Als ein pensionierter Meisterermittler ermordet wird, berät der chinesische Kriminalbeamte Charlie Chan die ratlose Polizei und verknüpft zahlreiche lose Enden zur Lösung des Falls … – Gelungener Beitrag zur „Charlie-Chan“-Reihe und ein klassischer „Whodunit“. ‚Unmögliche‘ Morde mit bizarrer Indizienlage, drohende Fratzen am Fenster, Verdachtsmomente und deduktive Sackgassen, schließlich die überzeugende, so niemals erahnte Auflösung, präsentiert von einem exzentrischen Genie: ein gemütlicher Feierabend-Thriller mit allen geschätzten Elementen.
Das geschieht:
San Francisco in den „Roaring Twenties“ des 20. Jahrhunderts: Der junge Reporter Bill Rankin ist aufgeregt. Kapitales Wild ist ihm vor Block & Bleistift geraten: Sir Frederic Bruce, ehemaliger Chef der Kriminalabteilung von Scotland Yard, hält sich als Gast des Multimillionärs Barry Kirk in der Stadt auf. Der legendäre Ermittler ist eine Quelle fabelhafter „True-Crime“-Storys. Weil er an seinen Memoiren arbeitet und sich für ein wenig Eigenwerbung nicht zu schade ist, gewährt er Rankin eine Audienz. Dieser greift die Gelegenheit beim Schopfe. Um Bruce redseliger zu stimmen, schlägt er ihm eine Zusammenkunft mit einem berühmten Kollegen vor.
Charlie Chan von der Kriminalpolizei der Hawaii-Insel Honolulu steht eigentlich kurz vor der Heimreise; die Niederkunft seines elften Nachkömmlings steht bevor. Trotzdem freut sich er sich auf die Fachsimpelei mit Bruce. Auch Kirk ist von Chan angetan und lädt ihn auf eine kleine aber feine Abendgesellschaft ein. Dort herrscht ein großes Kommen und Gehen, was fatal ist, als Sir Frederic, der Ehrengast, mit einer Kugel im Schädel aufgefunden wird.
Alle Gäste sind verdächtig. Die Polizei ist ratlos. Eher widerwillig schaltet sich Chan in die Untersuchung ein. Bruce hatte ihm kurz vor seinem Ende erzählt, dass er sich nicht gänzlich zurückgezogen habe. Da gab es Fälle, die er nie klären konnte und um die er sich nach der Pensionierung kümmerte, um endlich „hinter jenen Vorhang zu schauen“, der das Rätsel verbarg. Aktuell beschäftigte ihn das rätselhafte Verschwinden der jungen Eva Durand in einer indischen Grenzstadt. Bruce war auf eine neue Spur gestoßen, wie er – Chan ist es nicht entgangen – angedeutet und damit eine Falle gestellt hatte.
Nun hat er sich selbst gefangen. Wer hat ihn ermordet? Was hat sein Tod mit einem Kriminalfall zu tun, der sich eine halbe Welt entfernt ereignete? Welche Rolle spielen die chinesischen Pantöffelchen, die dem toten Bruce gestohlen wurden? Charlie Chan kann nicht widerstehen. Er ‚berät‘ den überforderten Captain Franklin und kommt schließlich einer Frau mit vielen Namen und einer alten aber längst nicht abgeschlossenen Kriminaltragödie auf die Spur …
Rätsel und Hochspannung – stilvoll
Ein Mann mit einem Geheimnis wird umgebracht; es muss ein Mitglied der Gesellschaft gewesen sein, mit der er seine letzte Party gefeiert hat. Ein Mord im von innen geschlossenen Raum ist es außerdem und damit die klassische Ausgangssituation für einen „Whodunit“ aus der „Goldenen Ära“ des Detektivromans vor dem Zweiten Weltkrieg. Earl Derr Biggers holt aus den üblichen Elementen geradezu generalstabsmäßig heraus, was die Jagd nach dem Täter spannend verzögert.
Sir Fredric Bruce ist einem außerordentlich verwickelten Verbrechen auf der Spur gewesen. Je länger Charlie Chan und die Polizei ermitteln, desto verblüffter müssen sie feststellen, dass Bruce überall auf der Welt verschwundenen Frauen nachgeforscht hat. Die Gäste jener verhängnisvollen Party sind sämtlich in solche Fälle verwickelt.
