Benjamin Lebert – Mitternachtsweg (Gruselkabinett 105)

Verhängnisvoll: Liebe ist stärker als der Tod

Ein Friedhof für die vor Sylt gestrandeten Seeleute. Nach über hundert Jahren wird dort wieder ein Mann begraben, dessen geheimnisvolles Schicksal weit in die Vergangenheit reicht… (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt sein Hörspiel ab 14 Jahren.

Der Autor

Benjamin Lebert, geboren 1982 in Freiburg im Breisgau, ist deutscher Schriftsteller und lebt in Hamburg. Sein Debütroman „Crazy“ (1999) wurde in 33 Sprachen übersetzt und erreichte bis 2014 eine Auflage von 1,2 Millionen. Sein Vater war Mitbegründer der Jugendbeilage „Jetzt“ der Süddeutschen Zeitung, für die Lebert einige Beiträge schrieb. So wurde die Verlagslektorin Kerstin Gleba (Kiepenheuer & Witsch) auf ihn aufmerksam und ermutigte ihn, einen ganzen Roman zu schreiben. In dem autobiografisch geprägten Werk Crazy verarbeitet Lebert typische Probleme Jugendlicher, aber auch seine Behinderung; er ist halbseitig gelähmt.

Nach dem Erfolg seines Erstlings gab der 17-jährige Lebert Kurse an der New York University für Creative Writing. Mit 16 Jahren hatte Benjamin Lebert die Schule während der neunten Klasse ohne Abschluss abgebrochen; er holte im Jahr 2003 den Hauptschulabschluss nach. Nachdem er das Elternhaus verlassen hatte, lebte er einige Zeit in Freiburg und Berlin und wohnt seither in Hamburg. Lebert ist Gründungsmitglied des Lübecker Literaturtreffens. (Quelle: Wikipedia)

Romane
• Crazy. Kiepenheuer und Witsch, Köln 1999, ISBN 3-462-02818-9.
• Die Geschichte vom kleinen Hund, der nicht bellen konnte. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2002 (zusammen mit Ursula Lebert), ISBN 3-596-85077-0.
• Der Vogel ist ein Rabe. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2003, ISBN 3-462-03336-0.
• Kannst du. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2006, ISBN 978-3-462-03664-0.
• Der Flug der Pelikane. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2009, ISBN 978-3-462-04095-1.
• Im Winter dein Herz. Hoffmann und Campe, Hamburg 2012, ISBN 978-3-455-40360-2.
• Mitternachtsweg. Hoffmann und Campe, Hamburg 2014, ISBN 978-3-455-40437-1.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Rollen und ihre Sprecher:

Erzähler: Matthias Lühn
Johannes Kielland: Marius Clarén
Helma Marie Brandt: Melanie Hinze
Peter Maydell: Eckart Dux
Pförtnerin: Cathlen Gawlich
Kommissar Fleissner: Lutz Reichert
Frau Maydell: Herma Koehn
Pfarr-Sekretärin: Anita Lochner
Wirt: Sven Dahlem
Tham Nickels: Jochen Schröder
Rezeptionistin: Sabina Trooger
Lorenz Christiansen: Reinhard Scheunemann
Ruth Uhlmann: Judy Winter
Malou Sainte-Luce: Julia Stoepel
Kellnerin: Dana Fischer
Martin Uhlmann: Jonas Baeck
Barkeeper: Constantin von Jascheroff

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden im Titania Medien Studio und in den Planet Earth Studios statt. Das romantische Titelbild schuf Ertugrul Edirne.

Handlung

Am Mittsommertag des Jahres 2006, den 21. Juni, fährt ein Mercedes zu dem Grab in den Dünen von Sylt. Die Frau entsteigt dem Daimler und steht wie immer nur an diesem Grab, immer ohne Blumen. Diesmal erreicht ein Mann sie, bevor sie wieder einsteigt und wegfährt: „Endlich.“

Die Sendung

Zwei Tage zuvor in Lübeck. In der Redaktion der Lokalzeitung übergibt die Redakteurin dem alten Reporter Peter Maydell ein Päckchen. Schon wieder ein unverlangtes Manuskript von diesem Johannes Kielland? Dieser Kielland ist ein Historiker Anfang 20, den er mal in Hamburg getroffen hat, ein Grufti und Romantiker. Im Begleitschreiben steht, dies sei Kiellands letzte Sendung an Maydell. Eine Liebesgeschichte halte ihn auf. Maydell beginnt im Bett zu lesen…

