eine höhere Tonlage und eine sanftere Sprechweise, genau wie Mark Petrie, der ja erst zwölf Jahre ist. Im finalen Showdown muss Mark unglaublich mutige (oder verzweifelte) Taten vollbringen, und wenn er mal spricht, klingt er häufig ängstlich und leise.

Man darf nun aber nicht meinen, dass alle Figuren leise reden, im Gegenteil. Bens Konfrontation mit dem Vampir ist recht lautstark, und die entsprechenden Rufe der beiden Kontrahenten lässt der Sprecher klar und deutlich aus den Lautsprecherboxen klingen. (Natürlich nicht so laut, dass das Trommelfell des Hörers geschädigt wird.)

Nur mit Kluckerts Aussprache mancher amerikanischer Namen bin ich nicht ganz einverstanden. Er spricht den Namen des Polizisten Parker Gillespie [gilspi] statt wie üblich [gi’léspi] aus, analog zu dem Namen des bekannten Jazzmusikers. Den Namen der Familie Dougall hätte ich [du:gl] statt [dagl] ausgesprochen, in der Hoffnung, dass mir ein nativer Sprecher Recht gibt. Aber dies sind offensichtlich Einzelfälle, über die es sich nicht zu streiten lohnt.

Geräusche hat die Lesung nicht vorzuweisen, und auch keine Hintergrundmusik, dafür jedoch ein In- und ein Outro, das dem düsteren Thema der Geschichte angemessen ist.

_Die Übersetzung_

… stammt von Peter Robert und ist die erste vollständige deutsche Version des Originals. Zuvor veröffentlichten der |Zsolnay|- (Hardcover) und der |Heyne|-Verlag (Taschenbuch) eine gekürzte Übersetzung, die Ilse Winger und Christoph Wagner im Jahr 1979 angefertigt hatten. Ich habe diese alte Version mit dem Original verglichen und zahlreiche Kürzungen vorgefunden, so dass diese Fassung in keiner Weise den Absichten des Autors entsprochen haben dürfte.

Erst Peter Robert hat eine gültige Übertragung angefertigt. Zum Glück folgt die Lesung Kluckerts dieser Fassung. Die enthält sämtliche Motti, darunter zahlreiche Gedichte des griechischen Lyrikers Georgios Seferis (dessen Namen Kluckert sogar korrekt ausspricht!), aber auch ein in den USA bekanntes Gedicht von Wallace Stevens. Dessen Titel „The emperor of ice cream“ leiht dem mittleren Teil des Roman seinen Titel.

In solchen Motti macht sich bemerkbar, dass King kein Groschenschreiberling ist, sondern ein gebildeter Englischlehrer, der erzählen kann. Den Ritterschlag zum ernsthaften Schriftsteller erhielt er erst vor wenigen Jahren – was sofort einen Aufschrei empörter Kritiker zur Folge hatte.

|Statt eines Booklets|

… sind die Hüllen der CDs mit Informationen bedruckt, die über die Biografie des Autors, sein Werk und über den Sprecher eingehend Auskunft geben. Selbst ein King-Fan findet in dieser Biografie noch interessante Details, so etwa die, dass er seinen verfilmten Bestseller „Carrie“ (1974) bereits in die Mülltonne geworfen hatte, weil er das Manuskript zu schlecht fand, bevor seine Frau Tabitha es wieder herausfischte und ihn dazu brachte, das Buch weiterzuschreiben. Für die Filmrechte bekam King seinen ersten dicken Scheck: 400.000 Dollar …

_Unterm Strich_

„Brennen muss Salem“ wurde 1979 fürs Fernsehen verfilmt, der Streifen wird aber nur selten gezeigt. Das liegt sicherlich zum einen daran, dass das Thema Vampire von King nicht gerade originell behandelt wurde, aber auch daran, dass die Darstellung unbedingt die breite Leinwand des Romans benötigt, um funktionieren zu können.

Erst durchs literarische Erzählen vieler winziger Details und der Überlagerung von Erzählsträngen und Zeitebenen macht der Roman dem Leser sinnfällig, dass die neuen Besitzer des Marstenhauses keine gewöhnlichen Besucher sind, sondern innerhalb der räumlichen und zeitlichen Existenz der Stadt Jerusalem’s Lot eine Anomalie und Invasion darstellen, die ihr Fortbestehen bedroht.

Doch so wie sich ein Organismus gegen eine Infektion wehren muss, so gibt es auch in Jerusalem’s Lot Elemente, die die Invasion der Vampire bekämpfen, solche, die sich ihr beugen, und solche, die keine Ahnung haben. Natürlich gibt es auch feindliche Übernahmen, so etwa im Fall von Susan Porter. Wenn sie ihren Geliebten Ben Mears in die Reihen der Vampire einreihen möchte, so kommt es zu einem tiefgreifenden emotionalen Konflikt seitens Ben. Er muss sich fragen, was der Untod für ihn bedeuten würde – ewiges Leben an Susans Seite und / oder ewige Verdammnis? Was würde der echte Tod für Susan bedeuten – ewiges Nichtleben, aber dafür Erlösung?

Der Showdown zwischen Ben und dem Obervampir läuft in mittlerweile klassisch gewordener Manier ab, aber nicht ganz so, wie man es aus „Dracula“ kennt. Die ungekürzte Version, die hier wiedergegeben wird, enthält einen zusammengehörigen Pro- und einen Epilog, der die Hauptgeschichte wie einen Rahmen umgibt und das weitere Schicksal Ben Mears‘ und Mark Petries in knappen Worten erzählt.

|Das Hörbuch|

Tobias Kluckert ist als deutsche Stimme von Morgan Freeman und anderen jedem Filmfreund ein Begriff, zumindest in akustischer Hinsicht, und kann seine Stimme mit Integrität und Autorität, aber auch Warmherzigkeit verbinden. Diese seltene Kombination kommt der Präsentation eines so ungeheuren Geschehens wie einer Vampirinvasion sehr zugute. Kluckert kann nicht nur ruhig erzählen, sondern auch Figuren individuell gestalten und Szenen mit einer angemessenen Stimmung schildern. Nur mit seiner Aussprache von zwei amerikanischen Namen bin ich nicht ganz einverstanden.

Fazit: Volle Punktwertung für diese Produktion.

|Originaltitel: Salem’s Lot, 1975
Aus dem US-Englischen übersetzt von Peter Robert
1237 Minuten auf 17 CDs|
http://www.luebbe-audio.de

Connelly, Michael – Schwarzes Eis (Harry Bosch 2)

Mit dem Steppenwolf zum Stierkampf

Eigentlich sollte LAPD-Drogenfahnder Cal Moore den neuesten Drogenmord untersuchen. Doch er muss seine Pläne geändert haben, denn man findet ihn eine Woche später in einer Absteige in LA: mit weggeschossenem Kopf. Auch die Abschiedsnotiz in seiner Hosentasche deutet an, dass es sich um einen Freitod handelt.

Doch der geschasste LAPD-Polizeiinspektor Harry Bosch findet bei den Ermittlungen an zwei anderen Morden heraus, dass es sich bei Moores Tod nicht um Selbstmord handelt. Wegen seiner Verbindungen zur mexikanischen Drogenmafia könnte Moore zwischen die Fronten geraten sein – oder lief sogar über. Aber warum will dann die eigentlich damit befasste LAPD-Abteilung die ganze Sache unter den Teppich kehren? Wenn Bosch nicht aufpasst, gerät er selbst zwischen die Fronten und endet wie Moore …
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Lehane, Dennis – Regenzauber

Hartgesottener Thriller um einen hemdsärmeligen Privatdetektiv, der es mit einem (oder zwei?) besonders skrupellosen Erpresser(n) zu tun bekommt. Nichts für schwache Nerven!

Ich bin auf dieses Buch gestoßen, weil es der Thrillerautor James Patterson in seinem Roman [„Roses are red“ 429 als Bettlektüre seines Helden Dr. Alex Cross erwähnt. Ich habe diese Empfehlung zu keiner Zeit bereut. Das Buch ist ein Hammer. Für die renommierte „New York Times“ ist es ein „Notable Book of the Year“ gewesen. Bemerkenswert ist es in vielerlei Hinsicht.

_Der Autor_

Seit 1994 veröffentlicht der 1966 geborene Bostoner Autor einen exzellenten Krimi nach dem anderen. „Streng vertraulich!“ war sein erster. Seine jüngsten tragen die Titel „Spur der Wölfe“/“Mystic River“ (http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1340 ) und [„Shutter Island“. 1150 Alle deutschen Übersetzungen erscheinen bei |Ullstein|. Geboren in Dorchester, Massachusetts, lebt Lehane heute in der Region Boston, Massachusetts.

