Alle Beiträge von Stefan Kayser

Engleheart, Murray / Durieux, Arnaud – AC/DC. Maximum Rock \’n\‘ Roll

Würde man wahllos Leute auf der Straße anhalten und sie nach den zehn wichtigsten Rockgruppen fragen, dann dürfte fast jedes Mal der Name AC/DC fallen. Die australisch-schottische Band um die Brüder Malcolm und Angus Young, mit den Sängern Bon Scott und später Brian Johnson und der Rhythmusgruppe mit (meistens) Cliff Williams und Phil Rudd, haben mit ‚TNT‘, ‚Highway To Hell‘, ‚Hell’s Bells‘ und ‚Thunderstruck‘ unsterbliche Rockklassiker geschaffen. Die Musikjournalisten Murray Engleheart und Arnaud Durieux haben die fast 500 Seiten starke Bandbiographie „AC/DC. Maximum Rock ’n‘ Roll“ verfasst, die von Kirsten Borchardt und Stefan Rohmig ins Deutsche übersetzt worden ist. Die Autoren sind große Fans der Band und haben für Fans geschrieben. Sie verfolgen die Geschichte der Band, streuen jede Menge Anekdoten ein und haben ihr Buch mit etlichen Fotos, Tourplakaten, Eintrittskaten und anderen Bildern aus der jeweiligen Zeit illustriert.

Das Buch beginnt mit George Young, einem älteren Bruder von Malcolm und Angus, und seiner Band EASYBEATS, die in den späten Sechzigern vor allem mit ihrem Hit ‚Friday On My Mind‘ weltweit Erfolg hatte. Mit seinem Bandkollegen Harry Vanda wurde er später zum Produzenten und Mentor von AC/DC. Man begleitet dann eine junge, rotzige und von unbedingtem Erfolgswillen besessene Band durch chaotische Anfangstage und eine Musikszene, in der offenbar jeder jeden kannte und ständig Bands gegründet und aufgelöst wurden.

Mit den ersten Platten und Tourneen kommt die Maschine ins Laufen. Ein entschlossener Malcolm und ein hart arbeitender Angus nutzen ihre Chance, bis die Truppe auf drei Kontinenten Erfolg hat. Kurz vor dem ganz großen Durchbruch erliegt Bon Scott seinem wilden Rock-’n‘-Roll-Lebensstil. Sein Tod trifft die Rockszene wie kaum ein anderes Unglück, und bis heute spukt Bon als sechstes Mitglied herum. Mit dem ebenbürtigen Sänger Brian Johnson spielt die Gruppe ihr meistverkauftes Album „Back In Black“ ein, und die Achtzigerjahre erleben AC/DC als einen der ganz großen Namen im Rock. Nach dem letzten bedeutenden Album „The Razor’s Edge“ mit dem Welthit ‚Thunderstruck‘ scheinen sich AC/DC aufs Altenteil zurückgezogen zu haben, von wo aus sie mittlerweile nicht mal mehr jedes halbe Jahrzehnt eine neue Platte machen. Es wird gemunkelt, dass es 2007 wieder so weit sein soll.

Engleheart und Durieux haben Unmengen an Fakten gesammelt und scheinbar jeden Zeitungsausschnitt, den sie kriegen konnten, verwertet. Und diese Fakten reihen sie ohne große Übergänge aneinander. Dieser fast schon atemlose Stil bewirkt ein rasantes Leseerlebnis. Man hat den Eindruck, bei einem verrückten Schulausflug dabei zu sein. Man guckt den Brüdern Young im Übungsraum über die Schulter, bis ein besoffener Bon Scott hereintorkelt. Man erlebt sie auf der Bühne, wo ein wildgewordener Angus herumtobt und gelegentlich Krakeeler eigenhändig (oder eigenfäustig) zur Räson bringt. Man düst mit ihnen im Tourbus zum nächsten Auftritt, während sie gerade Interviews geben und Brian Witze reißt.

Dabei erfährt man einige kuriose Geschichten: So etwa, dass Bon Scott mit einer früheren Band mal als Anheizer für GEORDIE auftrat, deren Sänger Brian Johnson war. Oder dass LYNYRD SKYNYRD AC/DC das Mitfliegen in ihrem Flugzeug anboten, mit dem sie bald darauf abstürzten. Ein Schock, der der Southern-Rock-Gemeinde bis heute in den Knochen steckt. Besonders die vier Hauptfiguren der Band werden durch diese Darstellung sehr lebendig geschildert. Und so, wie jedem Menschen mit zunehmendem Alter die Zeit schneller vergeht, wird auch die Erzählung straffer, je näher man der Gegenwart kommt. Die nunmehr 27 Jahre seit Bons Tod nehmen nur halb so viel Raum ein wie die Zeit davor.

Dass die Informationen so übergangslos und unreflektiert abgefeuert werden, hat aber auch Nachteile. Vieles vergisst man schnell wieder, und einige Ungenauigkeiten zeigen sich. So liest man, dass Angus und Malcolm 1971 die gemeinsame Tour von DEEP PURPLE, FREE und MANFRED MANN besuchten, um 30 Seiten später zu erfahren, dass dabei eine Vorgruppe namens FRATERNITY auftrat, deren Sänger ein gewisser Bon Scott war. Und es wird auch nicht klar, warum George Young Bon Scott, den er als Sänger für AC/DC wollte, erst mit Tricks ins Konzert locken musste, wo dieser doch als Fahrer in der Roadcrew der Band arbeitete. Sehr erheitert liest man, dass die Verfasser oder die Übersetzer Laurie Wisefield, der mit Cliff Williams vor dessen Einstieg bei AC/DC in einer Band spielte und später mit Wishbone Ash einige musikalische Großtaten vollbringen sollte, zur Frau gemacht haben.

Der Anhang des Buches enthält eine umfangreiche Diskographie mit allen Alben, Videos / DVDs und ausgewählten Singles. Hier hätte man sich doch alle Singles und Abbildungen der Albencover gewünscht. Dafür ist es lobenswert, dass die Autoren jedem Album die Tracklist und jedem Video eine kurze Inhaltsangabe beigefügt haben. Sehr nützlich ist auch das Namensregister.

„AC/DC. Maximum Rock ’n‘ Roll“ ist für jeden AC/DC-Fan Pflichtlektüre, und auch jeder, der sich für die Geschichte des Rocks im Allgemeinen interessiert, wird in diesem Buch eine reiche Fülle an Informationen finden.

|For those about to read!|

http://www.acdcrocks.com (vom Label betrieben)
http://www.ac-dc.net (vom Arnaud Durieux betrieben)
http://www.heyne.de

König, Johann-Günther – Lobbyisten, Die. Wer regiert uns wirklich?

Da gibt es eine SPD, die jahrelang die paritätische Beitragszahlung bei den Sozialversicherungen wie eine Monstranz vor sich herträgt, bis unter einem Kanzler Schröder Arbeitnehmern und Rentnern ein Sonderbeitrag aufgebrummt wird. Dann sind da die Unionsparteien, die lauthals für das Wettbewerbsprinzip bei den Krankenkassen trompeten, bis unter einer Kanzlerin Merkel der zentral eingezogene Einheitsbeitragssatz beschlossen wird. Allerhöchste Zeit also, sich einmal gründlich mit dem Phänomen Lobbyismus auseinanderzusetzen. Wer sich informieren will, sollte ein gutes Buch zum Thema lesen – keineswegs aber Johann-Günther Königs „Die Lobbyisten. Wer regiert uns wirklich?“

_Die Kerndefizite des Buches_

König versucht, in seinem Buch über den Lobbyismus eine „umfassende Analyse“, so der Klappentext, zu leisten und das Thema am Beispiel der Geschichte Deutschlands und der USA in den letzten 200 Jahren zu verdeutlichen. Leider bleibt es beim Versuch. Das Buch leidet unter vier grundsätzlichen Mängeln:

1. Der Begriff „Lobbyismus“ wird vom Autor selbst nicht definiert und unzureichend in einen Zusammenhang mit Interessenvertretung im Allgemeinen und in der Demokratie gebracht. So redet er von Lobbyismus, wenn Manager Abgeordnetenmandate innehaben, ohne zu merken, dass dies den abgeschriebenen Definitionen widerspricht.

2. Konkrete Fälle von Lobbyismus, also von äußerem, unmittelbarem Einfluss der Interessenvertreter auf politische Entscheidungen, muss man in dem Buch mit der Lupe suchen. Wenn einige Firmen einen Branchenverband gründen oder ein Politiker mit einem Unternehmer auch nur spricht, schreit König gleich „Skandal“, und auf belastbare Fakten wartet man meist vergebens.

3. In dem Buch, das zum großen Teil aus Sekundärliteratur zusammengepinnt ist, gibt es besonders in den ersten grundlegenden Kapiteln keinen gedanklichen roten Faden. König kommt z. B. kurz auf Arbeitsgrundsätze oder Berufsbilder von Lobbyisten zu sprechen, huscht dann gleich zum nächsten Punkt und greift das Thema einige Seiten später noch mal oberflächlich auf. Dass er etwa in den geschichtlichen Kapiteln, die den Großteil des Buches ausmachen, seitenweise eher eine kleine Wirtschaftsgeschichte schreibt als konkret am Thema Lobbyismus zu bleiben, ist scheinbar weder ihm noch seinem Verlag aufgefallen.

4. König sieht das Grundproblem im Kapitalismus, dem „heimlichen Herrscher“ (S. 16). Nun gut, er nennt wenigstens ehrlich sein Feindbild, darauf kann sich der kritische Leser dann einstellen. Dass er dabei den Gewerkschaftslobbyismus nicht ganz unter den Tisch fallen lässt, muss man ihm zugute halten. Das Problem dabei ist, dass er einerseits jede Interessensartikulation von Wirtschaftsseite gleich für einen illegitimen Angriff auf die Staatsorgane hält und andererseits Lobbyismus fast nur als Problem der Wirtschafts- und Arbeitswelt sieht.

Der Begriff Lobbyismus kommt nicht zufällig von Lobby, der Vorhalle von Parlamenten. Es ist ein Phänomen der Demokratie. In der Demokratie, dem Namen nach der „Volksherrschaft“, hat jeder Bürger – also auch der Unternehmer, der Gewerkschafter, der Vereinsfunktionär – das Recht, gemäß seinen Interessen zu wählen, Öffentlichkeitsarbeit zu treiben und bei politischen Entscheidungsträgern vorzusprechen. Wo die Grenze zwischen legitimer Interessenvertretung und illegitimem Lobbyismus verläuft, wird hier nicht systematisch erörtert. Erst im letzten Kapitel wird dieser Aspekt kurz angerissen. Das Buch hätte schon ein wenig gewonnen, wenn man dieses Schlusskapitel an den Anfang gesetzt hätte.

Dass Regierung und Parlament Bürger und Organisationen anhören, bevor sie Gesetze für sie machen, ist ja nicht das Schlechteste an der Demokratie. Und dass man in Bereichen, die ein großes Detailwissen erfordern, Experten zu Rate zieht, ist auch nicht grundsätzlich falsch. Mittlerweile kommt es aber vor, dass Externe sogar Gesetzesvorlagen formulieren. König nennt hier einige Fälle, aber eine systematische Analyse der Beziehung Politik / Berater oder auch nur eine Erörterung des mehrdeutigen Begriffs „Berater“ bleibt aus.

_Zur Geschichte_

Die fundamentalen Defizite des Buches schlagen sich dann auch im historischen Abriss nieder.

Zum Beispiel: Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Weder konnten die damals noch marxistisch orientierten Gewerkschaften die Privatwirtschaft aushebeln, noch konnten die Arbeitgeber Bismarcks Sozialversicherung verhindern. Und wie König selber schreibt, unternahm die Bankenlobby nicht einmal den Versuch, Gesetze zur Regulierung und Besteuerung des Aktienhandels abzuwenden (S. 134). Überhaupt kann er keinen einzigen Paragraphen benennen, der durch Lobbyeinfluss verabschiedet oder nicht verabschiedet wurde. Die einzige Schlussfolgerung kann nur sein: Natürlich gab es Lobbyarbeit, aber das Deutsche Reich vor (und weitgehend auch nach) dem Ersten Weltkrieg war resistent gegen Lobbyismus. Wenn der Autor dann immer noch von der Allmacht der Lobbyisten schwadroniert, ist das entweder Meinungsmache oder aber er war mit der Auswertung des eigenen Datenmaterials überfordert.

