James Graham Ballard – Zeit endet oder Die Elemente (Sammelband)

Ballard-Kompendium: Guter Einstieg – mit Lücken

Das Leben auf unserem Planeten basiert auf der Unveränderlichkeit und Zuverlässigkeit der Elemente Luft, Wasser und Erde. Wenn sie nicht mehr gegeben sind – sei es durch die Leichtfertigkeit und Sorglosigkeit seiner Bewohner, sei es durch ominöse kosmische Veränderungen -, beginnt das Leben zu erlöschen, und die Endzeit bricht an.

J. G. Ballard ist ein Meister des Endzeitszenarios in der Science-Fiction. Dieser Band umfasst seine drei Romane „Der Sturm aus dem Nichts“, „Die Dürre“ und „Die Kristallwelt“. Außerdem sind ein Nachwort, ein Interview mit dem Autor, eine Untersuchung seines Werks und eine ausführliche Bibliographie der deutschen Ballard-Ausgaben sowie der wichtigsten Sekundärliteratur beigefügt. (Gekürzte Verlagsinfo)

_Der Autor_

James Graham Ballard wurde 1930 als Sohn eines englischen Geschäftsmannes in Schanghai geboren. Während des Zweites Weltkrieges, nach der japanischen Invasion, war seine Familie drei Jahre in japanischen Lagern interniert, ehe sie 1946 nach England zurückkehren konnte. Diese Erlebnisse hat Ballard in seinem von Spielberg verfilmten Roman „Das Reich der Sonne“ verarbeitet, einem höchst lesenswerten Buch.

In England ging Ballard zur Schule und begann in Cambridge Medizin zu studieren, was er aber nach zwei Jahren aufgab, um sich dem Schreiben zu widmen. Bevor er dies hauptberuflich tat, war er Pilot bei der Royal Air Force, Skriptschreiber für eine wissenschaftliche Filmgesellschaft und Copywriter (was auch immer das sein mag) an der Londoner Oper Covent Garden.

Erst als er SciencesFiction schrieb, konnte er seine Stors verkaufen. Ab 1956 wurde er zu einem der wichtigsten Beiträger für das Science Fiction-Magazin „New Worlds“. Unter der Herausgeberschaft von Autor Michael Moorcock wurde es zum Sprachrohr für die Avantgarde der „New Wave“, die nicht nur in GB, sondern auch in USA Anhänger fand.

Ballard und die New Wave propagierten im Gegensatz zu den traditionellen amerikanischen Science-Fiction-Autoren wie Heinlein oder Asimov, dass sich die Science-Fiction der modernen Stilmittel bedienen sollte, die die Hochliteratur des 20. Jahrhunderts inzwischen entwickelt hatte – zu Recht, sollte man meinen. Warum sollte ausgerechnet diejenige Literatur, die sich mit der Zukunft beschäftigt, den neuesten literarischen Entwicklungen verweigern?

Doch was Ballard ablieferte und was Moorcock dann drucken ließ, rief die Politiker auf den Plan. Seine Story „The Assassination of John Fitzgerald Kennedy Considered as a Downhill Motor Race“ (1966) rief den amerikanischen Botschafter in England auf den Plan. Ein weiterer Skandal bahnte sich an, als er Herausgeber von „Ambit“ wurde und seine Autoren aufrief, Texte einzureichen, die unter dem Einfluss halluzinogener Drogen verfasst worden waren. Seine härtesten Texte, sogenannte „condensed novels“, sind in dem Band „The Atrocity Exhibition“ (1970) zusammengefasst, dessen diverse Ausgaben in den seltensten Fällen sämtliche Storys enthalten …

Seither hat Ballard über 150 Kurzgeschichten und etwa zwei Dutzend Romane geschrieben. Die ersten Romane waren Katastrophen gewidmet, aber derartig bizarr und andersartig, dass sie mit TV-Klischees nicht zu erfassen sind. Bestes Beispiel dafür ist „Kristallwelt“ von 1966, das ich hier aber nicht darlegen möchte, sondern ich verweise auf meine entsprechende Rezension. Äußere Katastrophen (wie die Kristallisierung des Dschungels) wirken sich auf die Psyche von Ballards jeweiligem Helden aus und verändern sie.

Die Elemente

Dabei stehen die vier Romane „The Wind from Nowhere (1962), „The Drowned World“ (1962), „The Drought“ (Die Dürre, 1964) und schließlich „The Crystal World“ (1966) sinnbildlich für Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, ausgedrückt durch die Metaphern Luft, Wasser, Feuer und Erde/Diamant (Kristall). (Zur Symbolik siehe den Essay von David Pringle in diesem Band.)

J. G. Ballard war der Ansicht, dass das wichtigste Gebiet, das es zu erforschen gelte, nicht die Weiten des Weltalls seien, sondern Inner Space: die Erde und die Seelen der Menschen, die sich auf ihrem sich wandelnden Antlitz bewegen. So hat er unter anderem das Kriegsgebiet Beirut, die überwachte Vorstadt, Cape Canaveral nach dem Ende des Raumfahrtzeitalters beschrieben. Amerikaner würden ihm darob Pessimismus, wenn nicht sogar Ketzerei vorwerfen, aber das stimmt nicht: Sein Anliegen gilt nicht äußerlichem Erfolg, um Zufriedenheit zu erlangen; sein Streben gilt der Untersuchung der künftigen Bedingungen für die Existenz des Menschen – und diese Bedingungen liegen allzu oft in dessen Seele, im Inner Space. Ballard starb 2009.

1) LUFT: Der Sturm aus dem Nichts

Der Arzt Donald Maitland will gerade von London Heathrow nach Vancouver fliegen, um einer gescheiterten Ehe zu entfliehen, als das Startverbot erteilt wird: Die Scherwinde sind viel zu stark, als dass ein Flieger gefahrlos abheben könnte. Also steigt er wieder ins Taxi und schafft es durch die vielen Staus zu seiner Wohnung. Er hat aber bereits seine Schlüssel an Susan abgeschickt und muss bei sich selber einbrechen. Dabei wird er von Susan und ihrem derzeitigen Lover Sylvester überrascht und niedergeschlagen. Willkommen daheim!