_Seine Helden_

Bis auf die jüngsten beiden stehen in allen Romanen die zwei Privatdetektive Patrick Kenzie und Angela Gennaro im Mittelpunkt. (Gennaro hieß auch John McClanes Gattin in den Bruce-Willis-Actionkrachern „Stirb langsam I + II“, und genau wie Bonnie Bedelia stelle ich sie mir auch vor. Allerdings hat Angela den fiesen Charakter und die freche Klappe von Linda Fiorentino.) Angie hat zwölf Jahre Ehe-Hölle hinter sich, als sie ihren Mann verlässt, um bei Kenzie einzuziehen: eine taffe Frau. Sie kennt Kenzie noch aus dem Sandkasten.

Patrick Kenzie hingegen stammt aus der rein irisch-katholischen Arbeiterklasse von Boston (die Lehane eingehend in „Spur der Wölfe“ untersucht). Er hat seine Lehre bei einer der feinsten Privatdetekteien von Boston gemacht, wie wir in „In tiefer Trauer“ erfahren. Er zögert nicht, kräftig hinzulangen, wenn ihm einer blöd kommt, und trägt ständig eine Wumme bei sich. Beide Partner wissen ihre Knarren auch einzusetzen, wenn’s drauf ankommt.

_Handlung_

Als die 26 Jahre junge Karen Nichols das Büro von Privatdetektiv Patrick Kenzie (es gibt wohl kaum einen irischeren Namen) betritt, glaubt er, Barbie wäre eingetreten, so aus dem Ei gepellt und proper sieht Karen aus. Sie liebt ihren Verlobten Andrew abgöttisch und würde sich am liebsten einen Mittelklassewagen kaufen. (Aber das Geld reicht nur für einen popeligen Toyota Corolla) . Karen bittet Kenzie um Schutz vor einem Typen, Cody Falk, der sie verfolgt und ihr zusetzt.

Kenzie erledigt diesen Job gerne, doch als Karen sechs Monate später von einem Bostoner Hochhaus nackt in den Tod springt, ist er erschüttert. Sie hatte ihn um erneute Hilfe gebeten, doch er war zu beschäftigt gewesen. Er findet heraus, dass Karen Drogen nahm, in einer Absteige wohnte, sich prostituierte und einen Psychiater besuchte. Wie konnte es zu diesem rasend schnellen Absturz der vorbildlichen Barbiepuppe Karen Nichols kommen?

Cody Falk mag zwar ein Vergewaltiger sein, doch er hatte mir Karens Absturz nichts zu tun. Kenzie stößt auf die Spur eines meisterhaften Sadisten, der mit Karens Psychiaterin unter Decke steckte und daher alle Schwächen der jungen Frau kannte. Erst tötete er ihren Verlobten, doch dessen Tod sah aus wie die Folge eines Unfalls. Dann zahlten die Versicherungen nicht, so dass Karen pleite ging und anschaffen musste (= Gebete um Regen in der Wüste). Die Abwärtsspirale drehte sich weiter, bis sie sich schließlich umbrachte. Aber war das wirklich alles? Ein Besuch in Karens Elternhaus offenbart seelische Abgründe – und dass Karens Stiefvater, ein reicher Chirurg, erpresst wird.

Als der Erpresser Wind von Kenzies Ermittlungen bekommt, setzt er die Mafia auf ihn und seine Freundin an. Offenbar will er auch Kenzies Welt mit seinen Psychoterrormethoden aus den Angeln heben. Doch Kenzie und seine Freundin und Partnerin Angela Gennaro drehen den Spieß um.

_Mein Eindruck_

„Prayers for Rain“ kann hartgesottenen Autoren wie Raymond Chandler oder Dashiel Hammett absolut das Wasser reichen. Was diese beiden für L.A. und James Patterson für Washington, D.C., getan haben, das tut Lehane für die Region Boston, Massachusetts: spannende Ermittlungen zwischen verrückten und sonderlichen Kriminellen oder „Normalen“ sowie knallharte, schnelle Action ohne Zögern.

Dabei ist Lehanes Detektiv Kenzie kein feiner Junge, sondern kommt aus der Arbeiterschicht, hat aber einen Collegeabschluss. Doch einmal Arbeiterjunge, immer Arbeiterjunge. Sein bester Freund ist deshalb Bubba Rogowski, ein Waffenhändler und Ex-Marine. Bubba mag zwar verrückt sein und absolut skrupellos, doch wenn es um Kenzies Freundschaft geht, kann man auf ihn zählen. Bubba nimmt es mit der Mafia auf und lässt an Politikern kein gutes Haar, genau wie Kenzie. Dieses Paar ist erfrischend ehrlich. Das bedeutet, dass seine Sprechweise von keinem (Feigen-) Blättchen beeinträchtigt wird.

Auch in Gefühls- und Liebesdingen zeichnet sich „Regenzauber“ durch hohen Realismus aus. Die geschniegelten Achtzigerjahre sind längst vorüber, deshalb sieht erstens Karen Nichols so deplaciert und außerirdisch aus und zweitens hat Kenzie keinen Bock auf teuer gekleidete Kreditkartenträgerinnen wie Vanessa. Er steht auf ehrliche Frauen wie Angela Gennaro (auch wenn ihre Frisur neuerdings seltsam aussieht). Ange ist genauso hartgesotten wie er selbst, schnell, intelligent, einfühlsam und doch ohne Furcht.

|Die Sprache|

… ist mit das Wichtigste an diesem Roman, zumindest in der Originalfassung. Es ist die Sprache von Bostons bürgerlicher Unter- und Mittelschicht. Die Sprecher verschlucken daher zahlreiche Wörter genauso, wie sie es beim wirklichen Reden tun würden. Lediglich ihren jeweiligen Akzent gibt Lehane nicht wieder, denn lautmalende Sätze verstünde niemand. Ein, zwei Sätze genügen ihm als Andeutung. Wenn Angehörige der „gelehrten“ Stände sprechen – die Psychiaterin, der Chirurg – dann merkt das Leser sofort an ihren gestelzten Satzkonstruktionen. Es ist eine Genugtuung zu verfolgen, wie Kenzie & Gennaro mit solchen Gestalten kurzen Prozess machen.

|Interieurs|

Lehane legt ein auffälliges Interesse an Innenausstattungen von Häusern und Wohnungen an den Tag. Alle diese Beschreibungen nimmt man ihm unbesehen ab, denn die Details sind so realistisch aufgeführt und so irre komisch und treffend kommentiert, dass man weiß, dass er sie wohl das eine oder andere Mal selbst gesehen hat.

Dabei sind diese Interieurs recht unterschiedlich: hier das geschmacklose Tinnef-Zuhause eines Mafiagangsters, dort das Neuengland-Authentische des Chirurgen und zu guter Letzt die psychopathische Innenausstattung der Praxis der „Psychiaterin“. Die verräterischen Räume charakterisieren ihre jeweiligen Bewohner. Und mögen diese Bewohner auch noch so normal erscheinen – wir glauben ihnen kein Wort, nachdem wir die Raumbeschreibung gelesen haben.

James Turner (Hrsg.) – Hüter der Pforten. Geschichten aus dem Cthulhu-Mythos

Cthulhu noster: Vielfalt des Mythos, Grusel der Geister

Die von Jim Turner herausgegebene Anthologie sammelt zweiundzwanzig Cthulhu-Erzählungen von zum Teil recht bekannten Autoren wie etwa Stephen King oder Robert Bloch. Selbstredend ist auch H.P. Lovecraft darunter vertreten, mit zwei seiner unvergleichlichen Erzählungen um die Großen Alten.
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John Brunner – Der Infinitiv von GO. SF-Roman

Philosophisch: Die Öffnung des Universums für Menschen

Als die Wissenschaftler die ersten Menschen durch den Materietransmitter schicken, treten bei den Versuchspersonen seltsame Erinnerungsstörungen auf. Sie haben das Gefühl, in eine Wirklichkeit befördert worden zu sein, die nicht ganz der entspricht, aus der sie kamen. Verändern die elektrischen Felder des Geräts die Gedächtnisinhalte – oder verändert sich bei jedem Transfer die Wirklichkeit selbst?

Der Autor

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John Brunner – Im Zeitalter der Wunder

Nach dem Holocaust die große Chance: Weltraumtrips!