Das Manuskript

In Westerland auf Sylt gibt es einen Friedhof für Heimatlose und Schiffbrüchige. Die Kreuze tragen keine Namen, nur das Datum des Fundes – seit 1855. Bis 1905 kamen 53 Kreuze hinzu. Kürzlich kam ein weiteres hinzu, das für eine Wasserleiche. Kommissar Hubert Meisner berichtet, ein Hund habe die Leiche gefunden, die einen merkwürdigen, langen Handschuh bis zum linken Ellbogen getragen habe. Der schwarze Handschuh aus merkwürdigem Stoff wurde zusammen mit der Leiche bestattet.

Unterdessen

Kielland erinnert sich, wie er Helma Marie Brandt im Oktober 2005 kennenlernte bzw. sie ihn. Die geborene Sylterin erzählt ihm von dem Mann, der auf Sylt zur Wasserleiche wurde. Sein Name war Martin Uhlmann, war ein Musiker und betrieb mit ihr ein Café. In dem alten Haus in der Lüneburger Heide fand Martin im Keller den unheimlichen Handschuh, der bis zum Ellbogen reicht. Ja, der brachte ihm den Tod, behauptet Helma anlässlich eines Fotos von Martin.

Wie das denn, wundert sich Johannes. Tja, binnen drei Monaten machte der Handschuh aus dem verträumten Martin einen aktiven Handwerker, der kaum aß und abweisend wurde. Er trug das Ding ständig, es machte ihn kalt, als entwickelte er eine zweite Haut. Etwas rief ihn wohl, und er verschwand – bis er als Wasserleiche vor Sylt auftauchte. Doch sein Geist kehrte zu ihr zurück und verlangte: „Sprich mich frei von der See!“

Die Suche

Johannes Kielland sucht Helma M. Brandt. Er muss ganz zum Anfang zurück: an Helmas Geburtsort Westerland auf Sylt. Irgendetwas stimmt nicht mit Helmas Angaben. Die Brandts betrieben den Gasthof Ende der 1930er Jahre, vielleicht sogar während des Krieges, als überall Bunker für die Luftwaffe gebaut wurden. Der Schuster Scharnickel aus Kaltum erinnert sich.

Der Matthias Rink-Brandt hatte 1939 eine etwa 20 Jahre alte Tochter, die hieß Helma Marie Brandt. Sie war wunderschön und alle Jungmänner wollten sie haben. Aber der alte Brandt verbarg einen Flüchtling vor den Luftwaffenangehörigen, einen Mann aus Hamburg, und ausgerechnet in den verliebte sich die Helma, hält man’s für möglich?

Der Mitternachtsweg

Jedenfalls gibt es auf Sylt einen uralten Brauch: Zwei Verliebte beweisen einander ihre Zuneigung und Treue, indem sie den Mitternachtsweg beschreiten. Das machten auch Helma und ihr Freund: In der Nacht des Mittsommertages, also am 21.6. 1939, gingen sie zusammen hinaus ins Watt, als Ebbe herrschte. Normalerweise passt man auf und kehrt zurück, bevor die Tide zurückkehrt. Doch aus irgendeinem Grund schaffte es der junge Mann nicht. Nachdem seine Leiche angespült worden war, zogen die Brandts weg.

Lorenz Christiansen war einer von Helmas Verehrern und erzählt von ihr und dem Flüchtling. Nein, es war genau andersherum: Helma war es, die ihm Schlick steckenblieb, und dem Flüchtling gelang es, an Land zurückzukehren. Als die Flut kam, habe er sie nicht retten können. Ihre Leiche wurde nie gefunden, aber der Junge kam ins KZ, war ja klar. Und ja, es war die verliebte Helma, die dem Jungen ein Paar lange schwarze Handschuhe genäht hatte – als Andenken.