Dass einige Angehörige des Großkapitals (übrigens auch des ausländischen) Hitlers Aufstieg unterstützten, steht mittlerweile in jedem Schulbuch. Aber bald nach seiner Machtübernahme wurden die Lobbyverbände verboten oder in halbstaatlichen Gremien gleichgeschaltet. Typischer Fall von denkste! Dass die braunen Mörder nicht auch noch wie die roten Mörder die Betriebe verstaatlichten, ist für König scheinbar schon ein unerhörter Fall von Lobbyismus.

Nachkriegsgeschichte: Nun gibt es die wirtschaftspolitische Auffassung, dass Unternehmen, die Gewinne machen, Steuern zahlen, den technischen Fortschritt vorantreiben und Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, im Interesse der ganzen Volkswirtschaft sind. Selbstverständlich muss man diese Meinung nicht teilen, aber man sollte sie zur Kenntnis nehmen und nicht bei jedem firmenfreundlichen Gesetz „Lobbyismus“ schreien, wenn man nicht mal den Hauch eines Beweises hat. Die einzigen konkreten Fälle von Lobbyeinfluss auf Gesetze in der jungen BRD, bei denen dann auch endlich mal Ross und Reiter genannt werden, liest man in der langen Abschrift von Theodor Eschenburg (S. 213ff).

Seit dem schmählichen Ende der Kommission Santer dürfte jeder wissen, dass der Moloch Brüssel ein Magnet für Lobbyisten ist. Hier liest man z. B., dass das „Entwicklungs-, Wettbewerbs- und Beschäftigungsprogramm“ der Kommission Delors von 1993 einem Strategiepapier der Industrielobby entsprach (S. 247). So ist denn das Kapitel über die EU noch das beste, wenn auch im Verhältnis etwas knapp.

_Was nicht im Buch steht_

Wie erwähnt, wird Lobbyismus von König fast nur im Zusammenhang mit der Wirtschaft besprochen. Umweltorganisationen erwähnt er zwar als Lobbyisten, geht auf das Thema aber nicht weiter ein. Kann sich noch jemand erinnern, wie man uns vor etwa zehn Jahren weismachen wollte, dass das Ozonloch von der Industrie verursacht wäre, bis sich die Wahrheit, dass es schon seit Jahrtausenden existiert, nicht mehr unterdrücken ließ? Wer z. B. wissen möchte, wie Greenpeace unter Missachtung von Anstand und Ehrlichkeit die „Brent Spar“-Kampagne anzettelte, dem sei Udo Ulfkottes Buch „Wie Journalisten lügen“ empfohlen. (Es hat zwar nicht eigentlich Lobbyismus zum Thema, gibt dazu aber mehr her als Königs Machwerk.). Und Umweltorganisationen sind beileibe nicht die einzigen „zivilgesellschaftlichen“ Gruppen, die regelmäßig Hysteriekampagnen fahren, sich selbst als Retter präsentieren und so ihren Funktionären ein schönes Einkommen aus Staatsknete und Spenden verschaffen.

Weiterhin wäre es verdienstvoll gewesen zu untersuchen, inwieweit die Parteien heute noch politische Bürgervereine sind oder vielleicht doch eher Lobbygruppen zur Karriereförderung von Berufspolitikern. Oder inwieweit gewisse Staaten mit Nichtregierungsorganisationen eine Lobby neben der Diplomatie unterhalten, mit der sie die Politik anderer Staaten beeinflussen.

_Fazit_

„Die Lobbyisten. Wer regiert uns wirklich?“ bringt keine neuen Erkenntnisse und geht in weiten Teilen am Thema vorbei, so dass es beinahe schon geeignet ist, den Lobbyismus zu verharmlosen. Das, was König effektiv zum Thema zu sagen hat, hätte man auch auf zehn Prozent des Papiers unterbringen können. Dass sich der Autor auch nicht die Mühe gemacht hat, in einem Wirtschaftslexikon den Unterschied zwischen „Konzern“ und „Unternehmen“ nachzuschlagen oder wiederholt von Faschismus plappert, wenn er Nationalsozialismus meint, macht denn auch nichts mehr. Offenkundig hat sich auch niemand das Manuskript gründlich durchgelesen, wie die vielen Druckfehler anzeigen. Nach dem Motto „Zeichensetzung ist Glückssache“ wurden Kommata anscheinend mit dem Salzstreuer gesetzt.

http://www.patmos.de

Spengler, Oswald – Mensch und die Technik, Der / Pessimismus?

Seitdem sich einflussreiche Köpfe aus der US-Politik und politische Journalisten in Asien auf Oswald Spengler berufen, wächst auch hierzulande das Interesse an dem fast nur durch sein Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ bekannten Geschichtsdenker. Obwohl Spengler ansonsten ein unproduktiver Autor war, von dem zu Lebzeiten nur wenige Schriften veröffentlicht wurden, sind heute nicht einmal mehr diese alle verfügbar. Nun hat der |Karolinger|-Verlag mit ‚Der Mensch und die Technik‘ und ‚Pessimismus?‘ zwei Texte neu herausgebracht. Bei beiden Schriften, so sehr sie sich auch unterscheiden, wird eine Gemeinsamkeit sehr deutlich: Trotz seiner spekulativen Geschichtsphilosophie war Spengler kein weltabgewandter Spinner im Elfenbeinturm. Mit großer Leidenschaft dringt er darauf, die Erkenntnisse seiner Geschichtsmorphologie politisch ebenso zu nutzen wie diejenigen der Naturwissenschaften.

_Der Mensch und die Technik_

Am 6. Mai 1931 hielt Oswald Spengler eine Rede im Deutschen Museum München über die weltpolitische Situation und legte später im Jahr sein erweitertes Redemanuskript unter dem Titel „Der Mensch und die Technik“ als Buch vor. Wie viele andere, zum Teil sogar entgegengesetzte Denker hatte er erkannt, dass die moderne Technik nicht einfach die quantitativ gesteigerte Fortsetzung früherer Erfindungen, sondern eine neue Stufe in der Geschichte war, die alle Lebensbereiche durchdringt.

Nach dem Erscheinen des „Untergangs des Abendlandes“, in dem er sich mit typischen Abläufen in der Geschichte der Hochkulturen auseinandergesetzt hatte, hatte sich Spengler stärker der Vorgeschichte zugewandt. Im vorliegenden Text fasst er seine Gedanken zur Vorgeschichte und zur abendländischen Spätphase zu einer Lageeinschätzung des technischen Zeitalters zusammen. Ausgehend von Pflanze, Tier und Urmensch entwirft er eine Anthropologie, die den Menschen als planendes, zusammenarbeitendes Wesen beschreibt, das sich die Natur zur Erreichung seiner Ziele unterwirft. Die Technik als Werkzeug geht immer zusammen mit der Technik als Verfahren. (Das Englische kennt den Unterschied zwischen |technology| und |technique|.) So kommt der Autor zu Aussagen, etwa dass alle wichtigen Fortschritte schlagartig eintreten, die der damaligen Lehrmeinung entgegenstanden, aber durch neuere Erkenntnisse eher gestützt werden. Auf jeden Fall wäre es wünschenswert, wenn sich heutige Naturwissenschaftler und Archäologen zu Spenglers Gedanken äußerten.

Beim Menschen des späten Abendlandes nun ist die Technik zum Selbstzweck geworden, die sich unter den Händen des Zauberlehrlings längst zu einem Dämon mit eigener Dynamik entwickelt hat. Was wir heute „Globalisierung“ nennen, nahm schon in Spenglers Zeit vor der Entkolonialisierung seinen Anfang. Wohin die Reise gehen sollte, sagen die prophetischen Worte: „Mit den unzähligen Händen der Farbigen, die ebenso geschickt und viel anspruchsloser arbeiten, wird die Grundlage der weißen wirtschaftlichen Organisation erschüttert […] Das Schwergewicht der Produktion verlagert sich unaufhaltsam […] Das ist der letzte Grund der Arbeitslosigkeit in den weißen Ländern, die keine Krise ist, sondern der Beginn einer Katastrophe.“ (S. 72) Ein Blick von 1931 auf die im Bankerdeutsch so genannten BRIC-Staaten von heute.

Spengler sah sich gerade in Deutschland einem weltfremden Idealismus gegenüber, zu dem in neuerer Zeit mit Kapitalismus und Sozialismus zwei materialistische Weltanschauungen, die letztendlich nur auf Wirtschaftsproblemen beruhten, gekommen waren. Dass er also seine Thesen gegen etablierte „Irrtümer“ vertreten musste, erklärt den gelegentlich bissigen bis polemischen Tonfall dieser Rede.

_Pessimismus?_

Der Aufsatz „Pessimismus?“ erschien 1921 in den „Preußischen Jahrbüchern“ und lag damit zeitlich zwischen dem ersten und dem zweiten Band des „Untergangs des Abendlandes“. Der erste Band war in der depressiven Stimmung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg schlagartig auf eine gewaltige Resonanz und dabei auf zum Teil kolossale Fehlinterpretationen gestoßen, die Spengler mit dieser Schrift (und dem darin angekündigten zweiten Band) nun ausräumen wollte. Nach seiner Geschichtsmorphologie sind die Hochkulturen Organismen, die wie Lebewesen bestimmte artgemäße Lebensstufen durchlaufen müssen und am Ende zwangsläufig ihren natürlichen Tod finden. Dieser Untergang als Kultur muss keineswegs mit der Zerstörung ihrer Staaten oder einer anderen äußeren Katastrophe einhergehen. Zu Pessimismus bestehe also kein Anlass, auch in der heutigen (Nach-)Kulturphase des Abendlandes gebe es noch bedeutende zeitgemäße Aufgaben, die aktiv angegangen werden müssen. Spengler klärt noch weitere Grundgedanken seines Hauptwerkes wie das Begriffspaar von „Tatsachen“ und „Wahrheiten“, die dem aufmerksamen Leser eigentlich schon bei der Lektüre des „Untergangs“ hätten aufgehen müssen. Man erkennt daran, welche Missverständnisse damals (und heute) das reißerische Wort „Untergang“ hervorgerufen hat.

Bemerkenswert ist die fast völlig geänderte Zukunftserwartung beim Autor in den zehn Jahren bis zu „Der Mensch und die Technik“. Ruft Spengler hier noch auf, statt Dichtern und Denkern nun Politiker, Manager und Ingenieure heranzuziehen, um große Ziele in der Zukunft zu erreichen, ist er dort überzeugt, dass sich das Abendland mit seiner Wirtschaft und Technik selbst auf verlorenen Posten begeben hat.

_Zu dieser Ausgabe_

Die vorliegende Ausgabe enthält neben den beiden Texten noch eine Liste der Bücher und wichtigsten Aufsätze Spenglers, die zu seinen Lebzeiten oder posthum veröffentlicht worden sind, sowie eine Übersicht über die Sekundärliteratur im In- und Ausland. Dem |Karolinger|-Verlag ist zu danken, nach dem „Desinteresse des Originalverlags“, so das Vorwort, diese beiden Schriften wieder zugänglich gemacht und zur Diskussion gestellt zu haben.

http://www.karolinger.at

Mrozek, Bodo – Lexikon der bedrohten Wörter II

In einer Zeit, in der Kommunikationstrainer ein verarmtes, farbloses Neusprech aus vorgestanzten Phrasen verbreiten und so mancher „Parvenü“ die Inhaltslosigkeit seiner Rede durch ein aufgemotztes Imponier-Denglisch zu kaschieren versucht, kommt ein Buch wie das „Lexikon der bedrohten Wörter II“ von Bodo Mrozek gerade recht. 2005 erschien der erste Band, in dem der Verfasser Worte vorstellte und erklärte, die im Sprachgebrauch immer seltener vorkommen. Auf seiner Internetseite http://www.bedrohte-woerter.de gingen seither so viele Hinweise auf Wörter ein, die in Gefahr sind, aus der Alltagssprache zu verschwinden, dass mehr als genug Material für den nun vorliegenden zweiten Teil vorhanden war.

