Alle Beiträge von Stefan Morise

Edgar Allan Poe – Der Doppelmord in der Rue Morgue

Ein grausiger Doppelmord an einer Frau und ihrer Tochter stellt die Pariser Polizei vor ein Rätsel. Die beiden Frauen sind in ihrer Wohnung in der Rue Morgue auf brutale Weise zugerichtet worden. Das Mädchen fand man mit verrenkten Gliedern, wie sie in den Kamin geschoben wurde, ihre Mutter dagegen geköpft auf dem Straßenpflaster liegend, nachdem sie aus dem Fenster geschleudert worden war. Obwohl zahlreiche Zeugen befragt werden und sich die Aussagen bis auf wenige Abweichungen decken, fehlt von einem Täter jede Spur. Doch die Befragten berichten alle von mindestens einer weiteren, dritten Person, die sich zum Zeitpunkt des Mordes im Haus befand, das ansonsten völlig leer stand. Wie nur war es dem Mörder gelungen, unbemerkt zu fliehen und keine Spur zu hinterlassen, die die Polizei wenigstens auf eine Fährte gelockt hätte?

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Kafka, Franz – Verwandlung, Die

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Mit diesen Worten beginnt eines der bekanntesten Werke Franz Kafkas, das heute zur Weltliteratur gezählt wird: „Die Verwandlung“.

|Das Buch …|

Gregor Samsa verdient sein Geld als Handlungsreisender, nicht nur für sich, sondern auch für seine ganze Familie. Sowohl seine Schwester als auch seine Eltern, bei denen er noch immer lebt, ernährt er mit. Als er eines Morgens erwacht und aufstehen will, um wie jeden Morgen den Zug pünktlich zu erreichen, muss er feststellen, dass sich sein Körper in einen Käfer verwandelt hat. Ohne Kontrolle über seine neuen, zahlreichen Gliedmaßen gelingt es ihm nicht einmal, aus dem Bett zu steigen. Und so, verwundert ob Gregors unüblicher Unpünktlichkeit, stehen schon bald seine Mutter und sein Vater vor der Tür und erkundigen sich nach ihm. Die wenigen Worte, die er in einer krächzenden Tonlage von sich gibt, können seine Eltern nicht beruhigen geschweige denn davon abhalten, ihn sehen zu wollen. Es kommt, wie es kommen musste: Gregor tritt seiner Familie als Insekt vor die Augen und erfährt in ihren Blicken nicht mehr als Abscheu und Furcht. Erschrocken verflüchtigt sich Gregor zurück in sein Zimmer.

Seine Schwester ist die Einzige, die sich seiner annimmt. In regelmäßigen Abständen bringt sie ihm altes oder bereits verdorbenes Essen herein. Um sie nicht weiter zu ängstigen, versteckt sich der krabbelnde Handlungsreisende während ihres Aufenthaltes im Zimmer, doch verschlingt er, sobald seine Schwester wieder fort ist, sofort gierig die Nahrungsmittel. Aber das eintönige Prozedere langweilt ihn. Er fühlt und denkt noch als Mensch, aber sein Handlungsspielraum wird immer eingeschränkter. So beginnt er sich mehr und mehr mit der Rolle des Käfers zu identifizieren, spricht keine Worte mehr und krabbelt stattdessen über Wände und Decken. Er arrangiert sich mit dem Wesen, zu dem er unzweifelhaft geworden ist. In diesem Zustand entdeckt ihn schließlich seine hereinplatzende Mutter, die augenblicklich in Ohnmacht fällt. Auch der Vater verliert allmählich die Fassung und wirft, als er den Käfer erblickt, mit Obst nach ihm. Selbst seine Schwester wendet sich von ihm ab und lässt ihm kaum noch Essensreste zukommen.

