Alle Beiträge von Ulrich Alexander Goetz

Don Webb – Uncle Setnakt`s Essential Guide To The Left Hand Path

Der profanen Öffentlichkeit ist der in Austin/Texas lebende Don Webb primär als Science-Fiction-Autor bekannt. Um einen kleinen Überblick seines schriftstellerischen Schaffens zu geben, seien hier exemplarisch „Spell for the Fullfillment of Desire“ (1996), „The Double. An Investigation“ (1998), „Essential Saltes. An Experiment“ (1999) und „Endless Honeymoon“ (2001) genannt. In deutscher Sprache ist von Don Webb bislang nur das seit geraumer Zeit vergriffene „Märchenland ist abgebrannt. Profane Mythen aus Milwaukee“ erschienen.

Weniger bekannt ist sein Status in der okkulten Welt als Vordenker des Setianismus – er bekleidete lange Zeit das Amt des High Priest im „Temple of Set“, bis er am 9.9.2002 von Zeena Schreck abgelöst wurde (inzwischen hat ToS-Gründer Michael Aquino das Amt wieder übernommen).

Setianismus ist eine religiöse Strömung des „Pfades zur Linken Hand“ bzw. „Left Hand Path“ (LHP) und versteht sich somit als strikte Abgrenzung zu den sog. „Weltreligionen“, welche eine Unterordnung oder sogar Auslöschung des menschlichen Individuums zugunsten eines metaphysischen Prinzips (Gott, Nirwana usw.) fordern. Die begriffliche Unterscheidung von linkshändigen und rechtshändigen Pfaden stammt ursprünglich aus dem Hindu-Tantra. Die linke Seite wird in Indien sowohl mit gesellschaftlichen Tabus als auch der dynamischen Energie des Shakti assoziiert. LHP steht im Gegensatz zum stärker verbreiteten „Right Hand Path“ (RHP) für die Bejahung der weltlichen Existenz und der Vergöttlichung des individuellen Ichs. Da die linke Hand ein interkulturell verständliches Symbol sein kann, ist der LHP gut als Universalbegriff geeignet, um westliche Strömungen wie etwa Saturngnosis oder eben Setianismus unter einer gemeinsamen Kategorie einzuordnen.

Im Zentrum des setianischen Interesses stehen persönliche Autonomie und willentliche Selbsterschaffung. Das mythologische Ideal dieses Prinzips ist der ägyptische Wüstengott Seth, welcher seine Geburt selbst einleitete und gegen kulturelle („städtische“) Normen opponiert, aber auch diejenigen Menschen, welche durch die Wüste reisen, beschützt. Seine Hauptkontrahenten sind die Dämonenschlange Apophis (das ungebändigte Chaos) und Osiris, der „sterbende Gott“ (mythologische Parallelen zwischen Osiris und Jesus Christus sind unverkennbar), welcher die Stasis repräsentiert. Ob Seth dabei als tatsächliche Entität oder als archetypisches Prinzip interpretiert wird, ist aus setianischer Sicht nebensächlich. Seth, der auch als „Fürst der Finsternis“ oder „Feind der Götter“ bezeichnet wird, sucht nicht nach Anbetung, sondern nach Individuen, die von „seiner Art“ sind. Der Logos Aionos von Seth ist „Xeper“, ein altägyptisches Verb, welches übersetzt in etwa „ich bin geworden“ bedeutet und rückwirkend die persönlichen Fortschritte eines Setianers bezeichnet. Dies nur als Erläuterung zu dem religiösen Umfeld, aus welchem Don Webb stammt (wer sich für diese Thematik interessiert, kann sich unter http://www.xeper.org näher informieren).

„Uncle Setnakt`s Essential Guide To The Left Hand Path“ ist jedoch mitnichten ein rein setianisches Buch. Don Webb gibt in dieser Abhandlung vielmehr – wie der Titel schon andeutet – einen Einblick in die allgemeine Praxis des (westlichen) Pfades zur Linken Hand. „Praxis“ ist hier der maßgebliche Begriff – das Buch soll weder umfassend über die kulturellen Hintergründe des LHP informieren, noch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Diesen beiden Kriterien hat bereits Don Webbs Kollege Stephen Flowers in seiner theoretischen Abhandlung „Lords of the Left Hand Path“ erfüllt. Der „Essential Guide“ hingegen hat für den geneigten Leser nur dann einen echten Wert, wenn er nach der Lektüre die Ärmel hochkrempelt und die vorgestellten Praktiken konsequent realisiert. LHP ist keine Religion für die „schlecht weggekommenen“, sondern ein Pfad für Individualisten, die bereit sind, für ihr persönliches Glück hart zu arbeiten – dies macht Don Webb unmissverständlich klar.

Dennoch kommt auch der Humor nicht zu kurz, denn LHP soll in erster Linie Lebensfreude bereiten. „Uncle Setnakt“ ist ein Pseudonym, unter welchem Don Webb einst eine humoristische Kolumne namens „Uncle Setnakt says“ schrieb, da er es leid war, die Prinzipien des LHP ausschließlich in wissenschaftlicher (und somit häufig auch ziemlich trockener) Manier zu verdeutlichen. Im „Essential Guide“ setzt „Onkel“ Webb diese Tradition fort.

Das Buch gliedert sich in vier Hauptteile. Der erste Teil, „The Nature and Goals of the Left Hand Path“, liefert die theoretische Basis für die nachfolgenden Kapitel. Don Webb erläutert hier, was Initiation im Sinne des LHP ist und wie sie funktioniert. Er diskutiert u.a. das Prinzip individueller Souveränität, die Position des Ichs im Kosmos, die Psychologie der Initiation sowie ihre „Tugenden“ und „Laster“, das Wesen der Magie und eine inhaltliche Abgrenzung zum Pfad zur Rechten Hand (RHP).

Der zweite Teil, „Practise“, vermittelt einen Katalog von LHP-konformen Aktivitäten und persönlichen Charaktereigenschaften, welche die Initiation eines LHP-Adepten begünstigen oder sogar erst ermöglichen. Wer bereits auf diesem Pfade unterwegs ist, wird garantiert erkennen, dass er bereits einige der genannten Dinge in sein Leben integriert hat.

Der dritte Teil, „The Grand Initiation“, nimmt rund 40 Seiten ein. Es handelt sich dabei um eine Art Einweihungsritus, welchen Don Webb persönlich entwickelt hat. Er ist nicht obligatorisch, aber wer eine größere Herausforderung sucht, und Gefallen an Webbs Ritualen gefunden hat, wird hier sicherlich etwas für sich herausziehen können. Zusätzlich kann der Leser hier etwas über das Konzept von Xeper erfahren. Die „Grand Initiation“ richtet sich allerdings an Fortgeschrittene, weshalb es mir etwas unklar ist, weshalb Don Webb sie nicht als letztes Kapitel oder Anhang verwendet hat.
Der vierte und letzte Teil, „Resources“, vermittelt dem Leser ein paar nützliche Werkzeuge für seine persönliche Initiation.

„Onkel Setnakts Handorakel“ ist dabei noch eher als Gimmick zu sehen, denn der Initiand kann hiermit Lösungsansätze für seine Probleme erwürfeln. Wer dem mit einem ironischen Augenzwinkern begegnen kann, wird jedoch durchaus mit ein paar konstruktiven Ideen beglückt werden. Ferner vermittelt Don Webb ein paar wirklich gute Lesetipps und erklärt exemplarisch anhand einer kurzen Geschichte, wie der Weg einer oder eines Initiierten verlaufen kann. Ein paar FAQ zum LHP können Neuligen dabei helfen, ihre eigene Position präziser zu bestimmen. Fortgeschrittene werden schließlich in der Lage sein, eine für sie selbst passendere Literatur- oder FAQ-Liste zu erstellen – und somit die Komplexität des LHP erweitern.

Abschließend gibt Don Webb einen kurzen Einblick in die Lehren des Temple of Set. Er will damit jedoch keinesfalls missionieren, sondern ein gutes Beispiel für eine renommierte LHP-Institution geben. Man kann den LHP nur für sich selbst beschreiten, aber ab einem gewissen Punkt benötigt jeder Initiand eine professionelle Schulung durch andere, wenn er oder sie nicht stagnieren will.

Es scheint mir evident zu sein, dass ein solches Buch polarisieren muss – jeder muss selbst herausfinden, ob er oder sie dem LHP etwas abgewinnen kann. Don Webbs „Uncle Setnakt`s Essential Guide To The Left Hand Path“ ist neben Frank Lerchs „Nightworks“ jedenfalls definitiv das beste praxisorientierte Buch über den Pfad zur Linken Hand, welches mir bislang untergekommen ist. Wie Stephen Flowers treffend in seiner Einleitung bemerkt:

„[Don Webb] reiht nicht einfach nur Wörter aneinander, um seinen Lesern Vergnügen zu bereiten und sie zu unterhalten – obgleich er dieses auch tut – er bietet dir mit diesem Führer das größte Abenteuer an, welches das Leben zu bieten hat.“

Taschenbuch: 120 Seiten
ISBN-13: 9781885972101

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Grobel, Lawrence – Al Pacino: Im Gespräch mit Lawrence Grobel

Al Pacino ist bekannt für seine großartige Leistung in Filmen wie „Der Pate“, „Scarface“, „Der Duft der Frauen“, „Im Auftrag des Teufels“ oder „Der Kaufmann von Venedig“. Doch Pacino ist nicht nur im Filmgeschäft äußerst erfolgreich, er ist auch ein engagierter Theaterdarsteller. Er hat u. a. an der Inszenierung von Stücken Brechts, Williams, Oscar Wildes und natürlich Shakespeares mitgewirkt.

Al Pacino wurde am 21. Juli 2007 vom American Film Institute (AFI) mit dem „Life Achievement Award“ für sein Lebenswerk geehrt. Eine Bilanz zu diesem Lebenswerk wie das Ende 2006 erschienene „Al Pacino: Im Gespräch mit Lawrence Grobel“ war überfällig.

Obgleich keine Biographie im strengen Sinne, ist dieses Buch dennoch mehr als eine reine Sammlung von Interviews. Die neun Interviews, welche im Zeitrahmen von 1979 bis 2005 entstanden, ermöglichen nicht nur Einblick in die Persönlichkeit Al Pacinos, sie zeigen auch auf subtile Art und Weise die Entwicklung einer engen Freundschaft zu seinem Interviewer auf.

Der renommierte Journalist Lawrence Grobel erregte erstmals durch seinen Beitrag zum 25. Geburtstag des |Playboy|-Magazins Pacinos Aufmerksamkeit. Grobel hatte nicht nur Marlon Brando (den Pacino sehr bewundert) interviewt, sondern schien auch mit diesem auf einer Wellenlänge zu liegen, was sich durch eine große Offenheit seitens Brando bezahlt machte. Daraufhin kontaktierte Pacino den |Playboy| und erklärte seine Bereitschaft, selbst interviewt zu werden – unter der Bedingung, dass Lawrence (später sollte er ihn „Larry“ nennen) Grobel dieses Interview machen würde. Dies war eine Sensation, denn bis dato hatte Pacino noch jedes Interview verweigert.

In einem der späteren Gespräche mit Grobel erläutert Pacino sehr deutlich, weshalb er generell sein Privatleben weitgehend von der Öffentlichkeit fernhalten will:

|“Wenn man Sachen über einen Schauspieler weiß, fängt man an, Sachen in seine Filme hineinzuinterpretieren. […] Es verändert seine Arbeit und was er als Künstler zu vermitteln versucht. Deshalb sage ich immer, dass die Arbeit für mich spricht. […] Ich versuche nicht, geheimnisvoll zu sein, nur um geheimnisvoll zu sein. Ich mache es für die Arbeit. Ich denke immer daran, dass es nicht gut ist, wenn man als Schauspieler zu oft in den Medien auftaucht. Wenn ich mir ein Theaterstück ansehe, gehe ich meist auch nicht hinter die Bühne. Einfach nur, weil ich das Bild behalten will, das ich gerade gesehen habe. Ich will die Illusion nicht zerstören.“| (S.165 / 166)

Al Pacino ist als Privatperson ebenso schillernd wie als Schauspieler. Die Kontraste sind augenfällig: Auf der einen Seite ist Pacino 1979 bereits ein Superstar – er hat schließlich mit seiner Rolle als Michael Corleone in Coppolas „Der Pate“ schon 1972 Filmgeschichte geschrieben. Auf der anderen Seite empfängt er Grobel in einer chaotischen 3-Zimmer-Wohnung, der jeder erkennbare Luxus abgeht. Pacino, der sich selbst aus ärmlichsten Verhältnissen emporgearbeitet hat, ist 1979 sichtlich irritiert, weil er sich mit seiner neuen gesellschaftlichen Position noch nicht wirklich arrangiert hat. Grobel repräsentiert für ihn eine fremde Welt, und er ist dementsprechend misstrauisch. Aber gleichzeitig fasziniert ihn die Tatsache, dass sich plötzlich unzählige Menschen für seine Meinung interessieren.

26 Jahre später begegnen uns zwei zusammen gealterte Freunde. Pacino, inzwischen 65 Jahre alt, sitzt am Pool seines Hause in Beverly Hills und stellt Grobel ein sehr persönliches Projekt vor: Die im Juni dieses Jahres in den USA erschienene DVD-Kollektion „Pacino: An Actor’s Vision“ [Diese Box enthält wichtige Regiearbeiten Pacinos (zwei davon bisher unveröffentlicht): „The Local Stigmatic“, „Chinese Coffee“ und „Al Pacino’s Looking for Richard“. Eine Veröffentlichung in Deutschland steht noch aus.] Im Gespräch mit Grobel wird deutlich, dass Pacino hier mit Film und Theater zwei Welten zu vereinigen sucht, die für ihn eine gleichermaßen hohe Bedeutung haben.

