Stephen Baxter – Zeit (Das Multiversum 1)

Botschaften aus der Zukunft, Reisen in eine Milliarden Jahre entfernte Zukunft: „Zeit“ (orig.: „Manifold: Time“) ist ein Science-Fiction-Roman voller effektvoller Ideen, die sich der Autor jedoch nicht aus den Fingern gesogen hat. Sein Nachwort belegt seine fundierten wissenschaftlichen Quellen. Das muss nicht bedeuten, dass diese Ideen innerhalb der Science-Fiction neu sind, vielmehr beutet Baxter sie auf neue Weise aus.

Der Autor

Stephen Baxter (* 13. November 1957 in Liverpool) ist ein englischer Science-Fiction-Autor, der seit 1995 diese Tätigkeit hauptberuflich ausübt. Baxter studierte Mathematik in Cambridge und wurde als Ingenieur an der Southampton-University promoviert. Einige Jahre lang lehrte er Mathematik, Physik und Informatik.

Sein Stil als Hard-SF-Schreiber gilt als einzigartig. Er hat viele Preise gewonnen: Den Philip K. Dick Award, den John W. Campbell Memorial Award, den British Science Fiction Association Award, den deutschen Kurd-Laßwitz-Preis und den Seiun Award (Japan). Den Sidewise Award für Geschichten, die sich um alternative Zeitlinien drehen, erhielt er zum einen für seinen Roman Voyage (dt. Mission Ares) und zum anderen für seine Erzählung Brigantia’s Angels, für die Erzählung Huddle bekam er den Locus Award. Stephen Baxter stellt in jedem seiner Romane eine Frage und leitet dann Antworten aus dem aktuellen Kenntnisstand der physikalischen Gesetze und Theorien her.

Die mittlerweile umfangreiche Bibliografie findet sich HIER.

Die Manifold-Trilogie

In „Manifold: Time“ erschließt er die zeitlichen Dimensionen, in die sich zuerst sein Landsmann Olaf Stapledon in den 1930er Jahren wagte („Der Sternenschöpfer“, „Die letzten und ersten Menschen“): Billiarden von Jahren in der Zukunft, am Ende des Universums. In „Manifold: Space“, seinem neuesten Roman, versucht er das Gleiche für die Dimension des Raums.

In „Manifold: Time“ erschließt er die zeitlichen Dimensionen, in die sich zuerst sein Landsmann Olaf Stapledon in den 1930er Jahren wagte („Der Sternenschöpfer“, „Die letzten und ersten Menschen“): Milliarden von Jahren in der Zukunft, am Ende des Universums. In „Raum“ (orig.: „Manifold: Space“), dem Nachfolgeroman, versucht er das Gleiche für die Dimension des Raums. Den Abschluss fand die |Multiversum|-Trilogie mit „Ursprung“ (orig.: „Manifold: Origin“).

Handlung

Im Jahr 2010 sind die Aussichten für die Erde und das Überleben des Menschen als Spezies noch düsterer als sie es bereits heute sind. Da die Erforschung und Nutzung des Weltraums jenseits des Mondes seit 40 Jahren von der NASA blockiert wird und so die Weltwirtschaft in einem geschlossenen Kreislauf auf die Ausbeutung der Erde hinarbeitet, sehen der Ex-NASA-Mitarbeiter und Unternehmer Reid Malenfant und sein geistiger Mentor Cornelius Taine nur einen Ausweg, nämlich den Ausbruch aus der Umklammerung der NASA durch ein waghalsiges Unternehmen: den Start eines privaten Raumschiffs.

Kurz bevor die von der Regierungsbehörde NASA in Marsch gesetzten Bürokraten dieses Vorhaben verhindern können, gelingt Malenfant der Start des Big Dumb Booster, eines Billig-Shuttles. Die |Nautilus| hat keine Besatzung außer einem genetisch zu einem intelligenten Bewusstsein gebrachten Tintenfisch. Dieser Kalmar namens Sheena 5 ist sozusagen der Pilot der |Nautilus| und wie sich später herausstellt, hat sie ein kleines Geheimnis mitgenommen: Sie ist schwanger…

Das Ziel des Raumfahrtprogramms, für das Malenfant eine Reihe von Investoren gewinnen konnte, war ursprünglich das Einfangen eines Asteroiden, dessen Erzvorkommen ausgebeutet werden sollten. Doch in letzter Minute ließen Malenfant und Taine das Ziel ändern. Die Gründe dafür sind sehr überraschend. Die beiden haben nämlich eine per Neutrino übertragene Botschaft erhalten: „1986 – 3753“. Wie sich zeigt, sind dies die astronomischen Daten für einen einzigen möglichen Kandidaten: Nur der exzentrische Asteroid Cruithne (sprich: kruuth’ni) kommt in Frage, und seine Umlaufbahn weist ihn als zweiten Mond der Erde aus.

