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Funke, Cornelia – Herr der Diebe – Das Hörspiel zum Film

Wer Kinder hat oder gute Kindergeschichten mag, kennt sie: Cornelia Funke gehört in Deutschland schon seit Jahren zu den erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Doch der internationale Durchbruch gelang ihr erst mit ihrem fantastischen Kinderroman „Herr der Diebe“, dem sogar eine international produzierte Verfilmung zuteil wurde, welche seit Januar 2006 in den deutschen Kinos zu sehen ist.

Nachdem es bereits eine Lesefassung des Buchs gab, wurde pünktlich zum Filmstart ein Originalhörspiel mit den deutschen Synchronsprechern veröffentlicht. Appetitlich gekürzt auf 2 CDs, die man locker an einem Abend oder einem verregneten Nachmittag hören kann, ist dieses Hörbuch ein echter akustischer Leckerbissen für die ganze Familie.

_Die Story_

Vor der zauberhaften Kulisse Venedigs spielt das Abenteuer der beiden Brüder Prosper und Bo. Die beiden haben kürzlich ihre Mutter verloren, welche sie allein aufgezogen hat, und während der kleine, niedliche Bo von seiner Tante Esther Hartlieb adoptiert werden soll, wird der nicht mehr so kleine und weniger pflegeleichte Prosper ins Waisenhaus abgeschoben. Das lassen sich die beiden Brüder natürlich nicht gefallen.

Prosper flieht aus dem Waisenhaus und büxt gemeinsam mit Bo nach Venedig aus. Die Lagunenstadt, von der ihre Mutter ihnen so oft vorgeschwärmt hat – da zieht es sie hin. Sie schlagen sich mit Betteln und Stehlen mehr schlecht als recht durch, doch schon bald begegnen die beiden Scipio, dem mysteriösen Herrn der Diebe. Er ist der Anführer einer Jugendbande von Waisenkindern. Niemand kennt seine wahre Identität, doch er ist eine Art Lagunen-Robin-Hood, der sich zugleich um die Waisenkinder kümmert und ihnen ein Dach über dem Kopf gewährt: das „Sternenversteck“, ein altes, leer stehendes Kino.

Doch Bo und Prosper müssen sich nicht nur wie alle Bandenkinder vor den Carabinieri in Acht nehmen. Tante Esther hat den Privatdetektiv Viktor Getz auf sie angesetzt, und der bekommt ziemlich bald mehr über den Herrn der Diebe heraus, als den Kindern lieb ist. Zudem ist noch der dummdreiste Hehler Barbarossa hinter den Kindern her, denn der wittert ein Riesengeschäft, als er vom neuesten Auftrag des Herrn der Diebe Wind bekommt. Zum magisch-realistischen Showdown werden die Kinder auf eine versteckte Laguneninsel gelockt, deren Geheimnis erst ganz am Ende gelüftet wird. Zum Glück stellt sich heraus, dass Viktor und seine Freundin Ida eigentlich gar nicht so übel sind. Schon bald helfen sie den Kindern, wo sie können und alles läuft auf ein Happy-End hinaus … aber hören müsst ihr das schon selbst.

_Bewertung_

Obwohl am Ende ein wenig „Zauberei“ in die Geschichte hineinspielt, ist „Herr der Diebe“ eigentlich eher eine sehr realistische Abenteuergeschichte als ein Fantasyroman. Zwar verdiente sich „die Funke“ mit diesem Buch den Beinamen „die deutsche Rowling“, jedoch: Der Vergleich mit Harry Potter hinkt gewaltig. Für magische Momente sorgt natürlich immer wieder die zauberhafte Kulisse, welche Kindern wie Erwachsenen wirklich Lust auf einen Venedig-Besuch machen kann.