Die Außerirdischen landen keineswegs unbemerkt: Sämtliches spaltbares Material auf der Erde explodiert. Nachdem Zerstörung, Panik und Chaos verebbt sind, gelangen Berichte über geheimnisvolle Städte der Außerirdischen, die über die Erde verteilt sind, zu den Regierenden. Es handelt sich um riesige Gebiete voll flackernder Lichter und fürchterlich viel freier Energie, die Menschen orientierungslos werden lassen. Sie sind unangreifbar. Die Frage lautet also: Sind sie die Stützpunkte der Fremden – oder etwas völlig anderes?

Der Autor
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Straub, Peter – In the Night Room

_Zum Geisterhaus: Odyssee zum Ende der Nacht_

„In the night room“ ist die indirekte Fortsetzung von „Lost by lost girl“ [(„Haus der blinden Fenster“), 1003 mit dem Straub großen Erfolg hatte.

Willy Patrick ist eine erfolgreiche Autorin von Jugendbüchern (darunter „In the night room“) und steht kurz davor, einen noch weitaus erfolgreicheren Firmenanwalt zu heiraten. Doch Freunde warnen sie vor dem Mann und Albträume suchen Willy heim. Vor zwei Jahren verlor sie ihren Mann und ihre Tochter bei einem Unfall. Nun erscheint ihr ihre Tochter bereits am helllichten Tag. Wird sie verrückt? Als ein Freund andeutet, dass ihr Verlobter etwas mit jenem Autounfall zu tun gehabt haben könnte, ergreift Willy die Flucht …

Willy stammt ebenso wie der Schriftsteller Tim Underhill aus dem kleinen Städtchen Millhaven in Illinois. Auch Tim wird heimgesucht: von seiner toten älteren Schwester April. Aber auch ein rabiater Fan scheint hinter ihm her zu sein und verwüstet sogar seine Wohnung. Obendrein bekommt er weiterhin unheimliche E-Mails. Als Underhill bei einer Lesung Willy Patrick kennen lernt, kriegt er Panik: Sie sieht genauso aus wie die Heldin in seinem neuesten Roman, an dem er vergeblich schreibt. Zudem scheint sie in der gleichen Gefahr zu schweben, die er für seine Heldin erfunden hat …

_Der Autor_

Peter Straub zählt neben Stephen King, John Saul und Dean Koontz zu den herausragenden amerikanischen Horror-Autoren. Er wurde in Milwaukee, Wisconsin (wo viele deutsche Auswanderer wohnten), geboren und lebte ein Jahrzehnt lang in England und Irland. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt worden und hatten 1994 (!) eine Weltauflage von 10 Millionen bereits weit überschritten. Heute lebt er mit seiner Frau auf einer Farm in Connecticut.

Zusammen mit Stephen King schrieb er „Der Talisman“ und dessen Fortsetzung „Das schwarze Haus“. Seine eigenen Romane sind ebenfalls – meistens – bei |Heyne| erschienen:

Schattenland
Geisterstunde
Das geheimnisvolle Mädchen /Julia / Die fremde Frau
Der Hauch des Drachen
Wenn du wüsstest
Koko und die Fortsetzung „Der Schlund“ (Romane mit Tim Underhill)
Mystery
Reise in die Nacht / [Hellfire-Club 1110 (später umbenannt)
Mister X / Schattenbrüder (später umbenannt)
[Esswood House 1603
[Haus der blinden Fenster 1003

Die Storysammlungen „Haus ohne Türen“ und „Magic Terror“ sind ebenfalls sehr zu empfehlen.

_Handlung_

|Tim …|

… Underhill hat schon in „Lost boy lost girl“ ein paar unheimliche E-Mails ohne Absenderadresse erhalten. Nun bekommt er noch eine ganze Ladung mehr davon. Die meisten beleidigen ihn, als Mensch, aber schlimmer noch: auch als Schriftsteller. Er ruft beim „Sekretär für den Jahrgang“ an, mit dem Underhill von der Schule abging, und siehe da: Alle E-Mails sind von Menschen geschrieben worden, die erst kürzlich gestorben sind. Die Frage ist natürlich, wie kann ein Toter E-Mails verschicken? Und vor allem: Warum sollte er oder sie das tun wollen?

Eines Tages erhält Tim Besuch von einem seltsamen Mann, der sich als Fan ausgibt und der Tim bittet, fünf Exemplare von dessen neuem Buch „Lost boy lost girl“ zu signieren. Tim wird stutzig: Warum denn gleich fünf Bücher – würde denn eines nicht ausreichen? Jasper Kohle beleidigt Tim als Autor und als Mensch. Im Verlauf des Geprächs mit Kohle verändert sich auch dessen Gesicht. War es zunächst noch geradezu jugendlich, so erscheint es Tim schließlich, als Kohle sich in den Regen verabschiedet, alt, abgehärmt und eingefallen.

Doch er hat Kohle nicht das letzte Mal gesehen. Als Tim einmal ausgeht, um den Frust über das Stocken seines Schreiben durch Spazierengehen abzureagieren, geschehen noch merkwürdigere Dinge. Inzwischen hat sich Tim daran gewöhnt, dass er seine verstorbene Schwester April am hellichten Tag sieht. Sie ruft ihm etwas zu: „Hör auf uns!“ Meint sie die E-Mail-Schreiber?

Doch im Nebel, der nun auf der Hauptstraße herrscht, taucht ein junger Mann auf, der Tim ungnädig ansieht und sich sodann bis auf die Haut auszieht. Dort, wo sein Geschlecht sein sollte, befindet sich jedoch nur glatte Haut wie bei einer Puppe. Als ob das nicht Wunder nicht genug wäre, breitet der junge Mann immense Engelsschwingen aus, erhebt sich mühelos in die Lüfte und verschwindet in der Ferne.

Als Tim in seine Wohnung zurückkehrt, ist sie verwüstet. Auf seine Exemplare von „Lost boy lost girl“ hat jemand uriniert, und dreimal darf Tim raten, wer es war: Jasper Kohle. Die Polizei nimmt den Einbruch nicht besonders ernst, denn es wurde nichts gestohlen. Aber am gleichen Abend lässt sich ein E-Mail-Schreiber mit dem Usernamen „Cyrax“ dazu herbei, Tim die Anderswelt zu erklären, von wo er die E-Mails erhält – und wo sich auch „Jasper Kohle“ aufhält. Nur, dass dieser dort einen Tim wohlbekannten Namen trägt: Joseph Kalendar, der Serienmörder von Millhaven.

Joseph Kalendar hat in „Lost boy lost girl“ entdeckt, dass Tim ihn anklagt, seine eigene Tochter Lily missbraucht zu haben, schreibt Cyrax. Daher ist Kalendar mächtig sauer auf Underhill – mit den bekannten Folgen. Um dieses Unrecht wiedergutzumachen, werde Tim einen hohen Preis zahlen müssen. Cyrax will, dass Tim a) zur Hochzeit seines Bruders fährt und b) zu einer bestimmten Lesung …

|Willy|

Die Jugendbuchautorin Willy Bryce Patrick hat vor zwei Jahren ihren Mann James und ihre Tochter Holly verloren. Holly erscheint ihr immer noch in ihren Albträumen, und sie glaubt, verrückt zu werden. Als sie einen Preis für ihren neuen Roman „In the night room“ erhält, die renommierte Newbery Medal, lernt sie den Wirtschaftsanwalt Mitchell Faber kennen. Der weltgewandte Mann interessiert sich für die trauernde Witwe und macht ihr einen Antrag. „Sie wissen, dass Sie mich brauchen.“ Willy gibt ihm Recht, und das war das. Immerhin ist er fantastisch im Bett.

Er arrangiert alles für die Hochzeit und quartiert sie in seinem weitläufigen Gut in Virginia ein, wo zwei Aufpasser ihn vertreten. Aber wie wenig er ihr vertraut, kann sie an dem Umstand ablesen, dass sie keinen Zutritt zu seinen Büroräumen hat. Als sie ihm in Europa hinterher telefoniert, ist er nicht aufzutreiben. Natürlich erhält sie verlogene Erklärungen. Nichts soll sie vor der Hochzeit beunruhigen.