Aber auch Grobel geht weiterhin konsequent seiner Berufung nach. Seine Freundschaft zu Pacino hält ihn nicht davon ab, kritische Fragen zu stellen und selbst eine klare Position zu vertreten. Die Berufsrollen „Star“ und „Journalist“ werden nicht aufgehoben, eine letzte Grenze bleibt gewahrt. Doch macht es grade den Charme dieser Gespräche aus, dass sich hier zwei Menschen unterhalten, die sich – abseits jeden geschäftlichen Kalküls – wirklich etwas zu sagen haben.

So festigt sich für den Leser nach und nach ein sehr intimes Bild von der Persönlichkeit eines Menschen, der bewusst die Öffentlichkeit scheut. Die zeitlichen Lücken zwischen den einzelnen Interviews gleichen hier dramatischen Pausen. Ob Pacino nun ungewollt in eine gesellschaftliche Debatte hineingezogen wird, einen guten Freund verliert oder sich von Grobels Studenten interviewen lässt – stets finden wir mit jedem Gespräch eine neue Ausgangssituation vor.

Wenn Pacino dann über seine Arbeit spricht, vermag er zwar anhand von einzelnen Beispielen seine favorisierten Herangehensweisen an die Schauspielkunst zu illustrieren, aber was sich genau im Akt des Schauspielens manifestiert, bleibt auch ihm selbst ein Mysterium. Woraus er seine Kraft schöpft, lässt sich aber zumindest erahnen; in den Gesprächen tauchen immer wieder dieselben Motive auf. Insbesondere zwei davon erweisen sich hier als maßgebliche Inspirationsquelle: William Shakespeare und Marlon Brando. Shakespeare lieferte Pacino den Instinkt für anspruchsvollen Stoff und den Esprit, Brando den Ansporn für tiefe Charakterdarstellung.

Pacino erweist sich in den Gesprächen mit seinem Freund Grobel als intelligent, schlagfertig und humorvoll; die Gespräche sind durchgehend interessant und flüssig zu lesen.

Abgerundet wird das Buch durch eine ausführliche Einführung Grobels in das Lebenswerk Pacinos, bislang unveröffentlichte Privatfotos des Schauspielers, eine komplette Auflistung aller Filme und Theaterstücke, in welchen er mitgewirkt hat, sowie ein Vorwort des Virtuosen selbst.

Fazit: „Al Pacino: Im Gespräch mit Lawrence Grobel“ ist ein Musterbeispiel für exzellenten Journalismus. Wer sich für Film oder Theater begeistert, wird hier bestens unterhalten werden. Für Pacino-Fans ist das Buch ohnehin ein Muss.

|300 Seiten plus Fotos
Aus dem US-Englischen von Anne Litvin und Madeleine Lampe|
http://www.schwarzkopf-schwarzkopf.de

|Siehe ergänzend dazu die [Rezension 3194 von Dr. Michael Drewniok zum Buch.|

Franz Brandl – Brandls Barbuch

Franz Brandl ist eine Koryphäe auf seinen Gebiet. Er konnte bereits einen Abschluss als Barmeister vorweisen, als die Barkultur in Deutschland noch nahezu unbekannt war. Er war u.a. Barchef der „Harry`s New York Bar“ in München und des Dreisternerestaurants „Aubergine“. Ferner war er als Barmanager des „Sheraton“-Hotels tätig und veröffentlichte 1982 mit seinem „Mixguide“ einen zeitlosen Klassiker unter den Rezeptbüchern. Mit seinem „Barbuch“ hat er anschließend einen umfassenden Überblick zum Thema Barkultur geschaffen.

„Brandls Barbuch“ widmet sich dem Thema Bar im Allgemeinen, es werden also keine bereits bestehenden Bars vorgestellt. Brandl erläutert zunächst, wie das Phänomen Bar entstanden ist, und welche verschiedenen Bartypen sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben. Anschließend gibt er anschauliche Tips und Erläuterungen zu den Themen Barplanung, Bareinrichtung, Barkarte, Barutensilien, Gläserkollektion, Grundausstattung mit Getränken, Mixzutaten, Garnituren und praktischem Mixen. Dabei erläutert Brandl stets auch die klassischen Anfängerfehler und wie diese zu umgehen sind.

Der Rest des Buches beschäftigt sich mit den Getränken selbst. Die 300 (!) Rezepte zum Mixen unterschiedlicher Drinks nehmen dabei nur einen Bruchteil des Gesamtwerkes ein. Es folgt ein Getränkelexikon, welches wirklich keine (!) Frage zum Thema Geschichte und verfügbare Sorten der einzelnen Getränke offen stehen lässt. Abgerundet wird das Buch durch eine Liste der Getränkehersteller und Importeure sowie ein ausführliches Register.

Obwohl sich das Buch natürlich in erster Linie an Gastronomen richtet, kann es auch eine wertvolle Orientierungshilfe für alle sein, die mal eine private Cocktailparty geben wollen oder gar mit der Anschaffung einer eigenen Hausbar liebäugeln.

Bindung, Layout und Papierqualität des Buches sind erstklassig. Auch Brandls Sprache überzeugt – informativ, aber niemals abgehoben, anregend, aber niemals ordinär. Die dionysischen Sinnesfreuden werden hier auf höchstem Niveau vermittelt. Vollends veredelt wird das „Barbuch“ durch Bodo A. Schierens sinnliche Fotos – ein wahrer Augenschmaus, der Lust aufs Ausprobieren der einzelnen Drinks macht.

Fazit: Der Erwerb dieses Buches macht jede andere Literatur zum Thema Barbetrieb überflüssig (das Wirtschaftliche und Juristische mal außen vor gelassen). Nur wer ein handlicheres Rezeptbuch für Mixgetränke sucht, sollte lieber mit Brandls „Mixguide“ vorlieb nehmen. Man muss kein Gastronom sein, um zu erkennen, dass die „Gastronomische Akademie Deutschlands e.V.“ völlig zu Recht „Brandls Barbuch“ mit der Goldmedaille ausgezeichnet hat. Hier kommen nicht nur Freunde des gepflegten Trinkens, sondern auch Bibliophile und Ästheten im Allgemeinen voll auf ihre Kosten.

http://www.matthaes.de

Ellis, Bret Easton – Lunar Park

Auf seiner aktuellen Homepage dupliziert sich Skandalautor Bret Easton Ellis selbst. Durch sein Gesicht verläuft ein Riss; links und rechts können zwei verschiedene Vita zu ein und derselben Person eingesehen werden. Schnell wird deutlich, dass eine der beiden nicht ganz der Realität entsprechen kann – die Frage lautet nur: Welche? Was hier auf einer visuellen Ebene dargestellt wird, spiegelt bereits die Struktur seines neuen Romans „Lunar Park“ wieder.

Erfolgreiche Autoren stecken in einem ähnlichen Dilemma wie erfolgreiche Bands: Werden diese von Album zu Album immer progressiver, verschrecken sie eventuell ihre alten Fans. Sind die Unterschiede zwischen den Alben hingegen marginal, ist schnell von „Selbstkopie“ und „Ideenlosigkeit“ die Rede. Auch Ellis hatte mit seinem Debütroman [„Unter Null“ 2026 Neuland betreten, aber sowohl Stil als auch Thematik (schöne, gelangweilte Yuppies, die sich mit Sex und Drogen über ihr sinnloses Leben hinwegtäuschen wollen) wiederholten sich auch in den Folgeromanen. Zwischen „American Psycho“ und „Glamorama“ schien zuletzt nur noch der Wechsel der Dekade eine Neuerung darzustellen. Schlecht ist dieser Roman beileibe nicht, aber eben auch nicht innovativ. Es stand also durchaus zu befürchten, dass auch Ellis‘ nächster Output ein „Unter Null vol. 6“ werden würde.

Zum Glück scheint Ellis diese Problematik selbst erkannt zu haben, denn sein neues Werk bricht völlig mit „Glamorama“ & Co. „Lunar Park“ ist indes nicht nur ein Roman, sondern auch eine fiktive Autobiographie mit realen Versatzstücken. Noch nie hat Ellis seinen Figuren ein derart komplexes Innenleben verliehen. Es ist zugleich der erste Roman von Ellis, welcher in der Vergangenheit erzählt wird. Bereits nach kurzer Lektüre wird deutlich: Diesmal geht es Ellis um echte Emotionen.

Der kalte Hass aus seinen früheren Werken scheint dabei einer gemütlichen Resignation gewichen zu sein: Starautor Bret Easton Ellis durchlebt, nachdem sein früher Ruhm ihn von seinem tyrannischen Vater emanzipiert hat, eine Sinnkrise. Die Oberflächlichkeit seiner Protagonisten spiegelt sich in seinem eigenen Lifestyle wider. Drogenexzesse, prestigeträchtige Bekanntschaften mit Prominenten und selbst die eigenen Lesereisen geben ihm nichts mehr. Da entsinnt er sich der attraktiven Schauspielerin Jayne, mit der er vor etlichen Jahren einen Sohn gezeugt hat. Damals hat er die Verantwortung nicht tragen wollen, aber nun sieht er in dieser Option einen Rettungsanker. (Spätestens hier gewinnt die Fiktion überhand, da Ellis im wirklichen Leben nie Vater wurde und zudem Männer zu bevorzugen scheint.)

Jayne verzeiht ihm, sie heiraten und besorgen sich ein Familienhaus in einem ruhigen Vorort. Ellis erhält eine Dozentenstelle bei einer Universität und versucht sich daran, seine Frau und seinen Sohn Robby kennen zu lernen. (Konflikte sind dabei natürlich vorprogrammiert.) Parallel dazu verdichten sich Anzeichen dafür, dass es im Haus und in Ellis näherer Umgebung spukt: Möbel verändern über Nacht ihre Position, Robbys Spielzeug „Terby“ scheint ein Eigenleben zu entwickeln, Kinder verschwinden in der Nachbarschaft und der PKW von Ellis` verstorbenem Vater taucht immer wieder auf.

Außerdem meint Ellis, seinen berüchtigtsten Protagonisten – Patrick Bateman – wirklich gesehen zu haben. Diese Figur ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Person Bret Easton Ellis. Wer „Lunar Park“ wirklich verstehen will, sollte daher mindestens [„American Psycho“ 764 zuvor gelesen haben. Patrick Bateman spiegelt nicht nur die seelischen Abgründe seines Schöpfers wider, er hat auch dafür gesorgt, dass Ellis mit extremen Anfeindungen (teilweise sogar Morddrohungen) konfrontiert wurde. In „Lunar Park“ zieht Ellis daher für alle, die „American Psycho“ nicht verstanden haben, Bilanz:

|“[Niemand] draußen in der wirklichen Welt war so verrückt und grausam wie diese Kunstfigur. Davon abgesehen war Patrick Bateman ein notorisch unglaubwürdiger Erzähler, und wenn man das Buch tatsächlich las, konnten einem durchaus Zweifel kommen, ob die geschilderten Verbrechen wirklich passiert waren. Es gab genügend Hinweise, dass sie nur in Batemans Phantasie existierten. Die Morde und Folterungen waren bloße Phantasien, in denen sich seine Wut und sein Zorn darüber entluden, wie das Leben in Amerika beschaffen war, in dem er sich trotz seines Wohlstands gefangen fühlte. Die Phantasien waren eine Flucht. Diese Idee lag dem Buch zugrunde.“| (S.190)

„Lunar Park“ ist ein literarisches Experiment. Einer seiner altbewährten Techniken bleibt Ellis jedoch treu: Der Vermischung verschiedener Realitäts- bzw. Fiktionsebenen. Nun erklärt er aber erstmals, was ihn dazu immer wieder motiviert:

|“Die physische Existenz eines Schriftstellers ist im Grunde eine statische, und um gegen diese Einschränkung anzukämpfen, müssen wir jeden Tag eine Gegenwelt und ein anderes Ich konstruieren.“| (S.227)

Das Schreiben ist für ihn also eine existenzielle Notwendigkeit. Der Plot des Romans tritt denn auch recht schnell in den Hintergrund. Das, was hier wirklich zählt, sind Bilder, die Gefühle transportieren. Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, konnte auch im Nihilismus der früheren Romane stets ein ironisches Augenzwinkern entdecken. „Lunar Park“ geht aber über die reine Kritik des Zeitgeistes hinaus. Das Verwischen der Grenze zwischen Schriftsteller und Werk ist zwar in der Geschichte der Literatur kein wirkliches Novum, wird hier aber einer erfrischenden Neuinterpretation unterzogen:

|“Ich lebte in einem Film, in einem Roman, im Traum eines Idioten, den ein anderer schrieb, und ich war langsam erstaunt – überwältigt davon -, wie ich mich verfranst hatte.“| (S.291)

|“Der Schriftsteller fand mich unsympathisch, weil ich versuchte, nach einem vorgefassten Plan vorzugehen. […]
Der Schriftsteller verlangte nach Chaos, Geheimnis, Tod. Daraus bezog er seine Inspiration. […] Der Schriftsteller wollte, dass Patrick Bateman wieder in unser Leben trat. Der Schriftsteller hoffte, die schiere Entsetzlichkeit des Ganzen würde mich aus meiner Lethargie reißen.
Ich war an einem Punkt, wo ich bei allem, was der Schriftsteller wollte, einfach nur Schuldgefühle hatte.“| (S.321)

Einige Rezensenten haben angemerkt, der „Horror“-Anteil von Lunar Park sei nicht überzeugend, sondern eher unfreiwillig komisch. Damit haben sie zwar nicht Unrecht, aber diese Kritik geht am Thema vorbei. Ellis wechselt mit „Lunar Park“ keineswegs das Genre; er fügt seiner Palette lediglich ein paar neue Farben hinzu. Die „Hommage“ an Stephen King – das Element des Phantastischen – soll folgerichtig nicht nur unterhalten, sondern vor allem einen Einblick in die Psyche des Schriftstellers gewähren.
Stephen King selbst hat einmal in einem Interview angemerkt, Gespenster seien für ihn ein Symbol für ungelöste Probleme. Und siehe da: Das Thema „ungelöste Probleme zwischen Vater und Sohn“ zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Handlung des Romans.