Eigentlich sollte die reiche Alkoholikerin Susan ja in ihrem luxuriösen Haus an der Küste der Lust frönen, doch sie klagt, der aufgekommene Wind habe alle Scheiben bersten lassen, das gestiegene Wasser habe sie sogar vom Festland abgeschnitten. Wie grässlich! Da platzen auch in Maitlands Wohnung die Scheiben, und ein kristalliner brauner Staub bläst herein. Maitland hält hier nichts mehr, schon gar nicht Susan.

Bei seinem Kollegen Andrew Symington, einem Luftfahrtingenieur mit guten Verbindungen, gibt es auch keine guten Neuigkeiten. Luxusdampfer verkehren inzwischen ebenso wenig wie Flugzeuge; man kommt nicht mehr runter von der Insel Britannien. Der Sturm trägt Lössboden aus Tibet und Nordchina nach Europa: 50 Mio. Tonnen davon. Symington erfährt, dass die britische Regierung erste „Vorsichtsmaßnahmen“ plane: Evakuierungen in Bunker und U-Bahn-Schächte. Das Radio berichtet von enormen Verwüstungen in Asien.

Genua / Nizza

Der amerikanische U-Boot-Kommandant Lanyon bekommt den Auftrag, von seinem Stützpunkt in Genua 240 Kilometer nach Nizza zu fahren und dort einen General aus einem Lazarett abzuholen, der bei einem Flugabsturz schwer verletzt worden sei. Die Fahrt wird bei Windgeschwindigkeit von rund 185 km/h zu einem Himmelfahrtskommando. Nur weil der Wagen schwer gepanzert und geländegängig ist sowie Allradantrieb hat, kommt Lanyons Fahrer überhaupt durch.

Der General ist mittlerweile tot und wird in einem Sarg in den Panzerwagen geladen. Auf der Rückfahrt nimmt Lanyon vier Amerikaner mit, doch sie schaffen es nur bis kurz vor Genua. Der Wagen kippt um, und wer aussteigt, wird vom Sturm weggrissen. Lanyon kann sich mit einer Radioreporterin namens Patricia Olsen in einen Keller retten. Doch wie sollen sie überleben, wenn draußen die Windstärke weiter zunimmt?

London: die Operationszentrale, die Tunnel

Über Symingtons Verbindungen ist es Maitland gelungen, bei der Navy als Arzt unterzukommen. Auf diese Weise kann er der Operationszentrale ebenso wie den Menschen helfen. Als er jedoch einem verunglückten kommandierenden Offizier und dessen Sekretärin hilft, entdeckt er in dessen Haus Gasmasken und Minenwerfer, außerdem genug Leute für eine Privatarmee. „Haldoon“ steht auf den Kisten. Die Geräte sind von einem Multimillionär hergestellt worden, der auf dem Lande sein eigenes Bunkersystem angelegt hat, soweit sich Maitland erinnert. Er fragt sich, was dort vor sich gehen könnte.

Die Windgeschwindigkeit ist auf 180 Meilen pro Stunden angewachsen, das sind rund 290 km/h. Sie nimmt pro Tag um 5 Meilen / Stunde zu. Nun standen auch selbst relativ moderne Gebäude dem Winddruck und -sog nicht mehr stand. Die Diensttruppen bewegen sich nur noch in gepanzerten Fahrzeugen durch die dunklen Straßen Londons, und die Zivilisten bewegen sich zwischen Zementsackbarrikaden wie Ratten in dunklen Tunneln, wenn sie zwischen Keller und U-Bahnstation wechseln wollen.

Als er erfährt, dass Susan sich immer noch in seiner Wohnung befindet, eilt er zu ihr. Warum weigert sich die Millionärin, sich in Sicherheit zu bringen? Ist sie denn irre? Sie argumentiert, dass sie nichts mehr mit Männern zu tun haben wolle, die über sie bestimmen. Als er sie packen will, um sie in die Tunnel zu bringen, reißt sie sich los – und wird vom gierigen Sturm hinaus ins Nichts gerissen. Maitland kann gerade noch dem einstürzenden Haus entgehen, als er sich vor verrammelten Tunnelzugängen wiederfindet. Gefangen …

Unterdessen

Die Pyramide ist fertiggestellt. Ihr Erbauer blickt zufrieden aus sicherem Versteck auf sein Werk, wo nun weitere Zugangstunnel angebaut werden. Er nennt die Pyramide „Die Tore des Sturmwinds“. Doch was ist der Zweck des Riesenbauwerks? Maitland und Lanyon soll es schon bald erfahren …

Mein Eindruck

Der Autor hat den Roman mit einer Geschwindigkeit von 6000 Wörtern pro Tag an nur zehn Tagen rausgehauen, um das hübsche Sümmchen von 300 Pfund Sterling zu verdienen – anno 1961 noch ein Jahresgehalt wert. (Siehe dazu das Ballard-Interview mit Pringle & Goddard von 1975.) Dementsprechend anspruchslos wirkt die Story auch. Sie unterscheidet sich in beinahe nichts von all jenen britischen Katastrophenromanen, die spätestens seit H. G. Wells‘ „Krieg der Welten“ und John Wyndhams „Die Triffids“ so in Mode gekommen waren.

Immerhin sorgt dieses in fast jeder Hinsicht konventionelle Werk für beste Unterhaltung. Actionszenen und Romantik halten sich die Waage, alles unter dem Alpdruck der bangen Frage: Wird es einen Fortbestand der Menschheit geben? Das Finale steigert das Geschehen noch einmal ins Gigantomanische: Dann wird die Frage beantwortet, ob Hardoons Pyramide der Urgewalt des titelgebenden Sturms standhalten kann oder nicht. Das soll hier aber nicht verraten werden.

Entgegen den Behauptungen anderer Rezensenten gibt der Autor durchaus eine Begründung für diesen immensen Sturm an. Die stetig steigende Windstärke soll die Folge eines ungewöhnlich starken Sonnensturms sein. Das ist zwar ziemlich hanebüchen, entsprach aber damals, anno 1961, wohl dem Stand der Wissenschaft. Immerhin hatte die Astronomie sich gerade dazu durchgerungen, die tropischen Sümpfe auf der Venus, die noch Heinlein & Co. als Abenteuerspielplatz gedient hatten, ins Reich der Fantasie zu verweisen.