Als ein Sturm das Bürofenster beschädigt und man sich Zutritt verschaffen muss, entdeckt Willy per Zufall ein Foto von ihrem verstorbenen Mann: Er liegt mit drei Löchern in der Brust und abgehackten Händen auf dem Boden. Dies war mitnichten ein Autounfall. Vielleicht hat Willys Ex-Freund Tom Hartland Recht, wenn er Mitchell Faber als „böse“ bezeichnet. Die Hochzeit soll auf einem anderen Gut namens Nightwood stattfinden. Doch so lange wartet Willy nicht. Nachdem sie die Aufpasser ausgetrickst hat, macht sie die Fliege und fährt nach New York City.

|When Timmy met Willy|

Unterdessen hat sich Timmy zu der von Cyrax empfohlenen Lesung in einem Buchladen in der Stadt eingefunden. Die Art und Weise, wie die weiterhin verfolgte Willy dort eintrifft, ist nur für sie selbst spektakulär. Doch als Timmy sie in den hinteren Reihen seines Publikums sitzen sieht, muss er immerzu an sie denken. Nachdem alle Besucher gegangen sind und nur er und die Managerin noch da sind, kommt es endlich zu einer richtigen Begegnung zwischen den beiden. Timmy weiß, dass er sein Schicksal getroffen hat. Und Willy erwartet von ihm endlich Antworten auf das, was ihr Sonderbares zugestoßen ist. Beispielsweise auch zu ihren häufigen Geistesabwesenheiten, in denen sie Stunden zu verbringen scheint.

Timmy ist der Mann mit allen Antworten. Nicht nur das – er kennt Willy durch und durch und findet sie einfach noch viel bezaubernder, als er sie sich vorgestellt hat. Schließlich hat er sie in seinem Buch erschaffen, an dem er gerade schreibt …

_Mein Eindruck_

„In the night room“ ist nicht nur eine notwendig gewordene Fortsetzung zu „Lost boy lost girl“, es ist viel mehr. Natürlich wird das Unrecht, das Tim an Joseph Kalendar und seiner Tochter begangen hat, wieder korrigiert, gar keine Frage. Aber wie es dazu kommen kann, ist der entscheidende Punkt. Wie kann ein Schriftsteller, der sich in seine eigene Schöpfung – Willy – verliebt hat, diese wieder gehen lassen, um alles wieder ins Lot zu bringen?

Da ist zunächst einmal die Frage nach der Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung. Es ist die Frage, die sich heutzutage wohl die wenigsten kreativen Schriftsteller stellen, es sei denn, sie erschaffen mit ihrer Phantasie ein eigenes Universum. Das hat Tim Underhill, Peter Straubs Schöpfung, getan. Underhill – oder „Underdog“, wie Cyrax ihn nennt – ist seit über zwanzig Jahren Straubs Lebensgefährte. Straub weiß genau, wie Tim sich fühlt, als Willy seinem Helden begegnet. (Und wir erfahren dies „aus erster Hand“: aus Tims Tagebuch.) Aber wie fühlt sich Willy, als sie die Wahrheit herausfindet – hat schon mal jemand daran gedacht?

Willy ist zum Verlieben: Sie ist schön, sowieso, aber sie ist auch intelligent, dynamisch, fraulich – und sehr menschlich. Sie wundert sich selbst darüber, dass sie die ganze Zeit so einen Heißhunger auf Süßes verspürt: Sie kauft mit Tims Geld gleich eine Reisetasche voller Schokoriegel und Kekse ein – eine wunderbar komische Szene, die ich liebe. Und auch im Restaurant ist sie gut im Verdrücken von Pfannkuchen etc. Aber dann merkt sie, dass etwas nicht stimmt: Sie hat dieses seltsam leichte Gefühl, als ob sie gleich abheben würde. Und dann verschwindet ihre linke Hand. Sie kann durch ihre Finger sehen, bis die Hand wieder solide wird. Willy ist nicht schockiert. Sie ist eher verwundert, dann gefasst.

Tim bringt es kaum übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Dass sie seiner Imagination entsprungen ist wie Pallas Athene dem Haupt ihres Vaters Zeus. Dass er sie liebt, ist offensichtlich. Und dass sie ihn liebt, beweist sie ihm allnächtlich im Bett. Und sie kennt ebenfalls sein Innenleben, hat er einen Teil davon doch auch in sie investiert, um sie zu vollständig zu machen. Aber nun ist er ihr göttlicher Vater und hat plötzlich eine entsprechende Verantwortung. Es ist, als hätte Tim nicht nur eine Geliebte, sondern auch ein Kind bei sich. Und sieht sie nicht tatsächlich ein wenig jünger aus – etwa 19 oder 20 statt 38?

Dass dieser Zustand nicht anhalten kann, ist Willy bald klar. Sie fragt Tim, wieso sie hier, in seiner Welt, gelandet ist – oder hat sie jemand hierher verfrachtet? Es gibt in der Tat eine Mission, die sie und Tim zu erfüllen haben. Cyrax hat sie ihm explizit aufgetragen. Diese Mission besteht darin, erstens die echte Lily Kalendar in Tims Welt zu finden – es gibt sie – und zweitens die Stellvertreterin Lilys, nämlich Willy, in das Geisterhaus von Joseph Kalendar zu bringen, genauer: in den Night Room selbst.

Kaum also haben sich die beiden auf ihre seltsame Weise gefunden, müssen sie einander schon wieder verlassen. Tim muss Willy, seine Schöpfung, für ein höheres Ziel opfern. Dass dies notwendig ist, belegt die Anwesenheit von Joseph Kalendar, dem Finsterling am Ende der Straße. Nun fragt sich der Leser, warum sich Willy nicht weigert: Warum sollte sie sterben? Aber diese Frage verkennt, dass Willy bereits am Verblassen ist und nur zu eben diesem Zweck in diese Welt gekommen ist: um das Geisterhaus und alle, die darin gefangen sind, von einem alten Fluch zu erlösen. Deshalb ist Willy wundervollerweise bereit, auf Nimmerwiedersehen in dieses Haus zu gehen …

Tausend Fragen ergeben sich nun wieder daraus. Wenn Willy Tim Underhills Geschöpf ist und Tim Peter Straubs Geschöpf, wessen Geschöpf ist dann Peter Straub? Oder besser gefragt: Wessen Geschöpf ist der Tim Underhill in seinen Büchern, sobald die Millionen Leser von Underhill lesen? Ist Underhill nicht bereits ein Geschöpf, das im kollektiven Bewusstsein und Unterbewusstsein aller Leser existiert? Was würde geschehen, wenn Straub dieses sein ihm sicher lieb gewonnenes Geschöpf für einen höheren Zweck opfern würde?

Das wiederum erinnert unweigerlich an die Passion Jesu. Warum wurde Jesus von Nazareth in die Welt geschickt? Gab es ihn wirklich, als Geschöpf Jehovas, oder wurde er von den Lesern der vier genehmigten Evangelien unsterblich gemacht? Wir glauben inzwischen zu wissen, welchem Zweck Jesus diente und immer noch dient: als Abbild, als Mythos. Doch könnte er genauso wie Willy und die römischen Götter auch wieder verblassen. Dies liegt nicht mehr in der Hand seines oder seiner Schöpfer, der Evangelisten, sondern in der seiner „Leser“ oder Gläubigen. Das betrifft auch islamistische Fundamentalisten.

Straubs Roman zeigt das Verhältnis zwischen Fakt und Fiktion auf, präsentiert uns auch Religionsinhalte als Fiktion und wirft einige kritische Fragen auf. Welchen Absolutheitsanspruch hat der Schöpfer gegenüber seiner Schöpfung und welche Verantwortung? Wir Menschen können dies inzwischen auf unseren Planeten beziehen. Und da wir täglich damit konfrontiert werden, dass der Planet uns gegenüber keinerlei Verantwortungsgefühl an den Tag legt, stellt sich die Frage, was uns von der gleichgültigen Gaia unterscheidet. Können wir es uns leisten, unseren eigenen Schöpfungen gegenüber ebenso gleichgültig zu sein? Natürlich nicht. Deshalb haben wir die Ethik fürs Handeln und die Moral fürs Empfinden erfunden.

Nun wird es aber für Tim interessant. Er hat mitgeteilt bekommen – unter anderem von Cyrax – dass es eine andere Dimension gibt, das Reich. Dort gibt es Hierarchien, und die oberste besteht im PRIME. Hier leben nicht nur Engel, sondern auch verstorbene Seelen: sasha und zamani (Wörter aus der afrikanischen Sprache Kisuaheli). Eine Hölle gibt es nicht. Sasha jedoch materialisieren sich in Tims Welt (die unserer ziemlich ähnlich ist) und verursachen jede Menge potenziellen Ärger. Daher gilt es für Tim, Verantwortung gegenüber diesen sashas – z. B. Joseph Kalendar alias Jasper Kohle – zu zeigen und Fehler zu korrigieren. Darin besteht seine Mission mit Willy.