Dem Leser begegnen auch im zweiten Band Wörter, die sich tatsächlich schon aus der Sprache der Lebenden verabschiedet haben („Breger“, „Vagant“), immer seltener benutzt werden („garstig“, „Schmöker“) oder nur noch in Sprichworten und Redensarten ein letztes Refugium gefunden haben („Kerbholz“, „Bockshorn“). Mrozek geht in den Artikeln nicht streng wissenschaftlich vor. Die Erläuterungen in seinem Lexikon sind informativ, aber meist humorvoll formuliert. Er verwendet eine gediegene, etwas altertümliche Sprache, spielt mit Klischees, und die vielen sachlich nicht immer notwendigen Querverweise helfen, Erkenntnisse aus der Lektüre zu verfestigen. Ein Unterton melancholischer Ironie ist dabei nicht zu überhören. Denn viele Begriffe verschwinden nicht aus unserem Alltag, weil alte Wörter durch neue ersetzt werden, sondern weil die Dinge selbst aussterben. Wenn man im vorliegenden Lexikon Wörter wie „Sonntagsstaat“, „Conférencier“ oder „Kopfputz“ findet, wird einem bewusst, dass eine ganze Welt bürgerlicher Kultur im Untergang begriffen ist.

Bei einigen Wörtern wie „Anorak“ oder „Dusel“ darf man bezweifeln, dass sie vom Aussterben bedroht sind, aber dennoch ist es interessant, etwas über Herkunft und Geschichte solcher Begriffe zu lesen. Denn wer hat gewusst, dass „Anorak“ eines der wenigen Wörter ist, die aus der Eskimosprache ins Deutsche gelangt sind? Wenn der Autor jedoch den „Rentner“ als bedroht einordnet, dürfte ihn wohl eher „der Stachel gelöckt“ haben, ein paar Kommentare zum Zeitgeschehen loszuwerden.

Es werden aber nicht nur offenkundig altertümliche Wörter vorgestellt, sondern auch manch eine Vokabel aus der Modesprache der letzten Jahrzehnte, denen ein früher Tod droht. Jüngere Leser dürften kaum noch wissen, dass man Western ironisch „Pferdeopern“ nannte oder dass es nicht ganz geschmackssichere Autonarren gab, die „Mantaletten“ an den Füßen trugen.

Eine kleine „Beckmesserei“ kann aber nicht unterbleiben: Wenn man sich mit der deutschen Sprache befasst, sollte man sich auch ein klein wenig in der deutschen Literatur auskennen. Schillers „Wallensteins Tod“ ist kein Gedicht, sondern ein richtiges, ausgewachsenes Theaterstück.

Bodo Mrozeks „Lexikon der bedrohten Wörter II“ ist eine kleine Kulturgeschichte des Alltags und mag eine Anregung sein, sich wieder des Reichtums und der Farbigkeit der deutschen Sprache bewusst zu werden und das eine oder andere ausdrucksstarke Wort der Bedrohung zu entreißen.

http://www.bedrohte-woerter.de
http://www.rowohlt.de

Peter Scholl-Latour – Russland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam

Peter Scholl-Latour, der bedeutendste deutsche Auslandsjournalist, hat sein neuestes Buch Russland gewidmet. „Russland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam“ ist ein geopolitischer Lagebericht in Form eines Reisetagebuches, der auf Besuchen Scholl-Latours, der sich grundsätzlich vor Ort informiert, in Russland und einigen seiner Nachbarstaaten von Januar bis Mai 2006 beruht. Dass den Leser in diesem Buch keine Plaudereien, sondern genaue Beobachtungen und Analysen erwarten, machen schon die Umschlagseiten deutlich: Sie zeigen eine Karte Eurasiens mit Russland in der Mitte, die gegenüber den gewohnten Karten leicht verschoben ist. Damit wird einerseits klar, dass Deutschland nicht das Land „im Herzen Europas“ ist, wie Politiker gerne schwafeln, sondern am Rande dieser gewaltigen Landmasse liegt und dass man hierzulande gar nicht anders kann, als sich für das riesige Russland zu interessieren. Andererseits sind alle Staaten farblich markiert, in denen US-Truppen stehen, sei es durch Nato-Präsenz, Krieg oder Kooperationsverträge mit den örtlichen Machthabern. Diese Karte ist die Illustration einer umgekehrten Monroe-Doktrin, mit der die USA sich in Eurasien festsetzen.

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Gärtner, Stefan – Man schreibt deutsh. Hausputz für genervte Leser

|“Wenn die Worte nicht stimmen, so sind die Begriffe nicht richtig; sind die Begriffe nicht richtig, so kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht, so trifft die Justiz nicht, so weiß die Nation nicht, wo Hand und Fuß zu setzen. Also dulde man nicht, dass in den Worten etwas in Unordnung sei.“|
(Konfuzius)

Wenn man jemanden kennt, der gelegentlich öffentlich sprechen muss, und feststellt, dass derselbe Mensch, der eben noch in kleiner Runde klar und verständlich in eigenen Worten geredet hat, nun vor Publikum Phrasen ablässt, die man sonst nur aus dem Fernsehen kennt, dann weiß man, dass irgend etwas nicht stimmt. Und dass man die angefangenen Phrasen auf Anhieb wiedererkennt und im Kopf vorwegnehmen kann, sollte einen erst recht beunruhigen.

Stefan Gärtner, Redakteur des satirischen Magazins „Titanic“, knöpft sich in seinen Buch „Man schreibt deutsh“ (Man erkennt den Titel von Gerhard Polts satirischem Film „Man spricht deutsh“ wieder.) den Sprachverfall in veröffentlichten Texten überwiegend aus den Bereichen Literatur und Publizistik vor. Mit sicherem Wissen in Semantik, Grammatik und Literatur kritisiert er den dortigen Sprachgebrauch. Die Texte des Buches waren teilweise bereits in der „Titanic“ zu lesen, womit klar sein dürfte, dass „Man schreibt deutsh“ kein Sachbuch mit wissenschaftlichem Anspruch ist, sondern eine Satire, die aber meist auf hohem Niveau ausgewählte sprachliche Fehltritte kommentiert und persifliert.

Im ersten Kapitel ‚Zunehmend Barbaren Welt‘ setzt Gärtner zum Rundumschlag gegen Fernsehen, Zeitungen, Magazine und Literatur an. Er führt den täglichen Ramsch aus Tautologien („verschmutztes Schlammwasser“), Setzkasten-Deutsch („Bush-Besuch“ statt „Bushs Besuch“), barocken Aufblähungen („zunehmend wichtig“ statt „wichtiger“) und unsinnigen Metaphern (der schlaffe Testballon platzt) vor. Schlechtes Formulieren ist immer ein Zeichen für schlechtes oder mangelndes Denken. Gefährlicher als einzelne missglückte Ausdrücke ist insofern das Formulieren in vorgestanzten Phrasen, was offenbart, dass Leute, deren Aufgabe es ist, uns zu informieren, weder die berichteten Ereignisse noch ihre Worte darüber ausreichend überdenken. Oder in Gärtners Worten: Aus dem Journalisten plappert es in mechanischer Gewohnheit heraus, „weil er Einschnitte schon gar nicht mehr anders kennt als |notwendige|“ (S. 17). Dass Gärtner nicht in journalistischer Kumpanei die Beispiele schlechten Deutschs anonym vorführt, sondern die Verfasser und Veröffentlicher dieser Peinlichkeiten nennt, ist ihm hoch anzurechnen. Allein schon für dieses erste Kapitel lohnt sich die Anschaffung des Buches. Dieser Text sollte Pflichtlektüre im Deutschunterricht werden.

Die folgenden Kapitel behandeln an ausgewählten Beispielen verschiedene Textarten wie politische Kommentare, Feuilletonsbeiträge, Romane oder Klappentexte. Gärtner arbeitet den jeweils typischen nachlässigen Umgang mit der deutschen Sprache heraus und zeigt dessen Ursachen wie Ignoranz, Geschwätzigkeit, Wichtigtuerei, Selbstverliebtheit oder – vor allem kommerziell motivierte – Beeinflussung des Lesers. Eine seiner Lieblingszielscheiben ist dabei die aufgeblasene, blumige Sprache der Kulturedaktionen. Wenn ihm deren Geschwafel zu viel wird, gibt Gärtner den Kalkofe des gedruckten Wortes und schiebt statt einer Analyse dem Originalzitat eine bissige Parodie hinterher. Auch im Weiteren hat der Autor keine Angst vor großen Namen und demonstriert den schlampigen Umgang mit der Sprache auch in angesehenen Zeitungen und in den öffentlich-rechtlichen Medien, die zwar jedem „Rundfunkteilnehmer“ 51 Euro je Quartal an Zwangsgebühren abknöpfen, aber in ihren Redaktionen immer noch keine journalistische oder sprachliche Qualitätssicherung haben.

Eine Auswahl, wie sie Gärtner vornimmt, ist natürlich immer „ungerecht“, aber nach der Lektüre ist der Leser vielleicht hellhöriger und kann diejenigen aufspüren, die hier ungeschoren geblieben sind. Sicher ist auch Gärtners Kritik im Einzelnen selber kritikwürdig; insbesondere beim Schriftsteller Durs Grünbein schießt er bei allen berechtigten Bemerkungen gelegentlich etwas übers Ziel hinaus. Weiterhin behelligt er den Leser stellenweise schon etwas arg mit seiner politischen Meinung.

Trotzdem ist „Man schreibt deutsh“ ein ebenso nützliches wie unterhaltsames Buch. Wer etwas Derartiges schreibt, muss natürlich selber gut formulieren, und das gelingt Stefan Gärtner auf jeden Fall. Präzise legt er das „Dummdeutsch“ (Eckhard Henscheid) dar und korrigiert es. Man kann bei dieser Schrift von „intelligenter Unterhaltung“ sprechen, ohne floskelhaft zu werden, denn Gärtner schreibt seine Satire in einem gediegenen, vereinzelt schon etwas altertümlichen Deutsch, um dann bei nächster Gelegenheit einen kräftigen Kalauer loszulassen. Durch Anspielungen und witzige Pseudo-Zitate belustigt der Text auch noch in den Nebenbemerkungen.

Sympathisch macht das Buch, dass Gärtner zwischen seinen Attacken selbstironisch einräumt, dass es natürlich größere Probleme auf der Welt gibt oder auch ihm selbst Fehler im Buch unterlaufen sein können. Und er ist sich auch nicht zu schade, Autoren und Zeitschriften, die er eben noch kritisiert hat, für gute Beiträge zu loben.

Auch bei seinen kleinen Schwächen ist „Man schreibt deutsh“ unbedingt eine weite Verbreitung zu wünschen. Jetzt fehlen noch entsprechende Schriften über Politiker- und Werbesprech.

http://www.rororo.de

Dreykopf, Marcel – Fußball. Das Allerletzte

„Fußball. Das Allerletzte“ – der Titel macht schon deutlich, dass hier keine Nettigkeiten über die wichtigste Nebensache der Welt berichtet werden. Der Verfasser, der das Pseudonym Marcel Dreykopf gewählt hat und laut Verlagsinformation einer „der bekanntesten Sportjournalisten Deutschlands“ ist, hat allerlei Skandale, dumme Sprüche und andere weniger schmeichelhafte Geschichten aus der Welt des Fußballs zusammengetragen. Es begegnen einem traurige Klassiker wie die tödlichen Krawalle im Brüsseler Heyselstadion 1985, das deutsch-österreichische Skandalspiel bei der WM 1982 in Spanien und die Bestechungsaffäre um das Riesenbaby Hoyzer, das sich für 30 Silberlinge und einen Plasmafernseher für alle Zeit in der Fußballwelt unmöglich gemacht hat; ebenso aber lustige alte Bekannte wie Horst Szymaniaks berühmt-berüchtigte Mathematik („Ein Drittel? Ich will mindestens ein Fünftel!“) oder Fangesänge gegen die Oranje-Auswahl.