Ballards Debütroman (einen anderen Erstling soll er zuvor entsorgt haben) ist ein klassisches Experiment: Was passiert, wenn eine unendlich starke Kraft auf ein Objekt trifft, dessen Widerstand möglicherweise unendlich groß ist? Die Kraft des Sturms nimmt ständig zu, und wir laufend mit Informationen versorgt, welche Bauwerke bei welcher Stärke dem Druck nachgeben. Traurig aber wahr: Auch die Krönung der Architektur in Gestalt von britischen Gebäuden der Londoner City (dito in New York City) geben nach, und selbst Bunker für U-Boote sehen sich dem Einsturz gegenüber.

Muss dann nicht die Errichtung einer großen Pyramide wie pure Narretei wirken? So flach die Figur des Multimillonärs Hardoon auch gezeichnet sein mag, so erfüllt sie doch eine Schlüsselfunktion: Sie beantwortet die Frage, ob irgendetwas von Menschenhand Errichtetes Bestand haben kann – und zwar im Schnellvorlauf. Hardoon agiert aus Trotz und fordert die Götter heraus, wenn es sie noch gäbe. Sein Schicksal liefert eine Antwort auf obige Frage (und soll hier nicht preisgegeben werden). Gleich darauf legt sich der Wind. Q.E.D.

Der absurde Wind ohne Ursache ist ebenso purer Ballard wie die Halluzinationen, unter denen Maitland leidet. Ballard wollte bekanntlich Psychiater werden und kannte sich mit abweichenden Geisteszuständen aus, ebenso mit dem grafischen Surrealismus. Allerdings hält er sich mit symbolischen Umschreibungen in diesem Debüt äußerst zurück, sodass der Roman auch als Drehbuch für einen realistischen Katastrophenthriller dienen könnte.

2) WASSER: Die Dürre

Dr. Charles Ransom lebt irgendwo am Rande eines einst 50 km langen Sees auf seinem Hausboot. Doch von dem See ist wegen der seit Monaten anhaltenden Dürre nur noch wenig übriggeblieben: ein schmaler Kanal, der nur noch Boote mit geringem Tiefgang durchlässt. So etwa die Boote der proletarischen Quilters in der Nachbarschaft (eine keifende Zigeunerin und ihr schwachsinniger Sohn) oder das Boot seines zwölfjährigen Freundes Philip Jordan, der mit einem ölverschmierten, sterbenden Schwan vorbeikommt.

Ransom hat im Krankenhaus der Stadt Hamilton gearbeitet, doch seitdem fast alle Bewohner zur Küste gezogen sind, gibt es nichts mehr zu tun. Seine Ehe mit Judith ist in die Brüche gegangen. Vielleicht kann er mit Catherine Austen anbandeln, die ihn gerade um eine Kanne Wasser bittet? Ihre Eltern sind schon tot, sie ist eine einsame Frau. Er selbst will nur noch wenige Tage warten, bis er wegzieht.

Dass seine Frau Judith mit dem Sheriff wegzieht, ist in Ordnung. Er kann sie nicht halten. Er kann ihr auch nicht sagen, worauf er selbst wartet. Das Radio verkündet die Ursache für die Dürre: Durch Umweltverschmutzung haben sich überall spezielle Moleküle ausgebreitet, die nun die Ozean bedecken, so dass sie die Verdunstung an der Wasseroberfläche verhindern. Säuberungsversuche scheitern kläglich. Wenn es mal Regenwolken gibt, dann erreichen sie nie das Land.

Der Einzige, der noch über einen großen Wasservorrat zu verfügen scheint, ist der Architekt Lomax, Ransoms Nachbar: Sein Pool ist gefüllt, sein Rasen nass. Einer der Flüchtlinge prophezeit, dass Lomax schon bald Schwierigkeiten bekommen werde. Bislang hat der Chef der Bürgerwehr, der energische Pastor Johnstone, aber noch nichts deswegen unternommen. Seine Bürgerwehr baut die Stadt lediglich zur Festung aus, während Mount Royal, die Nachbarstadt, niederbrennt.

Lomax erscheint wie ein hinterlistiger Kobold oder Nero, als er Ransom ein Angebot macht, bei einer speziellen Aktion mitzumachen. Ransom vermutet, dass es dabei ums Niederbrennen des Alten geht, damit etwas Neues sich wie Phönix aus der Asche erheben kann. Davon will er ebenso wenig wissen wie von Lomax‘ hexenhafter Schwester Miranda.

Lomax hat sein Pool-Wasser dem Zoo von Mount Royal gespendet, und Ransom wird dorthin mitgenommen. Im Zoo füttert Catherine Austen die Löwen und andere Tiere; spöttisch vermutet sie in Ransom einen potenziellen Sündenbock, eines „Jonas“. Im Aquarium sind bereits alle Fische tot, vergiftet von ihren Exkrementen. Doch der debile Quilter treibt sich hier ebenfalls herum, geschickt von Miranda – ist er etwa ein Brunnenvergifter?

Auf seinem Weg zurück nach Hamilton entdeckt der Arzt nicht nur das rätselhafte Fisch-Zeichen der frühen Christen, sondern zunehmend dunkel gewandete Burschen. Er bekommt den Eindruck, dass ihn die Fischer umzingeln wollen und beginnt zu laufen. Zu spät – er geht ihnen ins Netz. Was haben sie mit ihm vor?

Mein Eindruck

Ransom erscheint auf der symbolischen Ebene als der Seefahrer, der auf einer Insel gestrandet ist. Hier bekommt er es mit den Bewohnern der Insel von Shakespeares „Der Sturm“ zu tun. Quilter steht für den Naturgeist Caliban, Philip Jordan für den Luftgeist Ariel, Lomax für den Zauberer Prospero, Miranda für dessen naive Tochter Miranda, aber in ironischer Brechung als Hexe. Die einzige, die wider Erwarten keine Rolle spielt, ist Catherine Austen, die isolierte Frau – sie ist ein Spiegelbild Ransoms und wird zur Jagdgöttin Diana, begleitet von Wüstenlöwen.

Der Roman besteht aus drei Teilen: Nennen wir sie mal Paradies, Vorhölle und Inferno, wie bei Dante. Der erste Teil schildert den Zusammenbruch der Zivilisation, wie wir sie kennen, und den Aufbruch Ransoms mit einer Art Patchwork-Familie an die Küste. Es ist die Vertreibung aus dem Paradies inklusive Exodus und Sündenfall – Ransom, der Arzt, erschießt einen Mann.