Der Leser kann nun dieses „Reich“ mit der jenseitigen Welt gleichsetzen, die für seine Konfession jeweils vorgesehen ist: römisch-katholisch, evangelisch, jüdisch, muslimisch, buddhistisch, usw. Für uns agiert Tim Underhill, als hätte er einen „göttlichen“ Befehl erhalten, als wäre er eine Art Prophet oder himmlischer Agent. Der Knackpunkt besteht wohl darin zu betrachten, wie er seine Verantwortung umsetzt und wie er Willy, seine Schöpfung, behandelt. Dieses Verhalten scheint mir eine moralische Lehre zu enthalten. Straub erzählt sie ohne erhobenen Zeigefinger und auf die charmanteste vorstellbare Weise: als ironische Liebesgeschichte und als das Märchen von Alice im Wunderland (Tims Tochter April taucht immer als Alice verkleidet auf: ein mahnender Geist).

_Unterm Strich_

Bereits in „Black House“ hat Straub das Element eines durch „slippage“ (so viel wie Schliddern) in die erzählte Welt geratenen Wesens genutzt, um für unheimliche Spannung zu sorgen. „In the night room“ verrät uns nun, woher solche Wesen kommen: aus dem Reich. Allerdings hat es fatale Ähnlichkeit mit dem Reich der Ahnen einerseits und dem christlichen Himmel andererseits. Immerhin gibt es keine Hölle, was ja schon ein Fortschritt ist. Vielleicht ist ja die Welt höllisch genug. Ganz bestimmt ist es nämlich der titelgebende „night room“. Vor dem haben wir uns schon in „Lost boy lost girl“ („Haus der blinden Fenster“) gefürchtet.

Der Schriftsteller Underhill ist unser Führer zu diesem Grenzbereich, und er ist ein guter Führer. Durch seine Vietnam-Erfahrungen abgehärtet, ist er gerüstet für übernatürliche Phänomene (vgl. „Koko“). Zugleich ist er dennoch so menschlich geblieben, dass er sich auf eine Liebesbeziehung einlassen kann. Eigentlich ist er ja schwul, aber, hey, bei seinem eigenen Geschöpf kann er ja wohl schlecht nein sagen, oder? Ist ja fast wie Selbstbefriedigung, denkt nun wohl so mancher Leser, aber das ist ein Trugschluss. Willy ist sehr eigenständig, und ihre Entwicklung fordert Tims ganzes Mitgefühl – bis zu ihrem Opfergang. Die „slippage“ funktioniert nämlich in beide Richtungen.

„In the night room“ ist sehr literarischer und intellektueller Horror, und ich fand mich bei zahlreichen Überlegungen, welche und wie viele Bedeutungsebenen der Autor in sein Buch hineingelegt hat. Da Tim Underhill ein Schriftsteller ist und nun sein Geschöpf als echten Menschen kennen und lieben lernt, ist die Erzählung auch ein Kommentar über das kreative Schreiben an sich. Alles Weitere dazu habe ich oben ausgeführt.

Doch die Erzählung ist weder schlüpfrig noch trivial-frivol gestaltet, sondern wendet sich vielmehr an Erwachsene, die sich etwas unter menschlichem Verantwortungsgefühl vorstellen können. Phantastische Elemente wie die als „Alice im Wunderland“ auftretende April Underhill und der als Dark Man auftretender Joseph Kalendar tun dem keinen Abbruch – jeder Geist muss eben sein eigenes Gewand wählen, um sich bemerkbar zu machen.

|Die sprachliche Dimension|

Die Sprache, deren sich Straub bedient, erfordert eine gute Englischausbildung. Nicht nur er selbst bewegt sich hauptsächlich in gebildeten Schriftstellerkreisen, sondern offenbar auch sein Held Tim Underhill. Dementsprechend ausgefallen können manche Eigenschaftswörter ausfallen, und dann heißt es nicht selten: Hol das Wörterbuch raus. (Übrigens hat Straub das Buch einem Literaturkritiker gewidmet. Gary K. Wolfe rezensiert seit Jahren für das bekannte LOCUS Magazine und gehört dort bestimmt bereits zum Inventar.)

Für die hoffentlich kommende Übersetzung erhöht nicht nur dies die Schwierigkeiten. Hinzu kommt auch, dass sich der Geist Cyrax einer in Chatrooms üblichen Kürzelsprache (z. B. „gr8“ statt „great“) bedient, die es ebenfalls authentisch wiederzugeben gilt. Nicht jeder Übersetzer verfügt über einen solchen Erfahrungsschatz. Aber diese Chatsprache ist eine wesentliche Quelle sprachlichen Humors, denn in diesen Chat-Mails wird Underhill von Cyrax und den anderen „sashas“ richtiggehend niedergemacht, und das passiert den wenigsten Hauptfiguren. Deshalb wäre es unverzeihlich, würde man dieses Stilelement durch Hochdeutsch verwässern oder gar weglassen.

Von mir bekommt das Buch die volle Punktzahl. Aber (bislang) nur im Original.

Dan Simmons – Das Schlangenhaupt

Packender und bewegender Thriller

Dr. Darwin Minor ist als Spezialist für die Rekonstruktion von Unfallursachen im südlichen Kalifornien tätig. Als Gutachter wirkt er an der Aufdeckung von Versicherungsbetrügereien mit. Als er nach einem Einsatz nach Hause fährt, wird er von zwei russischen Killern verfolgt, die ihn bei 250 km/h auf einem Interstate Highway töten wollen. Das Ergebnis sind ein fliegender Mercedes und zwei tote Russen.

Nach diesem Zwischenfall wird eine Sonderkommission gebildet, in der Darwin mit der Chefermittlerin des Generalstaatsanwalts Sydney Olson gemeinsam ermittelt. Die beiden sind einem Versicherungsbetrug gigantischen Ausmaßes auf der Spur, der in höchste Kreise führt und bei dem Menschenleben bedeutungslos sind. (Verlagsinfo)
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John Brunner – Warnung an die Welt

Noch ’ne Alien-Invasion: Wer versteht die Warnsignale?

Sie war die einzige Bewohnerin des isolierten Planetoiden, weit draußen, außerhalb des Systems, der die Beobachtungsstation beherbergte, doch wenn sie in die eisige Unendlichkeit des Raumes hinausblickte, konnte sie eine blaue Sonne erkennen, und sie dachte an die Chidnim, die in ihrer Wärme lebten, und eine orangefarbene Sonne, in deren Schein die Tansiten ihre Spiele spielten, und eine weiße Sonne, direkt über sich, von der sie wusste, dass sie auf die Städte der Tarks herniederschien.

Dies alles war ihr seltsam vertraut – und doch so fremdartig wie der Körper, in dem sie sich befand. Sie betrachtete ihr Spiegelbild in einer polierten Metallscheibe, bewunderte ihre glänzende grüne Haut, die symmetrischen Muster der Schuppen in ihrem Gesicht, die elegante Geschmeidigkeit von Hals und Armen.

Doch alles würde anders sein, wenn sie erwachte, in ihrer Wirklichkeit erwachte – in einem schäbigen Apartment in London, in dem man sie gefangen hielt, nackt und unter Drogen gesetzt. An einem Ort, wo diese Erinnerungen, so klar und lebendig sie erscheinen, einfach unmöglich waren – fsslls sie nicht die unterdrückten Erinnerungen eines fremdartigen Geschöpfes darstellten, das sich verbergen mußte … (Verlagsinfo)
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Lehane, Dennis – Mystic River – Spur der Wölfe

Als Kinder waren sie Freunde – bis einer von ihnen von Unbekannten entführt wurde. Als er zurückkehrte, war er verändert. Nun, ein Vierteljahrhundert später, sind alle drei in einen schrecklichen Mordfall verwickelt: Nun erweist sich, wie sie zu Männern geworden sind, welche Werte sie haben – und ob einer von ihnen sterben wird.

