Anthony Berkeley – Galgenvögel

berkeley-galgenvoegel-cover-kleinEine allseits ungeliebte Dame stirbt einen bizarren Tod. Selbstmord kann es nicht gewesen sein, wie ein anwesender Hobby-Detektiv feststellt, bevor er unüberlegt die Spuren verwischt. Um nicht selbst auf der Anklagebank zu landen, muss er im Wettlauf mit der misstrauischen Polizei den Fall selbst klären … – Klassischer „Whodunit“-Krimi aus der ganz großen Zeit des Genres. Der Verfasser spielt meisterhaft mit den Regeln ohne sie zu brechen und verschafft dem Leser ein nicht alltägliches Vergnügen: die Jagd nach einem Mörder, den er im Gegensatz zum Detektiv bereits kennt!

Das geschieht:

Wieder einmal gerät der Kriminalist Roger Sheringham unerwartet in einen bizarren Mordfall. Gern ist er der Einladung zu einer Gesellschaft des exzentrischen Ronald Stratton gefolgt. Der reiche Müßiggänger hat sich als Verfasser von Kriminalromanen einen Namen gemacht. Seinen Hang zum Ungewöhnlichen bestätigt er durch eine Einladung, die seine Gäste auffordert, sich als berühmte Mörder der Kriminalgeschichte zu maskieren. Diesen Einfall krönt er buchstäblich, indem er auf dem flachen Dach seines abgelegenen Hauses einen Galgen errichtet, an dem er drei lebensecht gestaltete Puppen baumeln lässt.

Die Party steht unter keinem guten Stern. Sheringham erkennt deutliche Spannungen, die vor allem von Ina Stratton ausgehen, Ronalds Schwägerin, die mit seinem Bruder David verheiratet ist. Die exzentrische Frau ist herzlich unbeliebt, da sie gern erfundene Bosheiten über ihre Familienangehörigen und Bekannten verbreitet. An diesem Abend fällt sie durch besondere Zügellosigkeit auf. Wenig später ist sie tot und hängt am Dach-Galgen. Hat sie Selbstmord begangen, den sie oft genug ankündigte?

Sheringham weiß es besser: Unter dem Galgen stand kein Stuhl, auf den Ina hätte steigen müssen, um die Schlinge zu erreichen; der Mörder hat ihn beiseite gestellt. In einer Aufwallung von Eitelkeit rückt Sheringham einen Stuhl heran: Die Welt ist ohne Ina besser geworden, und den Mörder will er zum eigenen intellektuellen Vergnügen ermitteln. Doch der Schuss geht nach hinten los: Der mit dem Fall beauftragte Inspektor Crane schöpft Verdacht und beginnt die Festgäste einem scharfen Verhör zu unterziehen. Sheringham hat sich in eine fatale Situation gebracht. Ihm bleibt nur eine Chance: Er muss den Mörder im Wettlauf mit Crane nun definitiv finden um seine Haut zu retten …

Ein Detektiv baut Mist

„Galgenvögel“ ist ein englischer Kriminalroman aus dem Jahre 1933. Das Ambiente ist klassisch, was auch für die Figuren gilt. Die Handlung ist es allerdings nicht, obwohl es gilt in einer Schar von Verdächtigen einen Mörder zu entlarven. Normalerweise sind die Leser eines solchen „Whodunit?“ angehalten, gemeinsam mit dem Detektiv oder einem klugen Polizisten die Spuren zu untersuchen, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und in einem großen Finale, das alle Verdächtigen an einem Ort versammelt, die Maske vom Gesicht zu reißen. Dieses Mal entfällt das Miträtseln ersatzlos: Autor Berkeley macht uns zu Zeugen der Untat; er zeigt uns den Mörder bei der Tat, enthüllt dessen Motiv und verrät, wie er sein Alibi konstruiert.

Was bleibt von einem Krimi, der plötzlich ohne Rätsel ist? Eine Herausforderung für einen Verfasser, der nunmehr unter Beweis stellt, wieso er zu den Großen seiner Zunft zählt! Berkeley ersetzt das Rätsel des Mörders durch die Not des Detektivs, der die Beweise manipuliert und sich selbst zum Hauptverdächtigen gemacht hat. Noch schlimmer: Er könnte dafür gesorgt haben, dass sich der Verdacht der Polizei gegen einen Unschuldigen richtet. Wir wissen, wie richtig er damit liegt, denn der Mörder darf sich sehr sicher fühlen.

Dabei hat ihn Sheringham umgehend erkannt – Berkeley lässt eine zweite Bombe platzen. Der Detektiv ist eingebildet, sein Pech selbst verschuldet. Dessen ungeachtet ist Sheringham ein guter Kriminalist. Er rekonstruiert logisch nachvollziehbar das Verbrechen und benennt den Mörder. Doch ein Steinchen in seinem Mosaik liegt nicht korrekt. Das lässt Sheringham von seinem Anfangsverdacht abkommen und neue Spuren verfolgen, von denen wir wissen, dass sie falsch sind.

Das Pferd wird von hinten aufgezäumt

Im ‚normalen‘ „Whodunit“ treten Detektiv und Polizei zwar gern als Konkurrenten auf, raufen sich aber letztlich zusammen. Auch hier bürstet Berkeley seinen Krimi gegen den Strich: Inspektor Crane und Roger Sheringham fahnden quasi parallel, doch darf der Polizist vom Wirken des ‚Konkurrenten‘ keinesfalls erfahren. Daraus resultiert eine ganze Reihe von Missverständnissen und Fast-Entdeckungen, die der Verfasser im (wein-) geistreichen Komödienstil seiner Zeit ins Geschehen einfließen lässt: „Ich habe mir nicht träumen lassen, dass sich der ‚große Detektiv‘ je mit solchen Sachen abgeben müsste wie zu entdecken, was die beamteten Detektive bereits entdeckt haben.“ (S. 130) Dabei rühmt sich Sheringham ausdrücklich der Freundschaft zum ‚Kollegen‘ Lord Peter Wimsey: ein Insider-Gag und eine Reminiszenz an Dorothy Sayers, Berkeleys Mitstreiterin im „Detection Club“ zu London.