Teil 2: Purgatorio

Der zweite Teil spielt zehn Jahre später. Die überlebenden Flüchtlinge ringen dem Meer das bisschen Leben an, das sie ergattern können: Fisch, Tang und destilliertes Meerwasser. Bei der Destillation entstehen Unmengen von Salz, das in wachsenden Dünen diese menschliche Vorhölle umgibt. Meerwasser wird eingefangen und wie eine Währtung gehortet und gehandelt.

Ransom lebt wieder mit seiner Frau Judith zusammen, will aber in die Siedlung des Reverend Johnstone ziehen. Dafür nimmt er einen Vorrat Meerwasser als Anzahlung oder Eintrittsgeld mit. Doch die Siedlung des mittlerweile fast blinden und senilen Lear-ähnlichen Reverend, einem gefallenen Neptun gleich, wird von dessen zwei älteren Töchtern beherrscht, während die dritte, Vanessa, als Ransoms Geliebte abgesondert lebt. Ransoms Bitte um Aufnahme wird abgelehnt.

Teil 3: Inferno

Im dritten Teil kehrt Ransom mit Quilters Mutter, Philip Jordan und Catherine Austen nach Hamilton zurück. Nirgendwo gibt es Wasser, doch jede Menge Feuer begleiten ihren Weg. Doch von wem werden sie gelegt? Es sind Signale obskurer Botschaft. In Hamilton herrscht mittlerweile Quilter über Leben und Tod, denn er ist Herr über ein überraschend großes Reservoir Wasser – in dem er Ransom um ein Haar ersäuft. In der Wüste zu ertrinken ist jedoch Ransom nicht beschieden, denn Mrs. Quilter setzt sich für ihn ein.

Miranda ist mittlerweile fett wie eine Robbe geworden und hat einen ganzen Wurf von Quilters Kindern geworfen. Obwohl sie verrät, dass sie dem Kannibalismus nicht abgeneigt ist, bietet sie ihre Gunst auch Ransom an. Doch da ist ihr Bruder Lomax vor. Der einstige Hausherr hat sich eine Art Kristallpalast errichtet und ist zu einem Hermaphroditen geworden. Er lebt nur noch, weil er für Quilter, den wahren Herrscher, Wasserreservoire finden soll. Als er sich endgültig weigert, dies zu tun, kommt es zur Katastrophe, die sich in Gewalt entlädt.

Kaum hat sich Ransom auf den Weg gemacht, die Wüste zu durchwandern, beginnt es zu regnen. Doch das merkt er schon gar nicht mehr …

Man sieht also eine deutliche und faszinierende Entwicklung der Zivilisation. Sie durchläuft einen Zyklus, der vorgezeichnet erscheint. Die äußere Evolution entspricht der der inneren Landschaft, denn bei Ballard ist alles symbolisch: Sündenfall, Vorhölle, Buße, Erlösung, Transzendenz, Gnade. Ransom ist der Sucher, der sich, wie die Helden in „Drowned World“ und „Crystal World“, in der Krise seinen Weg sucht, irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ransom denkt kaum an das, was war, und er imaginiert selten, was sein sollte. Er hält sich offen für das Mögliche, um es dann zu seiner Gegenwart zu machen. Manche folgen ihm darin, andere nicht.

Dies ist der erste Ballard-Roman, der die symbolische Sprache in aller Konsequenz einsetzt. Das macht ihn so wunderschön, trotz der vielleicht depressiv wirkenden Handlung. Deren Logik folgt einer inneren Zwangsläufigkeit, die zu poetischer Gerechtigkeit führt. Die Dummen werden sterben, die Sucher vielleicht erlöst – und die dazwischen leben weiter in der Vorhölle.

Unterm Strich

Anders als „Der Sturm aus dem Nichts“ ist dieser Roman ein vollwertiger Ballard, komplett mit brillantem Sprachstil, unzähligen Symbolen und einer stringenten inneren Entwicklung der Figuren und ihrer Beziehungen. Wie bei Dante ließe sich der Roman in Paradies (und Exodus), Purgatorio (Vorhölle) und Inferno unterteilen. Im Finale kommt es nach einer zirkulären Entwicklung zu einer Krise, deren gewalttätige Folgen den Ausschlag für Ransoms Entschluss geben, in die Wüste zu gehen (und dabei ahnte sein Schöpfer noch nichts von einer anderen Figur namens Paul Muad’dib).

3) ERDE: Die Kristallwelt

Doktor Edward Sanders, ein Fachmann auf dem Gebiet der Leprakrankheit, kommt im westafrikanischen Hafen von Port Matarre an. Er wurde von einem Freund zum Kommen aufgefordert, der ihm hin und wieder fragmentarische Berichte geschickt hatte, dass der Dschungel sich in Kristalle verwandle.

Bevor sich auf die Fahrt den Fluss hinauf macht, begegnet Dr. Sanders einer Reihe von bemerkenswerten, um nicht zu sagen merkwürdigen Gestalten, darunter ein Priester, der offenbar von einer unbestimmten Schuld gemartert wird, und einen trübsinnigen Architekten, der eine Pistole bei sich trägt. Sie alle sind aus unterschiedlichen Gründen von der geheimnisvollen Transformation angezogen, die sich weiter landeinwärts vollzieht.

Ein Militärkordon umgibt die betroffene Region, doch schließlich wird es Dr. Sanders erlaubt, das Gebiet zu betreten, um selbst zu sehen, was da vor sich geht. Er stellt fest, dass das Pflanzen- und Tierleben des Waldes durch eine Art „Krankheit der Zeit“ heimgesucht wird, die dazu führt, dass das Leben ebenso wie die Zeit praktisch einfriert. Der Wald ähnelt nun einer riesigen Kristallgrotte, die funkelt und blitzt. Die Beschreibungen, die Ballard für diese Fantasielandschaft gefunden hat, sind von geradezu hypnotischer Macht.