Die Familie, die Gregor Samsa einst durch seine berufliche Stellung finanziell unterstützt bzw. zusammengehalten hatte, lässt ihn mehr und mehr fallen. Sie braucht seine Ersparnisse auf und sucht nach Wegen, ohne ihn auszukommen. Die Familie sieht ihn schließlich als sprichwörtlichen Parasit an, den es zu beseitigen gilt. Doch so weit kommt es erst gar nicht, denn Gregor, durch die Obstattacke des Vaters verwundet und durch die fehlende Nahrungsaufnahme ausgemergelt, haucht sein Leben selbst aus – alleine und verlassen im Körper eines Käfers. Familie Samsa bringt den Leichnam aus dem Haus und versucht, mit dem Umzug in eine neue Wohnung ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Sie hat sich ihres einstigen Familienmitglieds entledigt, das nun nutzlos für sie geworden war.

|… als Hörbuch|

Das Hörbuch aus dem Verlag |Argon Hörbuch| kommt als 2-CD-Version im Pappschuber daher, die knapp 150 Minuten Laufzeit umfasst. Gelesen wird „Die Verwandlung“ von Ulrich Matthes, einem namhaften deutschen Schauspieler, der in Filmproduktionen wie „Der Untergang“ oder „Aimée und Jaguar“ mitwirkte und die Synchronstimme von Kenneth Branagh und weiteren Akteuren sprach. Der 1959 geborene Schauspieler hat auch schon auf dem Feld der Hörbücher überzeugen können. Zu seinen zahlreichen Vertonungen gehören etwa „Der englische Patient“ oder „Das Kalkwerk“. Zu Recht wurde er 2002 für seine Arbeit an „Pnin“ von Nabokov mit dem Preis für das beste Hörbuch ausgezeichnet.

So verwundert es kaum, dass Matthes auch für „Die Verwandlung“ eine überzeugende Leistung abliefert. Während anfangs noch der Eindruck entsteht, Matthes lese etwas zu langsam und gönne sich bei den Absätzen zu lange Pausen, scheint sich dieser zunächst etwas befremdliche Sprachgebrauch im Verlaufe der Novelle mehr und mehr der Grundstimmung der Erzählung anzupassen. Kafkas personaler, surrealer Stil beginnt durch Matthes Stimme an Lebendigkeit zu gewinnen und den Hörer zu erfassen, als ob er selbst in die Seele Gregor Samsas blicken und hineinfühlen könnte. Dennoch bleibt Matthes‘ Stimme kühl und distanziert und verleiht damit Kafkas Werk den nötigen, angemessen Grundtenor.

Obwohl oder gerade weil das Hörbuch auf musikalische Untermalung verzichtet und sich nur auf Ulrich Matthes konzentriert, wird dem vielschichtigen Werk Kafkas eine würdige Plattform geboten. Die sprichwörtliche Verwandlung Gregor Samsas vom Menschen hin zu einem von seiner Familie verabscheuten Käfer vollzieht sich auch im Hörbuch spürbar, wenn auch über den mit der Novelle übereinstimmenden, langsam voranschreitenden Prozess.

Wer Kafka nicht nur gerne liest, sondern auch hören möchte, liegt mit der Version aus dem |Argon|-Hörbuchverlag absolut richtig. Matthes versteht es, sich perfekt an Kafkas Stil zu orientieren und dem großen, stets einsamen Schriftsteller angemessen Rechnung zu tragen. Eine Aufgabe, an der andere Hörbücher bereits gescheitert sind.

http://www.argon-verlag.de

Blazon, Nina – Rückkehr der Zehnten, Die

Noch nichts von Nina Blazon gehört? Nun, das sollte sich schnell ändern. Diejenigen, die bereits Romane der Autorin gelesen haben, wissen warum. Klar, die Bezeichnung „ein neuer Stern am Fantasy-Himmel“ mag hochgegriffen klingen, zumal sich in letzter Zeit viele mit solchen und ähnlichen Titel schmücken lassen. Doch selbst wenn es auf die meisten aufstrebenden Jungschriftstellern (noch) nicht zutrifft, heißt das nicht, dass sich niemand damit rühmen kann.