So weit ich mich an die schon einige Jahre zurückliegende Lektüre des Buchs erinnern kann, ist diese Hörspiel-zum-Film-Fassung sehr nah dran an der literarischen Vorlage. Selbst den Wortlaut mancher Dialoge glaubte ich wiederzuerkennen. Für mich ist es eine der besten Kindergeschichten, die in den letzten Jahren überhaupt erschienen sind, und beinahe schon ein moderner Klassiker. Oder besser: ein zeitloser Klassiker.

_Das Hörspiel_

Es gibt nur wenige Hörspiele, die eine solch ruhige, unaufgeregte Atmosphäre verbreiten, jedoch gleichzeitig so atemlos spannend inszeniert sind. Die Spannung, will ich damit sagen, rührt nicht von hektischen Geräuschen her und auch nicht von nervenzerfetzender Musik, sondern vorrangig von der Handlung, die ohnehin schon spannend genug ist und billige Effekte nicht nötig hat. Schon mal ein Pluspunkt.

Muss man nun den Film gesehen haben, um dem Hörspiel folgen zu können? Nein, die Inszenierung steht für sich. Sie lebt von der wunderbaren sonoren Stimme von Bernd Stephan, dem Erzähler. Der 1943 geborene Schauspieler ist – wen wundert’s – nicht nur auf Bühne und Leinwand zu sehen, sondern vor allem als Synchronsprecher zu hören. Er lieh u. a. John Cleese seine Stimme. Man könnte ihm mühelos stundenlang zuhören – mehr noch, man kann überhaupt nicht weghören. Doch nicht allein Bernd Stephan brilliert hier. Sämtliche Kinderstimmen wurden hervorragend ausgewählt, und durch die kluge Inszenierung kann man sie auch ohne Schwierigkeiten auseinander halten.

Während das Buch zum Selberlesen ab etwa 10 Jahren geeignet ist, können der Hörspielfassung nach meiner Einschätzung durchaus auch schon jüngere Kinder folgen, sofern sie länger konzentriert zuhören mögen. Da die Geschichte selbst zwar aufregend, aber kindgerecht und vor allem absolut gewaltfrei ist, würde ich sagen, etwa ab 6 bis 7 Jahren aufwärts. Überhaupt ist das Hörspiel etwas für die ganze Familie, für Kinder und Kindsköpfe jeden Alters, die sich vielleicht schon lange nicht mehr haben gefangen nehmen lassen von einem Schauspiel, welches sich sehr sinnlich über das Ohr in Herz und Hirn schleicht.

Der „Herr der Diebe“ ist eine prima Einstiegsdroge für das Medium Hörbuch und zugleich liefert es den Beweis, dass solche Adaptionen einem Buch eine ganz eigene Qualität verleihen können. Einen Zauber, der sicher auch einigen Lust machen wird, mal das Buch in die Hand zu nehmen. Obwohl es ein Hörspiel zum Film zum Buch ist, hier wird es mit seinen wohldosierten Erzählpassagen durchaus auch seiner literarischen Vorlage gerecht.

Äußerst erwähnenswert ist auch die hervorragende Hintergrund- und Begleitmusik des London Symphony Orchestra. Eher suggestiv und äußerst sparsam, aber wirkungsvoll instrumentiert, unterstreicht sie den geheimnisvollen, leicht melancholischen Charakter der Geschichte um Prosper und Bo.

Hörproben finden sich unter http://www.jumboverlag.de.

Irving, John – Bis ich dich finde

Nach dem für Irvingsche Verhältnisse recht dünn geratenen Buch „Die vierte Hand“ ist Anfang des Jahres der elfte Roman des amerikanischen Erfolgsschriftstellers in deutscher Übersetzung erschienen. Zumindest äußerlich wird es seine Fangemeinde erfreuen, denn es ist mit 1140 Seiten mal wieder ein richtiger Wälzer geworden. Doch ist das Lesevergnügen ebenso groß, wie der Einband dies verheißt?

_Wovon es handelt_

Im Mittelpunkt des Romans steht die Geschichte des Schauspielers Jack Burns von seiner Geburt in den Sechzigern bis ins Jahr 2003.