Soweit der erste Teil des Buches mit dem Titel „Äquinoktium“ (d.i. Tagundnachtgleiche). Im zweiten Teil taucht ein Wesen namens Der Leuchtende auf. Beide teile charakterisiert folgendes Zitat, das dem Buch vorangestellt ist und einen Eindruck von der Prosa vermittelt: „Am Tage flogen phantastische Vögel durch den erstarrten Wald, und edelsteinbesetzte Krokodile glitzerten wie heraldische Salamander an den Ufern des kristallinen Flusses. Nachts jagte der leuchtende Mann unter den Bäumen hin, die Arme wie goldene Wagenräder, der Kopf wie eine gespenstische Krone …“ (Das englische Wort „spectral“ ist hier doppeldeutig gebraucht: es bedeutet sowohl ‚in Spektralfarben schillernd‘ als auch ‚gespenstisch‘).

Die Landschaftsbeschreibung erinnert mich an Coleridges berühmtes Gedicht „Kubla Khan“, das er im Opiumrausch erfunden haben will und in dem er unter anderem das wunderbare Xanadu in glühenden Farben malt.

Mein Eindruck

Die Handlung, soviel dürfte schon klar geworden sein, ist von geringer Bedeutung. Die Stärke des Buches liegt in seiner visuellen Bildkraft, den Szenen, bei denen Ballard sein Können ausspielen kann.

Man erinnere sich nur eine der vielen bizarren Szenen in Spielbergs Verfilmung seines Romans „Das Reich der Sonne“: Die enteigneten und deportierten westlichen Ausländer kommen durch ein Stadion, das mitten in der Steppe steht und in dem die japanischen Besatzer all die enteigneten Besitztümer der Westler als Beute gelagert haben: Die Flüchtlinge verhungern neben ihren Rolls-Royces.

Genau diese Symbolkraft eines bizarren Bildes ist in „Kristallwelt“ bis zum Maximum gesteigert. Allein schon der einleitende Absatz stapelt Bilder, Farben und Symbole des Todes übereinander, dass der Leser weiß: Dies ist das Tor zur Hölle. „Die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!“ Was Dante in „Inferno“ schrieb, gilt sowohl für „Die Dürre“ als auch für „Kristallwelt“.

Transformation ist das Ziel von Ballards zersetzender Sprache: das wird ein abgestürzter Helikopter zu einem kristallen funkelnden Fabeldrachen; ein juwelenüberzogenes Krokodil; ein Mann, der aus dem Dschungel in halbkristallisiertem Zustand gezogen wird, rennt blutüberströmt zurück in das betroffene Gebie. Der Priester Balthus nimmt die Form eines Gekreuzigten an, als das Schiff seines Kirche allmählich kristallisiert; Dr. Sanders findet Leprakranke, deren Körper ihn nun an farbenfrohe Harlekins erinnern; ein eingeborener Krieger, der in eine Krokodilshaut gekleidet ist, besteht teils aus Mensch, teils aus Tier.

DER ANHANG

4) Nachwort von Klaus W. Pietrek (1991)

Besonders seit Spielbergs Verfilmung von Ballards autobiografisch angehauchtem Roman „Das Reich der Sonne“ erfreut sich der Schriftsteller weltweit großen Erfolgs. Immer mehr seine Romane werden von namhaften Verlagen veröffentlicht, sogar im lukrativen Hardcover. Das bedeutet aber nicht, dass man besonders Ballards Frühwerk, wie es in diesem Band vorliegt, versteht. Dazu liefert Pietrek knappe Einführung einen guten Zugang.

Der Autor beschäftigte sich früh mit der Psychiatrie, mit dem grafischen (nicht literarischen) Surrealismus, mit Freuds Triebtheorie und Jungs Archetypen, und sogar mit dem deutschen Philosophen Ludwig Klages finden sich überraschende Übereinstimmungen. Aufgrund der Fülle dieses Gedankenguts tut der Kritiker gut daran, sich ein Rüstzeug zu beschaffen, um Ballard auf Augenhöhe begegnen zu können. Pietrek gibt dazu lediglich Anregungen und Tipps und Fingerzeige, den Rest muss man selbst erledigen.

Im Unterschied zu vielen kulturpessimistischen Autoren des 20. Jahrhunderts, so Pietreks These, ist Ballard keineswegs ein Pessimist, sondern wartet mit einer Utopie für die Entwicklung des Menschen auf. All die Zivilisationen, die in seinen Romanen revolutionär zerstört werden, dienen lediglich dazu, die inneren Werte der Überlebenden hervorbrechen zu lassen: Sie müssen sich bewähren.

Die Bewährung nimmt häufig (etwa in „Kristallwelt“) die Form einer Verwandlung zu einem naturnahen, mythologisch verbrämten Wesen an. Die Aussage ist weit mehr als ein simples „Zurück zur Natur!“, sondern das Malen einer Utopie, die den Menschen erst zur Ruhe kommen lässt, wenn er sich mit der ihn umgebenden Natur und Welt versöhnt hat. Er muss dabei nicht zwangsläufig auf die Segnungen der Technik verzichten, aber die herkömmliche Technik wird nicht von Bestand sein.

5) Interview mit J. G. Ballard (David Pringle und James Goddard vom 4.1.1975)

Auf über 40 Seiten erfahren wir von der Biografie des Autors, die für ihn und sein Werk von entscheidender Bedeutung war. Schon in Schanghai 1941, als die Japaner die chinesische Stadt besetzten, begann er zu schreiben, machte damit in Großbritannien weiter, stieß auf die Science-Fiction-Literatur jedoch erst 1954 in Kanada, wo er auf einem Luftwaffenstützpunkt lebte. 1956 verkaufte er seine erste Story an das Magazin „New Worlds“, das für ihn in den nächsten 14 Jahren zu einem ständigen Abnehmer wurde.

Die Endzeitstimmung, die in vielen seiner Erzählungen zum Tragen kommt, stammt offenbar aus jenen Jahren des Krieges und der Internierung sowie der Nachkriegszeit. Ballard beschreibt dies sehr schön. Zu seinen sogenannten Katastrophenromanen ab „Der Wind aus dem Nichts“ kam er, um Geld zu verdienen. Diesen Roman klopfte er in nur zehn Tagen herunter, um auf Anraten seiner Frau ein wenig Geld für die mittlerweile fünfköpfige Familie hinzuzuverdienen. Er bekam mit 300 Pfund Sterling ein sehr stattliches Honorar, das ein ganzes Jahr reichte, und schrieb gleich im Anschluss „The Drowned World“ und „The Drought“.