Diesen Roman hat wieder mal Clint Eastwood – nach „Bloodwork“ – mit Starbesetzung in die Bildsprache des Films umgesetzt und zwei OSCARs dafür eingeheimst. „Mystic River“ heißt der Streifen. Dazu hat der |Ullstein|-Verlag eine neue Ausgabe von „Spur der Wölfe“ aufgelegt. Das Taschenbuch trägt im Gegensatz zur Hardcoverausgabe jedoch den gleichen Titel wie der Film: „Mystic River“. An diesem Fluss liegt Boston, Massachusetts.

|Der Autor|

Seit 1994 veröffentlicht der Bostoner Autor Dennis Lehane einen exzellenten Krimi nach dem anderen. „Streng vertraulich!“ war sein erster. Seine jüngsten sind „Spur der Wölfe“/“Mystic River“ und [„Shutter Island“. 1150 „Mystic River“ ist der erste Lehane-Roman, in dem sein Team von Privatdetektiven, Patrick Kenzie und Angela Gennaro, nicht auftritt. Alle deutschen Übersetzungen erscheinen bei |Ullstein|.

_Handlung_

Die Geschichte entwickelt sich zielgerichtet wie ein abgeschossener Pfeil, mit unerbittlicher Konsequenz bis zu ihrem logischen Ende.

Im Mittelpunkt stehen drei Jungen, doch der Ort, wo sie aufwachsen, ist die vierte Hauptfigur. Dieser Ort ist die Grenzlinie zwischen dem Bostoner Arbeiter- und Proletenviertel „The Flats“, das direkt an einem Kanal, dem Penitentiary Channel, liegt, und dem Viertel der „besseren Leute“, The Point, liegt. Die Grenzlinie wird von der Buckingham Avenue bezeichnet, kurz Bucky genannt. Diese Örtlichkeiten werden mit höchster Detailgenauigkeit gezeichnet; sie spielen eine wichtige Rolle, auf welcher Seite jemand steht.

Jimmy Marcus und Dave Boyle stammen aus The Flats, doch Sean Devines Elternhaus steht im Point – er soll später das College besuchen. Doch ihre Väter sind Freunde und Kollegen in der Schokoladenfabrik, und so kommt es, dass die ungleichen Kinder zusammen spielen und etwas unternehmen. Jimmy Marcus hat ein tollkühnes Naturell, ist ein notorischer Lügner und Dieb. Dave Boyle ist ein blasser Junge, eine Halbwaise, der bei seiner verbitterten Mutter unter ihrer Fuchtel leben muss. Er ist stets froh, wenn er sich an Sean und Jimmy hängen kann, und Jimmy duldet ihn gewissermaßen.

Es ist 1975, als etwas Entscheidendes passiert, das alle drei verändern wird. Sie spielen gerade mitten auf der Straße, als sich ein Auto nähert, aus dem ein Mann steigt, der wie ein Polizist auftritt. Er will sie alle drei mit auf die Wache nehmen, doch Kimmy und Sean weigern sich. Nur Dave steigt tränenüberströmt in den Wagen und verschwindet. Es ist kein Polizeiauto, und der Polizist und sein Fahrer keine Bullen. Dave redet nie darüber, was sie mit ihm gemacht haben, als er vier Tage später seinen Peinigern entkommen kann und wieder in seine Nachbarschaft zurückkehrt. Von nun an ist er wie gebrandmarkt.

Im Jahr 2000 wird die blutüberströmte Leiche von Jimmy Marcus‘ 19-jähriger Tochter Katie mit eingeschlagenem Schädel und durchschossener Schulter im Park gefunden. Sie wurde nicht vergewaltigt, lediglich ihr Auto weist Gewalteinwirkung auf. Jimmy Marcus, inzwischen Ladenbesitzer in The Flats, ist wenig später kurz vor dem Ausrasten, durchbricht sämtliche Polizeiabsperrungen und identifiziert sein Ein und Alles: Ihr Körper ist bereits schwarzviolett angelaufen.

Sean Devine leitet die Ermittlungen in diesem Mordfall, muss aber bei jedem Fehler seine Suspendierung befürchten. Man hat ihn auf dem Kieker. Schon bald findet er heraus, dass Katie, ein ausnehmend hübsches Mädchen, am Abend vor ihrem Tod mit zwei Freundinnen eine wilde Zechtour durchs Viertel unternommen hatte. Sie wollte nämlich am nächsten Morgen nicht zurück in Papis Laden zur Arbeit, sondern mit ihrem Freund nach Las Vegas durchbrennen, um zu heiraten.

Dieser Freund, Brendan Harris, erweist sich als unschuldig, das heißt, er hat ein Alibi. Und sein Bruder Ron ist von Geburt an stumm. Doch auch Jimmy Marcus stellt Ermittlungen an, und seine hammerharten Schwäger von der Seite seiner Gattin unterstützen ihn nach Kräften. Es gibt nämlich zweierlei Arten von Justiz in The Flats: die lokale und die offizielle der Bullen.

Wenige Tage später trifft er Dave Boyles Gattin Celeste. Sie erzählt ihm, wie Dave am Morgen nach Katies Verschwinden in ihre Wohnung gekommen sei, blutüberströmt und mit einer verletzten Hand. Ein schwerer Verdacht fällt auf Dave – Celeste muss verrückt gewesen sein, als sie ihn belastete. Oder von Jimmys männlichem Charme betört, wie er gerne denkt.

Jimmy war einst ein schwerer Junge gewesen, ein Einbrecher, Dieb und wahrscheinlich sogar ein Mörder (er tötete Brendan Harris‘ Vater). Er leitete eine Bande und saß mehrere Jahre ab. Nun leitet er immer noch insgeheim eine Bande, scheint aber eine reine Weste zu haben. Bis er Informationen erhält, die Dave weiter belasten. Doch ist Dave wirklich schuldig? Wer ist Dave wirklich, der schizophrene Dave, der zurückgezogene Dave, der so gern dem Alkohol zuspricht, um – was? – zu vergessen?

Es wird ein Wettlauf gegen die Zeit, wer zuerst die Wahrheit herausfindet und Justiz an Dave Boyle übt, sei sie nun gerecht oder nicht: Jimmy Marcus oder Sean Devine.

_Mein Eindruck_

Es ist ein geradezu ein klassisches Drama, das der Autor in seinem Roman sich entfalten lässt. Alte Feindschaften zwischen Ex-Freunden und Ressentiments zwischen unterschiedlichen Klassen brechen auf. Althergebrachte Auffassungen über die Ausübung von Gerechtigkeit prallen aufeinander: The Flats gegen The Point, mit der Buckingham Avenue als Demarkationslinie.

Diese soziale Geographie, die mit so vielen Werten einhergeht, ist wie gesagt äußerst genau und einfühlsam geschildert. Die Figuren scheinen daher manchmal nicht aus eigenem Antrieb zu agieren, so als hätten sie keinen freien Willen, sondern als würden der griechische Chor mitsamt Götterriege auftreten, um sie zu ihren jeweiligen verhängnisvollen Taten zu treiben. Das gilt ganz bestimmt für Dave Boyle und Jimmy Marcus. Dave trifft sogar das Fatum, die Schicksalsgöttin persönlich – natürlich in seinen schizophrenen Albträumen – und sie scheint es nicht gut mit ihm zu meinen.

Die Bedeutung des Milieus stellt allerdings auch ein gewisses Problem dar: Denn welcher Leser kann schon Sympathie oder gar Bewunderung für einen „Helden“ empfinden, der von den beschriebenen Mächten angetrieben wird, aber kaum eigenen Willen besitzt, der ihn aus der Masse heraushebt? Daher ist es die wichtigste Aufgabe des Autors, die spezifische Psychologie seiner Hauptfiguren herauszuarbeiten, ihre unverwechselbaren Erfahrungen zu schildern (etwa Jimmys finstere Vergangenheit) und sie so als Herren ihres Schicksals darzustellen. Das gelingt ihm hervorragend. Erst daraus kann der Höhepunkt des Dramas tragische Größe erreichen. Erst dann kann der Wettlauf mit der Zeit eine spannende Rolle spielen, denn dann ist die Welt kein Uhrwerk.

_Unterm Strich_

Ich habe das Buch in wenigen Tagen gelesen. Die Handlung schreitet rasch voran, und eine wichtige Enthüllung folgt der nächsten. Wer hat die arme Katie so bestialisch zugerichtet – war es ein Psychopath, ein Betrunkener oder waren es Mutwillen und Willkür?

„Mystic River“, so hat die amerikanische Kritik erkannt, ist Dennis Lehanes Annäherung an die Great American Novel à la Philip Roth oder John Updike; allerding wird hier eine ganz andere Art von Bürgern untersucht – keine Mittelständler aus Suburbia, sondern Arbeiterklassenangehörige, die eine verschworene Gemeinschaft bilden.