Die Antwort auf die Frage „Wer ist das Gespenst?“ scheint dabei zunächst offensichtlich: „Natürlich, es muss Ellis Senior sein!“ Nach und nach kommen aber Zweifel auf. Ist es vielleicht doch der Sohn von Ellis, welcher denselben Namen wie sein Großvater (Robert) trägt? Aber Robert Ellis Jr. ist fiktiv – also doch Bret selbst? Welcher Bret könnte es dann aber sein? Der Privatmensch? Der Schriftsteller? Der Schriftsteller in der Fiktion? Der fiktive Schriftsteller in der Fiktion des fiktiven Schriftstellers? Alle Figuren zusammen? Keine von ihnen?

Zuletzt kulminiert die Geschichte wieder – entgegen dem Vorsatz, mit dem Ellis sie eingeleitet hat – in eine endlos verschachtelte Satzkonstruktion. Der letzte Absatz jedoch gehört zu dem Schönsten und Ergreifendsten, was ich je gelesen habe. Bret Easton Ellis war bisher dafür bekannt, die Oberflächlichkeit als literarisches Stilmittel perfektioniert zu haben. Nun aber ist es ihm irgendwie gelungen, alle Bedeutungs- bzw. Fiktionsebenen (mitsamt der ihnen innewohnenden Sehnsucht) seines Gesamtwerkes in einem einzigen Begriff zu vereinen: Lunar Park.

Williams, Tad – Shadowmarch: Die Grenze

Tad Williams gehört definitiv zu den anspruchsvollsten Fantasy-Autoren der Gegenwart. Insbesondere sein Epos um die Welt Osten Ard ist ein Juwel in der Veröffentlichungsflut, welches durch glaubwürdige Figuren und einen stimmigen Plot sowie liebevoll ausgearbeiteten Hintergrund besticht. Während andere Autoren oft nicht über das bloße Aneinanderreihen von Textbausteinen und Stereotypen hinauskommen, scheint Osten Ard vor Leben geradezu zu pulsieren. Mag J.R.R. Tolkien aufgrund seiner Fachkompetenz in Sachen Philologie und nordischer Mythologie auch der tiefere Weltenschöpfer gewesen sein – Williams hat ein besseres Gespür für die Grauschattierungen der menschlichen Seele.

Sein nächster großer Wurf – die „Otherland“-Saga – ist zwar ungleich populärer, hat mich aber persönlich weniger überzeugen können. Das Grundkonzept (ein virtuelles Multiversum aus fantastischen Einzelwelten) hätte an sich bereits völlig ausgereicht, um eine gute und frische Story zu produzieren. Williams hat aber mehr gewollt – und „Otherland“ letztlich mit einer zweistelligen Anzahl von Hauptfiguren und Nebenplots völlig überfrachtet. Da ist von der lesbischen, aus Australien stammenden Polizistin griechischer Herkunft bis zum schwulen schwarzen Butler aus Südafrika alles dabei, und spätestens ab der Mitte der Story hat Williams deutliche Schwierigkeiten, die einzelnen Handlungsfäden zu verknüpfen. Das zeigt sich zum einem an den immer rasanter folgenden Szenenwechseln und zum anderen an den Schlussdialogen, welche alles aufklären müssen, was Williams bis zum Showdown nicht fertig bekommen hat. Unterm Strich weist die Reihe dennoch eine überdurchschnittliche Qualität auf, was erahnen lässt, welches schriftstellerische Potential noch in diesem Autoren schlummert.

Umso mehr freue ich mich, dass Williams mit seinem nächsten Projekt „Shadowmarch“ wieder in die Fantasy-Gefilde zurückgekehrt ist. Ursprünglich hat Williams die Geschichte als TV-Serie konzipiert, was sich narrativ immer noch in der Wahl eines dominierenden Schauplatzes (der „Südmarkfeste“) widerspiegelt. Nachdem das TV-Projekt scheiterte, wollte Williams zunächst Pionierarbeit leisten, indem er den Beginn von „Shadowmarch“ als Fortsetzungsroman im Internet publizierte. Die Leser sollten gegen Bezahlung den Roman abonnieren, d.h. in bestimmten Abständen neue Kapitel übers Netz erhalten. Aber auch dieser zweite Anlauf ist letztlich gescheitert (wiewohl sich aus http://www.shadowmarch.com eine lebendige, bis heute bestehende Online-Community entwickelt hat), weshalb die Geschichte nun als reguläre Buchreihe erscheint.

Auf der ersten Innenseite des Einbandes prangt (wie schon beim „Drachenbeinthron“) eine Karte, welche die neu von Williams ersonnene Welt auszugsweise darstellt. Im Wesentlichen spielt sich die Handlung zunächst auf dem Kontinent „Eion“ ab; vom südlichen Kontinent „Xand“ ist nur die Nordspitze zu sehen. Eion ist erst vor vergleichsweise kurzer Zeit (wenige Jahrhunderte) von Menschen besiedelt worden, während Xand seit Jahrtausenden durch das Imperium von Xis beherrscht wird.

Die fiktive Hochkultur der Xander wurde offensichtlich durch die Reiche der alten Ägypter und südamerikanischen Indianer inspiriert. Von den Eionern erfahren wir leider wenig außer der Tatsache, dass sie Polytheisten sind, sich auf verschiedene Königreiche bzw. „Marken“ verteilen und technologisch irgendwo an der Schwelle zur Renaissance stehen. Die „Südmark“ und die „Markenlande“ scheinen kulturell aber eher „abendländisch“ zu sein, während „Hierosol“ einen leicht maurischen Touch hat.

Zwischen den beiden Kontinenten herrschte lange Zeit Funkstille, aber dieser Zustand ist nun im Wandel begriffen. Der neue Autarch, eine Art Gottkönig der Xander, scheint seine Kräfte für eine mögliche Invasion von Eion zu mobilisieren. Aber auch die geheimnisvollen Ureinwohner von Eion, welche über die Jahrhunderte hinweg systematisch von den Menschen verfolgt wurden, rühren sich wieder. Die so genannten „Qar“ haben sich schließlich in die „Zwielichtlande“ im Norden von Eion zurückgezogen und einen magischen, schattigen Nebel erzeugt, welcher Menschen in den Wahnsinn treiben kann. Solcherart vor weiteren Angriffen geschützt, haben die Qar eine bislang fixe „Schattengrenze“ gesetzt.

Diese „Schattengrenze“ des geheimnisvollen Nebels bewegt sich nun aber immer weiter auf die Südmarkfeste zu – grob vergleichbar mit dem „Nichts“ aus Michael Endes „Unendliche Geschichte“, welches sich langsam durch Phantásien zum Elfenbeinturm der Kindlichen Kaiserin durchfrisst.

Die politische Ausgangslage ist somit für die Menschen der Südmark und der Markenlande – der Heimat der eionischen Protagonisten – denkbar ungünstig: Vom Norden her droht das „Elbenvolk“ der Qar, welches seinen ursprünglichen Mutterboden (inklusive der Südmarkfeste) wieder zurückerobern will. (Kenner der „Osten Ard“-Saga werden hier Parallelen zum Hochhorst und den ebenfalls vertriebenen Elbenvölkern der Nornen und Sithi sehen.) Vom Südkontinent Xand aus infiltrieren bereits Handlanger des Autarchen die Südmarkfeste. Die Bewohner dieser Burg müssen sich also eventuell auf einen Zweifrontenkrieg gefasst machen – was für sie zugleich der erste große Krieg seit Jahrhunderten wäre.

Als wäre das nicht bereits genug, liegt die Königsfamilie der Südmarkfeste auch noch mit dem benachbartem Königreich Hierosol im Clinch. Der König von Hierosol hat König Olin von der Südmarkfeste entführen und inhaftieren lassen, so dass Südmark und Markenlande nun ohne ihr Staatsoberhaupt auskommen müssen. Die vakante Stelle wird zunächst behelfsmäßig von Kendrick, Olins ältestem Sohn, besetzt. Der Prinz ist dieser Verantwortung jedoch nicht gewachsen und schlittert unaufhaltsam auf eine Katastrophe zu.

Kendrick wird durch eine unbekannte Person ermordet, aber es gibt bereits einen Hauptverdächtigen: Der persönliche Kampftrainer der Königskinder, welcher sich aber aufgrund eines persönlichen Schwurs nicht selbst entlasten kann. Die Südmarkfeste fungiert nun als begrenzter Schauplatz, und Williams fügt der Handlung ein typisches „Who dunnit?“-Motiv à la Agatha Christie hinzu.

Da die alte Königin tot und Olins aktuelle Gemahlin hochschwanger ist, bleiben nur noch die Zwillinge Barrick und Briony – Kendricks jüngere Geschwister – in der Thronfolge übrig. Der Prinz und die Prinzessin sind grade mal fünfzehn Jahre alt, was nicht unbedingt für eine Steigerung im Vergleich zu Kendricks Politik zu sprechen scheint. Zwar werden die beiden Protagonisten vermutlich dennoch ihren Weg irgendwie meisten (wie man das von Wiliams leidgeprüften Helden eben kennt), aber dafür verhalten sie sich auch nicht glaubhaft wie Fünfzehnjährige.

Die Zwillinge sind permanent mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, weshalb der oben beschriebene Plot dann doch nicht wirklich in die kriminalistische Richtung geht. Zwar finden die beiden nach und nach heraus, dass jeder in der Burg sein eigenes Süppchen kocht, aber sie „ermitteln“ nicht. Briony etwa verbucht die Ermordung ihres älteren Bruders einfach unter „sehr verwirrend“ und wendet sich persönlichen Machtkämpfen am Hof zu. Barrick wiederum kränkelt während des Großteils der Handlung; am Ende führt er als Feldherr die Schlacht gegen die Qar.

Das größte Rätsel der Geschichte besteht vorerst in dem Auftauchen eines kleinen Jungen, welcher aus den Zwielichtlanden „angespült“ worden zu sein scheint – und darüber sein Gedächtnis verloren hat. Wie wir aus dem Prolog erfahren, wurde er wohl vom König der Qar selbst in das Reich der Menschen zurückgeschickt. Er trägt ein geheimnisvolle Artefakt bei sich und soll später bei einem mysteriösen „Spiegelpakt“ eine wichtige Rolle spielen. Zunächst wird er aber von einem alten Funderlings-Pärchen in der Nähe der Südmarkfeste quasi adoptiert.

Das politische Intrigenspiel in der Südmarkfeste ist bei Williams – soweit mir bekannt – etwas Neues. Zwar nimmt es keine Ausmaße wie z.B. in Frank Herberts „Dune“-Zyklus an, aber es fügt der Story auf jeden Fall ein paar interessante Aspekte hinzu. Ansonsten bleiben die meisten Figuren jedoch etwas farblos, weil Williams den Hintergrund diesmal weniger detailverliebt und eher skizzenhaft beschreibt.

Eine schöne Ausnahme ist hier jener Nebenplot, welcher sich in Xand abspielt. Die dekadent-exotische Gesellschaft am Hofe des Autarchen wirkt im Vergleich zu den Schauplätzen von Eion deutlich plastischer. Insbesondere die Beschreibung des riesigen Haremkomplexes (inklusive transsexueller Eunuchen), welchen der Autarch sein eigen nennt, hat mir sehr gut gefallen.

Interessant ist aber auch das Volk der Qar, welches nicht viel mit den traditionellen Fantasy-Elben zu tun hat. Tatsächlich ist „Qar“ nur ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Völkern, welche allerdings alle demselben Königspaar unterstehen. Williams hat sich hier wohl von den keltischen Feen-Geschichten inspirieren lassen. Somit kopiert er im Gegensatz zu vielen anderen Autoren Tolkien nicht, sondern schöpft aus derselben Quelle wie dieser.

Die anderen Völker – u.a. Däumlinge bzw. „Dachlinge“ und kleine Bergarbeiter namens „Funderlinge“ – wirken weniger mystisch, sondern eher blass. Aber vielleicht wird sich das ja in den Folgeromanen noch ändern.

Tad Williams schreibt aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers, weshalb im Text Dialoge und innere Monologe dominieren. Leider merkt man Williams an dieser Stelle an, dass er längst mit dem Schreiben seine Brötchen verdient. Das Handwerk beherrscht er aus dem Effeff – gute Unterhaltung ist somit garantiert.

Das Konzept „viele Figuren mit vielen Problemen = viel Handlung“ wird mir aber etwas zu routiniert abgehandelt. Das „gewisse Etwas“ fehlt hier noch, weil die Figuren diesmal zu leicht zu durchschauen sind. Früher hat es bei Williams immer recht lange gedauert, bis überhaupt klar war, wo die einzelnen Figuren bezüglich ihrer wahren Motive und ihrer Bedeutung für die Handlung eigentlich stehen. Abgesehen davon ist auch die Sprache des Romans etwas verflacht, was aber auch an der Übersetzung liegen kann.