Er streitet vehement ab, dass es sich um dabei traditionelle englische Katastrophenromane à la „Die Triffids“ von John Wyndham handelt. Tatsächlich ist der verrückt erscheinende Held, der das einzig Vernünftige und Sinnvolle tut, daher hätten diese Romane alle ein Happy End. Die Trilogie aus „Crash“, „Der Block“ und „Die Betoninsel“ schrieb er hingegen, um die Leute zum Nachdenken über moderne Technik, Autobahnen und Hochhäuser, also Lebensbedingungen zu bringen. Die „verdichteten Romane“ der „Atrocity Exhibiton“ („Die Schreckensgalerie“) waren jedoch nur möglich im Informationsklima Mitte der sechziger Jahre, danach nicht mehr. Sie riefen ein enormes Echo hervor.

Man sieht also, dass man selbst als Laie aus diesem Interview eine ganze Menge Informationen und Eindrücke herausziehen kann, ohne je den Faden zu verlieren. Man muss nicht einmal die besprochenen Werke kennen, um mithalten zu können. Ballard erscheint nicht als agent provocateur oder enfant terrible, sondern als ein Autor mit ganz eigenen und nachvollziehbaren Ansichten, ganz besonders auch über die SF-Literatur im Allgemeinen und bestimmte Autoren im speziellen. (Das Interview erschien zuerst 1983 im Suhrkamp-Taschenbuch „Polaris 7“.)

6) Zwei Aspekte von J. G. Ballards Werk (David Pringle)

Der Literaturkritiker Pringle hat sich an Northrop Fryes maßgeblichem Theoriewerk „Anatomy of Criticism“ (1957ff) orientiert und gemäß Fryes Definition nach Symbolen in Ballards Werk Ausschau gehalten. Er wurde fündig: Die Stoffe Wasser, Sand, Beton und Kristall tauchen immer wieder bei Ballard auf, bes. im Frühwerk. Welche symbolische Bedeutung tragen sie und wie wird sie vermittelt, fragt sich Pringle. Alle Landschaften sind bei Ballard selbstverständlich Landschaften der Seele.

Wasser steht für die Vergangenheit: Es ist das urtümliche Element, in dem jedes Baby heranwächst und aus dem das Leben auf der Erde entstanden ist. Dorthin sehnen sich die Menschen, die mit ihrem Intellekt eine Katastrophe nicht mehr meistern können, so etwa Dr. Kerans in „The Drowned World“.

Sand steht für die Zukunft und die Intellektualität, denn wer sich zu sehr auf seinen Intellekt verlässt und die Gefühle vernachlässigt, der trocknet seelisch aus. So geschieht es den ephemeren Charakteren in den „Vermilion-Sands“-Erzählungen („Die tausend Träume von Stellavista“), die sich nicht mehr fortpflanzen. Der Treffpunkt von Vergangenheit und Zukunft ist folglich der Strand. Hier treffen Leben und Tod aufeinander, so etwa in der klassischen Erzählung „Der ertrunkene Riese“ sowie in „The Terminal Beach“.

Das Element, das die Gegenwart am besten kennzeichnet, ist der Beton, so etwa in „Der Block“, „Die Betoninsel“ und in „Crash“. Es ist das unmenschlichste Element und somit das grausamste. Ironischerweise nisten Vögel auf dem Hochhausblock des gleichnamigen Romans, Kreaturen des Lebens, die unheilvoll auf dessen Bewohner herabblicken. Der Beton steht für die Klaustrophobie, die der Gefangene empfindet, wenn er sich seines Gefängnisses bewusst wird, und das Gefängnis, das ist die Stadt.

Das Element der Ewigkeit ist der Kristall, der alles in zeitloser Zeit unvergänglich einschließt. Das Fossil ist der in Sand eingeschlossene Kristall, ein Verbindungsstück zwischen zwei Bereichen. Der Kristall steht für die Aufhebung der Zeit, Ballards Himmel und „Stadt Gottes“ (civitas dei), wenn man so will. Nur hier ergeben sich die Helden dem Sich-Abfinden mit der Sterblichkeit und wandeln sich zugleich. Ballards Himmel ist ein ganz anderer als der des Westens, fernöstlich, fatalistisch, Zen-haft.

Das zweite Kapitel des Buchauszugs widmet sich den Figuren bei Ballard. Alle Figuren sind Symbole in einer symbolischen Landschaft, also nicht mit dem Autor oder seinen tatsächlichen Ansichten zu verwechseln. Alle seine männlichen Hauptfiguren sind allerdings wie er: weiße Angelsachsen mittleren Alters aus der Mittelschicht und mit einem hochqualifizierten Beruf ausgestattet, etwa Arzt oder Architekt.

Sie alle sind wenig tätig, sondern laborieren an Unzulänglichkeiten wie etwa einer gescheiterten Ehe oder Karriere. Was uns zu den Frauenfiguren bringt. Man hat Ballard Sexismus vorgeworfen. Tatsächlich sind in alle seinen früheren Storys und Romanen (1956 bis ca. 1976) alle seine Frauenfiguren entweder keifende, verständnislose Weiber oder sirenenhafte Verkörperungen des Lamia-Archetyps: schön, verführerisch und für unseren Helden potenziell tödlich. Es handelt sich also um Frauen, die entweder die Mutter verkörpern (Megäre) oder die kastrierende Frau (Lamia), die die Individuation des Helden (des Jung’schen Selbst) be- oder verhindern.

Es gibt weitere männliche Figuren. Wie in Shakespeares „Der Sturm“ handelt es sich dabei um:

a) den reichen und mächtigen, aber skrupellosen Mann (Prospero), der das Freud’sche Ego verkörpert und fast immer umkommt; dazu gehören auch Kerle der Unterklasse wie Strangman in „The Drowned Word“.

b) den idiotischen Spaßmacher (Caliban) und unqualifizierten Arbeiter, der vielfach von der Prospero-Figur ausgebeutet und/oder getötet wird, in „Betoninsel“ auch von der Hauptfigur;

c) der zartbesaitete Junge (Ariel), dem häufig ein tragisches Schicksal beschieden ist;

d) Verkörperungen von Autoritäten wie Armee, Kirche, Regierung (das Freud’sche Über-Ich)

e) der Greis, der Weisheit und Informationen weitergibt, eine seherische Teiresias-Figur.