Typisch für Irving, dass die Kindheit seines Helden weit mehr Raum einnimmt, als es üblicherweise der Fall ist, knapp die Hälfte des Romans beschäftigt sich mit Burns‘ Jugendjahren.

Mit ihrem vierjährigen Sohn und diversen Tätowierutensilien macht sich Jacks Mutter Alice auf eine ausgedehnte Europareise, um Jacks Vater und ihre Jugendliebe, den Kirchenorganisten Williams Burns, ausfindig zu machen. Alice ist Tätowiererin und heuert in nahezu allen Studios in europäischen Hafenstädten an: Amsterdam, Kopenhagen, Hamburg, Helsinki. Denn William ist ein „Tintensüchtiger“, einer, der sich von Kopf bis Fuß tätowieren lässt, bis sein ganzer Körper wie ein einziges Notenblatt aussieht. Doch wo immer die beiden auch ankommen, heißt es, William sei bereits wieder abgereist. Die Suche bleibt erfolglos und die beiden kehren ins heimische Toronto zurück, wo Jack bald eingeschult werden soll und Alice sich als Tätowiererin niederlässt.

Die nächste Station in Jacks Leben ist die Mädchenschule St. Hilda, die seit kurzem auch Jungs aufnimmt, wenn auch nur sehr wenige. Er findet sich wieder in einem „Meer von Mädchen“ und dort ist er keineswegs so sicher, wie ihn seine Mutter glaubt. Schon nach kurzer Zeit findet er sich von einer Clique älterer Mädchen umringt, die seine sehr langsam erwachende Sexualität im Auge behalten. Seine kindliche Unschuld verliert Jack noch im Grundschulalter, ausgerechnet in einem Selbstverteidigungskurs an die kräftig gebaute Mrs. Machado. Doch auch seine viel ältere „Sandkastenfreundin“ Emma zeigt frühzeitig Interesse an Jacks Penis, macht ihn zum Hauptinteresse des Jungen in einem Alter, in dem er normalerweise noch keine allzu große Rolle spielt.

„Mr. Penis“ steht hier auf eine Weise im Mittelpunkt, die für den Leser die Grenzen des Erträglichen zuweilen überschreitet. Damit meine ich nicht Pornographie, davon ist Irving zum Glück meilenweit entfernt. Viel schockierender ist die Perspektive eines Kindes, welches nicht begreift, dass es sich um sexuellen Missbrauch handelt. Eine Perspektive, welche die widerstrebenden Gefühle dabei schildert, und zwar nicht nur die negativen. Natürlich entbehrt diese sehr tragische Situation auch nicht einer gewissen Komik, zum Beispiel dann, wenn die älteren Mädchen Jack nötigen, ein Mädchen mit Zahnspange zu küssen, was zu Verletzungen führt. Die liebenswert-schrullige Emma weist Jack daraufhin zurecht: „Was machst du da, Zuckerbär? […] Sie haben ihre Lippe mit vier Stichen genäht! Da haben wir ja einen ganzen Berg Hausaufgaben vor uns. Du kannst doch ein Mädchen nicht so küssen, als wäre es ein Steak!“
Zugleich macht Jack in St. Hilda erste zweifelhafte Erfahrungen mit Religiosität und wird von seiner verehrten Lehrerin Caroline als Schauspieler entdeckt – in Frauenrollen.

Dass Jacks Jugend und sein Eintritt ins Erwachsenenalter nicht eben komplikationslos verlaufen, ahnen wir schon. Aus dem „Meer von Mädchen“ gerade entstiegen, schickt ihn seine Mutter auf ein Jungeninternat, wo er Ringen lernt und ein paar andere Dinge fürs Leben; er vermisst jedoch dort gelegentlich „sein früheres Leben als missbrauchtes Kind“. Diese Sehnsucht nach sexuellen Aktivitäten dauert nicht lange an. Scheinbar magisch fühlen sich ältere Frauen von dem gut aussehenden Teenager angezogen – und umgekehrt. Zugleich tut sich der Junge schwer mit gleichaltrigen Mädchen – der in ihren Anfängen gescheiterten Beziehungen mit der geradezu perfekten Michele Maher jedenfalls trauert er noch lange hinterher.

