John Barnes – Der Himmel, so weit und schwarz

Willkomen in der Zeit nach den Mem-Kriegen

Es startet gemächlich: Ein altgedienter Alkoholiker-Cop und Psycho-Doctor setzt sich vor die imaginäre Kamera, schnappt sich einen Becher Whiskey und starrt auf seinen Bildschirm. Er erwartet eine Nachricht von einem seiner „Fälle“, von Terpsichore Melpomene Murray, die sich aus unerfindlichen Gründen nicht mehr melden mag.

Weil diese erhoffte Meldung ausbleibt, beginnt er dem Leser das Universum zu vermitteln, in dem dieser Roman spielt. Der Leser erfährt, dass eine künstliche Intelligenz jeden Menschen auf der Erde kontrolliert, dass deswegen ganze Generationen flüchten, um ein karges Leben auf dem Mars zu beginnen. Aber auch die Mars-Bewohner sind vor einer Übernahme nicht sicher: Die Künstliche Intelligenz entwickelt sich. |OneTrue| versucht, den Mars mit dem „Resuna-Mem“ zu infizieren, einem Gedankenvirus, der über eine codierte Kommunikationssequenz in die Hirne seiner Wirte gelangt, um sie unter die Kontrolle der KI zu stellen. Jegliche Information, die von der Erde auf den Mars gelangt, könnte ein Resuna-Träger sein.

Terpsichore Melpomene Murray ist eine fünfzehnjährige Ökospektorin, deren Vorfahren vor dieser geistigen Übernahme geflohen sind. Zusammen mit ihrem Vater zieht sie über den Mars, um dort die Bedingungen für Leben zu schaffen. Sie hasst ihre Schule, möchte heiraten und wünscht sich nichts mehr, als bis zu ihrem letzten Atemzug als Ökospektorin arbeiten zu können, um den Mars zu „terraformen“.
Dieser Traum ist aber nicht realistisch: Es gibt immer mehr Ökospektoren, aber immer weniger „Treffer“ die sich in bare Münze verwandeln lassen.

Teris Vater, ein gnadenlos ehrlicher Mann, versucht ihr das klar zu machen. Er wünscht sich, dass Teri-Mel ihre Schule vollendet, um für den Fall ausgerüstet zu sein, dass ihr jetziger Beruf nicht genug abwirft, um davon leben zu können. Aber es ist noch nicht aller Tage Abend: Teris Vater vermutet einen Treffer, ein Potenzial an Bioenergie, das sie so reich machen würde, dass sie für alle Tage ausgesorgt hätten. Und dann, so verspricht er seiner Tochter, kann sie heiraten, wen sie möchte und die Schule verlassen; ihr Traum vom ewigen Ökospektor wäre möglich.

Immer wieder pausiert der Psycho-Doc mit seinen Aufzeichnungen. Von der ersten Seite an schwant uns, dass Teris Leben nicht so verläuft, wie sie es sich wünscht, und mit jeder verstrichenen Seite wünscht man selbst, dass es eben doch nicht zu der Katastrophe kommt, die zwischen jedem Wort des Docs hervorlugt.

Stilverbrechen, die keine sind

Wie gesagt, es ist ein gemächlicher Ton, den John Barnes hier anschlägt, noch dazu ziemlich karg an Bildern und reich an Erzähltem. Als ob das noch nicht genug wäre, begeht Barnes jenes Kapitalverbrechen, das jeder Lektor mit gefletschten Zähnen bestraft: Rückblende. Alles entfaltet sich in Rückblenden. Das ganze Buch ist eine Rückblende. Aber damit wird sie auch schon zur Kunstform:

Teri-Mel und der Psycho-Doc ermöglichen einen Blick auf eine wunderbar tiefsinnige Welt, in der die Soziologie und die Hintergründe erstaunlich tief gezeichnet sind. Der familiäre Zusammenhalt der Ökospektoren, ihre Rituale und ungeschriebenen Gesetze sind fein und liebevoll ausgestaltet worden – Barnes hat dabei nicht versäumt, die Entwicklung zu dieser modernen Arbeitergesellschaft aus unserer Gegenwart heraus zu konstruieren.

Er ist dabei ernst- und gewissenhaft vorgegangen: Das „Terraforming“ der Ökospektoren leidet keineswegs an der oft niedlichen Überzeichnung vieler Space-Operas, sondern hat einen ziemlich harten und wissenschaftlichen Unterbau.