Nina Blazon, Jahrgang 1969 und geboren in Koper, legt mit „Die Rückkehr der Zehnten“ bei |Ueberreuter| einen für sich allein stehenden Fantasy-Roman vor. Eine bereits lobenswerte Tatsache, quellen die Regale der Fantastikabteilung in der Regel doch mit Serien, Zyklen und unüberschaubar langen Reihen über. Die Geschichte ist bündig auf knapp 350 Seiten erzählt; eine für die Fantasy ungewöhnlich kurze Erzählung. Und doch entfaltet sich der Roman in voller Blüte und baut ein Welt auf, die in manch bücherüberspannenden, langen Sagen nicht so plastisch rüberkommt.

Die Zwillinge Lis und Levin sind zusammen mit ihrer Mutter für ein paar Tage zu Verwandten nach Slowenien gereist. Obwohl sie ein gutes Verhältnis zu Onkel und Tante haben, sind die beiden, vor allem Levin, über den kurzfristig eingeplanten Urlaub im Mittelmeerstädtchen Piran nicht sehr erfreut. Levin, leidenschaftlicher Live-Rollenspieler, hatte nämlich schon lange im Voraus für eine Convention zugesagt, auf der er wie üblich in die Rolle seiner Lieblingsfigur Karjan, einem Hohepriester des Gottes Swantewit, schlüpfen wollte. Seine Mutter ließ sich von ihrem Plan jedoch nicht abbringen und untersagte ihrem Sohn die Teilnahme an dem Rollenspieltreffen.

„Die Rückkehr der Zehnten“ beginnt geschickt mit der Beschreibung einer Kampfszene, die Levin in der Rolle des Priesters darstellt. Was zunächst als normaler Kampf innerhalb einer im Roman aufgebauten Fantasy-Welt anmutet, entpuppt sich wenig später als aufgenommenes Videotape, das Levin und seine Schwester Lis ihren Cousins vorspielen. Der packende Einstieg ermöglicht eine direkte Identifikation mit den beiden Hauptfiguren und schlägt eine Brücke zwischen der realen und der Fantasy-Welt. Gleich zu Beginn wird klar, dass Levins Fähigkeiten als Priester und Lis eher ablehnende Haltung gegen das Hobby ihres Bruders eine wichtige Rolle spielen werden. Die Charakterentwicklung der Geschwister wird gleich auf den ersten Seiten verankert und gut motiviert. Während die Figuren und ihre Beziehungen vorgestellt werden, entwickelt sich zeitgleich die Handlung.

Denn Lis und Levin finden, während sie im Meer schwimmen gehen, ein Medaillon, das tief unten auf dem Meeresboden liegt. Überrascht von dem Fund, halten sie es zunächst geheim. Doch die eigenartige Innschrift, die keiner ihnen bekannten Sprache zuzuordnen ist, fesselt sie so sehr, dass sie eine Abschrift vornehmen und diese im Museum vorzeigen. Der Museumswächter reagiert mürrisch, nimmt sich jedoch die Zeit, die Schrift zu analysieren. Auch ihm ist sie unbekannt, er mutmaßt und datiert sie aber auf eine längst vergangene Epoche. Anhand ähnlicher ihm bekannter Schriftzeichen glaubt er das Wort „Desetnica“ darin zu lesen. Ein Begriff, der für die zehnte Tochter steht, die alten Aufzeichnungen nach Unglück über eine Familie brachte, sofern sie nicht geopfert wurde.

Mehr verwirrt als durch die Antwort befriedigt, machen sich die Lis und Levin wieder auf den Heimweg. Doch es passiert, was passieren musste. Während die beiden eines Abends am Strand entlangspazieren, taucht aus dem Nebel eine Stadtmauer auf dem Wasser auf. Levins Neugier ist stärker als die Angst, und so packt er Lis und bahnt sich einen Weg hinüber – direkt in die Welt des Medaillons, in der sich die Sage um die Desetnica erfüllen sollte.