Alles in allem kann ich den ersten Teil von „Shadowmarch“ durchaus empfehlen. Williams-Fans sollten aber lieber ihre Erwartungen nicht zu hoch schrauben. Ich persönlich bin gespannt auf den nächsten Teil, aber ich bin etwas skeptisch, ob Williams hier an die alten Erfolge wirklich anknüpfen kann. Der erste Teil von „Shadowmarch“ ist für sich betrachtet sicherlich immer noch überdurchschnittlich gute Fantasy, aber mit Sicherheit kein Meisterwerk. Ich hoffe, dass Williams sich für die nächsten Romane mehr Zeit nehmen wird.

http://www.tadwilliams.de/

Thorsson, Edred – Neun Tore von Midgard, Die

Dr. Stephen Flowers ist in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung – als germanophiler Amerikaner, als Wissenschaftler und auch als Vordenker des westlichen [Pfades zur Linken Hand.]http://de.wikipedia.org/wiki/Pfad__zur__linken__Hand Nach einem Studium der germanischen und keltischen Philologie unter Prof. Edgar Polomè erhielt er 1984 mit seiner Dissertation „Runes and Magic: Magical Formulaic Elements“ (welche später auch in Buchform publiziert wurde) den Doktortitel. Seine akademischen Publikationen scheinen eine überwiegend positive Resonanz zu erfahren: So bestätigt etwa der deutsche Runenexperte Klaus Düwel (welcher sich im Vorwort seiner Abhandlung „Runenkunde“ explizit von jedweder „Esoterik“ distanziert), Flowers habe eine „für runologische Arbeiten brauchbare Bestimmung von Magie“ vorgelegt.

Flowers begnügt sich indes nicht nur mit der Entwicklung wissenschaftlicher Paradigmen: Unter dem Pseudonym Edred Thorsson hat er eine Reihe von Büchern über Runen und „germanische“ Magie verfasst, welche in der „neuheidnischen“ Subkultur ebenfalls einen guten Ruf genießen. Flowers verfolgt eine holistische Strategie – er will die germanische Tradition sowohl auf säkularer als auch auf religiöser Ebene kommunizieren und wiederbeleben.

|“Das jüdisch-christliche Denksystem war sehr dazu geeignet, auf solche Art säkularisiert zu werden, dass man es in ein Modell für moderne politische und ökonomische Theorien umwandeln konnte. […] Judentum und Christentum können von der etablierten akademischen Welt toleriert werden, weil man sie betrachten kann als theoretische Prototypen des materialistischen und positivistischen Modells, das nun im westlichen Denken vorherrscht. Frühere traditionelle Modelle werden weniger als eine Bedrohung der Religion als vielmehr der monolithischen politischen und wirtschaftlichen Ordnung gesehen. […] Eindeutig rührt die Feindseligkeit gegenüber jenen, die einen Wert in vorchristlichen Modellen erkennen, nicht aus der religiösen Seite der Debatte, sondern eher aus der säkularen Bedrohung, die der Traditionalismus für die gegenwärtige politische Ordnung darstellt. Was hier nötig erscheint, ist eine Kampagne für die Umerziehung der akademischen Welt, um zu zeigen, dass die idealisierte Zukunft viel wahrscheinlicher auf dem Mosaik vorchristlicher Traditionen basieren wird als auf dem monolithischen christlichen Vorbild. […]
[Es gab] eine Zeit, da „heidnisches Wissen“ etwas bedeutete, das von Anfang an streng war und sich allmählich in höhere Bereiche des im alltäglichen Unaussprechlichen entwickelte. „Christlicher Glaube“ war etwas, das im Gegensatz zu „heidnischem Wissen“ stand, und wurde von Anfang bis Ende des Prozesses durch Subjektivismus und endlose Anrufungen unverfizierbarer Autoritäten geprägt. Auf diese Weise kann man sehen, wie der typische „New Ager“ oder „Wicca“-Anhänger (sic) in paradigmatischer Hinsicht dem ursprünglich christlichen Denkmodell viel näher steht als der durchschnittliche „gläubige“ Christ von heute. Ernsthafte christliche Seminaristen kämen nie auf den Gedanken, das Studium des Lateinischen, Griechischen und Hebräischen zu ignorieren, doch die vielen Anwärter auf eine „Priesterschaft“ im heutigen Àsatrù glauben, es sei unnötig, die altnordische Sprache zu erlernen. Es ist bemerkenswert, wie viele Menschen noch nicht einmal die Orthographie ihres vermeintlich „nordischen Namens“ richtig hinbekommen!“|

[Aus einem Interview mit Michael Moynihan in der Ausgabe Nr. 6 / 2003 des ZINNOBER]

Kontroversen sind angesichts einer solchen Position natürlich vorprogrammiert. Ein „heidnisches“ Äquivalent zur christlichen Theologie, wohlmöglich noch als anerkannter Studiengang an einer Universität – viele werden dies als spinnerte Utopie abtun. Doch ist die Bibelexegese eines Theologen nur deswegen seriöser, weil SEINE Tradition auf jüdischem Monotheismus und hellenischer Metaphysik aufbaut? Schließen sich neuheidnische Ideen und wissenschaftlicher Anspruch zwangsläufig aus? Flowers‘ Argumentation scheint mir hier durchaus plausibel zu sein: Es ist NICHT auf die Position der christlichen Theologie in unserer Gesellschaft zurückzuführen, dass Àsatrù & Co. gemeinhin mit dem Etikett „Esoterik“ versehen und somit aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen werden.

Zwei andere Faktoren sind hier tatsächlich von entscheidender Bedeutung: Erstens, der Unwille vieler Wissenschaftler, sich des christlichen Ursprungs vieler ihrer säkularen Überzeugungen bewusst zu werden und ihr Weltbild dementsprechend zu modifizieren. Zweitens, der Unwille vieler Neuheiden, ihre Überzeugungen den Standards des wissenschaftlichen Falsifikationsprinzips anzugleichen. Wer sich aber weigert, den Anforderungen der Wissenschaftlichkeit Rechnung zu tragen, muss sich nicht wundern, wenn seine persönlichen Überzeugungen von der restlichen Gesellschaft als Unsinn abqualifiziert werden. „Ernsthafte“ Neuheiden sind für Flowers keine Gläubigen, sondern Suchende.

1979 gründet Flowers seine eigene initiatorische Gruppe, die Rune-Gild, welche sich der ernsthaften Erforschung des inneren Erlebens innerhalb der indoeuropäischen Tradition im Allgemeinen und der germanischen Tradition im Besonderen verschreibt. „Okkultisten“, welche ihre Praxis nicht auf harte Fakten stützen wollen, sind in der Gilde nicht willkommen. Jeder neue Adept muss sich zunächst als Lehrling bewähren, bevor er seine Gesellenprüfung absolvieren und schließlich sein persönliches „Meisterstück“ anfertigen darf. Erst wenn er oder sie all diese intellektuellen und spirituellen Hürden genommen hat, darf er oder sie sich als „Runenmeister“ bezeichnen.

„Die Neun Tore von Midgard“ wurden ursprünglich als exklusiver Lehrplan für die Mitglieder eben dieser Runengilde entwickelt. Mittlerweile hat Flowers diesen Lehrplan aber auch öffentlich zugänglich gemacht, und im |Arun|-Verlag ist nun auch die deutsche Übersetzung erschienen.

Flowers selbst ist darüber übrigens so erfreut, dass er es sich nicht nehmen ließ, ein zusätzliches Vorwort für die deutsche Ausgabe zu verfassen. Der „Geist“ des Buches sei nun nach Hause gekommen: „Die viel gepriesenen deutschen Neigungen zu Gründlichkeit und Disziplin, verbunden mit dem nun meist vergessenen deutschen Drang zu Idealismus und heldenhafter Bemühung, liegen der ursprünglichen Vision des Buches zugrunde.“ Kein Kommentar … 😉

Was bringt ein solcher Lehrplan nun Nichtmitgliedern der Gilde? Zunächst einmal einen kohärenten, in dieser Form völlig neuen Überbau für Neuheidnisches Denken. Im Gegensatz zu Àsatrù & Co. strebt Flowers keine Wiederbelebung des Polytheismus an, sondern führt den Begriff des „Odianers“ ein:

„Odianer meint, im Gegensatz zur Bezeichnung Odinist, jemanden, der den Gott Odin (Wodan) nicht anbetet, sondern ihm vielmehr nacheifert. Der Odinist betet an, der Odianer wird selbst zu ihm. Dies ist die wahre Natur des Odinkultes. Der Odianer sucht keine Vereinigung mit Odin, sondern mit seinem einzigartigen Selbst. Dies ist die fromme Aufgabe von Odin selbst. Wenn wir danach streben, unser Selbst irgendeiner anderen Macht zu unterwerfen, wird Odin das mit Sicherheit nur erbärmlich finden. Wahre Odianer gibt es nur wenige.“

An dieser Stelle ist es vielleicht hilfreich zu wissen, dass Flowers in gutem Kontakt zu Michael Aquino und Don Webb vom Temple of Set steht. Man könnte „Odianer“ und „Odin“ ebenso gut durch „Setianer“ und „Set“ oder „Satanist“ und „Satan“ austauschen. „Odin“ ist in diesem Kontext als Archetyp des „Fürsten der Finsternis“ bzw. der „Isolierten Intellegenz“ zu betrachten, wie ihn etwa Don Webb in seinem [„Uncle Setnakt’s Essential Guide to the Left Hand Path“ 278 beschreibt.

Flowers Festlegung auf das „germanische“ Paradigma ist aber durchaus ernst gemeint: Wer sich die Mysterien der Neun Tore wirklich erschließen möchte, dem empfiehlt Flowers eindringlich, sich für dieses Vorhaben a) mindestens ein oder zwei Jahre Zeit zu nehmen und b) es auf keinen Fall „in ein unübersichtliches Wirrwarr alternativer Ideen“ einzureihen.

Wer sich dazu entschließt, die „Neun Tore von Midgard“ tatsächlich für seine eigene Praxis zu verwenden, sollte sich allerdings darüber im Klaren sein, dass Flowers / Thorsson hier keineswegs das Paradigma der altnordischen Magietradition eins-zu-eins rekonstruiert – dafür ist der wissenschaftliche Erkenntnisstand einfach zu lückenhaft. Vielmehr versucht er, auf den gesicherten Fakten aufzubauen und sie durch eigene Erfahrungen zu ergänzen. Im Prinzip bleibt ihm ja auch nichts anderes übrig, da wir die Zeit nicht einfach um 1000 Jahre zurückdrehen können.

Der Großteil der einzelnen „Tore“ bzw. Kapitel widmet sich der Übung ritueller Techniken. Zusätzlich vermittelt Flowers aber auch einige Anleitungen zur Herstellung persönlicher Utensilien. Aber auch wer sich aus bestimmten Gründen nicht diesen praktischen Übungen widmen möchte, profitiert dennoch von Flowers theoretischen Grundsatzerklärungen und den zahlreichen Lektüreempfehlungen.

Alles in allem wird dieses Buch vermutlich nur wenige Leute dazu anregen, seine Inhalte von A bis Z praktisch umzusetzen – dafür ist es einfach zu straight und fordernd, zumal ja der gemeine Leser nicht auf die Unterstützung der Gilde zurückgreifen kann. Hinzu kommt, dass Flowers auf seinem Gebiet keine wirkliche Konkurrenz hat. Das spricht zwar einerseits für die Qualität der „Neun Tore von Midgard“, sollte aber andererseits nicht dazu führen, dass man jede seiner Thesen kritiklos als Gesetz akzeptiert.

Wer sich für Flowers Runengilde interessiert, kann unter http://www.runegild.org weitere Informationen einholen.

Mader, Matthias – Over the Top – Das Motörhead-Fanbuch

Neben dem primär auf die Person Lemmy Kilmister ausgerichteten [„Lemmy – White Line Fever“ 954 hat der Verlag |Iron Pages| ein Buch herausgebracht, welches sich mit dem Gesamtphänomen MOTÖRHEAD beschäftigt: „Over the Top – Das Motörhead-Fanbuch“ von Matthias Mader. Mader hat mit „Burning Ambition“ bereits ein „Fanbuch“ zu IRON MAIDEN im selben Verlag herausgebracht und möchte dieses Prinzip nun mit „Over the Top“ fortsetzen.

Zum Inhalt: Mader beginnt nach einem zweiseitigen „ultimativen Quiz für alle MOTÖRHEAD-Kenner“ sofort mit einer einleitenden Rechtfertigung seines Werkes. Zum einen sei der deutsche Markt nicht wirklich offen für MOTÖRHEAD-Biographien aus dem Ausland, und andere deutschsprachige Publikationen zu diesem Bereich seien bis dato nicht „zusammenhängend“ gewesen. Zum anderen sei gerade das Buch „White Line Fever“ ein Produkt der „The Osbournes“-Ära und somit nicht „seriös“. Diese Kritik mutet ein wenig seltsam an, da die deutsche Edition von „White Line Fever“ im selben Verlag wie „Over the Top“ erschienen ist, auf S. 41 ganzseitig beworben wird und obendrein von Lemmy persönlich autorisiert wurde. Man könnte meinen, Mader würde seine Fachkompetenz, was MOTÖRHEAD betrifft, über die von Lemmy selbst stellen. Starker Tobak, zumal Mader eine solche Selbstbeweihräucherung eigentlich gar nicht nötig hätte – „Over the Top“ weiß durchaus aus sich selbst heraus zu überzeugen.