Aber auch einige Überraschungen sind zu entdecken. Oder wer hat gewusst, dass bei der ersten Fußball-WM 1930 in Uruguay Ersatzspieler nebenbei als Reporter arbeiteten und sich bei dieser Gelegenheit ein eifersüchtiger französischer Spieler-Reporter in seinen offiziellen Berichten selbst „eingewechselt“ hat (erzählt im Abschnitt ‚Aus der Fußball-Geschichte gemobbt‘)? Der französische Fußballverband hat es jedenfalls erst nach mehr als einem halben Jahrhundert entdeckt.

Leider sind die gesammelten Geschichten weder zeitlich noch geographisch noch inhaltlich gegliedert. Neue Schlaumeiersprüche reihen sich an alte Anekdoten, deutsche Negativrekorde an italienische Skandale. So huscht das Erzählte an uns vorüber, löst mal ein heiteres, mal ein bitteres Lachen aus, aber trägt kaum zu einer bleibenden Erkenntnis über diesen Sport bei. Eine zeitliche Ordnung etwa hätte die Vergangenheit etwas lebendiger werden lassen. Die verstreuten Episoden aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit ihren skurrilen Typen, den Keilereien oder dem Besäufnis bei der Gründung des DFB (‚Der Suff der ersten Stunde‘) lassen jedenfalls eine verrückte Epoche erkennen, welcher der Fußballsport bis heute seinen rauhbeinigen Charme verdankt.

Was das Buch aber immer wieder unangenehm macht, sind der manchmal denunziatorische Tonfall und der verschwitzte Eifer, mit dem der Verfasser vermeintliche Skandale „aufdecken“ will. Gibt man das Stichwort „Fußballersprüche“ in eine Suchmaschine ein, findet man Dutzende von Sammlungen nicht allzu schlauer Kickerzitate, die aber mit einem Augenzwinkern wiedergegeben werden. Dieser unbeschwerte Humor geht Dreykopf ab, er präsentiert keine misslungenen Aussprüche zum Mitlachen, er „entlarvt“ beflissen Dummheit oder Bosheit des Zitierten. Wenn ein Verein, der fast pleite ist, seine finanzielle Situation durch Preisaufschläge auf Eintrittskarten verbessern will oder ein respektierter Trainer in seiner langjährigen Karriere natürlich auch mal ein junges Talent verkennt, so wird das hier genauso anklägerisch gepetzt wie die echten Skandale. Allzu oft enden die Beiträge mit einer gehässigen Bemerkung der Art „Bald darauf verlor er seinen Posten“, auch wenn das mit der berichteten Geschichte überhaupt nichts zu tun hat.

„Fußball. Das Allerletzte“ ist kein Sachbuch, sondern eine Sammlung schräger Begebenheiten. Es ist eine leichte Sommerlektüre für Fußballhasser und für solche Fußballfans, die wissen, dass alles zwei Seiten hat, und die verbale Fouls in Büchern genauso ignorieren können wie in den Spielberichten gewisser Sportjournalisten.

http://www.neuer-europa-verlag.de/

Kühn, Lotte – Elternsprechtag

Vor einiger Zeit erschien „Das Lehrerhasser-Buch“ von Lotte Kühn alias Gerlinde Unverzagt und wurde in seinem polemischen Anklageton zu einem großen Aufreger, der bei Lesern und Medien sehr gefragt war. Und wie immer, wenn sich etwas gut verkauft, wird ein zweiter Teil veröffentlicht. Mit „Elternsprechtag“ bringt Lotte Kühn nun eine Auswahl aus den zahlreichen Leserbriefen, die sie seit dem „Das Lehrerhasser-Buch“ erreichten, heraus.

Und leider wird man den Eindruck, dass hier noch mal schnell nachkassiert werden soll, so lange das Feuer noch heiß ist, das ganze Buch über nicht los. Kühns herausgeberische Leistung ist äußerst bescheiden. Sie hat die ausgewählten Leserbriefe auf zehn Kapitel verteilt, deren Motivation und damit Zusammenstellung meist unklar bleibt und durch die Überschriften eher verschleiert als erhellt wird; jeweils eine eifernd-polemische Einleitung geschrieben, das Ganze zwischen ein entsprechendes Vor- und Nachwort gepresst, und fertig ist die Laube. Im 5. Kapitel ‚Seit hundert Jahren dasselbe?‘, das Briefe Erwachsener über die eigene vergangene Schulzeit enthalten soll, mischt sich die Anfrage eines Schulzeitungsredakteurs um Erlaubnis zum Nachdruck. Dafür finden sich Briefe, die hierhin gehört hätten, auch in anderen Kapiteln. Das Kapitel 7 ‚Der Fehler liegt im System‘ beginnt zwar mit Zuschriften, die sich mit grundsätzlichen Problemen im Schulalltag auseinander setzen, aber dann folgt der Bericht über einen anmaßenden Hausmeister, dessen Verhalten sich gut in der Fernsehserie „Hausmeister Krause“ machen würde, und der Abschnitt endet mit dem kurzen Dank einer gestressten Mutti, die keinen einzigen eigenen Gedanken oder ein Erlebnis beisteuert.

Was hätte man mit dem Datenmaterial dieser vielen Briefe nicht alles leisten können! Man hätte systematisch die Einzelfälle von ständig wiederkehrenden Problemen trennen können, man hätte diese nach Schulformen und Bundesländern gliedern können, man hätte die (in den Schreiben tatsächlich vorhandenen) Lösungsvorschläge analysieren können, oder man hätte zumindest die Anschriften der Schulaufsichtsbehörden angeben können; schließlich ist in einem Rechtsstaat niemand irgendjemandem hilflos ausgeliefert. Aber das alles hätte natürlich einiges an Zeit gekostet, in welcher der Wirbel um ihr vorheriges Buch wieder verraucht wäre. Die einzigen konstruktiven Vorschläge (S. 151f) sind aus Kurt Singers Buch „Wenn Schule krank macht“ stichpunktartig abgepinnt.

Lesenswert sind die vielen sachlichen, differenzierten Zuschriften, die selbstverständlich vorhandene Fälle von Lehrerversagen schildern, die zwischen guten und schlechten Lehrern zu unterscheiden wissen, die sich dazu äußern, dass vielleicht auch Bildungspolitiker, Schüler und – |horribile dictu| – Eltern ihr Scherflein zu den Schulproblemen beitragen könnten.

Unfreiwillig aufschlussreich sind aber auch die übrigen Briefe. Maßgeblich ist hier nicht, was, sondern wie geschrieben wird. Insofern liefert „Elternsprechtag“ ein interessantes Psychogramm, denn was sich hier an hilfloser, unreflektierter Wut auskotzt, ist schon atemberaubend. Das Bezugsbuch heißt völlig zu Recht „Das Lehrer|hasser|-Buch“ und nicht etwa „Das Lehrer|kritisierer|-Buch“. Endlich hat mal eine bekannte Buchautorin die „faulen Säcke“ (Gerhard Schröder) als Wurzel allen Übels identifiziert, nun darf man auch selbst alle Hemmungen fallen lassen und ungeniert loskeulen. In der Tat widersinnige Lehrvorschriften, z. B. die Nichtkorrektur von Rechtschreibfehlern, und weltfremde Kuschelpädagogik? Das wird nicht etwa Politikern und Behörden angekreidet, sondern den Lehrern. (Nur nebenbei: In den Leserbriefen kritisieren auch etliche Pädagogen diesen Unfug.) Übergroße Klassen und ausländische Mitschüler mit mangelhaften Deutschkenntnissen? Natürlich sind die Lehrer schuld. Und wenn eine devote Mutter einer Lehrerin regelmäßig Blumen zu schenken vorschlägt, richtet sich der Zorn selbstredend nicht gegen die Mutter, sondern mit Lotte Kühns Zustimmung gegen die Lehrerin (S. 75). Eine Variante dazu ist der schnöselige Abiturient, der sich über seine ehemalige – zugegebenermaßen konfuse und kritikwürdige – Lehrerin auslässt, der aber nicht den Hauch von Selbstkritik zeigt, wenn Schüler dieses Kurses regelmäßig über zehn Minuten zu spät kamen oder Hausaufgaben „als gleichgültig erachteten“ (S. 140).

Was weiter auffällt, ist, dass ausgerechnet diejenigen nicht zu Wort kommen, um die es doch eigentlich geht: die Kinder (abgesehen von dem erwähnten Nachwuchsjournalisten, der jedoch nicht über seine Erfahrungen aus dem Unterricht schreibt). Die wenigen anderen als „Schüler“ angegebenen Absender entpuppen sich, wenn man ihre Briefe tatsächlich liest, als junge Erwachsene, deren Schulzeit lediglich noch nicht allzu lange zurückliegt. Überhaupt scheint die unverzagte Lotte Kühn ihren Leserbriefen nicht immer die angemessene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen: In der Einleitung zum 2. Kapitel trompetet sie, dass es sich beim geschilderten Versagen von Lehrern keineswegs um „schwarze Schafe“ und „bedauerliche Einzelfälle“ (S. 35) handele, aber genau das sagen etliche der in diesem Kapitel zitierten Briefeschreiber aus, die differenziert über fähige wie unfähige Lehrer berichten.

Lotte Kühn ist ehrlich genug, ihr „Lehrerhasser-Buch“ selber als „Polemik“ und „Pamphlet“ zu bezeichnen, und das kann man auch über den „Elternsprechtag“ sagen. Wer ein konstruktives Sachbuch zum Thema Bildungskrise und Schulalltag sucht, kann sich sein Geld im Fall „Elternsprechtag“ getrost sparen. Wer aber ein Dokument über – berechtigte wie unberechtigte – Angst- und Zorngefühle in Deutschland beim Stichwort Schule lesen oder einfach nur seine Aversionen gegen Lehrer und Schule ohne lästige Zwischentöne und Gegenargumente bestätigt sehen will (und das dürfte die eigentliche Zielgruppe von Lotte Kühn sein), der mag hier zugreifen.

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Weißmann, Karlheinz – Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus

Vor 30 Jahren starb der bedeutende Anthropologe Arnold Gehlen, der zu Lebzeiten sehr bekannt war und heiß diskutiert wurde, mittlerweile aber fast vergessen scheint. Der Göttinger Historiker Karlheinz Weißmann, der auch an der anspruchsvollen Vierteljahresschrift „Sezession“ mitwirkt, will in seinem Buch „Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus“ diesen Kopf wieder in Erinnerung rufen und einer – durchaus kritischen – Diskussion zuführen. In Zeiten, die durch Terrorismus, große politische Verwirrung bis in die Regierungen und strukturelle Arbeitslosigkeit geprägt sind (einige Medien sprechen gerne vom „Ende der Spaßgesellschaft“), scheint auch die Nachfrage nach den völlig unromantischen und unpopulären Ideen Gehlens zum Menschen und seiner Gemeinschaftsordnung zu steigen. Weißmanns Buch ist der zweite Band aus der Reihe „Perspektiven“, die Denker vorstellt, die von der Mainstream-Debatte gerne übersehen werden. Es gliedert sich in einen biographischen Abriss, vier Kapitel zu zentralen Begriffen aus Gehlens Denken und einen Abschnitt über das Dilemma politischer Philosophen, Gedanken zu veröffentlichen, denen zu viel Öffentlichkeit schaden könnte.

Die biographischen Angaben beschränken sich überwiegend auf Gehlens akademisches Leben, seine Lehrstühle, seine Lehrer und Schüler. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels ist sein zwiespältiges Verhältnis zum Nationalsozialismus. Bei äußerer Anpassung behielt er in seiner Lehre eine Eigenständigkeit, die regimetreuen Kritikern oft ein Dorn im Auge war. Auch später in der BRD wurde er vom offiziellen akademischen Betrieb eher misstrauisch beäugt, während sich Wirtschaft und Verbände um seine Vorträge rissen. Der Mensch Gehlen bleibt in diesem Kapitel jedoch etwas blass.

Die thematischen Kapitel beruhen auf zentralen Begriffen und Hauptwerken Gehlens. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Darlegung seiner eigenen Hauptgedanken. Vorgänger und Anregungen werden unterschiedlich intensiv behandelt. In jedem Kapitel folgt darauf die Vorstellung der unterschiedlichen – zustimmenden wie ablehnenden – Reaktionen, die von verschiedenen Seiten vorgetragen wurde. Dass der Kritik so viel Platz eingeräumt wird, ist berechtigt, da Gehlen sich von sachlicher, konstruktiver Kritik durchaus beeindrucken ließ und daraufhin manchmal seine Schriften in jüngeren Auflagen umformulierte.