So ist der unfreiwillige (und unzuverlässige) ‚Assistent‘ Sheringhams zwar sein bester Freund, der ihn allerdings für Inas Mörder hält, nachdem Roger ihm seine wirre Geschichte vom verrückten Stuhl erzählt hat. Freunde verraten einander nicht, so verspricht Colin Nicolson feierlich – und treibt den armen Sheringham damit beinahe in den Wahnsinn! Zu seinem Ärger fühlt sich plötzlich ein weiterer Gast berufen, Sand ins Getriebe der polizeilichen Ermittlungen zu streuen.

Fatalerweise benehmen sich die übrigen Teilnehmer der Gesellschaft chronisch verdächtig. Sie haben Ina alle gehasst und daraus keinen Hehl gemacht, wie der Inspektor schnell herausfindet. Leider haben sie, die ja bis auf eine Ausnahme unschuldig sind, wie wir wissen, überall doppeldeutige Indizien im Haus verstreut. Sowohl Crane als auch Sheringham verdächtigen immer neue Personen, sortieren sie aus, werden wieder wankelmütig … Der Krimi wird zur Komödie der Irrungen und Wirrungen, ohne deshalb dem Genre fremd zu werden.

Das scharfsinnige Spiel mit dem Klischee

Zum bruchfreien Beugen der „Whodunit“-Regeln gehört die Schöpfung von Figuren, die scheinbar dem Klischee des Genres entsprechen. Bei näherer Betrachtung sind sie herzlich frei davon. Sheringham hat seinen Kredit als genialer Detektiv schnell ausgespielt. Der Mörder ist ausgesprochen sympathisch, seine Motive sind altruistisch. Das Opfer hat sein Schicksal selbst heraufbeschworen und den Tod verdient. Der Detektiv ist sich in diesem Punkt mit dem Mörder einig. Inas Familienangehörigen sind unschuldig – aber nur, was den Mord betrifft, denn sonst hüten sie eigene Geheimnisse. Die Polizei weigert sich die Rolle des tumben Handlangers zu übernehmen, sondern bringt den Detektiv durch saubere Ermittlungsarbeit in die Bredouille. Der verstärkt daraufhin seine manipulativen Bemühungen und vergrößert die Verwirrung, bis alles verloren scheint.

Das große Finale treibt die Verwirrung auf die Spitze. Wie Berkeley die vielfach verschlungene Indizienkette so aufdröselt, dass es für die Beteiligten zu einem guten aber unerwarteten Ende kommt, ist fabelhafte Unterhaltung. Es folgt ein Twist, der es in sich hat und funktioniert: der würdige Schluss eines quirligen, (auch in seiner Übersetzung) zeitlosen herrlich unmoralischen Krimivergnügens, das seine Leser auch nach vielen Jahren in seinen Bann zu ziehen vermag. Und Roger Sheringham hat dazugelernt: „Die großen Detektive der Vergangenheit hatten wirklich Glück. Im Leben kann man aus einer Tatsache hundert verschiedene Folgerungen ziehen, von denen keine richtig zu sein braucht.“ (S. 132/33)

Autor

Am 5. Juli 1893 wurde Anthony Berkeley Cox in Watford, einer nordwestlich von London in der englische Grafschaft Hertfordshire gelegenen mittelgroßen Stadt, geboren. Er studierte am University College in London, diente anschließend im I. Weltkrieg und begann anschließend für Magazine wie „Punch“ und „The Humorist“ schriftstellerisch tätig zu werden.

Ab Mitte der 1920er Jahre verfasste er Kriminalromane, die ihn als Vertreter des klassischen „Whodunit“ zeigen, der indes zunehmend auch psychologische Aspekte in seine Werke einfließen ließ. Unter Pseudonymen wie Anthony Berkeley, A. B. Cox, Monmouth Platts und Francis Iles schrieb Cox eine Vielzahl von erfolgreichen und sehr komplex geplotteten Einzelkrimis. Zwischen 1925 und 1934 erschienen zehn Romane (sowie diverse Storys) mit dem zeittypischen Gentleman- und Amateur-Detektiv Roger Sheringham.

Sein immenses Wissen um den Kriminalroman und sein Beharren auf dem klaren (oder wenigstens logisch nachvollziehbaren) Plot ließ Cox 1928 zum Gründer des legendären „Detektion Club“ werden, dem die Crème de la Crème des Genres beitrat: Agatha Christie, Dorothy L. Sayers, Freeman W. Crofts, Ronald Knox u. a. Mit diesen und anderen Clubmitgliedern verfasste Cox gemeinsam mehrere Romane.

In den 1930er Jahren konzentrierte sich Cox unter dem Eindruck des vom Aufstieg Nazi-Deutschlands geprägten politischen Alltags auf seine journalistische Arbeit. 1939 erschien sein letzter Kriminalroman. Cox schrieb für renommierte Zeitungen wie die „Sunday Times“ und den „Guardian“. Am 9. März 1971 ist er im Alter von 77 Jahren gestorben.

Taschenbuch: 187 Seiten
Originaltitel: Jumping Jenny (London : Hodder & Stoughton 1933)
Übersetzung: Hilda Martens
http://www.ullsteinbuchverlage.de

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