Neben dem Prolog gliedert sich das Buch in sechs weitere Teile. „Teil 2: Die Bandhistory“ beleuchtet zunächst den Werdegang von MOTÖRHEAD, Lemmys Interesse am III. Reich, das freundschaftliche Verhältnis zwischen MOTÖRHEAD und den RAMONES sowie Lemmys Berührungen mit der Filmbranche. Maders Wiedergabe der Bandgeschichte bietet im Grunde das, was bei „White Line Fever“ gefehlt hat: Fakten, Fakten, Fakten in einer chronologisch sinnvollen Reihenfolge. Einige Zitate werden dabei (wie im folgenden Textverlauf auch) noch einmal gesondert in grauen Kästchen hervorgehoben. Dieses Verfahren kenne ich sonst nur aus Zeitschriftenartikeln. Wirklich stören tut es den Textfluss m.E. nicht, aber es trivialisiert das Ganze ein wenig. „Lemmys Faszination mit dem [sic!] II. Weltkrieg“ ist eine erfreulich unaufgeregte Darstellung der Fakten. Wer nach der Lektüre immer noch meint, Lemmy eine rechtsradikale Gesinnung attestieren zu müssen, disqualifiziert sich im Grunde nur selbst. Das Verhältnis zwischen MOTÖRHEAD und den RAMONES wird kurz, aber anschaulich beschrieben. Ich habe MOTÖRHEAD selbst live gesehen und kann daher aus eigener Erfahrung bestätigen, dass der Tod von Joey und Dee Dee (Johnny lebte damals noch) für Lemmy ein großer persönlicher Verlust ist. Schließlich folgt eine Reihe von Kurzbesprechungen sämtlicher Filme, in welchen Lemmy mitgespielt hat. Diese Besprechungen entsprechen natürlich Maders persönlichen Präferenzen. Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten, aber weshalb „Airheads“ im Vergleich zu „Eat the Rich“ „platt“ und „langweilig“ sein soll, entzieht sich völlig meinem Verständnis.

In Kapitel Nr. 3 beschreibt Mader en detail, wer wann wo und wie bei MOTÖRHEAD musikalisch mitgewirkt hat, und was für andere Projekte diese Personen verfolgt haben. Inhaltlich gibt es hier nichts zu meckern. Die Frage ist nur, ob und inwiefern man sich für diese Detailfülle begeistern kann.

Kapitel Nr. 4 besteht aus vier O-Ton-Interviews. Zunächst kommen wir in den Genuss eines dreiseitigen Interviews aus dem Jahre 1998, welches Mader mit Lemmy himself geführt hat. Das Hauptthema ist wieder einmal „deutsche Geschichte“. Danach folgt ein längeres Interview mit Fast Eddie Clarke aus dem Jahre 2003, wiederum von Mader geführt. Dieses Interview ist insbesondere deswegen interessant, weil die Gleichung MOTÖRHEAD = Lemmy Kilmister eben nicht aufgeht. Nachdem die Perspektive der Band dergestalt zum Tragen gekommen ist, folgt wieder ein Interview aus dem Jahre 2003, diesmal mit Jörn Rüter von Remedy Records bzw. TORMENT. Rüter ist sowohl Fan als auch Experte und steht mit MOTÖRHEAD in persönlichem Kontakt. Auch hier erwartet den Leser wieder eine Menge Insiderwissen. Zuletzt folgt ein Interview mit dem Hamburger Underground-Filmemacher Peter Sempel. Sempel ist auf Musikfilme spezialisiert und hat mit „Lemmy“ ein filmisches Portrait des selbigen gedreht.

Es folgt mit Kapitel Nr. 5 eine ausführliche Katalogisierung der wichtigsten MOTÖRHEAD-Cover und Tribut-Alben. MOTÖRHEAD-Fans, die musikalisch aufgeschlossen sind, kommen hier sicherlich auf ihre Kosten.

Kapitel Nr. 6 wurde von einem gewissen Ralf Hartmann verfasst und beinhaltet eine Auflistung sämtlicher MOTÖRHEAD-Bootlegs (von denen es tatsächlich nicht allzu viele gibt). Für Sammler eine unentbehrliche Checkliste und wahre Fundgrube.

Das Buch schließt mit einem ausführlichen Quellenverzeichnis. Zwar hat Mader nicht wissenschaftlich (ohne Fußnoten) gearbeitet, aber anhand dieser Auflistung müssten sich die meisten seiner Aussagen überprüfen lassen (wenn es einem der Aufwand wert ist).

Mein Gesamteindruck: Der Schreibstil von Matthias Mader ist soweit okay und der Thematik angemessen, sofern man von seinem inflationären Gebrauch des Ausrufezeichens absieht. Bindung und Papierqualität sind aber – wie schon bei „White Line Fever“ – angesichts des Preises von 18,60 Euro eine absolute Frechheit. Wenn der Verlag |Iron Pages| „Over the Top“ schon als „Fanbuch“ etikettiert, dann sollte er m.E. auch eine entsprechende Preispolitik betreiben.

Letztendlich kommen aber die absoluten MOTÖRHEAD-Maniacs an dieser Ansammlung geballten Fachwissens nicht vorbei. Alle anderen sollten vielleicht mal einen Blick riskieren. „Over the Top“ ist dabei keinesfalls als Konkurrenz zur Quasi-Autobiographie „White Line Fever“ zu sehen, da die beiden Bücher völlig verschiedene Bereiche („Infotaimnent“ respektive „Rockstarmythos“) abdecken. Tatsächlich ergänzen sich die beiden Bücher gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Betrachtungsweisen des motörheadschen Paralleluniversums hervorragend. Wer also bereit ist, knapp 40 Euro zu investieren, erhält dafür ein MOTÖRHEAD-Kompendium, welches (inhaltlich) keine Wünsche offen lässt.

Fraser, Ian (Kilmister, Lemmy) / Garza, Janiss – Lemmy – White Line Fever

Ian Fraser Kilmister, besser bekannt als „Lemmy“, ist ein (wenn nicht sogar DAS) Urgestein der Rock- und Metalszene. Er wurde am Heiligabend 1945 in Burslem, England geboren und sammelte bereits in jungen Jahren musikalische Erfahrungen bei Bands wie den ROCKING VICARS, OPAL BUTTERFLY und HAWKWIND, bevor er sich ab 1975 als Frontmann von MOTÖRHEAD maßgeblich an der Erfindung des Metal beteiligte. Vielleicht kennt ja der eine oder andere unter euch noch den Gag aus dem Film „Airheads“:

„Wer würde beim Wrestling gewinnen: Lemmy oder Gott?“
„Lemmy?“
„Möööp!“
„Äh, Gott!“
„Falsch! Fangfrage. Lemmy IST Gott.“

Man muss nicht unbedingt ein Fan von MOTÖRHEAD sein, um das Lebenswerk von Lemmy Kilmister würdigen zu können. Ich persönlich habe ein paar Favoriten wie „Born To Raise Hell“, „Killed By Death“ oder das grandiosen Cover von „God Save The Queen“, aber für den entsprechenden Nostalgie-Faktor bin ich wahrscheinlich zu spät geboren worden, und bei den meisten MOTÖRHEAD-Songs fehlt mir einfach die Härte. Nichtsdestotrotz hat Lemmy Musikgeschichte geschrieben, wobei er stets bodenständig geblieben ist und trotz seines exzessiven Lebensstils so manchen Rockstar überlebt hat. Zudem haben sich MOTÖRHEAD niemals dazu verleiten lassen, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen (wie etwa GUNS N‘ ROSES) oder einfach nur aus finanziellen Gründen weiterzumachen (wie etwa die ROLLING STONES), sondern bis heute mit kontinuierlicher Frische ein neues Album nach dem anderen eingezimmert. Das ist an sich schon eine Leistung, die zumindest Respekt, wenn nicht sogar Hochachtung verdient. Dank Lemmy haben wir auch heute noch (z. B. auf dem diesjährigen „With Full Force“) die Möglichkeit, ein |lebendiges| Stück Rock-’n‘-Roll-Geschichte live zu erleben. Ich hoffe, dass uns dieses Privileg noch ein paar Jahre erhalten bleibt. Grund genug für mich, mir die kürzlich bei |Iron Pages| auf Deutsch erschienene Lemmy-Autobiographie „White Line Fever“ zu Gemüte zu führen.

Wie diese „Autobiographie“ zustande gekommen ist, hat Lemmy im Gespräch mit Götz Kühnemund (nachzulesen in der Ausgabe 6/04 des |RockHard|-Magazins) erläutert:

„Ja, ich habe alles auf Band gesprochen, und Janiss Garza hat die Tapes abgehört. Die abgetippte Version habe ich dann noch einmal Korrektur gelesen und stellenweise abgeändert.“

Will heißen: „White Line Fever“ wurde nicht von Lemmy selbst, sondern von seiner Ghostwriterin geschrieben. Das Buch orientiert sich an den freien Assoziationen, welche Lemmy auf Band gesprochen hat, und das merkt man der Struktur des Textes auch an. Streng genommen handelt es sich hier also mitnichten um eine echte Autobiographie, wie es der Untertitel auf dem Cover des Buches suggeriert. Das tut aber dem Lesevergnügen keinen Abbruch – im Gegenteil. Janiss Garzas Schreibe kommt frisch und unverbraucht rüber und außerdem versteht sie es, die Pointen richtig zu setzen. Sie scheint bei der Niederschrift des Textes mindestens genauso viel Spaß wie Lemmy gehabt zu haben. Da er sich selbst mit dem Endprodukt identifizieren kann, dürften die MOTÖRHEAD-Fans m. E. erst recht nichts dagegen einzuwenden haben.

Das Buch folgt keiner streng chronologischen Zeitlinie, obwohl es sich natürlich grob an Lemmys Werdegang orientiert. Lemmy springt in seiner Erzählung immer dann in der Zeit, wenn er den geschichtlichen Kontext einer bestimmten Situation verdeutlichen, oder – was wohl ausschlaggebender sein dürfte – eine amüsante Anekdote zum Besten geben will. Was wir dabei erfahren, ist Lemmys ganz persönliche Sicht der Dinge, aber nicht zwingend eine möglichst „objektive“ Darstellungsweise. Aber das wäre vermutlich auch bedeutend langweiliger als Lemmys erzählerisches Spiel mit Klischees und Übertreibungen. Wenn ein alter Seemann sein „Seemannsgarn“ spinnt, lebt die Geschichte schließlich auch von den Übertreibungen. (Wer eine möglichst realitätsnahe Wiedergabe der mit Lemmy verbundenen Ereignisse haben möchte, sei an dieser Stelle auf „Over the Top – Das Motörhead-Fanbuch“ von Matthias Mader (ebenfalls erschienen bei |Iron Pages|) verwiesen.) Abgesehen davon habe ich aber den Eindruck, dass in Lemmys Schilderungen immer zumindest ein Körnchen Wahrheit enthalten ist. Der Mann hat in seinen (zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung von „White Line Fever“) 57 Lebensjahren mehr skurrile Dinge erlebt als fünf „normale“ Menschen zusammen.

Wir erfahren etwas von Lemmys problematischer, aber dennoch lebensfrohen Kindheit, welche er in Armut und ohne leiblichen Vater durchleben muss. Da seine Mutter samt Stiefvater nach Wales zieht, ist das Schulkind Lemmy von Anfang an ein Exot. Schon früh entdeckt er, dass man mit einer Gitarre Mädchen beeindrucken kann. Als er zusätzlich registriert, dass dies noch besser funktioniert, wenn man sein Instrument auch noch beherrscht, findet er in der Musik schnell eine Alternative zum ungeliebten Schulbesuch. Der damalige Arbeitsmarkt bietet auch keine wirkliche Alternative, so dass er den Entschluss, Musiker zu werden, sicherlich nicht bereut hat. Andere britische Bands wie BLACK SABBATH oder VENOM standen ja vor einer ähnlichen Problematik, und auch jüngere Bands wie RAGING SPEEDHORN zeigen, dass sich daran bis heute nicht viel geändert hat.

Die Liebe zum Rock entdeckt Lemmy, als er zum ersten mal mit BILL HALEY, BUDDY HOLLY, ELVIS PRESLEY und den BEATLES in Berührung kommt. Mit 16 verlässt er Wales, und die 60er verbringt er im Umkreis verschiedener Musiker (u. a. als Roadie von JIMMY HENDRIX) in London. Eine anschaulichere Beschreibung der damaligen Szene wird wohl schwer zu finden sein. Ich habe lange überlegt, ob ich hier ein paar beispielhafte Anekdoten zu seinen Exzessen um Musik, Drogen, Sex und abgefahrenem Zeitgeschehen zitieren sollte, bin aber letztlich zu dem Schluß gekommen, dass es weitaus spaßiger ist, sich selbst von Lemmys Humor überraschen zu lassen.

Damit komme ich zu einem entscheidenden Punkt: Das Buch ist absolut selbsterklärend. Wer erfahren will, welche Schwerpunkte Lemmy aus seinem Werdegang als prägend empfunden hat, kann dies hier aus erster Hand tun. Wir erfahren, wie Lemmy nach und nach in verschiedenen Bands Erfahrungen sammelt, bis er mit MOTÖRHEAD sein eigenes Projekt aufzieht. Wir werden Zeugen, wie die junge Band langsam zu einer eigenen Identität findet, wie sie sich im Business durchschlägt, und wie die Besetzung immer wieder wechselt. Die einzige Konstante bleibt Lemmy, obwohl sich MOTÖRHEAD natürlich nicht auf Lemmy reduzieren lässt. Besonders interessant finde ich persönlich, wie anhand von Lemmys Entwicklung auch der langsame Übergang vom Hardrock in den 70ern zum Metal in den 80ern mitzuverfolgen ist. Später, als MOTÖRHEAD zu einer festen Instanz geworden ist, folgen junge Metalbands nach, die nun ihrerseits zu Lemmy als altem Heroen aufblicken. Wer von euch hat z. B. gewusst, das Lars Ulrich der Leiter des US-Fanclubs von MOTÖRHEAD war, bevor er selbst mit METALLICA durchstartete?