Mit dem schnellen Einstieg und sympathischen Protagonisten gelingt es Nina Blazon, sofort eine Atmosphäre aufzubauen, die bis zur letzten Seite des Buches aufrecht erhalten werden kann. Erst im Nachhinein wird deutlich, dass die kleinen Verwicklungen und Ereignisse der ersten 50 Seiten das Grundmuster für den weiteren Verlauf der Handlung bilden. Dadurch schafft es die Autorin, all ihre Handlungsfäden geschickt und logisch zu verknüpfen. Auch die Charaktere sind gut durchdacht und überzeugend dargestellt. So ist Lis, aus deren Sicht der gesamte Roman erzählt wird, zunächst ein wenig schüchtern und über Levins Eigenarten nicht sehr erbaut. Als sie beide schließlich in die fremde Welt reisen und Lis Bruder in der Rolle des Priesters, den er schon beim Rollenspiel verkörperte, regelrecht aufgeht, fühlt sie sich mehr als unwohl und will nur noch nach Hause zurückkehren. Doch mit jedem weiteren Tag, an dem ihr Vorhaben scheitert, knüpft sie engere Kontakte zu den Bewohner der Stadt Antjana, lernt ihre Wünsche und Sehnsüchte kennen und erfährt, dass es kein Zufall, sondern Schicksal war, in diese Welt gelangt zu sein.

Denn eine Gruppe von Priestern beherrscht die Stadt mit eisiger Hand und lässt keine Gnade mit denen walten, die Poskur, ihrem Gott des Feuers, nicht huldigen. Unruhe breitet sich aus, denn vor den Mauern der Stadt liegt ein Heer der Sarazenen, angeführt von der Desetnica, die sich einst aus der Stadt retten konnten und nun das Volk von den Priestern befreien will. Ein gefährliches Spiel beginnt, denn während sich Levin das Vertrauen bei den Priestern zu erschleichen versucht, schließt sich Lis einer Untergrundbewegung an, die die Rückkehr der Zehnten vorbereiten wollen. Eine Gruppe von Menschen, die als Zeichen dasselbe Medaillon tragen, das auch Lis bei sich hat.

Ohne weiter auf spezifische Details einzugehen, sei so viel gesagt: „Die Rückkehr der Zehnten“ packt den Leser schon auf der ersten Seite und lässt ihn nicht mehr los. Die archaische Welt Antjanas, die der Schreckensherrschaft der Priester ausgesetzt ist, bietet einen überschaubaren Ort der Handlung und verläuft sich nicht in einer überdimensionalen Fantasy-Welt. Die Spannung bleibt konstant hoch, immer wieder nehmen Ereignisse ihren Lauf, die zu überraschenden Wendungen führen. Und doch bleibt genug Zeit, die Figuren angemessen zu beschreiben und sie überaus lebendig wirken zu lassen. Bis auf wenige Ausnahmen innerhalb der Priestergilde, die wirklich keine guten Eigenschaften aufweisen und durch und durch als verabscheuungswürdige Gegenspieler aufgebaut werden, sind die meisten Personen weder ganz weiß noch ganz schwarz. Dass das Ende hierbei klassisch mit einem typischen Happy-End ausklingt, fällt nicht negativ ins Gewicht, werden doch alle bis dahin noch losen Enden verknüpft und zu einem würdigen Abschluss gebracht.

Nina Blazon schafft mit „Die Rückkehr der Zehnten“ das, was generell einen guten Fantasy-Roman ausmachen sollte. Das Buch ist unterhaltsam, spannend, logisch, durchdacht und bis zur letzten Seite fesselnd. Wer Nina Blazon also immer noch nicht kennt, kann mit diesem Roman einen guten Einsteig wagen. Und nach der Lektüre dieses Buches wird es sicher nicht das einzige Werk dieser Autorin gewesen sein, das von nun an den heimischen Bücherschrank schmücken wird.