Als junger Erwachsener und Student verfestigt sich Jacks nicht ganz platonische Freundschaft zur immer noch ziemlich eigenwilligen Emma. Jack feiert als Travestiestar erste Erfolge, während Emma als Romanschriftstellerin weitaus berühmter wird. Doch Emma stirbt früh, ebenso wie Jacks Mutter.

Nach dem Tod der beiden Menschen, die ihm am meisten bedeutet haben, macht sich Jack auf die Suche nach seiner Vergangenheit – und nicht zuletzt auf die Suche nach seinem Vater. Und stellt fest, dass seine Erinnerung nicht immer das war, wofür er sie gehalten hat, und dass seine Mutter daran nicht ganz unschuldig war – um es einmal milde auszudrücken und den eigentlichen Wendepunkt des Romans nicht vorwegzunehmen.

_Die Rose von Jericho_

Eine Rose von Jericho ist im Tätowierer-Jargon eine Rose, die erst bei genauem Hinsehen zwischen den Blütenblättern ihr Geheimnis offenbart: Eine weibliche Vulva, die nur demjenigen auffällt, der danach sucht. Jacks Mutter beherrscht diese Kunst geradezu perfekt, und obwohl Jack schon als kleiner Jack gelernt hat, wie eine Rose von Jericho aussieht, muss er später feststellen, dass jede Vulva einzigartig und nicht vergleichbar ist.

Auch die Geschichte dieses Romans birgt eine weitere Geschichte in sich, so wie eine Rose von Jericho. Die eine Seite der Geschichte kennt Jack in- und auswendig, aus seiner trügerischen Erinnerung und dem, was seine Mutter erzählt hat, seit er denken kann. Die andere Seite der Geschichte erfährt der erwachsene Jack, als er die Stationen seiner Europareise noch einmal abklappert. Dazwischen bleibt trotz der detailreichen Schilderung noch Platz für die eigene Phantasie des Lesers. Für Mutmaßungen und Spekulationen. Ganz klar, John Irving gehört zu den ganz großen zeitgenössischen Geschichtenerzählern und stellt hier seine Kunst erneut eindrucksvoll unter Beweis.

Ein paar Widerhaken hat das Buch trotzdem, vielleicht sogar ein paar Längen. Angeblich hofft ein wahrer Irving-Fan laut Verlagswerbung, das Buch möge niemals zu Ende gehen. Ich muss gestehen, manchmal habe ich das Gegenteil gehofft. Manchmal gerät das ausufernd Fabulierende eben doch einen Tick zu langatmig, stellenweise wiederholt er sich gar. Ganz abgesehen davon, dass die für seine Romane typische Kombination aus Sex, Ringen und Identitätssuche so manchem Irving-Leser ohnehin bekannt vorkommen dürfte.

Manchmal berührt sie einen einfach nicht genug, die Geschichte des Schauspielers, der darunter leidet, dass ihn eigentlich nichts so richtig berührt. Die eindrucksvollsten und auch witzigsten Szenen finden rund um die beiden Beerdigungen statt. Bei denen war ich voll und ganz im literarischen Irving-Taumel, war begeistert, lachte, weinte, fühlte mit. Witzig und berührend zugleich, wie die Rockerfreunde von Jacks Mutter Alice deren Beerdigung in der Kapelle der Mädchenschule durcheinander bringen. Außerdem ist es einfach eine tolle Idee, Jack dieselbe Geschichte gewissermaßen zweimal durchleben zu lassen. Genial, wie er im ersten Teil die Köder dafür auslegt, wir ihm auf den Leim gehen und schließlich … nein, das verrate ich natürlich nicht. Nur so viel: Dafür haben sich dann auch die seitenlangen … ähm … Ergüsse über Jacks Penis gelohnt.