Ausgangspunkt in Gehlens Denken ist die rein analytische Betrachtung des Menschen in der Welt, wie er sie vor allem in seinem Hauptwerk „Der Mensch“ (zuerst 1940) formulierte. Er gilt als einer der Mitbegründer der modernen Anthropologie. Für ihn war der Mensch einerseits das gegenüber dem Tier instinktarme und schwache „Mängelwesen“ und andererseits der intelligente, d. h. der berechnende und sein eigenes Verhalten steuernde „Prometheus“. Es wird erläutert, wie seine Vorstellungen vom „Mängelwesen“ – vermutlich der bekannteste Begriff Gehlens – von antiken Philosophen und Herder angeregt war. Weißmann legt hier dar, wie Gehlen sich u. a. auf neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse stützte und dabei von der (schulmäßigen) Philosophie abwandte. Obwohl Professor für Philosophie, sah er seine Anthropologie schließlich ausdrücklich als Abkehr von der Philosophie, so wie sie die Naturwissenschaften bereits wenige Jahrhunderte zuvor vollzogen hatten.

Seine Institutionenlehre hat Gehlen vor allem in „Urmensch und Spätkultur“ ausgebreitet. Schon an diesem Buchtitel wird deutlich, dass Gehlen die Institutionen, angefangen bei Ehe, Familie und religiösen Riten, als Hervorbringungen des prähistorischen Menschen sieht, der noch sehr stark den Mächten der Natur ausgeliefert ist und mit den Institutionen eine Entlastung im Kampf ums Überleben aufbaut. Der späte Mensch in diesen Institutionen entfremdet sich der ursprünglichen Lage, verliert den Bezug zu ihnen und verkennt ihre Bedeutung. Wieder gelingt es Weißmann, Gehlens Ansätze von den Naturwissenschaften und der Psychologie und seine Abwendung von einer spekulativen Philosophie deutlich zu machen. Es wird dabei klar, dass man sich hier auf einer Stufe befindet, auf der nichts mehr endgültig bewiesen oder widerlegt, sondern allenfalls noch in schlüssigen Theorien formuliert werden kann. Nicht zuletzt deswegen ist dieses Kapitel sicher das stärkste des Buches, denn Weißmann schafft es sehr gut, Entwicklung, Aufbau und Systematik von Gehlens Vorstellungen zu vermitteln.

Im letzten thematischen Kapitel werden Gehlens Intellektuellenkritik sowie seine Begriffe „Kristallisation“ – für Gehlen die Versteinerung eines durch Technik und Wirtschaftstätigkeit geprägten Systems, die ein völlig neues Zeitalter einläutet – und „Moral und Hypermoral“ (so sein letztes Werk von 1969) vorgestellt. Erst durch die wieder klar verständliche Darlegung dieser Gedanken wird deutlich, warum das Ganze unter der Überschrift „Die Geschichte“ läuft. Durch eine kurze Erläuterung dieser Zuordnung zu Beginn wäre klarer geworden, dass Arnold Gehlen diese Gedanken in und für eine ganz bestimmte Epoche entwickelt hat. Wie der Verfasser ausführt, hat die ständige Auseinandersetzung des Gegenwartsdenkers Gehlens noch im Alter zu Änderungen in seinem Weltbild geführt.

Abschließend enthält das Buch eine Bibliographie einschließlich Sekundärliteratur und eine Zeittafel zu Gehlens Leben und Werk.

Weißmann wird seinem Anspruch, Gehlen als „Vordenker eines neuen Realismus“ vorzustellen, in zweierlei Hinsicht gerecht: Einmal zeigt er ihn als einen Gegner jeglicher Utopien und Idealismen, zum anderen als äußerst eigenständigen Kopf, der ungewöhnliche Gedanken entwickelt und sich quer zu irgendwelchen Denktraditionen stellt, wenn er sich damit auf der richtigen Spur zur Erfassung der Wirklichkeit glaubt.

Diese Schrift ersetzt mit ihren knapp 120 Seiten natürlich keine umfangreiche Monographie, ist aber als kurze und prägnante Einführung sehr zu empfehlen. Hier wird ein Denker, der nicht gerade zu den ständig zitierten Köpfen gehört, kompetent, verständlich und kritisch vorgestellt.

Gerald Axelrod / Liane Angelico – Die Nacht des Blutmondes

Wer kennt dieses Gefühl nicht? Man betrachtet mit relativ emotionslosem Interesse ein historisches Gebäude, und plötzlich, von einem bestimmten Standpunkt aus, ergibt sich ein majestätischer Eindruck. Oder man spaziert unter einem alten Gewölbe entlang und verspürt unerwartet etwas Unheimliches. Und die Standbilder der Helden, Heiligen und Dämonen scheinen irgendwie zu leben.

Die Bilder

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Schulze, Ursula (Hrsg. / Übs.) – Nibelungenlied, Das. Nach der Handschrift C der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe

Als ich etwa zehn Jahre alt war, bekam ich eine Hörspielkassette mit der Sagengeschichte über Siegfried und Hagen geschenkt, und seither lässt mich die gewaltige Geschichte von den Nibelungen nicht mehr los. Ich habe das Nibelungenlied immer wieder in verschiedenen Ausgaben gelesen, auf Mittelhochdeutsch, in neuhochdeutschen Übertragungen und als Prosa-Nacherzählungen. Und so habe ich mich besonders gefreut, als die Neuübersetzung der Verlage |Patmos| und |Artemis & Winkler| hereinflatterte.

Zur Geschichte braucht man wohl nichts mehr zu sagen. Für die zwei oder drei Leser, die sie noch nicht kennen, ganz kurz der Inhalt: Der junge König Siegfried von Xanten erwirbt die Freundschaft König Gunthers von Burgund und hilft ihm mit einer List, Brünhild zur Frau zu gewinnen. Dafür darf er Gunthers schöne Schwester Kriemhild heiraten. Eifersüchteleien der Frauen und das Misstrauen von Gunthers Lehnsmann Hagen gegen den reichen und starken Siegfried lassen Gunther und seine Brüder Hagens Plan zustimmen, ihn zu töten und später seinen sagenhaften Goldhort der rachegierigen Witwe Kriemhild zu nehmen. Als Jahre später der mächtige Hunnenkönig Etzel um Kriemhilds Hand anhält, sieht sie ihre Chance zur Vergeltung gekommen. Als Etzels Frau lädt sie den burgundischen Hofstaat nach Etzelburg ein, wo sie gnadenlos Rache nimmt, bis sie zuletzt mit ihrem großen Widersacher Hagen stirbt.

Das um 1200 entstandene, deutsche Nibelungenlied beruht teilweise auf alten germanischen Sagenstoffen sowie Erzählungen aus der Völkerwanderungszeit, deren Motive auch auf Island in einigen eddischen Liedern und in Norwegen in der Thidrekssaga bearbeitet wurden. Hinzu kamen jüngere Motive in einem mittelalterlich-ritterlichen Gewand. Unter den zahlreichen Abschriften des Nibelungenlieds liegen drei mehr oder weniger vollständige vor, von denen die Handschrift C die älteste und umfangreichste ist. Sie ist auch als Hohenems-Laßbergische, als Donaueschinger oder nach ihren heutigen Aufbewahrungsort als Karlsruher Handschrift bekannt.

Die vorliegende Ausgabe enthält die Handschrift C, vermehrt um einige Strophen aus der Handschrift A, im mittelhochdeutschen Original und in der neuhochdeutschen Neuübertragung von Ursula Schulze. Im aufgeschlagenen Buch stehen sich dabei die mittelhochdeutsche Strophe links und die neuhochdeutsche Strophe rechts gegenüber. Frau Schulze hat das Epos strophenweise in Prosa übersetzt. Natürlich geht der Zauber dieses großen Epos etwas verloren, wenn es in Prosa wiedergegeben ist. Doch diese Art der Übertragung erhält ihre Berechtigung in der Zusammenschau mit dem mittelhochdeutschen Originaltext. Strophe für Strophe wird der Inhalt in einer inhaltlich genauen Übersetzung, aber mit heute leichter verständlichen Formulierungen wiedergegeben, wodurch die Lektüre des Originals erleichtert wird. Der Schwerpunkt liegt also auf der genauen Wiedergabe des Erzählten. Ich hatte das Nibelungenlied zwar schon mal auf Mittelhochdeutsch gelesen, aber mir sind durch Frau Schulzes Übersetzung einige mittelhochdeutsche Verbformen klarer geworden.

Ein Beispiel dafür, wie die Übertragung manchmal durch eine Entfernung vom direkten Wortlaut der Bedeutung des Textes näher kommt, soll anhand der Strophe 15 gezeigt werden. Wenn Frau Ute zu Kriemhild sagt: „soltu immer hercenliche // zer werlde werden vro“, so übersetzt Ursula Schulze „solltest du jemals im Leben von Herzen glücklich werden“. „zer werlde“ ist hier mit „im Leben“ anstatt mit dem wörtlichen „in der Welt“ viel treffender wiedergegeben. Teilweise ist die Annäherung an die heutige Sprache auch leicht übertrieben: Jemanden „heimsuchen“ ist heute sicher nicht mehr Alltagssprache, wird aber immer noch verstanden und wäre damit vielleicht die bessere Übertragung von „suochen“ gewesen als das etwas nüchterne „angreifen“ (4. Aventiure). Solche Kleinigkeiten mindern aber nicht den guten Gesamteindruck dieser Begleitübersetzung.

Lobenswert sind die auch Erläuterungen im Anhang zur Textedition des mittelhochdeutschen Originals und zu den Grundsätzen der Übertragung ins Neuhochdeutsche. Hier wird der interessierte Leser wirklich ernst genommen. Der Anhang enthält weiterhin Beiträge zur Entstehung und Rezeption des Nibelungenlieds, ein Sachwortregister und eine Inhaltsangabe, die sowohl Inhalt als auch Formulierung des Textes kommentiert. Dass häufiger auf das germanische und das mittelalterliche deutsche Recht verwiesen wird, beweist die Kenntnis der Herausgeberin, denn das Nibelungenlied ist nicht vollständig ohne einige grundlegende Rechtsbegriffe zu verstehen. Zu erwähnen ist auch die Landkarte des südlichen Deutschland (S. 844f), in welche die wichtigen Orte der Geschichte und insbesondere der Zug von Worms nach Etzelburg eingetragen sind.

Diese Ausgabe ist vor allem denjenigen zu empfehlen, die das Nibelungenlied einmal im Original lesen wollen, aber Verständnisprobleme befürchten. Diese Leser können sich nun an den mittelhochdeutschen Text heranwagen (Tipp: Laut lesen! Die deutsche Sprache hat sich mehr in der geschriebenen als in der gesprochenen Form geändert.), und bei Unklarheiten steht ihnen parallel die Übersetzung in heutigem Deutsch zur Verfügung. Das Buch ist weiterhin für den Schulunterricht geeignet, weil die Übertragung in ihrer einfachen Sprache auch für junge Leser verständlich sein dürfte. Ein Leistungskurs Deutsch könnte damit an eine ältere Sprachstufe des Deutschen herangeführt werden.

Und überhaupt, diese Geschichte mit ihrer großartigen Erzählung, ihrer ständigen Steigerung der Spannung, der genauen Zeichnung der Charaktere mit ihren Entwicklungen und der unterschwelligen Anwesenheit heidnisch-naturwüchsiger Züge, besonders bei Hagen und Brünhild, unter der christlich-mittelalterlichen Oberfläche sollte jeder mal gelesen haben.