Als Johannes nach Hause zurückkehrt, wartet nicht nur seine Katze hungrig auf ihn, sondern auch ein langer schwarzer Handschuh…

Mein Eindruck

Man muss schwer aufpassen, auf welcher Zeit-Ebene der Erzählung man sich gerade befindet. Es ist Kielland, der Helma auf Sylt sucht und nach ihrer Vergangenheit fragt. Ihm folgt nach der Manuskriptlektüre Peter Maydell, der Lübecker Lokalreporter. Kielland ist ins Watt gegangen, verunglückte und liegt auf Sylt in der Klinik. Erst jetzt gibt Maydell seine wahre Verbindung mit dieser Geschichte zu – und das darf hier nicht verraten werden.

Die eigentliche Frage ist aber, warum es Helma Marie Brandt dreimal gibt. Zuerst im Jahr 1939, dann im Oktober 2005 und schließlich im Sommer 2006. Etwas Unheimliches ist mit ihr verbunden. Und schließlich sind da noch die vermaledeiten schwarzen Handschuhe: Helma nahm 1939 einen des Paars mit ins nasse Grab, doch der andere kehrte mit dem Überlebenden an Land zurück – und scheint von nun an ein Eigenleben zu führen. Er ist ein Dingsymbol, ein Memento Mori.

Doch es liegt auch ein Fluch daran, dem ein Geist folgt: „Sprich mich frei von der See!“ fleht der Geist. Dies ist das genaue Gegenstück zu dem Liebesversprechen, das sich die Liebenden auf dem Mitternachtsweg geben. Die helle Seite der gelebten Liebe wird gefolgt von der dunklen Seite der zerrissenen Liebe und der ewigen Erinnerung daran. Nur der Freispruch des Überlebenden kann den Fluch aufheben. Doch dafür muss er zuerst sich selbst vergeben…

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Die Handlung wird von nur wenigen Figuren beherrscht, allen voran Johannes, Maydell und Helma. Die restlichen Figuren tragen entweder Informationen bei oder liefern einen zusätzlichen Aspekt zu einer Hauptfigur. Peter Maydell ist im Vergleich zu Helma und Johannes, dem zentralen Paar, im Nachteil: Er liest passiv das Manuskript, das ihm Johannes geschickt hat. Dennoch ist er als moralische Instanz, die über die Geschichte Johannes‘ zu urteilen hat, nicht zu vernachlässigen. Eckart Dux spricht Peter Maydell mit entsprechender Zurückhaltung und Autorität.

Die Hauptfigur von Johannes Kiellands Geschichte ist sonderbarerweise er selbst. Marius Clarén stellt ihn voll Neugier und Mitgefühl dar, ein Journalist, der nicht vorschnell urteilt. Sein Interesse gilt natürlich der geheimnisvollen Sylterin Helma Marie Brandt: Melanie Hinze spricht sie entsprechend rätselhaft, zwischen scheinbarer Ehrlichkeit und Betroffenheit sowie trügerischer Tiefgründigkeit hin und her changierend. Helma erzählt von Sylt, dem Krieg, aber auch von Martin Uhlmann und dem verhängnisvollen Handschuh. Sie sonnt ein Lügengespinst, das Johannes erst noch zerreißen muss, um die Wahrheit zu erkennen. Sie ist eine Kombination aus Hekate, Herrin der Dämonen, und Circe, Zauberin auf einem Eiland.

Am besten gefielen mir die beiden knorrigen alten Sylter Gewährsmänner. Der Schuster Tham Nickels wird vom Gruselkabinett-Urgestein Jochen Schröder wunderbar grantigen dargestellt, und Reinhard Scheunemann erweckt Lorenz Christiansen zum Leben, so dass man sich ihn als schuldbewussten Verehrer der trügerischen Helma gut vorstellen kann.

Geräusche

Die Geräuschkulisse hat naturgemäß sehr viel mit dem Meer zu tun. Die Wellen rauschen, der Wind pfeift, die Möwen schreien, die Friedhofspforte quietscht. Den Kontrast dazu bilden einerseits das städtische Lübeck, wo die Kirchenglocken läuten, und die Lüneburger Heide, wo, wenn die Vöglein nicht gerade zwitschern, gerne mal ein Platzregen rauscht. Jeweils lokale Hintergrundgeräusche wie etwa Geschirrklappern oder knarrende und quietschende Türen sind hin und wieder zu hören.

