Alle Beiträge von Volker Helten

Keller, Hagen – Ottonen, Die

Was bedeuten uns heute die Ottonen? Das könnte eine der vielen Fragestellungen sein, welche den geschichtsinteressierten Leser zu dem in der Beck’schen Reihe erschienenen Buch von Hagen Keller, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, führen könnten. Zudem ist dies die erste Frage, die sich auch Keller in diesem Buch stellt. Hierbei zeigt er auf, dass sich die Wahrnehmung der Ottonen, sowohl in der Gesellschaft als auch in der Geschichtsforschung, merklich gewandelt hat. Während das Wissen über die sächsische Dynastie und um ihren Namensgeber Otto den Großen noch vor gut 50 Jahren zur Allgemeinbildung gehörte, sind die Ottonen heute in der allgemeinen Wahrnehmung eher in den Hintergrund getreten. Dies ist ein Phänomen, das man wohl damit begründen kann, dass die Ottonen vom 19. Jahrhundert an bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als nationaler Mythos, als das erste wirklich deutsche Königsgeschlecht gedeutet und proklamiert wurden.

Nachdem sich Keller also einleitend mit der Deutung und Bedeutung der Ottonen befasst, wendet er sich alsdann der Vorgeschichte der Ottonen zu. Dazu beschreibt Keller den Zerfall des einstigen fränkischen Großreiches und auch eine kurze Geschichte des Geschlechts der Liudolfinger, aus welchem wiederum letztlich die Ottonen hervorgingen. Auf diese Weise spannt Keller einen Bogen vom 9. bis ins 10. Jahrhundert, welches zunächst im Zentrum der Betrachtung steht. Keller konzentriert sich folglich auf die Ära Ottos des Großen, was in Anbetracht von dessen historischer Bedeutsamkeit absolut nahe liegend ist. Dabei befasst sich Keller auch mit Ottos Vater und Vorgänger Heinrich I. und vor allem auch mit seinem Sohn Otto II., welcher das ottonische Kaiserreich 973 übernahm. Auch die Lebensgeschichten und Regierungsjahre Ottos III. und Heinrichs II., mit dessen Tode 1024 der letzte Kaiser aus sächsischem Hause verstarb, werden von Keller überblicksartig und bewertend dargestellt. In seiner abschließenden Gesamtschau auf die ottonische Ära fasst er dann Tendenzen, Errungenschaften und Wirkungen des sächsischen Kaisergeschlechts zusammen.

Keller fügt sich mit diesem Buch nahtlos in die lange Reihe von Veröffentlichungen des |Beck|-Verlages ein, die man wohl als ideale Einstiegs- und Überblicksliteratur bezeichnen kann. Wer sich für die Ottonen oder das Hochmittelalter interessiert, der kann mit dem Erwerb dieses Buches nicht viel falsch machen. Es ist flüssig und verständlich geschrieben, zudem verfügt es im Anhang über eine knappe, aber sehr erlesene Auswahl an weiterführender Literatur.

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Swofford, Anthony – Jarhead

In seinem dreihundert Seiten zählenden Buch „Jarhead“ befasst sich Anthony Swofford mit seiner eigenen Lebensgeschichte. Swofford war als Scharfschütze im ersten (oder zweiten, je nach Zählung) Irakkrieg eingesetzt. Allerdings weist der Autor direkt zu Beginn darauf hin, dass er seine Erlebnisse solcherart schildert, wie sie ihm im Gedächtnis geblieben sind, und dabei gegebenenfalls von offiziellen Berichten über den Krieg abweichen kann. Und auch wenn er einzelne Namen und biografische Hintergründe seiner Kameraden und anderer Mitmenschen verändert hat, so bleibt es seine Geschichte.

Diese Geschichte beginnt mit dem nicht mehr im Dienst befindlichen Ex-Marine Anthony Swofford, der seinen alten Armeerucksack aus dem Irakkrieg im Keller seines Hauses durchstöbert, auf der Suche nach Erinnerung und Antworten. Von diesem Punkt ausgehend, breitet der Autor seine Lebensgeschichte vor dem Leser aus. Dabei ist die Erzählweise nicht linear aufgebaut; bisweilen springt die Darstellung zwischen verschiedenen Orten, Zeiten und Handlungssträngen hin und her, ohne dadurch jedoch wirklich unübersichtlich zu werden. Es ist vielmehr so, dass diese Art des Berichtens die Geschichte belebt und dem Leser den Eindruck vermittelt, einen wirklichen Einblick in das Seelenleben des Ich-Erzählers zu gewinnen. Swofford berichtet von seiner Grundausbildung, von seiner Familie, von Frauengeschichten, von zotigen Ereignissen und vor allem von seinem Einsatz im Irakkrieg. Es ist sein Leben, das er offenbart. Und sein Leben ist, wie sich zeigen soll, auf eine dunkle und beklemmende Weise von den Erfahrungen des Krieges geprägt.