Weiterführend:

[wikipedia]http://de.wikipedia.org/wiki/Nibelungenlied
[Nibelungen-Festspiele Worms 2005]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=50
[Nibelungen-Museum Worms]http://www.nibelungen-museum.de/
[Nibelungen-Edition 1: Siegfried 1160

Tornow, Wolfgang – Sei HARTz. Das Märchen von der Arbeitslosigkeit

„Sei HARTz“ ist ein satirischer Roman über das Thema Arbeitslosigkeit, die der Autor Wolfgang Tornow durch eigene Erfahrung und Gespräche mit 200 Betroffenen kennen gelernt hat. Zugleich ist das Buch in der zweiten Hälfte auch eine gelungene politische Parodie auf Zustände, die eigentlich schon eine Realsatire darstellen. Auf Bedenken, ob man über eine ernste Sache wie Arbeitslosigkeit einen Unterhaltungsroman wie etwa einen Krimi schreiben dürfe und ob den dann jemand lesen wolle, antwortet der Verfasser mit einem nicht zu widerlegenden Argument: „Es gibt wesentlich mehr Arbeitslose als Ermordete samt ihrer Mörder zusammen.“

_Die Geschichte_

Der durch ein Rationalisierungsprogramm im Himmel arbeitslos gewordene Liebesgott Amor rafft sich noch mal zu einem guten Werk auf und bringt in Kartoffelhausen Wolle und Tamara zusammen. Aber die Kobolde gönnen Amor diesen Erfolg nicht, und so wird das junge Glück bald von Wolles Arbeitslosigkeit überschattet. Wolle muss nun mit weniger Geld auskommen, schreibt erfolglose Bewerbungen und erlebt die bürokratische Unfähigkeit des Kartoffelhausener Arbeitsamtes. Dadurch leidet auch die Beziehung zwischen Wolle, der sich durch finanzielle Hilfen seiner Freundin gedemütigt fühlt, und Tamara, die in der schwierigen Lage krampfhaft alles richtig machen will und bei Rückschlägen überdramatisiert, immer stärker.

Aber es kommt noch schlimmer: Der Teufel, dessen Unternehmen Hölle auch nicht mehr so gut läuft, muss einen Nebenjob annehmen und wird Chef der Kartoffelanstalt für Arbeit. Wolle besucht nun ein Bewerbungstraining und EDV-Kurse für das Sanduhr-Anzeige-Programm (SAPperlot, hier kennt jemand die Organisationsprobleme moderner Handelsunternehmen.). Er ergreift Billigjobs, die seinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung mindern, heuert bei einer Zeitarbeitsfirma an und wird durch die ständigen Rückschläge immer gleichgültiger und bitterer. Die Arbeitsanstalt fährt stets neue propagandistische Aufmunterungsprogramme („Von den Kosten der professionellen Vermarktung dieser Kampagne hätten 25.000 Krankenschwestern ein ganzes Jahr leben können.“). Die Regierung gibt derweil die eigene Währung auf und öffnet die Grenzen zum Ostkartoffelreich, wodurch sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt noch weiter verschärft („Hätten wir die Braut nicht erst einmal kennen lernen sollen, anstatt sie gleich zu heiraten?“).

Amor, motiviert durch seinen Volltreffer, baut inzwischen eine Karriere von der Scheinselbständigkeit über den Vorruhestand bis in den hingebungsvoll praktizierten Alkoholismus auf. Und dann hat Satan seinen großen Auftritt vor den Dämonen und den Kobolden … Doch mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden.

_Das Buch_

Das Buch beginnt etwas schwach. Seitenweise erleben wir das frisch verliebte Paar Tamara und Wolle, und Arbeitslosigkeit ist nur insofern ein Thema, als dass sie die Beziehung der beiden belastet. Wenn ausführlich beschrieben wird, wie engagiert sich Wolle in seine zunächst noch vorhandene Arbeit kniet und wie glücklich er mit seiner Tamara ist, kann man eine persönliche Vergangenheitsbewältigung des Autors, der übrigens Wolfgang heißt, vermuten. Der bürokratische Kampf um die Erstattung von Bewerbungskosten durch das Arbeitsamt wird nur erzählt. Wieso keine Szenen und Dialoge? Es sollte doch eine satirischer Roman und kein Bericht werden.

Aber etwa ab dem 5. Kapitel steigert sich die Geschichte deutlich. Endlich kommt Tornow zum Thema, und nun gelingen ihm Episoden, die mich trotz des ernsten Hintergrundes der Geschichte immer wieder laut lachen ließen. Wolle erlebt konfuse Manager, die unfreundliche Unfähigkeit des Arbeitsamtes und später die freundliche Unfähigkeit der Arbeitsagentur und ein System, das ihm immer wieder Stöcke zwischen die Beine wirft, wenn er selbst die Initiative ergreifen will. Dass aber in der Episode über seinen Minijob als Telefonist ein Fall von Kindesmissbrauch für ein paar Kalauer herhalten muss, ist völlig daneben.

Absolute Höhepunkte der Geschichte sind die Ansprachen des Dozenten im Bewerbungskurs und des neuen Arbeitsvermittlers in der Agentur sowie Wolles Erlebnisse als Zeitarbeitskraft in Firmen, die von Unternehmensberatungen fast kaputt optimiert worden sind. An diesen punktgenauen Treffern erkennt man die Recherchearbeit Tornows. Und wie erwähnt, funktioniert die Geschichte gegen Ende auch noch als politische Satire, wenn sie kaum noch verschlüsselt den Wahnsinn der Wirklichkeit schildert.

_Fazit_

Abgesehen vom etwas langatmigen Anfang ist „Sei HARTz“ ein gelungenes und empfehlenswertes Buch über ein heikles Thema. Wolfgang Tornow hat Mut bewiesen, indem er über etwas so Unangenehmes wie Arbeitslosigkeit, worüber viele nichts mehr hören mögen, geschrieben und dabei sicher auch einige eigene schmerzhafte Erfahrungen berichtet hat. Ein ungewöhnliches Buch über ein ungewöhnliches Thema.
Vor weiteren Auflagen, die „Sei HARTz“ auf jeden Fall zu wünschen sind, wäre aber eine gründliche Lektorierung angesagt. Arbeitslosigkeit ist schrecklich. Der Einzige, dem man dieses Schicksal wünschen mag, ist der frühere Deutschlehrer des Autors, der seinem Schüler die Zeichensetzung und den Unterschied zwischen Dativ und Akkusativ nicht richtig beigebracht hat.

Wer mehr über das Buch wissen möchte, sollte die Webseite http://www.seiHARTz.de besuchen, auf welcher der Autor ausführliche Informationen über sein satirisches Märchen bereithält.

Heilemann, Wolfgang ‚Bubi‘ / Thomas, Sabine – Alice Cooper. Live on Tour – Backstage – Private: Photos 1973-1975

Um die Phrasen gleich zu Beginn zu verbraten: |Alice Cooper| sind die Urväter des Schock-Rock. Seit über 35 Jahren veröffentlicht die Gruppe nun schon Platten, deren Bandleader und Sänger (bürgerlich Vincent Damon Furnier) sich praktischerweise auch gleich Alice Cooper nennt.

Wolfgang „Bubi“ Heilemann, der in den 70er Jahren als Fotograf der „Bravo“ (die Jugendzeitschrift mit dem Papstposter hinter der Aufklärungsseite) Alice Cooper und andere Stars ablichtete, hat einen Bildband mit Fotos der Band und ihres Frontmanns vor und hinter der Bühne aus der Zeit von Ende 1972 bis 1975 herausgebracht. Etliche teilweise ganzseitige Bilder zeigen Band und Frontmann auf der Bühne bei ihren berühmt-berüchtigten Horror-Shows, bei Partys und Presseterminen, auf Reisen und hinter der Bühne beim Kartenspielen. Zwischen den Bildseiten sind einige kurze Texte (Deutsch und Englisch) eingestreut, in denen Heilemann Erinnerungen und Anekdoten aus jener Zeit zum Besten gibt. Alice Cooper hatten sich zu dieser Zeit schon mit ihren Hits ‚I’m Eighteen‘ und ‚School’s Out‘ einen Namen gemacht. In den Jahren, die dieser Bildband begleitet, erschienen ihre Erfolgsalben „School’s Out“ (1972), „Billion Dollar Babies“ (1973), „Muscle Of Love“ (1974) und – Bandchef Cooper hatte die Besetzung inzwischen komplett ausgetauscht – „Welcome To My Nightmare“ (1975). Und zu fast jedem Album gab es eine große Tournee mit den bekannten grellen Schockeffekten.

Die meisten Fotos zeigen die Band auf der Bühne: Alice Cooper mit der schwarz-weißen Schminke, bewaffnet mit Äxten und Säbeln, im Kampf mit Spinnen, Monstern und Schaufensterpuppen, die Boa Constrictor um den Hals, und natürlich unter der Guillotine. Am Ende der Konzerte inszenierte der Sänger immer seinen eigenen Tod am Strick oder unter dem Fallbeil (alle anderen waren dann schon tot). Die grellsten Geschmacklosigkeiten – bei Cooper-Gigs fielen auch schon mal Konzertbesucher in Ohnmacht – wurden aber ausgespart. Andere Bilder zeigen einen flachsenden Alice Cooper – den Mann, nicht die Band – auf dem Flughafen, im Gespräch mit dem Schlagersänger Udo Jürgens oder auf einer Party zusammen mit dem berühmten spanischen Maler Salvador Dalí. Cooper und Dalí waren Fans des jeweils anderen. Dalí hat von Cooper ein Bild mit dem Titel „Geopoliticus Child“ gemalt und den abgeschlagenen Kopf für die Enthauptungen bei den Shows entworfen! Abseits des Rummels erscheint der Bandleader als netter, sympathischer Kerl, der stets ein Grinsen auf dem Gesicht hat und den man sich kaum als Schock-Rocker vorstellen kann. Auf anderen Fotos aber sieht man ihn müde und geschafft; die ständig präsenten Bierdosen deuten ein Problem an, mit dem Cooper in den darauf folgenden Jahren schwer zu kämpfen hatte.

Bei einigen Fotos hätte man sich erläuternde Bildunterschriften gewünscht. Und für den Anhang hätten Autor und Verlag noch etwas Papier und eine kurze Recherche springen lassen können, damit unter dem Stichwort Diskografie nicht nur ein Best-of-Album genannt werden muss. Aber von diesen kleinen Mankos abgesehen, liegt hier ein edler großformatiger Bildband vor, der Alice Cooper in der klassischen Erfolgsphase der Band bei ihren heute noch legendären Tourneen zeigt. Alice Cooper-Fans werden ohnehin zuschlagen, aber auch für jeden, der sich für die wilden 70er, in denen es abseits der Schubladen originelle und individualistische Gruppen gab, interessiert, dürfte dieser Band das Richtige zum Lesen und Anschauen sein.

Dieses Buch ist Teil einer Serie von Bildbänden mit Fotos aus Heilemanns Archiv, in der schon Ausgaben u. a. über ABBA und [AC/DC 741 erschienen sind und die noch fortgesetzt werden soll.

Mehr Infos zum Buch gibt es unter http://www.schwarzkopf-schwarzkopf.de/toptitel/alicecooper.html.

Conte, Domenico – Oswald Spengler. Eine Einführung

Ein kleines Rätsel zum Einstieg: Wann und von wem wurden folgende Sätze geschrieben?

„Die Diktatur der Parteihäupter stützt sich auf die Diktatur der Presse. Man sucht durch das Geld Leserscharen und ganze Völker der feindlichen Hörigkeit zu entreißen und unter die eigne Gedankenzucht zu bringen. Hier erfahren sie nur noch, was sie |sollen|, und ein höherer Wille gestaltet das Bild ihrer Welt. Man braucht nicht mehr, wie die Fürsten des Barock, die Untertanen zum Waffendienst zu verpflichten. Man peitscht ihre Geister auf, … bis sie Waffen |fordern| und ihre Führer zu einem Kampf zwingen, zu dem diese gezwungen sein |wollten|.“
Ein politischer Beobachter des Irak-Kriegs 2003?

„Auf dieser Stufe beginnt das … Stadium einer entsetzlichen Entvölkerung. … [Die Bevölkerung] wird von der Spitze herab abgebaut, zuerst die Weltstädte, dann die Provinzstädte, endlich das Land […] Und trotzdem schwindet die Bevölkerung rasch und in Masse dahin, trotz der verzweifelten Ehe- und Kindergesetzgebung“
Ein Soziologe zur neuesten demographischen Studie der Bundesregierung?