Angeblich ist „Bis ich dich finde“ Irvings persönlichster Roman. Irving selbst hat seinen Vater nie kennen gelernt und als Erwachsener noch Kontakt zu seinen Halbgeschwistern aufgenommen. Somit ist die Vatersuche als Sinnsuche ein Thema, mit dem sich der Autor intensiv auseinander gesetzt haben wird. Kann sein, dass er in seiner literarischen Verarbeitung ein klein wenig zu sentimental wird.

Dennoch ist und bleibt Irving natürlich ein fantastischer Geschichtenerzähler, dem man gern und meistens atemlos lauscht. Immer wieder.

Taschenbuch ‏ : ‎ 1152 Seiten

Reichs, Kathy – Totgeglaubte leben länger

Was, wenn Jesus nicht am Kreuz gestorben wäre?

Bibelthriller zwischen Fakten und Fiktion haben seit Dan Brown Hochkonjunktur – da wollte Bestsellerautorin Kathy Reichs wohl nicht zurückstehen. Zumindest haben wir es hier mit einer Fachfrau zu tun: Ihre Serienheldin, die Gerichtsmedizinerin Tempe Brennan, hat schließlich ihre Wurzeln in der forensischen Archäologie – ebenso wie die Autorin übrigens.

Diesmal ermittelt Tempe Brennan im Gelobten Land. Wie kommt es dazu? Der jüdische Antiquitätenhändler Avram Ferris ist ermordet worden und liegt auf Tempes Obduktionstisch, während ihr Geliebter Ryan und seine Polizeikollegen bereits ermitteln. Kurz nach der Obduktion spielt ein Fremder Tempe ein Foto zu, welches scheinbar mit Ferris’ Ermordung in Zusammenhang steht: Das Bild zeigt ein korrekt angeordnetes Skelett, daneben Fußabdrücke im Staub und einen Pinsel als behelfsmäßigen Kompass. Tempe geht davon aus, dass das Foto von einer archäologischen Grabung stammt und wendet sich Hilfe suchend an ihren ehemaligen Kollegen, den Archäologen Jake Drum. Der findet heraus, dass das Foto von Grabungen im israelischen Masada stammt und möglicherweise etwas zeigt, das auf dem heiligen Tafelberg nach jüdischer und christlicher Glaubensgeschichte nicht hätte existieren dürfen.

Tempe und Ryan reisen gemeinsam nach Israel. Während Tempe mit Jake eine sensationelle Entdeckung um die Familiengruft Christi macht, lassen ihnen religiöse Fundamentalisten verschiedenster Couleur kaum eine ruhige Minute, die Funde eingehend zu untersuchen.

|Hochspannung mit Schönheitsfehlern|

Der Name Kathy Reichs steht für Hochspannung. Das Thema fasziniert, der zwischen Gegenwart und Vergangenheit angesiedelte Plot ist manchmal ein bisschen wirr, fesselt aber trotzdem bis zur letzten Seite.

Positiv ist anzumerken, dass Kathy Reichs ohne billige Effekte eine spannende und geradlinige Geschichte zu erzählen vermag; mit klassischen Krimizutaten und gar nicht so viel Blutvergießen, wie man es von einem Gerichtsmedizin-Thriller erwarten würde. Die unvermeidbare Liebesgeschichte zwischen Tempe und Ryan ist zugleich ein geschickter Kunstgriff, um unsere Heldin an den gegenwärtigen Ermittlungen ebenso teilhaben zu lassen wie an den Ausgrabungen. Es handelt sich genau genommen auch eher um einen Archäologie-Thriller; wie üblich bei Kathy Reichs fand die Geschichte ihren Ursprung in einem realen Fall: Ihr Freund und Kollege James Tabor untersucht seit 2000 das so genannte Jakobus-Ossuar aus dem ersten Jahrhundert und fragte Reichs, ob sie ihn begleiten und die Geschichte für einen neuen Tempe-Brennan-Fall verwenden wolle. Kathy Reichs war Feuer und Flamme.