Der Erzähler ist ein faszinierend komplexer Charakter, der stets auf der Suche ist; wenngleich er auch manchmal selbst nicht zu wissen scheint, was er sucht. Er pendelt zwischen Extremen, zwischen Selbstmord und dem Verlangen, Andere zu töten, zwischen der Berauschtheit des Augenblicks und dem stetigen Horror des Krieges, zwischen Langeweile und schrecklichem Erwachen. Aber gerade das ist es, was die innere Zerrissenheit und die schrittweise emotionale Verkümmerung des Gefühlslebens dieses Soldaten so plastisch macht. Er ist kein Held und will es auch nicht sein. Er will überleben. Er hört auf, die Lügen zu glauben, die ihm und seinen Kameraden immer wieder aufgetischt werden. |“Und an diesem Punkt wissen wir alle, dass das Ergebnis dieses Krieges für uns – die Männer, die kämpfen und sterben – weniger wichtig ist als für die alten weißen Knacker und die anderen Leute, die Milliarden von Dollar auf den Ölfeldern gewinnen oder verlieren können, auf den großen, mächtigen, sprudelnden Ölfeldern des Königreichs Saudi-Arabien.“|

Der Leser begleitet Swofford auf eine Reise durch die Abgründe seiner Psyche. Auch wenn der Erzähler durch Landschaften voller Leichen marschiert und immer wieder, den Tod vor Augen, Furcht in den Knochen verspürt, so hört er doch nicht auf hinzuschauen. Er beobachtet, er hinterfragt, er verzweifelt. Das ist es, woran der Leser teilhaben darf. |“Ich weine, und ich höre meine Freunde schreien, die Männer, die ich gern habe, und ich weiß, dass wir dieses verrückte Geschrei bald mit nach Hause nehmen werden, aber dass niemand uns zuhören wird, weil alle das Geschrei des Sieges hören wollen.“|

„Jarhead“ ist ein fesselndes Buch. Es ist extrem, in vielerlei Hinsicht. Es ruft entweder eindeutig positive oder wütende Resonanzen hervor. Swofford verheimlicht nicht seine Haltung zum Krieg und zu der Chimäre, die er aus den Menschen macht. Sein Hauptcharakter ist tragisch, intelligent und doch zugleich dumm, wie der Autor selbst zugibt. Er verheimlicht auch nicht seine Ablehnung gegenüber der Bush-Administration und deren streitbaren Beweggründen. Viele Reaktionen, die man in Bezug auf das Buch oder auch auf den inzwischen erschienenen Film vernimmt, basieren vor allem auf der entsprechenden politischen Einstellung des Betrachters. Damit tut man dem Buch jedoch Unrecht, wie ich finde. Gewiss kann man es auch vor diesem Hintergrund lesen und sich durch die Lektüre in seiner Weltsicht entweder gestört oder bestärkt fühlen, aber davon abgesehen, hat das Buch vor allem große Qualitäten im Bereich der Erzählkunst und der Erzeugung einer lebendigen Atmosphäre. Hierzu bedient sich Swofford mitunter sehr radikaler Ausdrucksweisen, wie z. B. |“Dann schloss ich die Augen und pinkelte mir in die Hose, während Drill Instructor Burke mir die Worte Schwuchtel, Junkie, Schwanzlutscher, Hurenstecher, Flachwichser, Vollidiot, Mokkastecher, Eunuch und Jungfrauenarsch ins Ohr brüllte.“| Dies erscheint allerdings nur allzu verständlich, in Anbetracht der Tatsache, dass es sich hier um das Leben eines „Jarheads“, einer zum Töten abgerichteten Kampfmaschine, handelt. Den rauen Ton zu mildern oder zu verschleiern, hätte die Authentizität vermindert.

Alles in allem handelt es sich bei „Jarhead“ um einen Roman, den ich nur wärmstens empfehlen kann, vorausgesetzt natürlich, dass man mit der erwähnten Fäkalsprache, den teilweise sehr plastischen Beschreibungen von Körperfunktionen und der bedrückenden Stimmung zurecht kommt. Denn es ist gewiss kein Happyend zu erwarten, wie der Schlussappell an den Leser verdeutlichen dürfte: |“Was habe ich zu gewinnen gehofft? Es kommen noch mehr Bomben. Grabt eure Löcher mit den Händen, die Gott euch gegeben hat.“|