Zuweilen erinnern bestimmte Auseinandersetzungen, aber auch die exakte Milieustudie an das Sachbuch „Die Gangs von New York“ von Herbert Asbury, das von Martin Scorsese verfilmt wurde. Auf jeden Fall ist es ein besonderer Thriller mit bemerkenswerten Hauptfiguren – ich kann mich noch Wochen nach der Lektüre an Jimmy Marcus erinnern: an seine Trauer, seine Wut und seinen Rachedurst.

|Originaltitel: Mystic River, 2001
Übersetzung: Andrea Fischer|

John Brunner – Bürger der Galaxis

Spannend: Kampf gegen den Sklavenhandel im Universum

Auf der Erde herrschen Wohlstand und Müßiggang, denn Arbeit wird von Computern, Robotern und Androiden verrichtet. Die Menschen vergnügen sich also, genau wie Derry Horn, der Millionenerbe eines Roboterherstellers. Zwei brutale Morde, begangen an Lars Talibrand, einem „Bürger der Galaxis“, und an einem Androiden namens Latchbolt, verändern jedoch sein Leben. Er will die Taten nicht abschütteln und verdrängen wie seine Zeitgenossen, sondern sich damit befassen. Das bringt ihm die Hochachtung der Androiden ein, die ihn mit Informationen versorgen. Derry beschließt, die geheime Mission Talibrands fortzuführen: die Jagd auf Sklavenhändler im Weltall …
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John Brunner – Sonnenbrücke

Philosophisch: Die Teufel von Azrael

Die Erfindung des interstellaren Brücken-Systems hat die Chance eröffnet, die besiedelten Welten wieder zusammenzuführen und galaxisweiten Planetenverbund zu schaffen. Doch dagegen sperrt sich die Welt Azrael. Zwei Agenten, ein Mann und eine Frau, suchen die Dissidentenwelt auf, um die Gründe dafür zu erfahren – und sehen sich plötzlich mit der Frage nach dem Sinn der Zivilisation konfrontiert. (aus der nicht ganz zutreffenden Verlagsinfo)
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Ingrid Noll – Stich für Stich. Erzählungen (Lesung)

Der Noll-Faktor: spannend, kurios, amüsant, makaber

Das Hörbuch umfasst fünf „schlimme“ Geschichten, die entgegen der Erwartung, die man an Noll-Storys hat, nicht immer mit dem Ableben eines Beteiligten enden. Fünf Protagonisten – eine Domina, eine virtuose Stickerin, eine blonde Krankenschwester, die alle Klischees erfüllt, die Ehefrau eines passionierten Anglers, die verheiratete Ärztin mit der Hundedame. Fünf überraschende Wendungen – auch wenn man „seine“ Ingrid Noll schon kennt.

Die Autorin

Ingrid Noll wurde 1935 in Schanghai geboren, also kurz vor der japanischen Invasion, und studierte in Bonn Germanistik und Kunstgeschichte. Nachdem ihre drei erwachsenen Kinder das Haus verlassen hatten, begann sie, Kriminalgeschichten zu schreiben, die allesamt Bestseller wurden. „Die Häupter meiner Lieben“ wurde mit dem Glauser-Preis ausgezeichnet, und „Kalt ist der Abendhauch“ sowie „Die Apothekerin“ wurden verfilmt.

Weitere Noll-Hörbücher:
– Die Häupter meiner Lieben
– Die Apothekerin (verfilmt)
– Kalt ist der Abendhauch (verfilmt)
– Selige Witwen
– Die Sekretärin
– Der Hahn ist tot

Die Sprecherin

Ursula Illert, 1946 in der Nähe von Frankfurt/M. geboren und aufgewachsen, ist eine Schauspielerin mit Erfahrung bei Theater, Funk und Fernsehen. Als passionierte Sprecherin hat sie für |Steinbach Sprechende Bücher| bereits zahlreiche Hörbücher gelesen. Ihre Begeisterung gilt Lesungen mit musikalischer Begleitung vor Publikum.

Handlung der 5 Erzählungen

1) Ein milder Stern herniederlacht

Eine Domina setzt sich mit 37 zur Reihe und verkauft all ihre Accessoires und Möbel – für ihre „Sklaven“ eine echte Überraschung. Drei Wochen später ist sie mit Oliver verheiratet, der sich schon auf das gemeinsame Kind freut. Mit dem drögen, anstrengenden Leben als Hausmütterchen werde sie schon zurechtkommen. Denkt sie. Denn Oliver weiß natürlich nichts von ihrem anrüchigen Vorleben.

Just im schönsten Moment in ihrem neuen Leben, beim Abendessen zu Weihnachten, klingelt es an der Tür und eine Gestalt der Vergangenheit verlangt ihr Recht: Georg, der Bankier, ist einer ihrer früheren „Sklaven“ und hat wegen Urlaub noch nicht mitgekriegt, dass sie aus dem Gewerbe ausgestiegen ist. Er verlangt hartnäckig sein Recht auf eine fachgerechte Demütigung.

Da die Ex-Domina nicht mit der Wahrheit über Gregors Verhältnis zu ihr herausplatzen kann, dauert es eine ganze Weile, bis Oliver die Sache endlich kapiert. Dann jedoch handelt er konsequent: Georg wird angekettet und darf den Abwasch machen. Ein weiterer „Sklave“ muss mit Demütigung versorgt werden: Er darf das Auto blitzblank schrubben. Schon bald finden sich jede Menge Haushaltsarbeiten, die es zu erledigen gilt, und der Haushalt ist endlich auf Vordermann gebracht.

Es gibt nur ein winziges Problem: Wie erklärt man den Familien der Sklaven ihr allzu langes Fernbleiben vom trauten Weihnachtsabendfeiern? Geniale Idee: Man inszeniert einen Frontalzusammenstoß der Autos, so dass man auch noch die Versicherung abzocken kann. Bei diesem im Schnee inszenierten Manöver geht leider etwas mächtig schief …

2) Stich für Stich

Das Geschlecht der Person, die ihre Geschichte erzählt, bleibt bis zuletzt unklar, denn darin besteht ja der Clou. Die Person liebt es schon seit ihrem 17. Lebensjahr zu sticken. Damals lag sie lange Zeit mit Hepatitis im Bett und musste ruhen. Ihre Mutter brachte ihr das Sticken bei und fortan stickte sie, was der Faden hergab: Deckchen, Brieftaschen, eine komplette Gemäldegalerie klassischer Meister.

Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, da die Person bei einem Schwächeanfall im Supermarkt umkippt und ihr der Arzt eine Kneipp-Kur in Bad Wörishofen verordnet. Gesagt, getan. Man findet einen Kurschatten, eine echte Freundin: Gunda Mortensen. Nach dem Abschied setzt ein Briefwechsel die Freundschaft fort.

Der freudige Tag naht, da Gunda unsere Hauptfigur in ihren eigenen vier Wänden besuchen wird, wo auf sie eine handfeste Überraschung wartet. Nein, die Stickereien habe keineswegs die werte Frau Mutter gefertigt, sondern seien alle selbstgemacht. Langes Schweigen. Danach kommt Gunda nie wieder … Schade, ein solches Talent links liegen zu lassen.

3) Die blaurote Luftmatratze

In der Privatklinik für psychosomatische Krankheiten hat sich eine Krankenschwester – nennen wir sie Isolde – in einen besonderen Patienten verliebt, den sie gerne Tristan nennt. Wie sie steht er auf altmodische Luftmatratzen, denn darauf liegt er gerne im schönen Park der Klinik. Sie nennt ihn aber auch den „Schlangenmenschen“, denn er sagt, er habe eine Phobie vor Schlangen. Sie fragt ihn, wie es dazu gekommen sei. Ach, das sei nur ein Vorwand, um in Ruhe gelassen zu werden, meint er.

Mit 24 sei er Privatdetektiv geworden und wurde von der deutschen Textilindustrie damit beauftragt, die Herkunft von besonders schönen Pullovern etc. festzustellen, die zu Dumpingpreisen angeboten wurden. Folglich blieben die deutschen Fabrikanten auf ihren Erzeugnissen sitzen.

Er flog nach Hongkong und entdeckte eine Spur, die ins Innere Asiens führte. Er versteckte sich auf einem LKW und fuhr dort zwei Wochen lang mit, denn obwohl ihn die Fahrer entdeckten, blieben sie freundlich. Und so gelangte er in eine tropische Region, in der eine versteckte Anlage von Männern in weißen Kitteln geleitet wurde. Lügen erwies sich als zwecklos, daher rückte er mit der Wahrheit heraus.