Ob nun tatsächlich real oder Verschwörungstheorie – ähnlich wie bei Dan Brown eignet sich die Fiktion hervorragend als Spielplatz, um verschiedene Varianten, wie es durchaus hätte sein können, durchzuspielen. War Jesus tatsächlich kein Einzelkind, war er sogar verheiratet und hatte selbst Kinder? Hat er seine eigene Kreuzigung überlebt und wurde 80 Jahre alt? So ganz hundertprozentig werden wir es nie erfahren, auch wenn es historische Hinweise darauf gibt. Wegen dieser kaum überbrückbaren Kluft zwischen Glauben und Wissen sind solche Bücher wohl so erfolgreich. Von brennender Aktualität sind dagegen die Verweise auf religiöse Fundamentalisten, deren Alleinansprüche auf Wahrheit es immer und in allen Religionen gegeben hat. Die Amerikanerin Kathy Reichs bleibt dabei relativ neutral, bis auf eine Ausnahme. Zitat: „Wütender Mund. Stechender Blick. Der ungestutzte Bart eines islamischen Fundamentalisten.“ (S. 292). Wenn es so einfach wäre, islamische Extremisten auszumachen, hätten die USA mit ihrem „Krieg gegen den Terror“ mehr Erfolg gehabt.

Während der Plot selbst zwar manchmal haarsträubend, aber doch gut recherchiert ist, scheint das Buch jedoch mit heißer Nadel gestrickt worden zu sein. Das ist schade, denn das schmälert manchmal das Lesevergnügen. Wir wollen bei einem Krimi nicht schulmeisterlich werden, doch in Sachen Stil und Satzbau hat Kathy Reichs manchmal den Charme einer gehetzten Wissenschaftlerin, die sich nebenher Notizen macht. Vielleicht ist das ja auch so? Die forensische Archäologin Kathy Reichs hat sicher viel aus ihrem Berufsleben zu erzählen, aber als Bestsellerautorin und Vollbeschäftigte vermutlich auch nicht die Zeit, Bücher am Fließband zu produzieren. Wirklich gut Ding will Weile haben – doch das Buch sollte wohl noch rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft erscheinen.

Was bleibt, ist ein überdurchschnittlich spannender Thriller mit Schönheitsfehlern. An Dan Browns [„Sakrileg“ 1897 jedenfalls, das hier ganz sicher Pate stand und sogar ein paarmal erwähnt wird, reicht Kathy Reichs Roman nicht heran.

Holt, Anne – Was niemals geschah

Man könnte ja manchmal denken, diese ganzen Erfolgsautoren seien alle in den letzten zwei, drei Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen, doch das stimmt natürlich nicht. Die ersten Krimis von Anne Holt sind schon Mitte der Neunziger bei |btb| erschienen, allerdings galt die norwegische Ex-Justizministerin damals noch als Geheimtipp. Inzwischen hat die lesbische Kommissarin Hanne Wilhelmsen sieben Fälle gelöst und sich damit eine beträchtliche Fangemeinde erobert.

Die zweite Krimiserie von Anne Holt dreht sich um den Kommissar Yngvar Stubø und seine Frau, die Profilerin Inger Johanne Vik. „In kalter Absicht“ haben sie ihren ersten Fall miteinander gelöst, „Was niemals geschah“ ist der zweite Fall mit diesem ungewöhnlichen Doppel.

_Eine Mordserie, die sich zu wiederholen scheint_

Stubø ist gerade im Vaterschaftsurlaub, Inger Johanne noch im Mutterschutz. Eigentlich wollen beide mit dem Fall nichts zu tun haben, den Stubøs Kollegen recht schnell an ihn herantragen. Doch die Neugier siegt und schließlich auch die Zeit, die verrinnt, bis Stubø wieder seinen Dienst antreten muss und der Fall noch immer mehr Fragen aufwirft als dass irgendwelchen Spuren nachgegangen werden könnte.

