Benjamin Black – Eine Frau verschwindet

Das geschieht:

Im Dublin der 1950er Jahre ruft Phoebe Griffin ihre Freunde zusammen: die Schauspielerin Isabel Galloway, den Medizinstudenten Patrick Ojukwu und den Kriminalreporter Jimmy Minor. Seit zwei Wochen hat Phoebe nichts mehr vom fünften Mitglied der Runde gehört. April Latimer, die als Assistenzärztin im „Holy Family Hospital“ tätig ist, hat ihre Wohnung ohne Gepäck verlassen.

Die Freunde raten zur Geduld, denn April hat schon oft unangekündigt Reisen unternommen. Doch die besorgte Phoebe fragt ihren Vater, den Pathologen Quirke, um Rat. Er ist ebenfalls im „Holy Family“ beschäftigt, wo sich April angeblich freigenommen hat. Quirke will gründlich sein und untersucht deren Wohnung. Inspektor Hackett, ein Freund, begleitet ihn. Er ist es, der vor Aprils Bett Reste einer sorgfältig aufgewischten Blutlache entdeckt.

Die Untersuchung ergibt, dass hier eine illegale Abtreibung vorgenommen wurde. Von den Latimers erfahren Hackett und Quirke wenig. Die Familie ist einflussreich in Dublin, Aprils Onkel der amtierende Gesundheitsminister, ihr Bruder ein bekannter Gynäkologe, die Mutter eine große Dame der Gesellschaft. April war das schwarze Schaf. Sie hat sich schon vor langer Zeit im Streit von ihrer Familie getrennt, die umgekehrt jeden Kontakt einstellte.

Nun bewegt nicht Besorgnis die Latimers, sondern die Furcht vor einem möglichen Skandal. Der Minister lässt seine Verbindungen spielen, und Hackett wird von den Vorgesetzen an die Leine gelegt. Dagegen gedenkt Quirke trotz eindringlicher Ermahnungen nicht daran, die Nachforschungen einzustellen. Der wütende Hackett lässt ihn gewähren und unterstützt ihn heimlich.

Die Ermittlungen können fortgesetzt werden. Zu ihrem Schrecken muss Phoebe erfahren, dass einige ihrer Freunde wohl mehr über Aprils Verschwinden wissen, als sie ihr gegenüber oder überhaupt zugeben möchten. Doch die bizarre Wahrheit überrascht auch Quirke – und lässt ihn in Lebensgefahr geraten …

„Hüte dich vor dem Zorn eines geduldigen Mannes“

„Eine Frau verschwindet“ nimmt im Meer der auf den Markt geworfenen Kriminalromane eine Sonderstellung ein: Es geschieht (scheinbar) kaum etwas. Zumindest einschlägige Action fällt aus, und falls es eine Leiche gibt, taucht sie niemals auf. Trotzdem garantiert dieses Buch echte Lesefreude, denn selten findet man einen Schriftsteller, der so gut mit Worten umzugehen weiß wie Benjamin Black alias John Banville. Unter seiner Feder entwickelt die kleine aber feine, weil stimmig konstruierte Geschichte eine echte Sogwirkung. (Die richtig gute Übersetzung trägt hierzulande selbstverständlich ihren Teil dazu bei.)

Hinzu kommt eine wunderbare Figurenzeichnung. Mit dem Pathologen Quirke (der seinen Vornamen lieber verschweigt, weil er so kurios ist – einer der „running gags“ der Serie) ist Black ein Charakter gelungen, dessen Alltagsleben mindestens so interessant ist wie seine Aktivitäten als Amateurdetektiv. Black macht deutlich, dass es ein Mann wie Quirke sein muss, der das Schicksal der April Latimer lösen kann: ein Mann mit Prinzipien, die er niemals verkaufen musste (oder konnte), weil er weit außerhalb jener privilegierten Kreise geboren wurde, aufgewachsen ist und heute arbeitet, deren Mitglieder stets dafür Sorge tragen, dass sich Rufschädliches irgendwo auf dem Weg vor das Gericht oder in die Öffentlichkeit in Luft auflöst.