Diese Hierarchie der männlichen Figuren erinnert an die in Philip K. Dicks Hauptromanen wie etwa „The Three Stigmata of Palmer Eldritch“. Warum es keine „warmherzige, ergiebige Beziehung“ zwischen Mann und Frau gebe, wurde Ballard gefragt. Er antwortete ausweichend. Pringle vermutet, dass eine solche Ideal-Ehe einfach nicht genügend Konfliktstoff für einen Stoff abgeben würde, wie ihn Ballard immer schreiben wollte: das (männliche) Ich in einer ungewöhnlichen oder absurd wirkenden oder gewordenen Welt, die ihn auf die Probe stellt. Es strebt nach einem Idealzustand, der selbst genügsam ist. Für Ehe ist dabei kein Platz.

Pringles Text wird beeinträchtigt von den Druckfehlern der Erstübersetzung in „Polaris 7“ (Suhrkamp 1983) und in den neu hinzugefügten Druckfehlern der Heyne-Ausgabe. Dadurch wird der eh schon nicht ganz einfache Text noch verwirrender. Nur wenn man wirklich hartnäckig ist und kenntnisreich genug, um sich die Fehler denken zu können – meist offensichtliche Grammatik und Rechtschreibfehler -, kann man den Text einigermaßen genießen. Ein Rückgriff auf die Suhrkamp-Version hilft leider auch nicht, denn die hat ebenfalls ihre Macken (z. B. „Ort“ statt „Art“).

7) Bibliographie (deutscher Ballard-Werke)

Diese Liste von rund 25 Seiten enthält enorm wertvolle Hinweise für den Ballard-Forscher. Sie liefert einen kompletten Überblick (Stand 1991!) über sämtliche auf Deutsch veröffentlichten Kurzgeschichten, Kurzgeschichtensammlungen und Romane, über die Interviews, die Schriften zu Kunst und Literatur usw. Weil besonders die Kurzgeschichtensammlungen ihre Zusammensetzungen ständig verändert haben, ist es für den Sammler wichtig, die Liste der aufgenommenen Kurzgeschichten zu erfahren, um Überschneidungen und Doppeltkäufe zu vermeiden.

Eine der wichtigsten Kurzgeschichtensammlungen Ballards ist die kontroverse „The Atrocity Exhibition“ von Ende der sechziger Jahre. Dazu gibt die Liste an, die Übersetzung „Liebe und Napalm – Export“ sei 1970 im Joseph-Melzer-Verlag erschienen, und die Edition Phantasia habe die Taschenbuchausgabe davon verlegt. Bei Amazon findet der Sammler gerade noch ein gebrauchtes Exemplar der Melzer-Ausgabe (für knapp 13 Euro), Edition Phantasia bietet das Buch überhaupt nicht mehr an, dafür gibt es aber seit 2008 im Milena-Verlag eine Neuausgabe – für den happigen Preis von 23,00 Euro. Es lohnt sich also, die Listenangabe zu prüfen.

8) Sekundärliteratur zu J. G. Ballard (Auswahl)

Es gibt doch schon ganz schön viel Sekundärliteratur zu diesem bekannten und wichtigen Autor. Auf der gut einen Seite dieser Liste sind v. a. deutsche Interviews und Aufsätze zu finden, also relativ leicht in Landes- und Staatsbibliotheken zugänglich.

Unterm Strich

In der Trilogie von Katastrophenromanen sind Menschen die Opfer der Ur-Elemente Erde (The Crystal World), Wasser (The Drowned World) und Feuer (The Burning World / The Drought). „The Wind from Nowhere“ ist thematisch dem Element Luft zugeordnet.

Hinter dem Zyklus steckt noch mehr, wenn man den Worten des Autors glauben darf (wem sonst?). Das Wasser in „The Drowned World“ steht für die Vergangenheit, „Crystal World“ für die Ewigkeit und der Sand in „The Drought“ für die Zukunft. Ihnen sind die Metaphern Wasser, Kristall und Sand zugeordnet. In späteren Romanen wie „Highrise“ und „Concrete island“ kommt noch die Gegenwart hinzu, vertreten durch die Metapher Beton (concrete). (Siehe dazu meinen Bericht.)

1) „Der Sturm aus dem Nichts“

Dass der Roman völlig konventionellen Vorgaben gehorcht und voller Klischees der Katastrophenliteratur steckt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es doch mit einem Ballard zu tun haben: Eine einzige Kraft transformiert die gesamte Erde, genau wie in „The Drowned World“, „The Drought“ und „The Crystal World“. Stets hat der Mensch eine Möglichkeit, sich der Landschaft anzupassen, sei es in den Tropen, im Sandmeer oder im Dschungel der Kristallwelt.

Die vorliegende Umwandlung lässt den Menschen jedoch nicht die geringste Chance, sich der entstehenden Landschaft anpassen – denn aus all den Bauwerken des Menschen und allen Formen des natürlichen Lebens entsteht nur eines: Staub. Mit anderen Worten: Die Erde wird so unbewohnbar wie der Mars, aus einem relativen Eden wird eine unbarmherzige Hölle. Nur im allerletzten Augenblick gewährt die Natur den todgeweihten Überlebenden – seien es vier oder 400 – einen Gnadenaufschub. Bis zum nächsten Mal?

Die Figur Hardoons ist sowohl konventionell als auch dramatisch wichtig. Der Millionär fordert die Urkraft des Elementes Luft heraus. Er ist jedoch weder der Magier Prospero noch Kapitän Ahab, sondern ein Trotzkopf, der der unintelligenten Natur etwas selbst Errichtetes entgegenstellt. Wird er damit bestehen oder untergehen? Das sollte man selbst lesen.

2) „Die Dürre“

Anders als „Der Sturm aus dem Nichts“ ist „Die Dürre“ ein vollwertiger Ballard, komplett mit brillantem Sprachstil, unzähligen Symbolen und einer stringenten inneren Entwicklung der Figuren und ihrer Beziehungen. Wie bei Dante ließe sich der Roman in Paradies (und Exodus), Purgatorio (Vorhölle) und Inferno unterteilen. Im Finale kommt es nach einer zirkulären Entwicklung zu einer Krise, deren gewalttätige Folgen den Ausschlag für Ransoms Entschluss geben, in die Wüste zu gehen (und dabei ahnte sein Schöpfer noch nichts von einer anderen Figur namens Paul Muad’dib).