Nein, diese Worte schrieb Oswald Spengler (1880-1936) in seinem 1918/22 erschienenen Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“. In diesem tausendseitigen Werk stellt er die Theorie auf, dass in einer normal regellosen Geschichte manchmal die Menschen eines bestimmten Großraums unter dem Eindruck der Landschaft plötzlich von einem einheitlichen Weltbild und Weltgefühl erfasst werden. Dann entsteht eine Hochkultur, in der dadurch alle kulturellen Äußerungen (Politik, Religion, Wissenschaft, Kunst) einen inneren Zusammenhang haben und die nun wie ein Organismus bestimmte schicksalhafte Stadien (Wachstum, Blüte, Reife, Alterung, Tod) durchläuft.

Der italienische Spengler-Experte Domenico Conte hat eine Einführung in das Denken dieses Kulturphilosophen vorgelegt. Nach einer kurzen Darlegung der Selbsteinschätzung Spenglers und biographischen Angaben aus der Zeit _Vor dem „Untergang“_ führt das erste große Kapitel in die Grundgedanken des Hauptwerks ein: Conte stellt zunächst kurz die Kapitel beider Bände von _“Untergang des Abendlandes“_ vor, um dann der Reihe nach die wichtigsten Grundgedanken dieses Buches wie den Zusammenhang von Kultur und Zivilisation oder den Gegensatz von Natur und Geschichte darzulegen. Die Reihenfolge, in der die Hauptgedanken behandelt werden, erscheint zunächst etwas regellos. Aber bald entdeckt man in Conte einen profunden Spengler-Kenner. Seine Ausführungen, insbesondere zur Seele als kulturstiftender Kraft oder zu Spenglers Ursymbolen, sind kurz und treffend, die angeführten Zitate sehr gut ausgewählt. Vielleicht hätte man hier noch etwas zur Bedeutung der Landschaft, ihrer Topographie und Vegetation, bei der Entstehung einer Hochkultur sagen können. Immer wieder kehrt Conte zu Spenglers Auffassung von Kulturen als Organismen zurück und widerlegt damit unsinnige, aber seit Jahrzehnten unausrottbare Fehlurteile, etwa die Vorwürfe des Pessimismus oder Defätismus gegen Spengler.

Es verwundert zunächst, dass zwischen der Einführung in Spenglers kulturgeschichtliches und derjenigen in sein politisches Denken das Kapitel über _Vordenker und geistige Väter_ eingefügt ist, dies wird bald aber klar durch die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse. Der erste Band von „Untergang des Abendlandes“ war auf der Stelle ein Verkaufsschlager und wurde bald Gegenstand der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussion, die sich auch um die geistigen Vorläufer Spenglers drehte. Conte befasst sich zunächst natürlich mit Goethe und Nietzsche, auf die Oswald Spengler selber ausdrücklich verwiesen hatte. Hier zeigt der Autor knapp aber deutlich die Einflüsse der beiden großen Denker auf. Dann nennt er weitere Köpfe und Traditionen, von denen Spengler profitierte, von Hegel über verschiedene geschichtsmorphologische Konzepte aus dem 19. Jahrhundert bis zur Kunstgeschichte, deren Denkweise auf Spengler auch über den Bereich von Kunst und Kultur weit hinausreichte. Erstaunlich ist aber, dass der Althistoriker Eduard Meyer, der mit seiner neuen Interpretation der Antike sehr stark auf Spengler wirkte und vermutlich die am häufigsten zitierte Quelle im „Untergang“ sein dürfte, hier nicht erwähnt wird.

Danach wird also _Der politische Autor_ Oswald Spengler dargestellt. Natürlich stehen hier der Aufsatz „Preußentum und Sozialismus“ (1919) und sein Vermächtnis „Jahre der Entscheidung“ (1933) im Mittelpunkt. Es spricht wieder sehr für den Autor, dass er den schillernden und oft missverstandenen Spenglerschen Begriff |Sozialismus| auf Gedanken aus dem „Untergang“ zurückführt und damit aus tagespolitisch begründeten Missverständnissen zieht. Aus „Jahre der Entscheidung“, „das einzige unverkennbar regimekritische Werk“ (Frank Lisson) jener Zeit, werden einige Hauptgedanken referiert. Insgesamt bleibt dieses Kapitel aber eher schwach. Die politischen Thesen Spenglers werden sehr oft in eine enge Verbindung zu damaligen politischen Auseinandersetzungen gebracht. Dass Spenglers politisches Schreiben eher wirkungslos blieb, verleitet Conte gelegentlich zu einem ironischen Unterton. Dabei kommt der Bezug zu Spenglers Erkenntnissen aus dem „Untergang“ zu kurz. Für Spengler war Geschichtsmorphologie, d.h. die Lehre von der (typischen) Gestalt historischer Epochen, nie eine theoretische Spielerei im Elfenbeinturm, sondern sie sollte immer auch praktisch zu einer besseren Lageeinschätzung und damit Politikformulierung genutzt werden.

Seit Mitte der 20er Jahre widmete sich Spengler verstärkt Studien zu grundlegenden kulturphilosophischen Fragen. Seine Aufzeichnungen dazu wurden erst nach seinem Tode geordnet und schließlich in den 60er Jahren veröffentlicht. _Die postum erschienenen Werke_ behandelt das letzte Kapitel. Die „Frühzeit der Weltgeschichte“ ist wieder ein geschichtsmorphologisches Buch, das sich mit einer primitiveren Kulturstufe als den Hochkulturen aus dem „Untergang“ befasst. Auf diesem Gebiet ist Conte offenbar zu Hause. Wieder referiert er sicher und sehr dicht die Hauptthesen. Durch Querverweise auf verwandte Gedanken in kleinen Schriften und Redemanuskripten macht er die Bedeutung dieser neueren Erkenntnisse für Spengler deutlich. Sehr interessant sind auch die Ausführungen, inwieweit Thesen aus dem „Untergang des Abendlandes“ bestätigt, ergänzt oder zurückgenommen werden. Die „Urfragen“, eine „Metaphysik des Lebens“, entwickelt aufgrund der Gegenüberstellung von Pflanze und Tier eine Anthropologie, welche eine Grundlage für die übrigen geschichtsphilosophischen Thesen wird. Auch hier haben wir wieder eine klare, prägnante und verständliche Arbeit von Conte.

Nach einer mehrseitigen Zeittafel zu Leben und Werk folgt noch ein Anhang über _Die Geschichte der Spengler-Rezeption_. Hier wird chronologisch die Auseinandersetzung mit Spengler vorgestellt, von den ersten heftigen Kontroversen ab Erscheinen des ersten Bandes des „Untergangs“ bis zu neueren wissenschaftlichen Publikationen. Kurz wird die Aufnahme seiner Gedanken in unterschiedlichen Ländern und Fachbereichen geschildert. Arnold Toynbee, der mit „A Study of History“ ein ähnliches Werk schrieb, wird leider nur knapp angerissen. Überraschenderweise unterschlägt der Italiener Conte seinen Landsmann Julius Evola vollständig.

_Fazit_
Domenico Contes kurzer Band bietet eine knappe, kenntnisreiche Einführung in Spenglers Denken, mit den erwähnten Einschränkungen bei den politischen Schriften. Einem Spengler-Neuling kann das Buch unbedingt empfohlen werden. Aber auch dem etwas fortgeschritteneren Leser bietet es noch wertvolle Hinweise. Oswald Spengler erfährt in den letzten Jahren wieder ein stärkeres Interesse, besonders seitdem immer wieder ein Einfluss Spenglers auf aktuelle amerikanische politische Bücher (S. Huntington: „Kampf der Kulturen“, Z. Brzezinski: „Die einzige Weltmacht“) vermutet wird, die ihrerseits die gegenwärtige Politik der USA beeinflusst haben sollen. Insofern ist die Übersetzung von Contes Buch auch für den politisch Interessierten keinen Moment zu früh erschienen.

Herles, Wolfgang – Dann wählt mal schön

Fragt man den Mann auf der Straße nach seiner politischen Lageeinschätzung, wird man vermutlich hören: „Der Schröder kann’s nicht, die Merkel wird’s auch nicht packen. Im ganzen System steckt der Wurm drin.“ Wolfgang Herles, ZDF-Journalist für Politik und Kultur, sagt in seinem neuesten Buch „Dann wählt mal schön“ das Gleiche etwas ausführlicher. Das Versagen bei den drückenden Problemen wie der Arbeitslosigkeit liege an fehlendem Mut und bringe die Demokratie insgesamt in die Krise. Unter diesen Umständen bringen Wahlen – oder vorgezogene Neuwahlen – keine Besserung, wie der bitter-ironische Titel aussagt. In acht Kapiteln beschreibt Herles verschiedene Aspekte dieser Lage.

Im ersten Kapitel _Von der Politikverdrossenheit zur Demokratieverdrossenheit_ sieht Herles durch die Unfähigkeit der Parteien und die Gleichgültigkeit der Bürger eine Politikverdrossenheit, welche die Demokratie in Gefahr bringen könne. Populistische Politiker schüren falsche Erwartungen, die die Lage eher noch verschärfen. Zur Erklärung, warum nun gleich die Demokratie bedroht wäre, fällt Herles nichts anderes als das alte Klischee vom bösen Deutschen ein, der die Demokratie zu spät kennen gelernt habe, sie eigentlich immer noch ablehne und sich lieber hinter – gerne auch mal kriegerische – Führer schare. Dass die Briten sich unter unzähligen Leichen ein in der Geschichte einmaliges Kolonialreich zusammengeräubert hatten und Freiheit und Demokratie außerhalb ihrer Insel nur selten vertraten, dass die Franzosen seit 1789 gleich drei autoritäre Führer kürten (Robespierre, Napoleon Bonaparte, Napoleon III.) und dass heute in etlichen osteuropäischen Ländern die alten kommunistischen Parteien höhere Wahlergebnisse haben als die SED-PDS-Linkspartei in den neuen Bundesländern, davon lässt sich Herles seine einmal angewöhnten Vorurteile nicht durcheinander bringen. Seitenweise zitiert er dann aus Uwe Tellkamps heiß diskutiertem Roman (!) „Der Eisvogel“, als handele es sich dabei um ein wissenschaftliches Werk, und unterstellt ohne jeden Beleg, dass viele Deutsche die radikalen Äußerungen des Protagonisten teilten. Im Abschnitt über Extremismus folgt das, was man befürchten durfte: Buchhalterisch protokolliert er etliche Lappalien über die sächsische NPD und verlässt das Thema seines Buches. Linksextremismus und Islamismus kommen dagegen nicht vor, die PDS hält Herles allen Ernstes für „verfassungstreu“ (S. 43).

Der Bevölkerung wirft Herles neben der Anspruchshaltung Gleichgültigkeit und Inkompetenz vor. Doch die von ihm genannten Umweltgruppen, die zum Schutze des Feldhamsters den Ausbau der Infrastruktur verhindern, sind eine kleine Minderheit und haben nur deshalb gelegentlich Erfolg, weil Gerichte ihren Beschwerden aufgrund bestehender Gesetze recht geben. Dagegen haben vier bis fünf Millionen Deutsche 1999 gegen die doppelte Staatsbürgerschaft unterschrieben und damit mehr politischen Verstand bewiesen als die Regierung. Während in den Niederlanden und Großbritannien eingebürgerte Moslems islamkritische Regisseure oder Londoner U-Bahn-Passagiere umbringen, erhalten in Deutschland täglich neugeborene ausländische Kinder per Automatismus einen deutschen Pass. Dass die Deutschen aber heute in der Tat so gleichgültig sind, die Sache so kurz vor der Wahl nicht wieder aufs Tapet zu bringen, wäre einer Erörterung wert (aber dazu müsste einem das Thema schon eingefallen sein).

Das Kernproblem dieses Kapitels ist es, dass zentrale Begriffe wie Demokratie, Populismus und Extremismus nicht definiert werden und Herles nun fröhlich seine Floskeln und Urteile repetieren kann. Immerhin fordert er deutliche inhaltliche Auseinandersetzungen, den Mut zur Freiheit samt ihrer Risiken und bekennt sich zur Marktwirtschaft als integralem Bestandteil der Demokratie (S. 33).