Gegen Quirke haben sie nichts in der Hand, auf sein Verständnis können sie nicht zählen. Oscar Latimer zählt auf, was ihn ausschließt, und schließt hochnäsig so: „Ich erwähne dies alles nur, … um Ihnen zu vermitteln, dass Sie sich unmöglich mit Familienehre oder derlei Dingen auskennen können. Woher auch?“ (S. 221). Stattdessen bietet Quirke eine zusätzliche Angriffsfläche, er ist Alkoholiker. Als wir ihn in diesem dritten Teil ‚seiner‘ Serie erstmals treffen, wird er gerade aus der Entzugsanstalt „St. John’s House of the Cross“ entlassen; es lohnt womöglich, sich diesen Namen zu merken, weil zu befürchten ist, dass dies nicht Quirkes letzter Aufenthalt bleiben wird. Gegen den Durst kämpft er ebenso erbittert wie gegen die Mauer des Schweigens, die von den Latimers um die verschwundene April errichtet wurde. Den Fall wird er lösen, der Durst gewinnt rasch wieder die Oberhand.

„Jeder Mensch ist nur so glücklich, wie er sich zu sein entschließt“

Der moderne Kriminalroman und hier vor allem jene Subgenre, das „Psycho-Thriller“ geheißen wird, leidet unter einer Schicht Seifenschaum, die so dick geworden ist, dass sie die eigentliche Handlung oft erstickt. Mit „Seifenschaum“ sind jene Füllsel gemeint, die in einer echten „soap opera“ besser aufgehoben wären. Stattdessen schleppt jede Figur ein Bündel ungelöster Alltagsprobleme mit sich herum, die den Leser in der Regel weder interessieren noch die Handlung vorwärtsbringen. Aus unerfindlichen Gründen wird solches Schaumschlagen gern gelesen, weil es aus Buchfiguren angeblich ‚Menschen‘ macht.

Quirke ist ein echter Leidensmann. Erstaunlicherweise macht ihn dies tatsächlich interessant: Black verfügt über die Gabe, den Alltag in die Handlung zu integrieren, statt ihn ihr aufzupfropfen und sie dadurch in die Breite zu treten. „Eine Frau verschwindet“ ist ein bemerkenswert ‚runder“ Roman: Als er nach 350 Seiten endet, war er niemals langweilig, weil es nichts Überflüssiges gibt.

Dabei schwelgt Black geradezu in Klischees: Ständig regnet es in Dublin, selbst tagsüber wird es nicht hell, und alle Figuren sind mürrisch. Freilich lässt Black stets einen feinen, schwarzen Humor durchschimmern. Den setzt er so meisterlich ein, dass er sich harmonisch in die düstere Grundgeschichte einfügt. So besitzt Quirkes Kampf mit seinem neuen, grotesk teuren Automobil, das er als Symbol für einen Neuanfang erworben hat, eine zweite Verständnisebene: Mit seinem Leben wird Quirke ebenso wenig fertig wie mit seinem Wagen.

„Drei Arten von Männern versagen im Verstehen der Frauen: junge Männer, Männer mittleren Alters und alte Männer“

„Eine Frau verschwindet“ spielt in den 1950er Jahren. Es dürfte keine Überraschung sein, dass Black darin keinen Anlass sieht, seine Geschichte in einen typischen Historien-Krimi zu verwandeln, d. h. die Handlung mit Zeugnissen zeitgenössischen Stadtlebens zu überfrachten. Faktisch gibt es überhaupt keinen Anlass, diese Geschichte in der Vergangenheit spielen zu lassen; sie würde mit wenigen Änderungen auch in der Gegenwart funktionieren.

Die Vergangenheit tritt nur dort hervor, wo sie der Handlung Nutzen bringt. „Eine Frau verschwindet“ spielt zu einer Zeit, als sowohl das Gesetz als auch der gesellschaftliche Kodex den veränderten Spielregeln nicht mehr gerecht wurden. April Latimer, eine studierte Ärztin und Tochter aus prominentem Haus, muss in ihrer Wohnung abtreiben und das damit verbundene Risiko eingehen, weil ihre Karriere und ihr Ruf durch ein unehelich geborenes Kind zerstört wären. Der dafür verantwortliche Mann bliebe dagegen ungeschoren.