Das Menschenbild, das Barnes vermittelt, unterscheidet sich dabei deutlich vom stolzen Menschenbild vieler Vertreter der älteren Science-Fiction-Generation. Oder um es mit den Worten von Teris Vater zu sagen: „Wir sind alle bösartige Teufel in den hässlichen Körpern geiler Affen.“

Der Astronauten-Flüsterer

Es ist kein Wunder, dass sich „Der Himmel, so weit und schwarz“ über ein derartig ausdifferenziertes Universum breitet. Die Welt der Mem-Kriege hat John Barnes schon 1991 entwickelt, in seiner „Century Next Door“–Reihe. „Das Kaleidoskopische Jahrhundert“ ist gar die Geschichte von Melpomene Murray, jener Frau, der Terpsichore Melpomene ihren Namen zu verdanken hat.

Aber auch die „harten“ Informationen haben ihre Grundlage: John Barnes hat zwei Romane zusammen mit Buzz Aldrin verfasst: [„Begegnung mit Tiber“ 1285 und „Die Rückkehr“ sind zusammen mit dem Fachwissen entstanden, das der zweite Mann auf dem Mond beigesteuert hat, und dieses Fachwissen ist es auch, das „Der Himmel, so weit und schwarz“ so authentisch klingen lässt.

Die soziologische Sicherheit wiederum, mit der Barnes seine Zukunftsgesellschaft konstruiert hat, dürfte in dem Politikstudium begründet liegen, das er in der Washington University absolvieren konnte.

Melancholische Bummelfahrt durch ein interessantes Leben

Um zum Buch zurückzukehren: So gemächlich „Der Himmel, so weit und schwarz“ startet, so gemächlich schlendert die Story auch bis zu ihrem Ende. Die Spannungskurve entsteht eben durch diese Rückblenden, man weiß, dass etwas Schreckliches geschieht (sehr bald weiß man auch, was das sein wird), man ahnt, dass es nicht bei diesem einen Unglück bleiben wird. So wendet man jede Seite vorsichtig um, immer in der Furcht, dass Teris Leben hier den brutalen Einschnitt erleiden wird, der sich ständig drohend abzeichnet.

Die Faszination, die dem Leser vom Umschlag versprochen wird, entfaltet sich daher nur langsam, aber sie entfaltet sich intensiv. Dieses Buch ist kein Pageturner im klassischen Sinn, dafür ist es viel zu ruhig und frei von geschickt gekappten Szenen, die die Story in Schwung zu halten versuchen.

Trotzdem habe ich „Der Himmel, so weit und schwarz“ innerhalb von drei Tagen gelesen. Es ergeht einem nämlich nicht anders als dem Psycho-Doc: Man beginnt Teri-Mel zu mögen. Man will unbedingt wissen, was ihr widerfahren wird.
Dementsprechend kann ich dem Klappentext voll zustimmen: Das Buch bleibt einem lange im Gedächtnis. Die melancholische Stimmung, die es ausmacht, verflüchtigt sich erst, nachdem die Buchdeckel schon längst zugeschlagen worden sind.

Ein selbstbewusster Schritt zwischen die Stühle

Trotz dieser Vorzüge wird der eine oder andere das Buch nach den ersten „ereignislosen“ Seiten weglegen.

Den Fan von harter Science-Fiction wird der intensive Blick auf und in die Figuren stören, der eine rasante Handlung nicht im Ansatz aufkommen lässt, und dem Leser figurenbetonter Romane wiederum wird es viel zu viel technischer Fachjargon sein. Barnes verlangt von seinen Lesern nämlich schon eine gewisse Standfestigkeit in der Science-Fiction: Viele futuristische Geräte gibt es, mit der entsprechenden Kunstsprache beschrieben, aber niemals vollständig erklärt. Barnes verlässt sich hier voll und ganz auf die Fantasie des Lesenden, und wer nicht gewillt ist, sich sein eigenes Bild von den fremd klingenden Gerätschaften zu machen, wird in einem Sumpf aus Science-Fiction-Sprache versinken.

Aber jene Zielgruppe, die genau zwischen diesen beiden Stühlen sitzt, kommt in den Genuss einer ruhigen Reise voller Düsternis, Melancholie und einfachem Charme. Ich kann nur empfehlen, auf das Einsetzen der versprochenen Faszination zu warten, und denke, dass sie sich bei vielen einstellen wird. Selbst wenn es ein wenig dauern mag.

Wer Teri-Mel und den Psycho-Doc vorab kennen lernen möchte, kann sich auf die Homepage des [Festa-Verlages]http://www.festa-verlag.de begeben: Dort gibt es die ersten beiden Kapitel als Leseprobe.

Taschenbuch: 336 Seiten