Doch wer schickte die Botschaft aus der Zukunft? Taine nennt sie die Downstreamer, nach ihrer Position im abwärts gerichteten Fluss der Zeit, in der Zukunft. Als die Nautilus auf Cruithne eintrifft, veranlasst Sheena 5 alle richtigen Vorgänge, um die Materialvorkommen Cruithnes auszubeuten. Sie nutzt sie außerdem insgeheim, um ihrer Nachkommenschaft das Überleben zu sichern, zumindest den vier Kalmaren, die sich als ebenso intelligent wie sie selbst herausstellen. Die Kinder von Sheena 6 bis 9 teilen diese Intelligenz, doch sehen auch sie ihr Überleben bedroht, da die Ressourcen nicht reichen. Und so erkunden sie Cruithnes andere Seite. Hier stoßen sie auf ein Artefakt: einen blauen Ring, ein Tor in eine andere Zeit, die Zeit der Downstreamer.

Malenfant, seine Ex-Frau und Managerin Emma und Taine sind von den Socken. Sie können durch unabhängige Miniroboter die Vorgänge auf dem Asteroiden verfolgen. Der blaue Ring ist das Symbol, das die überdurchschnittlich intelligenten Kinder tragen, die in letzter Zeit überall auf der Erde aufgetaucht sind. Eines dieser Kinder, Michael, hat Emma selbst in Sambia besucht: Er hat schwierigste physikalische und mathematische Probleme intuitiv gelöst. Offensichtlich besteht ein Zusammenhang zwischen Downstreamern (die Cruithne-Botschaft), dem Cruithne-Artefakt und den Blauen, wie die jungen Genies genannt werden. Wollen uns die Downstreamer retten, bevor wir uns selbst ausrotten, wie ein gewisser Carter ausgerechnet hat? Er prophezeit den Zusammenbruch der Weltwirtschaft für die nächsten 150 bis 240 Jahre.

Selbstverständlich haben alle diese Enthüllungen, die der eifrige Malenfant an die Medien weitergibt, eine brisante Wirkung auf die vernetzte Weltbevölkerung: Selbstmorde, selbsternannte Rächer und Weltuntergangssekten, Kirchendementis und die obligate NASA-Blockierung sind an der Tagesordnung. So hat Emma alle Hände voll zu tun, das Überleben von Malenfants Firma zu sichern.

Doch beim nächsten Start zum Asteroiden nimmt Malenfant nicht nur Taine mit, sondern auch das junge Genie Michael und – Emma. Verfolgt von Kongressanordnungen, Racheanschlägen und natürlich NASA-Schergen, kann Malenfant gerade noch abheben, bevor man seine Firma und die von Taine dichtmacht. Und was er der völlig überraschten Emma nicht gesagt hat, ist das Geheimnis, warum er aus der NASA geflogen war…

Mein Eindruck

Mit Hilfe heute noch exotisch erscheinender Ideen aus der Quantenphysik versucht Baxter, im Leser eine Art |sense of wonder| zu erzeugen. Das gelingt ihm auch stellenweise ausgezeichnet. Voraussetzung ist natürlich, dass der Leser geistig mithalten kann. Dies ist also eher ein Buch für Luft- und Raumfahrttechniker…

Bevor der Leser jedoch völlig abzuheben droht, schiebt Baxter immer wieder Textschnipsel aus der „realen“ Welt des Jahres 2010 ein, beispielsweise aus Internet-Artikeln (mit simulierten Hyperlinks) oder aus Interviews. Diese filmische Technik hat er sich von John Brunners großartigem Roman „Morgenwelt“ („Stand On Zanzibar“, 1969) abgeschaut. Zum Glück traut er sich nicht, die chronologische Abfolge der erzählten Ereignisse durcheinanderzubringen, wie dies gerne Mainstream-Autoren wie Douglas Coupland praktizieren. So hat der Leser stilistisch festen Boden unter den Füßen.

Was die Wahrscheinlichkeit des geschilderten Szenarios anbelangt, so besteht zwar eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Zusammenbruch der Imperiums des Menschen in den nächsten 200 Jahren stattfindet, doch die Methoden, wie dies verhindert werden könnte, sind natürlich Baxters Erfindung: privatunternehmerische Erforschung und Ausbeutung der Asteroiden beispielsweise, hilfreiche bzw. warnende Botschaften aus der Zukunft, |Uplifting| von intelligenten Spezies usw.

Die einzigen Downstreamer, die es geben wird, sind wir selbst. Und der Stream, in dem wir abwärts schwimmen, ist sowohl die Zeit als auch der sich verschlimmernde Zustand unseres blauen Planeten. Baxters Figur Taine behauptet, die Erde sei der einzige Ort im Universum, wo sich nach dem Big Bang intelligentes Leben entwickelt habe. Nun haben wir keine Ausrede mehr: Wenn wir unser Mutterschiff Erde gegen die Wand gefahren haben, wird es keine Aliens geben, denen wir die Schuld in die Schuhe schieben können. Die Aliens sind wir selbst.

Taschenbuch: 688 Seiten
Aus dem Englischen übersetzt von Martin Gilbert.
ISBN-13: 9783453213562

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