Mehr noch, bei dem Mörder scheint es sich um einen Serientäter zu handeln, der sich auf prominente Opfer spezialisiert hat, eine Mordserie, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Stets hinterlässt der Mörder eine Botschaft des Schreckens: Da wird der beliebten Fernsehmoderatorin die Zunge herausgetrennt und mit einem Skalpell gespalten. Sie sollte wohl ganz offenkundig posthum als Lügnerin enttarnt werden. Da wird eine aufstrebende rechtspopulistische Politikerin in kompromittierender Stellung mit dem Koran zwischen den Beinen aufgefunden. Ein religiöser Fanatiker also?

Nachdem Stubo und seine Kollegen eine Weile im Dunkeln tappen, findet die eigentlich nicht direkt an den Ermittlungen beteiligte Psychologin Inger Johanne eine entscheidende Spur – in ihrer eigenen beruflichen Vergangenheit beim FBI, über die sie bisher auch Yngvar gegenüber ein großes Geheimnis gemacht hat. Es scheint, als hätte es diese Mordserie schon einmal gegeben – kann es Zufall sein?

_Anne Holt at her best!_

Mehr sollte man auf keinen Fall verraten, um nicht die vielen überraschenden Wendungen vorwegzunehmen, die dieser Krimi in sich birgt. Wenn man erst mal angefangen hat, ist es unmöglich, ihn aus der Hand zu legen, und nebst atemberaubender Spannung schreibt die Autorin auf erfreulich hohem Niveau.

Der Fall ist außergewöhnlich und recht „konstruiert“, denn der Mörder inszeniert diese Morde ja förmlich, dazu noch ermordet er Menschen, die ohnehin im Rampenlicht stehen. Dennoch bleibt der Fall bis zum Ende schlüssig. Und das Ende selbst ist so klasse, dass man sich eigentlich gar keine Fortsetzung wünschen würde, allerdings muss ich zugeben, dass mich die beiden sympathischen Anti-Helden glatt zu einer Serienleserin machen könnten.

Die Eheleute Vik und Stubø haben kein einfaches Leben miteinander. Sie haben ihre Macken und ihre Vorgeschichte, was sie glaubwürdig und menschlich macht. Beide schleppen regelrechte Traumata aus ihrer Vergangenheit mit sich herum, doch während Stubø im Familienalltag langsam wieder Fuß fasst, fühlt sich Inger Johanne durch ihre etwas schwierige Tochter Kristiane und den Säugling stark belastet. Die beiden streiten, diskutieren, wälzen Probleme – vielleicht manchmal zu häufig? Das habe ich mich manchmal bei der Lektüre gefragt, doch im Nachhinein passt das alles ganz wunderbar zusammen.

Schön ist außerdem, dass die beiden absolut Hand in Hand arbeiten und einander ebenbürtig sind. Obwohl Inger Johanne eher eine „Nebenermittlerin“ ist, hat man nie den Eindruck, sie sei „nur“ Hausfrau und Hobbydetektivin, sondern von ihr kommen im Gegenteil die entscheidenden Impulse.

Der Fall wird hauptsächlich aus der Perspektive von Yngvar und Inger Johanne geschildert, teils aber auch aus der Sicht der anderen beteiligten Personen. Nicht immer finde ich eine solche Erzählweise gelungen, hier ist das ausgewogen und äußerst spannungsfördernd.

Im Gegensatz zu manchen anderen Autoren, die sich doch recht oft wiederholen, sobald sie „in Serie gehen“, wird Anne Holt besser und besser.

_Fazit:_ Einer der besten psychologischen Krimis seit langem – mit interessanter Handlung, glaubwürdigen Charakteren und überraschenden Wendungen. Wird wahrscheinlich eine vielversprechende neue Krimiserie.