3) „Die Kristallwelt“

David Pringle ist der Ansicht, dass es sich bei „Kristallwelt“ um einen metaphysischen Thriller handelt, über den menschlichen Drang, eine Welt jenseits der Gesetze der Zeit zu suchen. Es geht aber auch um die Notwendigkeit, dabei das eigene bisherige Ich zu verneinen, um eine solche Welt betreten zu können – siehe Dantes Motto über dem Eingang zur Hölle. Der Protagonist verhält sich in keinster Weise wie die Helden herkömmlicher Katastrophenromane vor allem britischer Provenienz: Er kämpft nicht gegen das Unglück an, um Neues aufzubauen, sondern lassen sich von ihm im Unterbewusstsein anziehen.

Bezeichnenderweise ist für Doktor Sanders seine Weiterreise flussaufwärts keine Niederlage, sondern seine Erfüllung, wenn er in dem kristallisierten Gebiet aufgeht: Die Verschmelzung mit der Natur ist sein Ziel. Möglicherweise um sowohl die Getrenntheit von der Natur wie auch die Unterwerfung unter die Zeit zu überwinden. Die religiösen Untertöne dürften deutlich sein. Anders als der Chronist Marlow bei Joseph Conrad in „Heart of Darkness“ findet Sanders nicht das Grauen, sondern die Transzendenz, die Transformation.

Eine mögliche Fortsetzung ließe sich in Ballards viel späterem Roman „The Day of Creation“ sehen: Hier findet ein Afrikaforscher die wichtigste Quelle der Welt und verändert so das Antlitz der Welt.

Die Anhänge

Die beiden Bibliografien erweisen sich als literaturwissenschaftliches Rüstzeug, das auch dem Sammler gute Dienste leistet. Leider sind sie inzwischen, nach 20 Jahren, veraltet. Das Interview ist äußerst lesbar und leicht verständlich. Voraussetzung ist allerdings, dass man Ballards Romane bereits kennt. Eine Hilfestellung gibt dafür Pietreks Einführung in das Werk und zum Autor Ballard.

Eine Herausforderung stellt danach Pringles zwei Buchkapitel über die Symbole und die Figuren in Ballards Werk dar. Das Werk zu kennen, erweist sich als sehr empfehlenswert, und zwar nicht nur die Romane (bis „Der Block“ und „Betoninsel“), sondern besonders auch die Kurzgeschichten. Aber auch wenn man das Werk nicht kennt, kommt man zurecht – nur wird der Text dann ziemlich schnell langweilig und erscheint als Aneinanderreihung von Behauptungen. Pringles Befunde fand ich ausnahmslos wertvoll und nützlich (s. o.).

Schwächen

Dieser Band „Zeit endet“ weist einen unübersehbaren Mangel auf: Der wichtige Roman „The Drowned World“ fehlt darin. Kein Wunder: Die deutsche Übersetzung „Karneval der Alligatoren“ wurde in der Heyne SF Bibliothek bereits zuvor separat veröffentlicht. Nichtsdestotrotz führt das Fehlen dieses Romans dazu, dass David Pringles Essay, der ihn interpretiert, und Ballards Interviewaussagen seltsam in der Luft hängend wirken. Ihnen fehlt der Bezugspunkt. Nun ist der Leser wohl oder übel gezwungen, „Karneval der Alligatoren“, hinzuzukaufen, will er überhaupt mit Ballard und Pringle mithalten.

Die Übersetzungen

„Der Sturm aus dem Nichts“ bietet eine anspruchslose Übersetzung des Heyne-Verlags aus dem Jahr 1964. Leider ist der Sprachstil selbst dieses Textes, der keine Hürden in Form von Metaphern bietet, alles andere als vergnüglich oder gar faszinierend, sondern einfach nur unbeholfen. Die Zahl der Druckfehler hält sich wenigstens stark in Grenzen (drei insgesamt).

Die Übersetzung von „Die Dürre“ durch Maria Gridling bietet den kompletten Text mit sämtlichen Teilen und Kapitelüberschriften. Ihre Formulierungen folgen dem eleganten Stil der britischen Vorlage, ohne sie ins deutschsprachige Korsett zu zwängen. So erhalten wir einen guten Eindruck von Ballards Sprachkunst. Der einzige Wermutstropfen sind die zahlreichen Druckfehler (genau 17), die ich in der Fassung der Heyne-Ausgabe in „Zeit endet“ (1991) entdecken musste. Das kann aber auch an Heynes Texterfassung liegen. Auffällig sind die vielen Ersetzungen von „b“ durch „h“, so als wäre der Text automatisch durch optische Zeichenerkennung (OCR) erfasst worden, leider fehlerhaft.

Die hier abgedruckte Übersetzung von „Kristallwelt“ folgt ebenfalls einer Suhrkamp-Ausgabe (und die Version bei Edition Phantasia kam viel später). Margarete Borman hat den schwierigen Text der britischen Vorlage ebenfalls gemeistert, so dass man einen guten Eindruck vom Original erhält. Allerdings gilt es zu beachten, dass manche Wörter absichtlich vieldeutig sind. Zitat: „Nachts jagte der leuchtende Mann unter den Bäumen hin, die Arme wie goldene Wagenräder, der Kopf wie eine gespenstische (= spectral) Krone …“ Das englische Wort „spectral“ ist hier doppeldeutig gebraucht: es bedeutet sowohl ‚in Spektralfarben schillernd‘ als auch ‚gespenstisch‘.

_Unterm Strich bietet_ dieser Band also vollgültige und vollständige Textfassungen und einen wertvollen Anhang von Ansichten über Ballard bzw. Ansichten von Ballard (im Interview). Wegen des Fehlens von „The Drowned World“ und der zahlreichen Druckfehler gibt es aber Punktabzug.

Taschenbuch: 734 Seiten
Originaltitel: The Wind from Nowhere; The Drought; The Crystal World (1962-1966)
Aus dem Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453045156
www.heyne.de

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)