Das zweite Kapitel _Die Reihen fest geschlossen_ (Preisfrage: Woher stammt dieses Zitat?) beschreibt die Machtausübung der Parteien und ist schon lesenswerter. Auch hier gibt es keine Definitionen der Begriffe Demokratie oder Führung, aber zumindest Annäherungen. Wenn die Führungsprinzipien des früheren neuseeländischen Finanzministers Douglas referiert werden, ist das ein Höhepunkt des Buches. Aber sobald es interessant wird, bricht Herles ab. Hier wäre eine Analyse der aufgezählten Grundsätze am Platze gewesen. Auch sonst, wenn Herles konkret wird und Probleme wie die Macht des Bundesrates (S. 56), die Mediendemokratie (S. 60f) oder den „Geschlossenheitskult“ der Parteien (S. 62ff) beim Namen nennt, kratzt er nur an der Oberfläche und huscht zum nächsten Punkt.

Und wieder mal ist das Volk an allem schuld: Wenn solche Politiker, die auf Show statt auf Inhalte setzen, Karriere machen und solche, die Fehler zugeben und zurücktreten, keine zweite Chance erhalten, dann nur, so Herles, weil das Volk es so wünsche, und nicht etwa weil berechnende Parteiführer dies so steuerten. Beweise oder zumindest Anhaltspunkte für diese Behauptungen? Wieder Fehlanzeige. Der Autor selbst erwähnt Friedrich Merz (CDU), Oswald Metzger (Grüne) und Horst Seehofer (CSU), der als „in der Bevölkerung und der Parteibasis verankert“ (S. 71) galt. Alle drei wurden von ihren Parteiführungen kaltgestellt, nachdem sie programmatische Defizite der eigenen Parteien angesprochen hatten. Was könnte also ein einfacher Bürger erreichen, wenn schon die Funktionäre der zweiten Reihe scheitern?

Sehr lesenswert dagegen sind Herles’ Beschreibungen der Techniken und Methoden, mit denen echte Diskussionen unterbunden werden, seien es Totschlagargumente („alternativlos“, „soziale Gerechtigkeit“), die Förderung von Anpassern oder die Zurückhaltung der Parteiführer in Grundsatzfragen. Die Weltfremdheit idealistischer Vorstellungen von „Objektivität“ oder „Gemeinwohl“ wird ebenso wie auch die unrühmliche Rolle der Presse beim Ersticken harter Diskussionen dargestellt. Das hat man selten so deutlich und rücksichtslos gelesen. Die Attacke gegen die Selbstverdummung namens „Politische Korrektheit“ bleibt bei aller Richtigkeit erstaunlich zahm.

Das dritte Kapitel _Die Entwertung der Politik_ behandelt die Entmachtung des vom Volk gewählten Parlamentes. Herles beschreibt den Abfluss der Parlamentsmacht in die sechs Richtungen Regierung, Bürokratie, Medien (und Wahlkampfmarketing), Berater, EU und internationale Wirtschaft. Die vielen Facetten der (Selbst-)Entmachtung des Gesetzgebers wie das Fehlen von Denkfabriken oder die Ein-Themen-Berichterstattung der Medien werden von Herles deutlich benannt, leider geht er auch hier nicht in die Tiefe. Weiter benennt er Probleme des Wahlrechts, so z. B. dass der Bürger am Wahltag nur eine Partei mit ihrer vorgegebenen Bewerberliste und |allen| ihren Programmpunkten wählen kann. Erfrischend ist es, wenn zu den Problemen auch mal Lösungsvorschläge gemacht werden. So liest man, dass sich in England Bewerber um ein Unterhausmandat einer fachlichen Prüfung unterziehen müssen oder der Parteienkritiker Johannes Heinrichs die Ersetzung des Bundestages durch vier Fachparlamente vorgeschlagen hat. Man hätte hier noch das Kumulieren und Panaschieren aus einigen deutschen Kommunalwahlrechten erwähnen können. Dass es aber noch tiefer liegende Konflikte gibt, die nichts mit der politischen Ordnung in Deutschland oder den gegenwärtigen Problemen zu tun haben, reißt der Autor immerhin an: Einerseits heißt Demokratie Mehrheitsentscheidung, andererseits hat die Mehrheit nicht immer Recht. Einerseits wollen wir weniger Bürokratie, andererseits mehr Einzelfallgerechtigkeit. Einerseits braucht das Parlament des Fachwissen der Experten, andererseits sind die Grenzen zwischen beraten und entscheiden fließend.

In den Kapiteln 4 und 5 _Das Elend des Populismus_ bzw. _Kleines Panoptikum der Populisten_ dokumentiert Herles den Populismus der Altparteien. Endlich erfolgen auch Definitionen dieses für das Buch so wichtigen Begriffs. Populismus ist danach die emotionale Propaganda-Nebelkerze. Man macht gute Laune, verkündet Optimismus, redet die Probleme klein und erzählt einfach, was das Publikum (mutmaßlich) hören will. Verdienstvoll ist die Entlarvung eines spezifisch bundesdeutschen Populismus, dem Gerede von der guten, alten Zeit mit Vollbeschäftigung und funktionierenden Sozialversicherungen, die bestimmt bald wiederkomme, man müsse nur etwas Geduld haben. Wenn Herles die Methoden der Politiksimulation seziert, von Job-Gipfeln (erinnert sich noch jemand?) bis zu (Ohn-)Machtworten, ertappt man sich während der Lektüre beim Grinsen und denkt an die Worte des römischen Dichters Juvenal: „Es fällt schwer, keine Satire zu schreiben“. Das Abwürgen von Diskussionen durch moralische Aufheizung von Themen wird am Beispiel Tsunami gut beschrieben, wäre aber einer tiefer gehenden Untersuchung wert gewesen. Im Panoptikum werden der Spaßkanzler, Franz „Heuschrecke“ Müntefering, Bayern-Ede, „Politpopper“ Westerwelle und Bundestaxifahrer Joschka in ihrer jeweiligen Ausprägung von Populismus beschrieben. Eine Sonderstellung hat Angela Merkel inne, die „Vorsitzende der kalten Herzen“ („Die Zeit“); sie ist offenkundig sogar für Populismus zu blass. In diesen aufschlussreichen wie witzigen Porträts kommt Herles seinem Anspruch auf Analyse am nächsten.

Die _Politik im Glashaus_ präsentiert das sechste Kapitel. Es ist zu begrüßen, wenn Politiker das Arbeitsleben kennen und auch werthaltige Arbeit leisten. Von daher sagt Herles völlig zu Recht, dass Nebentätigkeiten von Politkern nicht grundsätzlich verwerflich sein müssen … aber sein können. Es werden einige interessante Fälle von Interessenüberschneidung politischer und geschäftlicher Tätigkeiten |namentlich| genannt (S. 174 ff). Am Fall von Ludger Vollmer (Grüne) und der Bundesdruckerei sieht man, dass es beim Visa-Skandal nicht nur um Schlampereien oder Multikulti-Fanatismus ging, sondern auch gut verdient wurde (S. 175). Die Namen der Parteispendenskandale der letzten Jahre wie Hunzinger, Bimbes oder Elf-Aquitaine zu lesen, ekelt einen nur noch an. Der Abschnitt über Ämterpatronage bleibt etwas dürr; hier wird nur ein Fall besprochen, der leider immer noch nicht ganz geklärt ist.

Schwachpunkte sind die beiden letzten Kapitel _Das Versagen der Gesellschaft_ und _Der Moses-Komplex_. Zunächst gibt es einen Rundumschlag gegen das Bildungssystem, die Wirtschaftselite und die sogenannten Intellektuellen. Wieder mal hechelt Herles durchs Gelände, alles nur kurz anreißend. Peinlich ist hierbei der Abschnitt über die Manager. Gerade aufgrund ihrer Gestaltungsmöglichkeiten bilden die Manager eine sehr heterogene Gruppe. Herles wird hier selber populistisch, indem er ihnen pauschal eine rücksichtslose und kurzsichtige Profitgier unterstellt. Natürlich gibt es solche Fälle, aber dann soll man diese Beispiele beschreiben und keine Klischees verbreiten. Bezeichnenderweise enthalten die Seiten, auf denen die Meinungsäußerungen besonders wüst ins Kraut schießen, die wenigsten Belege und Quellenangaben. Im letzten Kapitel wiederholt der Autor mit dem von ihm entdeckten „Moses-Komplex“ anhand der biblischen Geschichte vom Auszug aus Ägypten noch einmal die Hauptthesen des Buches: Moses (der autoritäre Führer) führt mit Drohungen und Versprechungen die Israeliten (das Volk), die zwischen Anpassung und Murren schwanken, durch die Wüste, während sein Bruder Aaron (der Populist) ihnen erzählt, was sie hören wollen. Abschließend folgen dann doch noch einige konkrete, wenn auch altbekannte Vorschläge, von der strikten Aufgabentrennung zwischen Bund und Ländern bis zur Begrenzung von Amtsdauern. Geradezu rührend ist jedoch der Aufruf an die Wähler, ungültige Wahlzettel abzugeben. Mittlerweile dürfte der Anteil ungültiger Stimmen vom Promillebereich auf fünf Prozent (!) angestiegen sein. Aber die Medien, auch Herles’ Haussender ZDF, liefern uns am Wahlabend weiterhin nur die prozentualen Ergebnisse und lassen die ungültigen Stimmen ganz unter den Tisch fallen. So heißt es dann auf der letzten Seite: „Dann wählt mal schön“, aber es bringt ja eh nichts. Alles Scheiße, euer Wolfi.

_Fazit_: Die derzeitige verrückte Lage zwischen Schröders Kapitulationserklärung im Mai und dem wahrscheinlichen Neuwahltermin im September 2005 hat Wolfgang Herles zum Anlass genommen, ein Buch über die grundsätzlichen strukturellen Probleme der deutschen Politik zu schreiben. Vielleicht haben sich Autor oder Verlag höhere Verkaufszahlen erhofft, wenn das Buch noch vor den Neuwahlen erscheint, jedenfalls scheint vieles unausgereift und mit heißer Nadel gestrickt. Grundsätzlich wäre diesem Buch, das zwar kaum wirklich Neues bringt, aber sein komplexes Thema umfassend beleuchtet, eine zweite, dann aber gründlich überarbeitete Auflage zu wünschen. Wolfgang Herles könnte sich große Verdienste erwerben, wenn er dann
– sich strikt auf sein Thema konzentriert und nicht abschweift,
– seine zentralen Begriffe definiert,
– die Aspekte der verfahrenen Lage nicht nur an der Oberfläche beschreibt, sondern wirklich analysiert,
– mehr erprobte Lösungsbeispiele aus der Vergangenheit oder dem Ausland präsentiert,
– und seine teils irrationalen Meinungsäußerungen entweder belegt oder unterlässt.

Überhaupt sollte Herles seine Abneigung gegen die deutschen Bürger selbstkritisch überdenken. Wenn Patriotismus nur altmodisches Gedöns ist, warum sollte sich dann überhaupt noch jemand für unser Land einsetzen? Wenn das Volk wirklich dumm, habgierig und kurzsichtig ist, warum sollte man dann noch für die Demokratie sein? Und wenn überhaupt alle – Volk, Politik und Wirtschaft – unfähig sind und Reformen unmöglich machen, warum lohnt es sich dann noch, kritische Bücher zu schreiben?

Auf jeden Fall sollten in einer möglichen zweiten Auflage einige sachliche Fehler beseitigt werden:
Franz Schönhuber war vielleicht von Anfang an Mitglied der Republikaner, gegründet wurde die Partei aber von Ekkehard Voigt und Franz Handlos (S. 38).
Dass es in der BRD noch keine Ein-Parteien-Regierung gegeben hat, liegt an Mehrheitsverhältnissen und politischen Entscheidungen, aber keineswegs an Vorgaben des Grundgesetzes oder des Wahlrechts (S. 55).
Fremdsprachen sind nützlich. Wenn man z. B. weiß, dass im Englischen |interest| nicht nur Interesse, sondern auch Zins heißen kann, versteigt man sich nicht zu abenteuerlichen Interpretationen über die Titel britischer Dokumente (S. 178).