Statt ihn wegzuschicken, weil er spionierte, zeigten ihm die Männer voller Stolz ihre Anlage. Aber wo kamen die fabulösen Strickwaren her? Nirgendwo waren Strickmaschinen zu sehen. Da wies einer der Forscher ins Zentrum der weitläufigen Anlage, wo mehrere große Bäume standen. Und in den Bäumen befanden sich große Schlangen. Und jede Schlange strickte, was das Zeug hielt: Pullover, Westen, Schals, in allen Farben. Ja, er durfte sich sogar einen eigenen Pulloverentwurf wünschen.

Der Oberarzt glaubt natürlich kein Wort von diesem Garn. Professor Higgins wird von den gespannt lauschenden Patienten indigniert weggeschickt. Doch in der folgenden Nacht will Schwester Isolde die Wahrheit über den „Schlangenmenschen“ herausfinden und schleicht sich zu seiner Tür …

4) Fisherman’s Friend

Als sie 17, dumm und noch unschuldig war, lernte sie bei einer Fischerparty Eugen kennen, heiratete ihn mit 18 und wurde mit 19 Mutter von Jonas. Als Ladenbesitzer konnte ihr Eugen, der mittlerweile auf die 40 zuging, zwar ein Leben in Wohlstand bieten, doch sie erfuhr mit dem passionierten Angler weder Freude noch Liebe.

Da ist Uli schon ein ganz anderer Typ. Der Textilingenieur ist jung, gut aussehend und lustig. Sie verliebt sich sofort in ihn und hat eine Affäre. Sie überlegt, dass sie mit Eugens Erbschaft ziemlich angenehm mit Uli leben könnte. Ihren zielstrebigen Plan setzt sie in mehreren Phasen um, an deren Ziel sie und Uli Eugens Unfalltod beschließen. So weit, so gut. Doch der Plan sieht nicht vor, dass Uli und Eugen gute Kumpels werden und gemeinsam Angeln gehen!

Wütend und frustriert greift sie zur Selbsthilfe. Das unverdächtige Mordinstrument: selbstgemachte Frikadellen aus Fischpaste, in die sie ein paar Gräten platziert. Das funktioniert auch ganz hervorragend, allerdings mit einem ganz anderen Opfer als vorgesehen. Nach dem nächsten Angelwochenende berichtet die Zeitung von einem tot am See aufgefundenen Förster …

Monate vergehen, niemand wird festgenommen, doch die Affäre mit Uli endet. Da ruft die Witwe des Försters an und bittet um ein Treffen. Au weia, der Fluch der bösen Tat, denkt unsere Heldin und ist auf das Schlimmste gefasst. Zu ihrer Verwunderung bedankt sich jedoch Adelheid herzlich für die Tat. Sie erklärt, wie sie die Wahrheit herausgefunden habe und dass sie nun herrlich von der Erbschaft leben könne. Ob sie sich nicht erkenntlich zeigen könne?

Der Plan ist ganz einfach. Und tatsächlich hat Eugen diesmal keine Chance, der Falle zu entgehen.

5) Der gelbe Macho

Sie ist eine gefühl- und fantasievolle Ärztin, ihr Mann Oswald ein eher prosaischer Typ. Sie holt aus dem Tierheim einen Hund, der sehr anhänglich wird und sich als sehr klug erweist: Klara. Über ihre Spaziergänge lernt die Ärztin einen anderen Hundehalter kennen: Der junge Jens hat einen gelben Hund namens Macho. „Macho ist spanisch und bedeutet männliches Tier“, erklärt er. Macho und Klara werden unzertrennliche Freunde. Zwischen der Ärztin und Jens klappt es nicht gleich, denn erstens ist sie verheiratet, und zweitens hat er eine Freundin.

Aber sie merkt bald, dass sie Jens liebt, und die schlaue Klara merkt das auch. Sie beißt ihr Herrchen Oswald und gehorcht ihm nur noch widerwillig. Bei einer Abi-Party tanzt die Ärztin wild mit Jens und küsst ihn. Welch ein feinfühliger Mann: Er will nach dem Abi Psychologie studieren. Nachts darf Klara ins Bettchen von Frauchen, und Oswald muss im Arbeitszimmer schlafen.

Danach nimmt die Natur unaufhaltsam ihren Lauf. Klara wird läufig, und Macho muss weggesperrt werden. Doch während eines Schäferstündchens mit Jens vergeht die Zeit wie im Flug, und wer denkt da schon an die Hunde? Das Ergebnis der doppelten Liebesnacht ist schon nach wenigen Monaten zu besichtigen: Mischlinge.

Mein Eindruck

Im Grunde folgt nur eine einzige dieser fünf Erzählungen dem klassischen Muster, dass dem Schicksal „nachgeholfen“ und ein Mann geopfert wird – aber dies natürlich in unnachahmlicher Noll-Manier. Die anderen Geschichten fallen ziemlich aus diesem Rahmen und lassen sich wohl eher unter der Bezeichnung „ironisch erzählte Kuriosa“ zusammenfassen.

Unter diesen vier Geschichten hat mir jene mit den spinnenden und strickenden Schlangen auf den Bäumen am besten gefallen. Sie ist so wunderbar schrullig und doch unglaublich detailreich ausgeschmückt. Natürlich ist kein Wort davon wahr, würde jetzt Prof. Higgins wie in „My Fair Lady“ knurren. Aber hat das jemals passionierte Geschichtenerzähler und -lauscher gestört? Natürlich nicht. (Übrigens scheint dies eine der Storys zu sein, die seinerzeit für die „Süddeutsche Zeitung“ über „Die blaurote Matratze“ geschrieben wurden.)

Es ist ein wenig auffällig, welch eine bedeutende Rolle Erotik in diesen Storys spielt. Dass eine Ex-Domina ihre Ex-Sklaven wieder einspannt, ist ein netter Einfall. Doch dass auch der Ex-Domina-Mann der Sache auf pragmatische Weise einige positive Seiten abgewinnen kann, ist der typische Noll-Schlenker, der die Sache erst richtig interessant macht. Womit es natürlich nicht sein Bewenden haben kann.

Eine ganz andere Seite der Erotik zeigt sich in „Der gelbe Macho“. Hier kommt die Liebe sozusagen auf den Hund, um es mal flapsig zu sagen. Doch der Hund – gemeint ist die schlaue Klara – trägt viel dazu bei, der Liebe Gelegenheit zu machen, indem sie Herrchen Oswald auf Abstand hält. Der Hund ist doch der beste Freund des Menschen.

Die Sprecherin

Ursula Illert kann sich sehr gut in die Lage der weiblichen Protagonisten hineinversetzen. Mit Verve trägt sie ihre Geschichten vor, mit deutlicher Aussprache und der Betonung auf die richtigen Stellen. Allerdings ist die letzte Geschichte wegen der immerhin fünf Akteure so vertrackt, dass man sie vielleicht noch einmal anhören sollte.

Unterm Strich

Bis auf eine eher konventionelle – und daher umso willkommenere – Geschichte („Fisherman’s Friend“) wissen die fünf Beiträge in dieser Sammlung mehr durch ihre Schrulligkeit zu amüsieren als durch Spannung zu fesseln. Das macht aber nichts, denn der typische Noll-Faktor ist durchweg gegeben: eine ungewöhnliche, zuweilen makabre und augenzwinkernde Note ist stets eingeflochten. Ich kann nur hoffen, nicht zu viel verraten zu haben – und um Vergebung für meine Sünden zu bitten, falls ich es doch getan habe.

Die Sprecherin bringt die Erzählungen voll zur Geltung und beeinträchtigt die Botschaft der Autorin in keiner Weise. Das Hörbuch kann einem Zuhörer durchaus einen schönen Nachmittag bereiten.

120 Minuten auf 2 CDs
steinbach sprechende bücher

Brunner, John – Geheimagentin der Erde

Freiheitskampf in Carrig: Agentin im Liebeskonflikt

Einst war Carrig berühmt. Aus aller Welt kamen die Menschen in die prächtige Königsstadt, Nachfahren von Flüchtlingen, die einst den Planeten besiedelten. Doch dann kamen Fremde, störten den Frieden, verkauften moderne Waffen an die Bewohner und übernahmen die Macht. Ein junger Mann von Carrig und eine junge Frau von der Erde schmieden den Plan, die Eroberer zu übertölpeln. (Verlagsinfo)
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