Interesant ist es natürlich auch zu entdecken, mit welchen sonstigen Persönlichkeiten aus Musik und Medien Lemmy noch verkehrt hat und verkehrt. Viele seiner engsten Freunde sind seit längerer Zeit verstorben, so dass seine vergnüglichen Schilderungen auch oftmals einen melancholischen Anstrich bekommen. Zugleich setzt er damit auch hier und da ein kleines Denkmal. Auch dies im Einzelnen zu entdecken, möchte ich dem geneigten Leser überlassen. Das Buch mag zwar ein paar Lücken aufweisen (Wer kann sich schon an alle Einzelheiten seines Lebens erinnern?) aber es ist insofern „vollständig“, als dass es einen überzeugenden Bogen vom Beginn in den 50ern bis zur Gegenwart spannt. Das Ganze wird mit ein paar schönen Fotos veredelt.

Als deutliches Manko empfinde ich allerdings die äußere Aufmachung des Buches: Der Einband besteht aus dünner Pappe, und das Papier der Seiten (ebenfalls dünn und glatt) hätte auch in einem Magazin Verwendung finden können. Für rund 20 Euro muss da m. E. einfach mehr drin sein. Die Die-hard-Fans sollten daher eine zusätzliche Einbindung in Erwägung ziehen, wenn sie auch ihren Enkeln noch Lemmys Eskapaden vermitteln wollen.

Abgesehen davon kann ich „White Line Fever“ aber ohne Einschränkung empfehlen. Es macht einfach Spaß, die Welt einmal aus Lemmys Perspektive zu betrachten. Eine Frage bleibt aber auch nach der Lektüre weiterhin offen: Wie zum Henker ist Lemmy an diese monströsen Warzen gekommen?!?

Erbe, Günter – Dandys – Virtuosen der Lebenskunst

Günter Erbe, Dozent für Kultur- und Literatursoziologie an der FU Berlin und der Universität Zielona Gora in Polen, legt mit „Dandys – Virtuosen der Lebenskunst“ die erste umfassende kultur- und sozialgeschichtliche Darstellung des Dandytums im europäischen Maßstab vor. Erbe bedient sich hierbei aus einem reichhaltigen Fundus – als Quelle seiner Untersuchungen dienen ihm u. a. Memoiren, Briefe, Tagebücher von Zeitzeugen, Biographien, Traktate, Artikel der Modepublizistik, Karikaturen sowie die so genannte „schöne“ Literatur“.

Dieses breite Spektrum dürfte bereits andeuten, weshalb eine vergleichbare Untersuchung bisher nicht realisiert wurde: Das Dandytum ist ein äußerst vielschichtiges gesellschaftliches Phänomen, welches einen fließenden Übergang zwischen Ideal und praktischer Verwirklichung, zwischen Fiktion und Realität aufweist. Erbes Darstellung kann in diesem Kontext als Genealogie des Dandytums betrachtet werden. Indem wir rückwirkend das erstmalige Auftauchen und den anschließenden Werdegang des Typus „Dandy“ nachvollziehen, können wir nach und nach einen Eindruck davon gewinnen, was einen Dandy generell ausmacht, und was für mögliche Ausformungen dieses Typus es bisher gegeben hat. Ich werde daher kurz skizzieren, was sich der geneigte Leser überhaupt unter dem Begriff des Dandytums vorzustellen hat:

Das Dandytum – als Kunst der ästhetischen Selbstinszenierung – ist der Vorbote einer neuen sozialen Mobilität, welche die Grenze zwischen viktorianischer Aristokratie und dem reichen Bürgertum des modernem Liberalismus verwischen lässt. Jeder Dandy ist einem permanenten Spannungsverhältnis zwischen seinen individualistischen Bestrebungen einerseits und den Rollenerwartungen der mondänen Gesellschaft andererseits ausgesetzt. Er will die bestehenden Verhältnisse nicht umstürzen, sondern sich innerhalb der bestehenden Vorstellungen von Schicklichkeit Originalität verschaffen, um die modisch-kulturelle Entwicklung indirekt voranzutreiben. Die Vervollkommnung des bereits Bestehenden hat dabei absoluten Vorrang vor modischer Neuschöpfung. Gezielte Provokationen dieser „Modehelden“ finden immer innerhalb eines bestimmten Rahmens statt, welcher durch den jeweils amtierenden |arbiter elegantarium| („Schiedsrichter der Eleganz“) vorgegeben wird. Die wirkliche, „moderne“ Provokation zeigt sich primär im Habitus des einzelnen Dandys, nicht in seiner Kleidung.

George Brummel (1778 – 1840) – in vielerlei Hinsicht der erste Dandy – war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Sein aus einfachen Verhältnissen stammender Vater brachte es zu einigem Wohlstand und schickte George auf die Eliteschule Eton sowie anschließend das Oriel-College in Oxford. Bereits dort suchte Brummel den Kontakt zu gesellschaftlich höher gestellten Studenten, und während seines anschließenden Militärdienstes im Zehnten Husarenregiment machte er die Bekanntschaft des Prinzen von Wales. Als er 1799 eine Erbschaft von 30.000 Pfund antrat, verfügte er über alle wichtigen Ressourcen für einen gesellschaftlichen Aufstieg zum |arbiter elegantarium|: Die richtigen Kontakte, ein ausreichendes Startkapital, um sorgenfrei leben zu können, und – vielleicht das Entscheidendste – ein untrügliches Gespür für modische Eleganz und geistreiche Konversation. Auf dem Höhepunkt seiner Macht (1798 – 1816) kam keine exklusive Party ohne ihn aus – Brummel war selbst zum Statussymbol avanciert.

Das Dandytum, wie es durch Brummel konstituiert wurde (der Begriff setzte sich allerdings erst ab ca. 1815 durch), ist eine Synthese aus der Ästhetik des modebewussten „Beaus“ und den traditionellen Rollenvorstellungen des britischen Adels von Anstand und kultiviertem Benehmen. Brummel übernahm die damals verbindliche Kleidungsnorm des „Gentleman“ – lange Beinkleider, Frack, Weste, gestärkte Krawatte und Zylinderhut – und ergänzte sie durch gewitztes und schlagfertiges Auftreten. Er war in der Literatur und den schönen Künsten bewandert, übte sich im Zeichnen und in der Poesie und war ein Kenner seltener Antiquitäten.

Letztlich wurde Brummel zum Verhängnis, dass sich der soziale Status eines Dandys nicht an seinem realen Vermögen, sondern an seiner Kreditwürdigkeit misst. Sein kostspieliger Lebensstil und seine Wettleidenschaft führten ihn in den finanziellen Bankrott (ein Schicksal, das er mit vielen Dandys teilte), so dass er 1816 aus London nach Frankreich fliehen musste. Dort ließ er sich von den ihm verbliebenen Gönnern aushalten. Er lebte jedoch weiterhin über seine Verhältnisse, bis er im Alter von 62 Jahren völlig verarmt und geistig verwirrt aus dem Leben schied. Sein wohl inszenierter Abgang aus der Londoner High Society war jedoch rechtzeitig erfolgt, so dass sein Ruhm über seinen Tod hinaus andauern sollte.

Die Souveränität des Dandys, wie sie durch Brummel definiert wurde, äußert sich primär in der Verschwendung materieller Ressourcen und einer demonstrativen Zurschaustellung der persönlichen Distanziertheit. Es handelt sich hier mithin um eine soziale Rolle, die niemals zur Gänze verinnerlicht werden kann.

Der Aufstieg der Dandykultur geht einher mit dem Aufstieg der britischen Herrenklubs, welche aus den Kaffeehäusern des 17. Jahrhunderts hervorgegangen waren. Diese exklusiven Klubs waren zugleich eine Schnittstelle zwischen Adel und Bürgertum, so dass hier ein Übergang zwischen den sozialen Hierarchien entstand. Der Bewegungsraum der meisten Dandys beschränkte sich dementsprechend im Wesentlichen auf einzelne Klubs, Opernhäuser und bestimmte Geschäfte. Die gelangweilte britische High Society nahm das Phänomen des Dandytums dankbar auf und entwickelte auch die modische Raffinesse weiter. Die Nachfolger Brummels provozierten nun auch in modischer Hinsicht; sein Kriterium der Schlichtheit war fortan nicht mehr verbindlich.

Erbe konzentriert sich im Laufe seiner Untersuchungen primär auf bestimmte Individuen, welche als entscheidende Charaktere des britischen Dandytums hervorgehoben werden können: Lord Byron, Benjamin Disraeli, Thomas Carlyle, Alfred d`Orsay, Oscar Wilde, Max Beerbohm und Aubrey Beardsley. Zusätzlich untersucht er die Entwicklung des Dandytums innerhalb der französischen Kultur, nebst Persönlichkeiten wie Barbey d`Aurevilly, Charles Baudelaire, Robert de Montesqiou und Boni de Castellane. Das Spektrum der kulturellen Zusammenhänge reicht dabei von Verschwendung bis zur Askese, von satanischer Literatur bis zum Katholizismus, von sexueller Abstinenz bis zur mehr oder weniger offenen Homosexualität. Eine gesonderte Wiedergabe dieser Sachverhalte würde hier den thematischen Rahmen sprengen.

Das britische Dandytum breitete sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern Europas aus. Erbe beschränkt sich hier auf eine Darstellung des französischen Dandytums – eigentlich schade, denn auch im deutschsprachigen Raum hätte es sicherlich viel Interessantes zu Entdecken gegeben. Analog zu den britischen Klubs etablierte sich in Paris eine neue Salonkultur, in welcher die französischen Dandys verkehren konnten. Insbesondere die nach der französischen Revolution weitgehend entmachteten jungen Adeligen fanden hier eine willkommene Möglichkeit der Ablenkung und Zerstreuung. Exklusive Herrenklubs waren jedoch auch hier bald im Entstehen begriffen. Eine interessante Entwicklung ist insbesondere bei Dandys wie Charles Baudelaire zu vermerken, welche finanziell zu einem bescheidenen Lebensstil gezwungen waren und als Ausgleich das Ideal des Dandytums literarisch überhöhten, indem sie es mit asketischen Motiven verbanden.

Erbe schließt seine Betrachtungen mit einem Ausblick auf die Zukunft des Dandytums im Zeitalter der Massenkultur. Was ist von der Eleganz des Dandys geblieben? Wer widmet sein Leben noch ausschließlich dem Vergnügen und der stilistischen Vervollkommnung? An Menschen, die prinzipiell über ein entsprechendes Budget verfügen, mangelt es nicht. Sicher: Das Bild eines Menschen, welcher den Großteil seiner Lebensspanne für sein modisches Image aufwendet, mag aus heutiger Sicht reichlich absurd erscheinen. Es steckt jedoch mehr dahinter. In unserer hektischen Zeit, in welcher Markenfetischismus und wirtschaftszentriertes Denken dominieren, ist der Dandy im Großen und Ganzen schlichtweg in Vergessenheit geraten.

Eleganz ist eine Frage der individuellen Präferenzen geworden, und doch scheint es, dass es nur mehr Wiederholungen des bereits Bestehenden gibt. Wo alles möglich ist, geschieht oftmals gar nichts – auch die Mode hat sich dem kulturellen Egalitarismus untergeordnet. Es gibt für potenzielle Dandys einfach kein Terrain, keine vollen Entfaltungsmöglichkeiten mehr.

Tatsächlich scheint sich jedoch der kulturelle Anspruch des Dandytums zumindest symbolisch erhalten zu haben. Der französische Modemacher Christian Lacroix etwa hat kürzlich ein neues Design für den „Striding Man“, das berühmte Markenzeiche des Whisky-Herstellers Johnnie Walker, entworfen. Lacroix:

„Der Dandy ist nicht nur ein Synonym für Raffinesse und Extravaganz. Er steht über der Mode und formt seinen eigenen Stil.“

In diesem Sinne kann auch der heutige Individualist von der Extravaganz des Dandytums profitieren. Er kann sich Anregungen für seine persönliche Definition von Stil und Eleganz verschaffen, ohne sich in der (modischen) Beliebigkeit der heutigen Massenkultur zu verlieren. Und er kann neue persönliche Ausdrucksformen für sich selbst in Literatur, Kunst und Mode entdecken.

Fazit: Erbes Untersuchungen genügen den Standards wissenschaftlicher Forschung, lassen aber auch erkennen, dass der Autor von der Thematik selbst begeistert ist. Das einzige, was mir persönlich noch gefehlt hat, ist eine konkrete bildliche Darstellung der einzelnen Modestile in den verschiedenen Epochen des Dandytums. Wer sich umfassend über Grundlagen und Geschichte des Dandytums informieren möchte, kommt an diesem Buch jedoch nicht vorbei. Der Geist der Exklusivität, welcher jederzeit in „Dandys – Virtuosen der Lebenskunst“ präsent ist, offenbart eine positive Reduktion, welche die Lektüre dieses Buches zu einem außergewöhnlichen Genuss werden lässt.

Mace, Stephen – Dem Himmel das Feuer stehlen

„Dem Himmel das Feuer stehlen“ – ein solcher Titel lässt vor meinem inneren Auge Prometheus erscheinen, wie er – dem Verbot des „Allvaters“ Zeus zuwiderhandelnd – das Feuer der Erkenntnis vom Sonnenwagen des Helios stiehlt, um es den von ihm geschaffenen Menschen zu schenken. Der Untertitel „Eine Technik zur Erschaffung individueller Zaubersysteme“ scheint ebenfalls Großes zu verheißen: Hat der amerikanische Magier Stephen Mace hier tatsächlich eine Art richtungsweisendes Modell entwickelt, welches es dem willigen Adepten ermöglicht, ein individuelles, auf ihn persönlich ausgerichtetes Zaubersystem maßzuschneidern? Und falls ja, läuft dies gar auf einen prometheischen Akt hinaus, welcher die schöpferische Kraft den „göttlichen“ Entitäten entreißt, um sie wieder in die Hände des Menschen zurückzulegen?