Musik

Da die Geschichte mehr oder weniger in der Gegenwart spielt, ist in der Hamburger Klubszene ein dröhnendes Heavy-Metal-Donnern zu vernehmen. Sieht man einmal von der Heavy-Metal-Einlage ab, so könnte die Hintergrundmusik direkt aus dem 19. Jahrhundert stammen: Düster-romantische Klänge gleiten entweder ins Tragische oder ins Heitere ab, je nach der nötigen Stimmung.

Das Booklet

… enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher.

Im Booklet finden sich Verweise auf die nachfolgenden Hörspiele aufgeführt:

Nr. 104: Edith Wharton: Allerseelen (siehe meinen Bericht)
Nr. 105: Benjamin Lebert: Mitternachtsweg
Nr. 106: M. R. James: Das Traktat Middoth (1911) (siehe meinen Bericht)
Nr. 107: Sir Gilbert Campbell: Der weiße Wolf von Kostopchin (1889) (siehe meinen Bericht)

Ab Frühjahr 2016

Nr. 108: Arthur Conan Doyle: Der Kapitän der Polestar (siehe meinen Bericht)
Nr. 109: Per McGraup: Heimweh (siehe meinen Bericht)
Nr. 110: Abraham Merritt: Der Drachenspiegel (siehe meinen Bericht)
Nr. 111: E.A. Poe: Die Grube und das Pendel (siehe meinen Bericht)
Nr. 112: Edith Nesbit: Der Ebenholzrahmen (siehe meinen Bericht)
Nr. 113: War es eine Illusion? (siehe meinen Bericht)


Unterm Strich

Man sollte diese romantische Gruselgeschichte mindestens zweimal anhören, um die verwirrenden Wechsel der Zeit- und Erzählebenen zu verstehen. Helma beispielsweise taucht mehrfach auf, ebenso Johannes Kielland. Wo hört seine Geschichte auf und wo fängt Peter Maydells Geschichte an? Und was hat Malou überhaupt in diesem Garn zu suchen? Im Nachhinein ergeben die verschiedenen Elemente zwar alle einen Sinn, aber wer sich einfach nur berieseln lassen will, bevor er friedlich einpennt, der ist bei diesem Hörspiel an der falschen Adresse. Es ruft sowohl Stirnrunzeln als auch Herzklopfen hervor.

Das macht die Geschichte aber nicht schlecht, sondern im Gegenteil vielschichtig und tiefgründig. Es geht um eine Liebesgeschichte, die während der Nazi-Zeit nicht ganz legal ist und obendrein tragisch endet. Der soziale Hintergrund wird ebenso beleuchtet wie die symbolische Bedeutung des Beschreitens des Mitternachtswegs. Für das Gruselkabinett qualifiziert sich diese Liebesgeschichte durch das unentrinnbare Auftauchen des Handschuhs – man denke an Poes „Raben“ – und durch die Frage, ob Helma Brandt überhaupt ein Mensch im landläufigen Sinne ist.

Eine letzte Frage

Mich beschäftigt immer noch die Frage, warum Helma von ihrem Geliebten verlangt, sie von der See freizusprechen. Wie soll das denn gehen? Schließlich ist er ja kein Pfarrer noch gar ein Kapitän, der Trauungen und Begräbnisse leiten darf. Ich denke, es ist ein symbolischer Akt, um die tote Geliebte aus seinem eigenen Herzen zu lösen und sie so erlösen zu können. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie physisch vorhanden ist oder nur in seiner Seele existiert.

Der Mitternachtsweg steht für das Risiko, das man mit jeder Liebe eingeht. Der Handschuh ist ein Memento, dass es auch eine dunkle Zeit nach dem Ende der Liebe geben kann und ein Dingsymbol, das den Liebenden an die Vergangenheit kettet – bis man es abstreift.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern wie Jürgen Schröder oder Marius Clarén einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen.

Besonders gut gefiel mir die sorgfältig ausgearbeitete Geräuschkulisse an der Küste, die so realistisch wie möglich ist, um das zunehmend unheimliche Geschehen an den Wellen plausibel zu machen. Aus den anderen Szenen hätte man mehr machen können, aber hervorzuheben ist auch die romantisch-tragische Hintergrundmusik, die bis zum Ausklang im Epilog die Stimmung vorgibt.

Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars vermitteln das richtige Kino-Feeling.

Audio-CD
Spieldauer: über 79 Minuten
www.titania-medien.de

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