Frank Beddor – Das Spiegellabyrinth

Der britische Autor Lewis Carroll schuf mit „Alice im Wunderland“ (1865) und dem Nachfolger „Alice hinter den Spiegeln“ (1871) zwei heute als Klassiker geltende Werke der Kinder- und Jugendliteratur. Auch jenseits dieser Alterklasse erfreuten und erfreuen sich diese Bücher großer Beliebtheit. Dies liegt vor allem an der fantasievollen Gestaltung des Wunderlands und seiner „Bewohner“. Mathematische Logik scheint in dieser Welt nicht zu existieren, weshalb es dort vor Absurditäten und Ungereimtheiten nur so wimmelt. So lieferten die Romane sowohl Gesprächsstoff für Intellektuellen-Diskussionsrunden, die sich gegenseitig naturwissenschaftliche Formeln um die Ohren hauen konnten, um zu beweisen, dass dieses oder jenes Ereignis der Handlung nicht möglich ist, als auch für jüngere Leser, die sich einfach nur über die lustigen Charaktere und deren Verwandlungen und Veränderungen austauschen konnten.

Warum ich das alles erzähle? Nun, Frank Beddor nimmt sich in seinem Roman „Das Spiegellabyrinth“ die von Lewis Carroll erschaffene Welt mit Nachdruck zur Brust. Genauer gesagt packt er sich Alice, die Spielkarten und alles, was noch so dazu gehört, schmeißt sie in einen Fleischwolf und dreht mal ordentlich an der Kurbel. Herausgekommen ist dabei ein Zerrbild des Alice-Universums. „Das Spiegellabyrinth“ ist der ungeliebte kleine Bruder von „Alice im Wunderland“, der immer schlechter behandelt wurde und deshalb garstig, böse und gefährlich geraten ist. Keiner wollte je mit ihm spielen, und jetzt ist die Zeit der Vergeltung gekommen …

_Geschichte:_

Die Heimat von Prinzessin Alyss [sic!] ist wahrlich kein anheimelnder Ort. Das Land wurde in der Vergangenheit von Bürgerkriegen erschüttert, und die Einwohner leben im ständigen Gefühl der Unsicherheit. Obwohl Königin Genevieve, Alyss‘ Mutter, die Geschicke mit Umsicht leitet, sieht sie sich allerhand Neidern gegenüber, die ihr liebend gerne die Macht entreißen würden, jedoch bisher keine offene Konfrontation suchten. Das ändert sich an Alyss‘ siebtem Geburtstag schlagartig.

Genevieves verhasste Schwester Redd, der brutalste und gefährlichste unter ihren Widersachern, fällt mit ihren Armeen in die Hauptstadt Wundertropolis ein, tötet jeden, der sich ihr in den Weg stellt, und macht letztlich auch nicht vor der Königin Halt. Der kleinen Alyss gelingt in letzter Sekunde die Flucht durch einen Spiegel, der sie zum Teich der Tränen teleportiert. Nach einem Sprung in das Gewässer landet sie in einer ihr unbekannten Welt, dem viktorianischen London. Die Öffnung, durch die sie gekommen ist, verschwindet sogleich, und sie ist in der „Parallelrealität“ gefangen …

_Beurteilung:_

Um euch einen Einblick in Frank Beddors Sicht der Dinge zu geben, möchte ich kurz sein Vorwort zitieren: „[…] Die wahre Geschichte von Wunderland ist voll Blutvergießen, Mord, Rache und Krieg. Ich entschuldige mich im Voraus bei allen, die manche Szenen in diesem Buch erschütternd finden mögen, aber es war mir wichtig, alles so wiederzugeben, wie es sich tatsächlich zugetragen hat […]“. Nach dieser kurzen Einleitung ist man bereits gewarnt. Vorsichtshalber sollte der Sicherheitsgurt beim Lesen aber trotzdem angelegt sein, da es rasant zur Sache geht.

Wollte man all die großartigen Details aufführen, die in diesem ungemein inspirierten Roman stecken, müsste man den Rahmen dieser Rezension bei weitem überschreiten. Frank Beddor hat sich im Vorfeld eingehend mit Lewis Carrolls „Original“ auseinander gesetzt – so viel steht fest. Die Überlegungen, die er danach angestellt hat, dürften in etwa gelautet haben: Was finde ich an der Handlung nett und einladend und wie kann ich das ins Gegenteil verkehren? Und deshalb ist seine Geschichte im Gegensatz zu „Alice im Wunderland“ auch nur bedingt bis gar nicht für Kinder geeignet. Speziell die Figur der Tante Redd kennt in ihren Handlungen überhaupt kein Erbarmen und agiert nah am Sadismus. So bekommt ihre Nummer-eins-Killermaschine, eine Kreuzung aus Mensch und Kater, ein ums andere Mal ihre Launen zu spüren und wird kurzerhand niedergemeuchelt. Da Mietzekatzen aber bekanntlich neun Leben haben, steht die Kreatur (unter großen Schmerzen) immer wieder auf, um seiner Herrin auch weiterhin zu dienen. Das Ganze wird von Beddor mit einem sarkastischen Unterton versehen, der es einigen erschweren dürfte, ein Lächeln über die Lippen kommen zu lassen. Man sollte sich allerdings nicht gegen ein leichtes Grinsens sträuben, und sei es nur aus Zufriedenheit ob des großen schreiberischen Talents des Autors.

Stellvertretend für die unzähligen Einzelheiten, die Frank Beddor in sein Werk einarbeitet, sei an dieser Stelle die grandiose Vermischung der fiktionalen Romanwelt mit biographischen Eckdaten Lewis Carrolls erwähnt. Im viktorianischen England landet die Hautfigur Alyss schließlich in einer Pflegefamilie, die allerdings mit der Schreibweise ihres Namens nicht einverstanden ist und sie in „Alice“ ändert. Im Verlauf ihres dortigen Aufenthalts, der viele Jahre andauern soll, trifft sie einen Mann namens Charles Lutwidge Dodgson alias – natürlich! – Lewis Carroll. Dieser ist fasziniert von den Geschichten, die Alyss/Alice unentwegt erzählt, weshalb er sie aufschreibt. Was macht aber nun dieser alte Mathematiker? Er bringt die Dinge so zu Papier, wie sie ihm gefallen, und verdreht – sehr zum Unmut von Alyss – die Tatsachen. Das Ergebnis dieser Aufzeichnungen kennen wir heute unter dem Namen „Alice im Wunderland“.

Dass man „Das Spiegellabyrinth“ irgendwann in einem Atemzug mit der Vorlage nennt, wage ich zwar zu bezweifeln, aber das ändert nichts daran, dass Frank Beddor mit diesem Buch ein ziemlich großer Wurf gelungen ist. Der Amerikaner zeigt Respekt für das Original, macht sich aber trotzdem mit diebischer Freude über die liebenswerten Figuren und Eigenheiten des Wunderlands her, bis letztlich eine Fantasiewelt entsteht, die der Realität unangenehm nahe kommt.

Da der Roman lediglich der Auftakt einer Trilogie ist, bin ich mehr als gespannt, wie sich die Situation in Wundertropolis entwickeln wird. Eins steht jedoch schon jetzt fest: Auch in den beiden Fortsetzungen werden Köpfe rollen! Be there!

Taschenbuch: 320 Seiten
www.dtv.de