Um die Antwort gleich vorweg zu geben: Nein, Mace tut etwas ganz anderes. Wer mit dem Titel dieses dünnen Buches aus dem |Bohmeier|-Verlag ähnliche Dinge assoziiert hat wie ich, braucht ab hier eigentlich gar nicht mehr weiterzulesen. Andererseits sind persönliche Erwartungen immer eine recht subjektive Angelegenheit. Lassen wir den Titel also mal außen vor und schauen, was das Buch inhaltlich zu bieten hat.

„Dem Himmel das Feuer stehlen“ ist laut Auskunft des Autors eine Synthese aus den magischen Lehren von Abramelin, Aleister Crowley, Austin Osman Spare sowie der persönlichen Erfahrungen von Stephen Mace selbst. Das Resultat dieser Verschmelzungsarbeit beruht, wie bereits zu Beginn des Buches deutlich wird, auf einem einzigen magischen Paradigma: Dem so genannten „Geistermodell“. Dieses Modell ist bezeichnend für den traditionellen Schamanismus, aber auch (zumindest teilweise) für Magier wie Franz Bardon oder Gregor A. Gregorius, sowie die Magie des |Golden Dawn| und des O.T.O. (vgl. etwa „Schule der hohen Magie“ von Frater V.D.). Es basiert auf der Grundannahme, der Magier interagiere mit real existierenden, externen Wesenheiten. Mace fügt hier noch ergänzend hinzu, dass wir „Geister“, „Götter“ und „Dämonen“ auch als Aspekte unserer Psyche interpretieren könnten. Der inhaltliche Rahmen ist jedoch festgesteckt – daran kann angesichts der im Buch vorgestellten Techniken überhaupt kein Zweifel bestehen. Paradigmenwechsel werden hier gar nicht erst in Betracht gezogen.

Ich werde im Folgenden nicht die praktische Effizienz der einzelnen beschriebenen Techniken bewerten. Ob und inwiefern Magie im Einzelnen funktioniert, ist eine Frage der persönlichen Überzeugung und Erfahrung. Zur Debatte steht allerdings sehr wohl, was Mace verspricht, und was er davon einhalten kann. (Es ist ein beliebter Trick in der Okkultbranche, sich auf vage Andeutungen zu beschränken, um auf kritische Nachfrage hin zu verkünden, der „wahre“ Adept würde sich das Nötige schon von selbst zusammenreimen.) In erster Linie geht es hier also um folgende Leitfragen:

* Ist das von Mace beschriebene Modell in sich schlüssig und kohärent?

* Vermittelt es Inhalte und Techniken, welche in dieser Form neu sind?

* Kann der Leser anhand dieses Modells ein vollständiges Zaubersystem erschaffen, oder benötigt er darüber hinausgehend noch weitere Informationen?

Was mir gleich zu Beginn negativ auffällt: Viele Kapitel sind nur ein oder zwei Absätze lang. Dies führt unter anderem dazu, dass dieses Buch es bei gerade einmal 78 Seiten auf stolze 23 Kapitel bringt. Ich zitiere mal das vollständige (!) Kapitel Nr. 3, „Das Feuer vom Himmel stehlen“:

|“In diesem Essay bieten wir eine Technik an, welche Individuen dazu benützen können, um exakt auf ihre eigenen unbewußten Realitäten zugeschnittene Zaubersysteme zu erschaffen. Indem er unseren Anweisungen folgt, kann der Leser (oder die Leserin) sein unter der Bewußtseinsschwelle liegendes Selbst dazu anregen, seine eigenen Symbole zu entwerfen, um die Kräfte, die er darin findet, darzustellen. Sein Resultat wird in der Essenz eine persönliche Sprache der Kraft sein, eine, die nur für ihn selbst von Bedeutung ist, doch voll Potential, da es seine eigene Seele ist, die sich auf diese Art und Weise ausdrückt.“|

Es geht also um die Erschaffung persönlicher Symbolismen innerhalb des Paradigmas „Geistermodell“, nicht etwa um die „Erschaffung persönlicher Zaubersysteme“. Letzteres würde nämlich implizit voraussetzen, dass jeder Magier mit dem Geistermodell arbeitet. Wenn man davon einmal absieht, besteht aber immerhin noch die Möglichkeit, dass Mace ein paar interessante Anregungen zur Erschaffung persönlicher Riten vermittelt.

Zunächst erläutert Mace, dass Magie a) das Führen eines magischen Tagebuchs und b) hartes Training erfordert. Soweit nichts Neues. Sodann stellt Mace ein Bannungsritual vor, welches ihm vorgeblich durch seinen Lehrer Frater O.T.L. übermittelt wurde. Bei diesem vorgefertigtem Ritual fallen mir spontan zwei Kritikpunkte auf: Zum einen ist es keineswegs erwiesen, dass Bannungsrituale überhaupt notwendig sind (vgl. etwa Frank Lerch). Zum anderen mag es tatsächlich einen bestimmten Glaubenssatz im Unterbewusstsein verankern, wenn man sich regelmäßig vorstellt, man sei von einer Hülle aus weißem Licht umgeben. Weshalb dies aber nun dazu führen soll, „viele der gewohnten Abwehrhaltungen aufzugeben“, ist mir auch nach wiederholter Lektüre nicht ganz klar.

Im nächsten Kapitel, „Beschwörungen“, erläutert Mace, wie ein Magier seine psychische Energie kanalisieren soll, um Veränderungen gemäß seines Willens zu bewirken. Die zu beschwörenden „Geister“ stehen innerhalb dieses Paradigmas für die einzelnen Aspekte der eigenen Psyche. Mace geht hier von einem dualistischen Prinzip aus: Stärke, was gut für dich ist, und schwäche, was schlecht für dich ist. Gerade aus psychologischer Sicht ist diese Strategie jedoch äußerst zweifelhaft. Unsre „schlechten Angewohnheiten“ resultieren nämlich oftmals aus unbewussten Ängsten, Wünschen und Sehnsüchten, welche eigentlich etwas Positives für uns bedeuten. Das Problem ist also eher kommunikativer Natur, weil wir uns in diesen Fällen nicht bewusst machen, was wir |eigentlich| wollen. Anstatt den „inneren Schweinehund“ (wer will schon so genannt werden?) zu exorzieren, sollte man sich also lieber mit ihm symbolisch in Verbindung setzen, um ihn zu befragen, weshalb er sich so verhält, wie er es tut.

Leider stellt sich an dieser Stelle auch heraus, dass Mace sein magisches Modell auf Moralvorstellungen aus der judäochristlichen Mystik stützt:

|“Wenn du Magie benutzt, um ‚zu bekommen‘ (ob Reichtum, deinen Fick oder deine Rache), statt ‚zu erkennen‘ oder ‚einzutauschen‘ oder ‚zu machen‘, wirst du eine Mauer zwischen dir und dem Rest des Universums errichten – zwischen dem Empfänger und dem Empfangenen – und dich auf diese Weise von der Quelle deiner Kraft ausschließen.“|

Auf die Idee, dass auch das individuelle Selbst eine Quelle der Kraft sein kann, scheint Mace noch nicht gekommen zu sein. Da ist es natürlich um so verständlicher, dass er noch kurz zuvor behauptet hat, in der magischen Theorie verschmelze „unser unbewußtes Gemüt letztendlich mit jenem Gottes“.

Die traditionellen Magiesysteme (Mace nennt hier Kabbala, Voodoo und Rosenkreuzertum) haben bei ihren Beschwörungen mit der Technik ritueller Identifikation gearbeitet. Mace stellt als Alternative das Prinzip von Austin Osman Spares „aktivem Vergessen“ vor. Im anschließenden Kapitel folgt dazu noch eine Anleitung zur Sigillenerschaffung gemäß Spares Ideen. Diese Technik wurde bereits in etlichen anderen Büchern |en detail| beschrieben, weshalb ich hier auf eine erneute Wiederholung verzichte.

Im nächsten Kapitel geht es um die „errettende Gnade des Fehlschlags“. Hinsichtlich eines Argumentes muss ich Mace hier absolut beipflichten: Anstatt sich seinen Willen passiv von der Welt aufoktroyieren zu lassen, ist es auf jeden Fall besser, zunächst an sich selbst zu arbeiten. Ansonsten besteht stets die Gefahr, dass Wünsche in Erfüllung gehen, die man bei näherer Betrachtung eigentlich gar nicht gehabt hätte. {Anm. d. Lekt.: Willkommen in der Konsumgesellschaft.}

Ansonsten kommen hier wieder die Moralvorstellungen des Weißlicht-Magiers durch: Handle nie selbstsüchtig, attackiere andere nur zu Verteidigungszwecken usw. Als Beispiel führt er Kollegen an, welche diese Grundsätze missachteten, und danach „Schicksalsschläge“ erlitten. Ich bin überzeugt: Wenn diese Kollegen nicht fiktiver Natur sind, dann haben sie zumindest seine moralischen Prinzipien geteilt. Wer davon überzeugt ist, in magischer Weise „gesündigt“ zu haben, muss sich auch nicht wundern, wenn der Schaden dreifach zurückkommt.

Nachdem die theoretische Basis errichtet wurde, geht es nun an die rituelle Praxis. Mace bekräftigt noch einmal, dass sein Modell auf der psychologischen Ebene arbeite. Die dabei nun folgenden Kapitel über das automatische Zeichnen, das Konzipieren persönlicher Buchstaben, die Astralprojektion, den heiligen Schutzengel, die Todesstellung und die Erstellung von Talismanen haben alle eines gemeinsam: Nach der Lektüre ist man zwar informiert, was die einzelnen Techniken bezwecken sollen, und wer dies in der magischen Historie bereits getan hat, aber wie man dies selbst konkret bewerkstelligen soll, bleibt weiterhin offen. Meist bleibt es bei Anmerkungen wie „lade eine Sigille darauf und meditiere über das Ergebnis“. Mich hat beim Lesen öfter das Gefühl beschlichen, dass Mace mit Vorliebe dann ein neues Kapitel beginnt, wenn es eigentlich zum Kern der Sache kommen müsste.

Ich will nicht abstreiten, dass Maces Beschreibungen der einzelnen Themenbereiche durchaus in sich schlüssig sind, aber für Anfänger sind seine Ausführungen aufgrund der geringen Informationsdichte ungeeignet, und wer sich entweder anderweitig oder autodidaktisch das entsprechende Wissen angeeignet hat, braucht „Dem Himmel das Feuer stehlen“ nicht mehr.

Die abschließenden Betrachtungen von Mace zu Thelema sowie sein „Ritual des Ungeborenen“ sind im Grunde am Thema vorbei geschrieben. Um zu meinen obigen Leitfragen zurückzukehren:

Das Buch ist in einer pragmatischen Sprache gehalten, und grobe logische Schnitzer sind mir nicht aufgefallen. Die Übergänge und Abgrenzungen zwischen den Symbolismen des Geistermodells und seinen psychologischen Grundlagen werden jedoch bestenfalls angerissen. Wirklich neu waren für mich nur die Ausführungen zu einigen Techniken von Spare, was aber vermutlich daran liegt, dass ich Spare bisher noch nicht im Original gelesen habe. Zu den moralischen Überzeugungen von Mace habe ich mich ja oben schon geäußert.

Es heißt zwar „Don`t judge a book by its cover“, aber es ist wohl nicht besonders unfair, wenn ich nach der Lektüre von „Dem Himmel das Feuer stehlen“ sage, dass ich gerne mal ein Buch über die Erschaffung individueller Zaubersysteme gelesen hätte.

Fehn, Oliver – Schule des Teufels, Die

Oliver Fehn ist auf dem Gebiet des deutschsprachigen Satanismus kein Unbekannter. Literarisch hat er sich bisher als Co-Übersetzer von Anton LaVeys „Satanischen Essays“ (erschienen bei |Second Sight Books|) und als Autor von „Satans Handbuch“ (erschienen im |Bohmeier|-Verlag) hervorgetan. Laut Verlagsinfo hat Fehn (Jahrgang 1960) ursprünglich Theologie studiert, sein Studium aber dann aufgrund ideologischer Differenzen abgebrochen und sich in einer Vielzahl von Jobs versucht. Mit der „Schule des Teufels“ liegt nun sein persönlicher Output zum zweiten Mal in Buchform vor.

Das Buch soll, wie Fehn in seinem Vorwort erläutert, als eine Art Brückenschlag verstanden werden. Seit Anton Szandor LaVey in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die Grundlagen des modernen Satanismus explizit gemacht hatte, ist von Seiten der Church of Satan aus nicht mehr viel Neues über den großen Teich geschwappt. Gleichzeitig lässt der Satanismus als subkulturelle Strömung im deutschsprachigen Raum LaVey-feindliche Tendenzen erkennen, ohne einen konsistenten Gegenentwurf präsentieren zu können. Satanismus im Deutschland des 21. Jahrhunderts bedeutet – entgegen der „aufklärerischen“ Bemühungen vorgeblicher Sektenexperten – keine gesellschaftliche Bedrohung, sondern in erster Linie eine plakative Mischung aus invertchristlichen Motiven, anarchistischen Versatzstücken und ästhetischen Elementen, welche der Black-Metal- bzw. Gothicszene inhärent sind. Um dieser Trivialisierung entgegenzuwirken, versucht Fehn die Ideen LaVeys weiterzuentwickeln und an unseren kulturellen Standard anzupassen – die [„Satanic Bible“ 117 wurde schließlich im Kalifornien der 60er Jahre geschrieben, und es ist somit nicht verwunderlich, wenn dies bei Interessenten der Gegenwart für Irritationen sorgt. Nun könnte man argumentieren, dass ein intelligenter Satanist in der Lage sein müsse, die komplexen Hintergründe seiner Weltanschauung selbständig nachzuvollziehen, aber gerade für Neulinge kann ein wenig Orientierungshilfe sicherlich nicht schaden. Ich werde daher im Folgenden diskutieren, was die „Schule des Teufels“ im Wesentlichen zu leisten vermag und wer von seiner Lektüre gegebenenfalls profitieren könnte.