_Anne Holt_ wurde 1958 geboren und wuchs in Norwegen und den USA auf. Sie ist mit einer Frau verheiratet, hat eine kleine Tochter und sich nach ihrer politischen und juristischen Karriere ganz aufs Schreiben verlegt. Wenn ich richtig gezählt habe, sind derzeit neun Krimis von ihr lieferbar. Zudem hat Holt noch einen lesbischen Liebesroman geschrieben mit dem Titel „Mea Culpa“.

http://www.piper-verlag.de

Leonie Swann – Glennkill. Ein Schafskrimi

Schaf beobachtet. Schaf kombiniert.

Der Fall George Glenn

George ist tot. Der wunderliche Schäfer aus dem irischen Glennkill liegt eines Tages mit einem Spaten in der Brust auf der Weide. Die Ermittlungen beginnen, und damit beginnt auch ein ganz normaler Krimi.

Sollte man meinen. Ist aber nicht so. Denn in „Glennkill“ spielt eine ganze Schafherde die Hauptrolle. Und die können wahrhaft mehr als nur blöken. Allen voran Miss Maple, das klügste Schaf von Glennkill und vielleicht sogar der ganzen Welt, die sich mit Schafsverstand des Kriminalfalls annimmt.

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Zoran Drvenkar – Du bist zu schnell

_Die Hintertür im Hirn_

Eines Nachts wacht Marek davon auf, dass seine Freundin Val ihn wachschüttelt. Sie erkennt ihn nicht und schreit ihn an: „Was hast du hier verloren? Was tust du in meinem Bett, du Penner? Los, verschwinde!“

Diese nächtliche Episode, verschieden farbige Pillen in ihrer Kosmetiktasche, die Tatsache, dass er fast nichts über ihre Vergangenheit weiß, all das macht Marek schon länger misstrauisch.
Eines Abends findet er Val völlig aufgelöst in ihrer Wohnung. Im Bad liegt zusammengekrümmt die Leiche ihrer Sandkastenfreundin Jenni. Am Spiegel steht mit ihrem Blut der Satz: „Wo bist du gewesen?“

Val leidet seit Jahren unter einer Psychose, die sie durch Medikamente im Griff zu haben scheint. Sie führt ein ganz normales Leben, doch wenn die Tür zur Psychose geöffnet ist, sieht Val die Welt in Zeitlupe, träge und schleichend. Daneben sieht sie einige wenige Menschen, die sich in normalem Tempo fortbewegen: die Schnellen. Von ihnen geht die Bedrohung aus. Doch sind sie bloß ein Hirngespinst oder gibt es sie wirklich? Val ist überzeugt, dass sie etwas gesehen hat, was sie nicht hätte sehen dürfen und nun dafür bestraft wird.

Val, Marek und Jennis Freund Theo erzählen ihre Version der Geschichte abwechselnd, in atemlosen Rückblenden. Der Wechsel der Erzählperspektiven macht einen Großteil der Spannung aus: Was ist wahr? Was ist Wahn? Und was ist eigentlich wirklich geschehen?

Trotz des blutigen Auftakts: Reißerische Szenen stehen in diesem psychologischen Thriller nicht im Mittelpunkt. Es geht vielmehr um Gefühle, die im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehen, um seelische Grausamkeit sich selbst und anderen gegenüber. Die Grenzen zwischen „Verrücktsein“ und so genannter Normalität sind hier fließend. Das ist das wirklich Schockierende daran.

Ein Buch, das man kaum aus der Hand legen kann. Und wenn man es schließlich fassungslos zuklappt, geht es einem noch lange nicht aus dem Kopf.

Zoran Drvenkar ist als Sohn kroatischer Einwanderer in Deutschland aufgewachsen und hat sich hierzulande schon als Kinder- und Jugendbuchautor einen Namen gemacht. „Du bist zu schnell“ ist seine erste Veröffentlichung, die sich ausschließlich an Erwachsene richtet.

Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 288 Seiten