Auch Quirke ist keine Zierde seines Geschlechts. Als Vater hat er so gründlich versagt, wie es nur möglich war: Die Tochter hat er nach der Geburt – die der Mutter das Leben kostete – bei seiner Schwägerin ‚geparkt‘. Phoebe hat erst als erwachsene Frau erfahren, dass Quirke ihr Vater ist. Wirklich verziehen hat sie ihm noch nicht, und umgekehrt plagt Quirke das schlechte Gewissen. Nichtsdestotrotz beginnt er eine Affäre mit Phoebes Freundin Isabel.

„Lebe jeden Tag so, als ob es regnen würde“

Wenn es überhaupt jemals konventionell wird, dann im Finale. Das Krimi-Rätsel löst sich genreüblich tragisch auf. Es wird sogar dramatisch, weil Quirke nicht nur die Gefahr unterschätzt, die es mit sich bringt, einen nur ihm bekannten Mörder in die Enge zu treiben, sondern auch noch seine Tochter mit zu dem Treffen mit dem Täter nimmt.

Die Auflösung ist durchaus ungeheuerlich zu nennen. Seit jeher liegt ein großer Unterhaltungswert darin, vorgeblichen Ehrenmännern die Masken von den Gesichtern zu reißen. Bei Black tun sich dahinter echte Abgründe auf. Dennoch kann er sich einen weiteren Ausflug ins Tragikomische nicht verkneifen. Quirkes Duell mit dem störrischen Wagen findet seinen angemessenen Höhepunkt. Die Stimmung leidet nicht darunter, sie verliert höchstens ihr depressives Element; man vermisst er nicht.

Im Epilog stellt Black die Weichen für eine Fortsetzung der Serie. Das verknüpfende Element bleibt Quirkes Biografie. Angesichts der Kunstfertigkeit, mit dem es dem Verfasser gelang, uns diesen mürrischen und unsicheren aber sensiblen und klugen Mann ans Herz zu legen, ist dies zur angenehmen Abwechslung kein Damoklesschwert. Es ergeht uns wie Inspektor Hackett, der sich ein wenig ratlos fragt, wieso er Quirke so sympathisch findet.

Anmerkung: Die Kapitelüberschriften sind Übersetzungen irischer Sprichwörter.

Autor

John Banville wurde am 8. Dezember 1945 in Wexford, einem Städtchen im Südosten Irlands, geboren. Er besuchte das örtliche College (nicht aber die Universität) und übte nach seinem Abschluss eine Reihe bürgerlicher Berufe aus. Nach einem zweijährigen USA-Aufenthalt (1968/69) wurde Banville Mitherausgeber der Zeitschrift „Irish Press“ in Dublin. 1995 wechselte er zur „Irish Times“. Inzwischen ist er freier Schriftsteller.

Schon seit seinem 15. Lebensjahr schrieb Banville Kurzgeschichten. Bekannt wurde er auch als Literaturkritiker. Sein erstes Buch, eine Story-Sammlung, wurde 1970 veröffentlicht, 1971 folgte mit „Nightspan“ ein erster, bereits wohlwollend besprochener Roman. Seinen Durchbruch erlebte Banville mit der „Revolutions Trilogy“ (1976-1982), in der er das Leben großer Naturwissenschaftler (Kopernikus, Kepler, Newton) literarisierte. In den folgenden Jahrzehnten fand Banvilles elegante, klare, die jeweilige Geschichte auf ihren Kern reduzierende Prosa internationale Anerkennung. Mit Literaturpreisen überhäuft, gilt er längst als einer der besten Schriftsteller seiner Generation.

Da der Ruf allein ihn und seine Familie – inzwischen zum zweiten Mal verheiratet, lebt der Autor in Dublin – nicht ernährte, fasst Banville 2005 sehr prosaisch den Entschluss, als Benjamin Black besser verkäufliche Kriminalromane zu verfassen. Er betrachtet sie als reine Brotarbeiten und reduziert sie auf das schriftstellerische Handwerk. Nichtsdestotrotz konnte er mit seiner Reihe um den Pathologen Quirke, die im Dublin der 1950er Jahre spielt, ebenfalls sein Publikum finden.

Website des Verfassers

Gebunden: 343 Seiten
Originaltitel: Elegy for April (New York : Henry Holt & Company 2010/London : Mantle/Pan Macmillan 2010)
Übersetzung: Andrea O‘Brien
ISBN-13: 978-3-462-04467-6
eBook: 969 KB
ISBN-13: 978-3-462-30628-6
http://www.kiwi-verlag.de

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