Clive Barker – Abarat

Das Tor zur Hölle ist zu!

Stattdessen hat Clive Barker das Tor zu einer anderen Welt aufgestoßen, zu Abarat, einem Archipel seltsamer Inseln, seltsamer Kriege, seltsamer Wesen und seltsamer Bräuche. Ein Auftakt ist dieser Band, und drei weitere werden folgen, werfen wir also einen Blick auf diejenige, um die sich alles dreht:

Fear and Loathing in Chickentown.

Candy Quackenbush lebt in Chickentown, Minnesota, und könnte sich nichts Langweiligeres vorstellen als das. Ihr Vater trinkt und schlägt sie, ihre Mutter hat sich schon längst in ihr Schicksal ergeben, und ihre Geschichtslehrerin piesackt sie mit der Hausaufgabe, Interessantes über ihre Heimatstadt herauszufinden. Nun, aber Candy denkt gar nicht daran, irgendwelche staubtrockenen Lehrbuchfakten zusammenzutragen, sondern wendet sich an eine tratschige Supermarkt-Kassiererin, um in skurrilere Tiefen ihrer Heimatstadt abzutauchen.

So erfährt sie von Henry Murkitt, von dessen Vater, dem eigentlichen Gründer von Minnesota, von einem mysteriösen Selbstmord, von seltsamen Gegenständen und Zeichen. Diese Geschichten schlagen Candy vollkommen in den Bann. Ihre Geschichtslehrerin natürlich nicht, und so büxt Candy aus ihrer Schule aus und findet den Beweis, dass Henry Murkitt alles andere als verrückt war …

Die Inseln der Uhrzeit.

Abarat ist eine Inselkette, auf der die Zeit nicht normal funktioniert. Jede Stunde hat ihre eigene Insel, ob Yzil, die Insel der Mittagsstunde, auf der die Freuden niemals enden, oder Gorgossium, Heimat von Christopher Carrion, dem Fürsten der Mitternacht. Odoms Spitze nicht zu vergessen, Insel der fünfundwanzigsten Stunde, Heimat der Zeit außerhalb der Zeit, von der noch niemand zurückgekommen ist, und wenn doch, waren sie ihres klaren Verstandes entledigt.

Die Harmonie der Inseln bröckelt aber, Ursache ist der findige Geschäftsmann Rojo Pixler, der sich mit seinem Allheilmittel eine goldene Nase verdient und mit seinem Monopol Unmengen an Macht an sich reißt. Auf Pyon, der Insel der dritten Stunde, hat er Commexo-City gebaut, eine Stadt, die ihren Prunk so hell herausstrahlt, dass die Dunkelheit auf dieser Insel irrelevant wurde. Bald stellt sich heraus, was er in Zukunft noch alles plant …

Hilfreich ist übrigens der Anhang: Ein Auszug aus „Klepps Almanach“, in dem jede Insel mitsamt ihrer Besonderheiten beschrieben wird, ergänzt durch eigenhändige Zeichnungen von Clive Barker selbst.

Horrorfantasy mit Maulkorb.

Die Sprache, die Figuren, die Geschichte, all das deutet mit großem Finger auf die jugendliche Zielgruppe. Aber auch wenn Clive Barker das dunkelrote Tintenfässchen nur vorsichtig benutzt, tut er es dennoch, und für eine Jugendgeschichte teilweise doch recht deftig. Da gibt es magische Sklaven, die aus toter Haut zusammengenäht wurden, schleimtropfende Drachenschlachten und einen Antagonisten, der wie ein gezähmter Cenobit daherkommt.

Das ist aber keine Kritik, im Gegenteil. Der junge, mündige Leser bekommt eine zauberhafte Welt präsentiert, die sich aber nicht nur auf Feenstaub und nette Leute beschränkt. Christopher Carrion etwa, der Fürst der Mitternacht, ist ein herzloses Ungeheuer mit so grausamen Gedanken, dass sie ihm als Nachtmahre um den Kopf schwimmen, es gibt einen supersadistischen Zauberer, ein spinnenbeiniges Scheusal von ausgesuchter Grausamkeit, und da ist ja noch die Insel der 25. Stunde … Aber es soll nicht zu viel verraten werden.

Bildreicher Prolog mit schwachem Finale.

Im Großen und Ganzen passiert recht wenig in diesem ersten Band. Candy wird vorgestellt, Abarat auch, die Gegenspieler treten auf den Plan und die Strippenzieherinnen, die mit Candys Reise nach Abarat zu tun haben. Natürlich erlebt sie schon jetzt einiges an Abenteuern in dem seltsamen Archipel, sie lernt Freunde kennen und bekommt es mit furchtbaren Gegenspielern zu tun, aber die Zusammenhänge zeichnen sich erst durch klitzekleine Andeutungen ab.

Die wirkliche Stärke ist hier die Sprache. Die „unvergesslichen Bilder“, die Cornelia Funke auf dem Einband verspricht, hat Clive Barker tatsächlich geschaffen; „Abarat“ lebt von seinen lebendigen, überaus optischen Schilderungen. Ansonsten bleibt es aber bei vielen Andeutungen, und wenn man das Buch zuklappt, hat man eigentlich noch mehr Fragen als zu Beginn. Dazu kommt, dass sich zum Schluss zu doch einige Längen einschleichen, da zwar viel passiert, aber keine weiteren Geheimnisse gelüftet werden.

Trotzdem. Bei einem unbekannten Autor wäre ich wohl etwas skeptischer, aber Clive Barker hat bereits mit „Gyre“ und mit „Imagica“ bewiesen, dass er durchaus in der Lage ist, komplexe, ideensprühende Fantasy zu verfassen; und mit dem „Haus der verschwundenen Jahre“ hat er gezeigt, dass er auch der jüngeren Zielgruppe einen ausgeklügelten Schauder verpassen kann. Dementsprechend vertraue ich ihm, dass hinter den aufgeworfenen Fragen große Zusammenhänge warten. Außerdem ist „Abarat“ eine herrliche Hommage an den Träumer in uns, ein Ausbruch aus der grauen Welt erwachsener Vernunft, der einen sehnsuchtsvoll zum Horizont sehen lässt.

Ich bleibe dabei. Abarat ist ein stimmungsvoller Trip, wie von Enid Blytons makabrer Tochter geschrieben, es ist ein lockeres Abenteuer für das Kind im Erwachsenen und eine erfrischend unkitschige Träumer-Tour für den jugendlichen Leser. Nicht umwerfend, aber lesenswert; die wahre Größe von Abarat wird sich ohnehin erst nach dem Lesegenuss des vierten und letzten Bandes offenbaren.

Taschenbuch: 430 Seiten
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