Im ersten Kapitel, „Vorsicht, Seelenfresser! oder Warum das Böse überlebensnotwendig ist“, schildert Fehn in einfacher Sprache, weshalb das gesellschaftlich Heterogene immer ein wichtiger Faktor sein wird. Die christlichen Ideen der „Schuld“ und des „Bösen“ haben eine dualistische Weltsicht produziert, welche essenzielle Bestandteile des menschlichen Lebens einfach ausklammern will. Diese Erkenntnis ist freilich nicht neu. Frater Eremor z.B. hat bereits in seinem [„Kraftstrom des Satan-Set“ 6 sehr anschaulich beschrieben, dass der moralische „Biomüll“ die Tendenz hat, ein unheimliches Eigenleben zu entwickeln. Ein Satanist muss die Ganzheit seines Wesens analysieren, was bedeutet, dass er auch vor gesellschaftlichen Tabus nicht die Augen verschließen darf.

Im zweiten Kapitel, „Geschichten vom Schicksalsschlaf oder Wie lange braucht ein Ritual, bis es zu wirken beginnt?“, entwirft Fehn einen theoretischen Überbau für rituelle Magie, welcher inhaltlich an LaVeys Essays „Das Zahlenschloss-Prinzip“ und „Phantasien aus dem Tartarus“ angelehnt ist. Zunächst nimmt Fehn eine methodische Unterscheidung zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Realität vor. Das bedeutet, der satanische Magier kann nur im Rahmen der naturgesetzlichen Grenzen, welche das objektive Universum festlegt, operieren. Veränderungen durch magische Rituale erfolgen daher zunächst innerhalb des subjektiven Universums bzw. (um im NLP-Jargon zu sprechen) der „Landkarte der Realität“ eines Individuums. Das Kriterium für erfolgreiche Magie ist dabei innerhalb des fehnschen Paradigmas ihre intersubjektive Überprüfbarkeit – ein geglückter Zauber manifestiert sich in der materiellen Welt und kann somit zwar nicht unbedingt kausal zurückverfolgt werden, aber es ist ggf. „objektiv“ erkennbar, dass die postrituellen Zustände dem Willen des Magiers entsprechen. Satanische Magie wirkt also indirekt – durch die rituelle Veränderung seines Unterbewusstseins nimmt der Satanist eine Korrektur der Kausalverhältnisse zu seinen Gunsten vor. Entscheidend ist hier vor allem, dass der Satanist das Ziel seines Rituals vorerst „vergessen“ muss, sobald der magische Prozess seinen Lauf genommen hat. Der Wille soll ja aktiv in die materielle Welt eingebettet werden, und nicht weiterhin passiv im Kopf des Satanisten herumspuken.

Kapitel 3, „Schleichwege zum Teufel oder Schwarze Magie für die Hosentasche“, vermittelt ein paar Rituale aus dem Bereich „lesser Magick“. Das „Instant-Ritual“ basiert auf einem sympathetischen Prinzip und wurde in ähnlicher Form bereits in der „Satanic Bible“ beschrieben. Die „Entlade-Methode“ ist denkbar einfach: Der Satanist staut ein negatives Gefühl auf und „pustet“ es auf einen seiner Kontrahenten. Der „magische Wille“ wird hier also nicht auf Papier oder Wein, sondern einfach auf einen Luftzug übertragen. Abschließend listet Fehn noch ein paar Dämonen- und Götternamen zwecks ritueller Anrufung auf. Ziel soll hier sein, das Wesen der angerufenen Entität in seinen momentanen Gemütszustand zu integrieren. All dies kann m.E. funktionieren, wenn der Magier davon überzeugt ist, aber im Grunde ist mir dieses Kapitel zu simpel gestrickt.

Kapitel 4, „Von menschlichen Fleischfressern und Humankaninchen oder Satans Energieerhaltungsgesetz“, beschäftigt sich mit individuellem Durchsetzungsvermögen. Souveränität ist, wie Fehn treffend bemerkt, auch in der modernen Zivilisation größtenteils immer noch auf animalische Verhaltensweisen zurückzuführen. Emotionen (von Fehn in diesem Kontext als „Energien“ definiert) können gemäß des fehnschen Paradigmas weder einfach verloren gehen, noch ohne weiteres in andere „Energieformen“ transformiert werden. Sie können allerdings von einem Subjekt auf ein anderes oder sogar auf unbelebte Objekte übertragen werden. Ferner können bestimmte Menschentypen für bestimmte „Energien“ prädestiniert sein. Wer Angst ausstrahlt, bekommt Aggression zurück. In diesem Sinne sollte ein Satanist daher laut Fehn seinen „Energiehaushalt“ gemäß seines Willens ausbalancieren. Hat er zu wenig oder zu viel von einer bestimmten Emotion, so muss er sein Verhalten gegebenenfalls ins Gegenteil verkehren, um das Kausalverältnis der „Energieströmungen“ zu korrigieren. Ich will nicht abstreiten, dass dieses Modell brauchbare Arbeitshypothesen produzieren kann, aber mir persönlich ist es einfach zu esoterisch.

Kapitel 5, „Wo kommen all die Teufel her? oder Wie der Mensch seinen Zecken-Gott erschuf“, beschreibt jenes Phänomen, welches in der jungschen Psychologie als „Archetyp“ und im traditionellen Okkultismus als „Egregor“ bezeichnet wird. Es ist im Grunde völlig egal, ob Leute wie Buddha, Jesus Christus oder Elvis Presley jemals existiert haben – im „kollektiven Unterbewusstsein“ erzeugen sie eine eigendynamische Struktur. Auf diese Weise entstehen jene Entitäten, welche gemeinhin als „Götter“ oder auch „Dämonen“ bezeichnet werden. Ich selbst empfehle in diesem Kontext zur persönlichen Erbauung die Lektüre von Terry Pratchetts Roman „Einfach göttlich“ 😉

Kapitel 6, „Satans Selbstverteidigungskurs oder Kann man sich vor magischen Angriffen schützen?“, analysiert die Möglichkeiten magischer Angriffe und Verteidigungen. Fehn sieht (wie auch LaVey) bereits in den Suggestionstechniken der Werbeindustrie magische Attacken. Diese „Subliminals“ wirken dann besonders effizient, wenn der Empfänger der Werbebotschaften gerade geistig abwesend oder sogar in Trance ist. Das Gleiche gilt für gezielte Attacken von feindlich gesonnenen Personen, wobei hier noch der sympathetische Faktor hinzu kommt, wenn der Kontrahent Magie anwendet. Magische Angriffe erfordern laut Fehn primär a) kausale Verhältnismäßigkeit und b) räumliche Erreichbarkeit. Die entsprechende Verteidigungsstrategie besteht daher folgerichtig in a) Vorenthaltung persönlicher Gegenstände und b) räumlicher Distanz.

In Kapitel 7, „Stairway to Hotel California oder Starb John Denver, weil er den Teufel traf?“, widerlegt Oliver Fehn einmal mehr das alte Märchen vom satanischen „Backwardmasking“. Überflüssig.

Kapitel 8, „Das Zeichen im Gesicht der Schafe oder Satans neue Kampfstrategien für den Alltag“, beschäftigt sich primär mit dem Schließen von den physiologischen Merkmalen eines Menschen auf seinen Charakter. Diese recht spekulative Technik erfordert m.E. präzise wissenschaftliche Kenntnisse; Fehn allerdings versucht sich in einem eher laienhaften Rundumschlag. Insofern eine äußerst zweifelhafte Angelegenheit. Die sinnigste Anmerkung dieses Kapitels wäre noch, dass die Qualität eines Magiesystems sich nicht an den moralischen Überzeugungen seines Erschaffers bemisst.

Kapitel 9, „Die vier magischen Geheimnisse oder Wie wir zu vollautomatischen Göttern werden“, greift inhaltlich das zweite Kapitel wieder auf. Vom Standpunkt der Kausalität aus betrachtet, wirken wir alle permanent „magisch“, aber aufgrund unserer beschränkten Sinne erkennen wir nie das vollständige Potenzial, über welches wir verfügen. Unsere „Landkarte“ versperrt uns den Zugang zu etlichen Ressourcen. Durch die „magische“ Manipulation unseres Unterbewusstseins wird gemäß Fehns Paradigma dieser Missstand ausgeglichen und wir können das „Gewebe“ der Kausalität für uns arbeiten lassen. Die „vier magischen Geheimnisse“, welche Fehn in diesem Kontext vorstellt, lassen sich dabei im Grunde zu einem einzigen Prinzip zusammenfassen: Separation. Abseits von den Konventionen der homogenen Gesellschaft verfügt der Satanist über einen unabhängigen Raum, in welchem er sich sammeln und seine Eingriffe in das ökonomische System präzise planen kann.

Kapitel 10, „Jekyll, wo ist dein Hyde? oder Die Angst vor dem Bösen macht uns böse“, greift wiederum Kapitel 1 auf. Fehn analysiert den moralischen Umbruch, welcher im Deutschland der letzten Jahrzehnte erfolgt ist. Das Christentum (welchem ja sowieso eine Tendenz zur Säkularisierung innewohnt) ist inzwischen mehr oder weniger dem „Gutmenschen“ gewichen. Anstatt Probleme und Tabus direkt anzugehen, neigen die Gutmenschen zur „politisch korrekten“ Verdammung und Zensur – was eben jene Bedrohung durch das Heterogene erst |ermöglicht|. Robert Steinhäuser ist nicht Amok gelaufen, weil er SLIPKNOT gehört hat, aber in einer Gesellschaft, welche sich offen und ehrlich mit Gewalt auseinandersetzen würde, hätte ihm SLIPKNOT vielleicht genügend Kompensationsmöglichkeiten für seine Aggressionen geboten. Fehn fasst seine soziale Bestandsaufnahme folgendermaßen zusammen:

„Sucht euch die dümmste, stupideste Person im Lande, die den größten potentiellen Gefahrenherd darstellt – und gratuliert ihr. Sie ist der ungekrönte Herrscher über all unsere Gesetze, all unsere Entscheidungen.“

Für mich ein Highlight dieses Buches!

Kapitel 11, „Reservate der Fantasie oder Satans Heilmittel gegen Depressionen“, hingegen fällt wieder ab – es ist nichts als ein dreister Verschnitt aus LaVeys Essays „Ein Heilmittel gegen Melancholie oder Wie man D.P.s vermeidet“ und „Geschlossene Erlebniswelten – einige neue Vorschläge“. Kann im Original – nun, origineller nachgelesen werden. Für Satanisten kann dieses Kapitel allerdings ein Anreiz sein, sich mal etwas ausführlicher mit ihrer Kindheit zu befassen und diese als Ressource zu begreifen – frei nach Erich Kästner: „Nur wer erwachsen wird, und dennoch ein Kind bleibt, ist ein Mensch.“

Kapitel 12, „Jeder Tag ein Fest in eurem Herzen! oder Die Satanischen Feiertage“, ist ein Katalog von Feiertagen, die alle irgendwie mit Satanismus in Verbindung gebracht werden können. Nett.

Kapitel 13, „In der Schule des Teufels oder Fundamentalsätze der niederen Magie“, vermittelt noch ein paar Tricks und Kniffe für den Alltagsgebrauch: 1. Wenn man vom Mob gemieden werden will, verpasse man sich absichtlich einen schlechten Ruf. (Meiner Erfahrung nach reicht es allerdings völlig aus, man selbst zu sein; das hält die Idioten mindestens genauso sicher fern.) 2. Wer sich über Bagatellen aufregt, möge sich die wirklich relevanten Probleme ins Gedächtnis zurückrufen (ja, klingt plausibel). 3. Mache Bekannten bewusst, dass deine Freundschaft auf Unabhängigkeit basiert (sehr wichtig). 4. Entferne falsche Freunde bzw. psychische Vampire aus deinem Leben (essenziell). 5. Sei ein Gentleman. Mit Höflichkeit erreicht man mehr als mit unkultiviertem Benehmen (korrekt, sofern man keine Perlen vor die Säue wirft).

Der Anhang des Buches gliedert sich in verschiedene Sektionen. Fehns Aphorismensammlung ist von recht schwankender Qualität. Mein Favorit: „Satanismus ist die einzige Religion, für die man zu dumm sein kann.“ Die „Hymnen“ braucht dagegen kein Mensch. „Satans Neues Testament“ ist ein pseudobiblischer Text aus Fehns Feder, welcher in der Tradition von Miltons „Paradise Lost“ steht. Ich finde den Text recht gelungen, aber Michael Aquinos „Diabolicon“ ist größtenteils noch um einiges besser. Die abschließenden FAQ haben sicher auch ihre Existenzberechtigung, aber jener Text, welcher sich an satanische Kids richtet, wird wohl höchst selten zu den richtigen Empfängern finden, vermute ich.

Unterm Strich hat Oliver Fehns „Schule des Teufels“ einen guten Eindruck bei mir hinterlassen. Man braucht das Buch natürlich nicht, wenn man sich bereits mit der übrigen Fachliteratur vertraut gemacht hat. Aber der eine oder andere Neuling wird hier vielleicht ein paar nützliche Impulse vermittelt bekommen. Ich erinnere mich dabei unweigerlich daran, was Marcel Reich-Ranicki einmal über Dietrich Schwanitz‘ „Campus“ gesagt hat:

„Ich bin für dieses Buch. Ich freue mich, daß ich es gelesen habe.“