[Fantasy bei Ueberreuter]http://www.ueberreuter.de/ueberreuter/index.php?usr=&phd=4&content=22

Winter, Maren – Stundensammler, Der

Mit „Der Stundensammler“ legt Maren Winter ihren zweiten Roman vor, dessen Handlung wie ihr Debüt erneut in ein historisches Gewand verpackt ist. Beschrieb sie in „Das Erbe des Puppenspielers“ die schicksalhafte Reise eines Puppenspielers, der in die Intrigen und Verschwörungen zu Zeiten Karl des Großen verwickelt wird, so verlegt sie in ihrem Zweitwerk die Geschichte gut 700 Jahren nach vorne. Genau genommen in das Jahr 1492, zu Hochzeiten der Renaissance.

„Der Stundensammler“ wurde wie ihr Erstling erneut bei |Heyne| veröffentlicht und erschien dort als Taschenbuchausgabe in der Reihe |Heyne Original|. Auf den knapp 500 Seiten lassen sich neben der Romanhandlung zwei Karten sowie einige Anhänge finden. Die Karten stellen Nürnberg sowie das Nürnberger Umland dar und sind mit für den Plot wichtigen Ortschaften gekennzeichnet. Für das Nachvollziehen der Handlungsstränge wären sie zwar nicht notwendig gewesen, als nette Beigabe taugen sie aber allemal. Die Anhänge beschäftigen sich mit dem historischen Hintergrund und listen detailliert die wichtigsten Fachausdrücke mit prägnanten Erläuterungen sowie die Protagonisten der Handlung und deren Bezug zur historischen Realität auf. Wer tiefer gehende Informationen sucht, kann sich anhand der gelieferten Hinweise so um weitere Literatur bemühen.

Während Maren Winter mit „Das Erbe des Puppenspielers“ auf sicherem Terrain agierte – immerhin schloss die 1961 geborene Autorin eine Ausbildung zur Puppenspielerin ab und gründete mit ihrem Mann ein Figurentheater -, wagt sie sich in „Der Stundensammler“ auf ein zumindest aus ihrer Biographie nicht ersichtliches, neues Gebiet vor. Zentraler Aspekt in ihrem Roman ist die Erfindung der Taschenuhr, um den sie die Lebensgeschichte der fiktiv ausgestalteten Hauptfigur Severin und den damit verbundenen Plot anlegt:

Severin wird als Findelkind von seiner leiblichen Mutter in die Familie des Bauern Georg Geiss gegeben, in der er mit seinen neuen Geschwistern eine harte Kindheit erlebt – unbedacht von seiner tatsächlichen Herkunft. Er muss schuften und hart arbeiten, doch die Anerkennung in seiner Familie bekommt er nicht. Als er eines Tages die Schafe hüten muss und nicht verhindern kann, dass eines von ihnen im Fluss ertrinkt, hat er sich seine letzten Sympathiepunkte verspielt. Die Strafe, das Schaf durch noch härtere Arbeit abzugelten, trifft ihn hart.

Die Geschehnisse nehmen ihren Lauf, als die Familie ins Dorf Affalterbach zieht, um dort auf dem kleinen Markt ihre Waren feilzubieten. Denn während die Bauern noch unbedacht handeln, zieht der Markgräfliche Erbprinz gen Nürnberg und schlachtet auf seinem Weg die schutzlosen und völlig überraschten Bauern regelrecht ab. Zwar kann das Heer vor Nürnberg aufgehalten und schließlich vertrieben werden, doch Severin verliert seine gesamte Adoptivfamilie, während sich der Junge im Kirchturm versteckt hält. Denn den Angriff verschläft der Junge schlicht und ergreifend unter der über ihm tickenden Kirchenuhr. Alles, was er danach noch vorfindet, ist ein Feld voller Leichen.

Dieses Ereignis prägte ihn so sehr, dass die Zeit, und vor allem das Wissen über die Zeit, sein künftiges Leben fortwährend begleitet. Anfangs noch unbewusst, später im Verlaufe der Handlung immer drängender, wird ihm klar, dass es nur eine Lösung gibt: eine Taschenuhr, die jeder mit sich herumtragen kann. Erst dann hätten die Menschen die Kontrolle über die Zeit …

Maren Winter schafft es leider nicht, gleich zu Beginn eine fesselnde Atmosphäre aufzubauen. Zwar wird schnell klar, dass sich die Autorin auf dem historischen Gebiet auskennt und weiß, wovon sie schreibt, doch der Funke will zunächst nicht überspringen. Das mittelalterliche Bild, das sie aufzubauen versucht, setzt sich einfach nicht plastisch im Gedächtnis fest, als dass darauf aufbauend die Handlung wirklich mitreißen könnte.

Dies scheint an mehreren Faktoren zu liegen. Zunächst wirken die Figuren anfänglich äußerst platt, auch wenn der Hauptcharakter Severin und die Heinlein-Brüder, unten denen der Junge später dient, hier angenehm herausstechen. Die meisten Nebenfiguren bleiben recht blass und leblos. Die Bauernfamilie etwa, die auf den ersten Seiten beschrieben wird, kommt einerseits klischeeartig tumb, voreingenommen und rüde daher, anderseits werden den Bauern dann aber Dialoge in den Mund gelegt, die äußerst unpassend erscheinen. Wenn sie in einigen Szenen plötzlich auf die politische Situation und die kriegerischen Konflikte zu sprechen kommen und mit erstaunlichem Hintergrundwissen argumentieren, entsteht der Eindruck, dass an dieser Stelle recht gezwungen der Plot vorangetrieben werden soll. Auch Severins Motivation, durch das Verschlafen des Gemetzels unter der Kirchenuhr die Zeit kontrollieren zu können, damit ihm solch ein Missgeschick kein weiteres Mal passiert, kann nicht so recht überzeugen.

Der Leser wird also auf eine harte Probe gestellt, wenn er sich der Romanhandlung hingeben möchte, aber immer wieder bemerken muss, dass diese sich nicht von alleine entfaltet, sondern von der Autorin mal mehr, mal weniger auffällig in die gewünschte Richtung vorangetrieben wird. Schade, denn dadurch kann sich auch die mittelalterliche Szenerie nicht festsetzen. Durchaus verständlich, wenn der Leser hier frustriert aufgibt – doch durchzuhalten lohnt sich.

Denn in dem Moment, als Severin auf die Bettlerin Barb trifft, die sich seiner annimmt und nach Nürnberg bringt, gewinnt „Der Stundensammler“ an Fahrt. Plötzlich kann sich der Leser mit der Hauptfigur identifizieren, kämpft seinen täglichen Kampf ums Überleben mit und freut sich für ihn, während er sich langsam vom Bettler über den Tagelöhner zum Gesellen hocharbeitet. Nürnberg, in dem sich die weitere Handlung abspielt, wird plastisch. Es gewinnt an Facetten ebenso wie an Leben, wenn immer mehr einflussreiche Leute in Severins Leben treten, die ihm helfen, seinen Traum von der Kontrolle der Zeit zu realisieren und ihn beim Bau einer Taschenuhr unterstützen. Dass sein Ziel schlussendlich Wirklichkeit wird, er seinen wahren Vater trifft und auch in der Liebe fündig wird, rundet den Roman würdig ab. Alles andere als ein Happy-End hätte man nach diesem Aufbau auch nicht erwartet.

Wer tapfer ist und durchhält, bekommt schließlich mit „Der Stundensammler“ einen ordentlichen Roman geboten, der zwar keine Lorbeeren gewinnt, aber durchaus unterhalten kann. Das historische Gewand um die Erfindung der Taschenuhr ist überzeugend, die schriftstellerische Aufarbeitung dessen aber ausbaufähig.