Es kommt sogar noch besser: In den meisten Fällen scheinen die verschwundenen Damen identisch zu sein, und diese im buchstäblichen Sinn multiple Persönlichkeit ist ebenfalls am Ort der Untat aufgetaucht. Langer Rede kurzer Sinn: Biggers gelingt in „Hinter jenem Vorhang“ ein faszinierender Plot, dessen Auflösung man gespannt entgegensieht.
Diese ist selbstverständlich ebenfalls klassisch: Alle Verdächtigen werden von Charlie Chan an einem Ort versammelt. Dann konfrontiert er die Anwesenden mit dem minuziös rekonstruierten Tatablauf und den Hintergründen der Bluttat. Der Höhepunkt dieses großen Finales besteht in der Demaskierung des bisher vom Leser hoffentlich nie verdächtigten Mörders, der daraufhin gern eine Waffe zieht und die Gruppe bedroht, während er (oder sie) noch offene Fragen zur Tat beantwortet, um anschließend Selbstmord zu begehen oder überwältigt zu werden.
Klarer Blick durch schräge Augen
Charlie Chan ist eine im Detektivroman nicht unbedingt singuläre Gestalt: ein ‚exotischer‘ Ermittler, der nicht nur begabt, sondern von ungewöhnlicher Herkunft ist und der seinem Job auf sehr individuelle Art nachgeht. So etwas fesselt, wird es richtig gemacht, die Leser stärker an die Figur, weil diese sich leichter einprägt.
Chan ist Chinese (eigentlich US-Amerikanischer chinesischer Abstammung, aber diesen feinen Unterschied scheint nicht einmal er selbst wichtig zu finden), d. h. ‚typischer‘ Repräsentant des geheimnisvollen Orients mit seinen sehr auf ihr „Gesicht“ bedachten, in den Augen des Auslands undurchschaubaren Bewohnern.
Als naturalisierter Amerikaner steht Chan seinem Geburtsland China noch sehr nahe. Er spricht die ‚neue‘ Sprache gut, aber auf angeblich ‚chinesische‘ Art, was – so will es das Klischee – den reichlichen Einsatz blumiger Aphorismen bedeutet. Seine unzähligen Sinnsprüche haben Charlie Chan mindestens ebenso berühmt gemacht wie seine kriminalistischen Fähigkeiten (oder seine stetig wachsende Kinderschar). Aber Autor Biggers lässt nie einen Zweifel daran, dass Chan mehr ist als ein maskenhaft lächelnder Asiate. Stattdessen schildert er einen Mann, der scharf beobachtet, nachdenkt, prüft und durchaus energisch seine Kollegen zu lenken weiß. Deshalb genießt er Ansehen, geht beim ‚weißen‘ Establishment ganz selbstverständlich ein und aus und bleibt verschont von rassistischen Anfeindungen. Wenn sich eine Figur über Chan, den „Chinesen“ mokiert, ist dies immer ein Schurke oder ein Dummkopf. Angesichts der Entstehungszeit der Charlie-Chan-Romane ist dies bemerkenswert.
Frauen klug und Polizisten hilflos
Dass Earl Biggers immer für eine Überraschung gut ist, verrät die Figur der Assistentin des Bezirksstaatsanwalts. Eine Frau in wichtiger Funktion, d. h. keine Tippse oder Kaffeekocherin, sondern eine gestandene Juristin: Das ist ganz und gar keine Selbstverständlichkeit in einem Kriminalroman des Jahres 1928. June Morrow arbeitet mit der Polizei und Charlie Chan aktiv an der Lösung des Mordfalls Bruce. Zwar wird ihre Tätigkeit mit dem Hinweis auf ihr Geschlecht gern und ausführlich in Zweifel gezogen (und durch die Heirat mit einem schmucken jungen Millionär im Finale durch die für eine Frau ziemlichere Mutterrolle ersetzt), aber Miss Morrow ist definitiv eine weibliche Hauptfigur.
Die Polizei kommt wie so oft im klassischen Detektivroman eher schlecht weg: Captain Franklin sieht in der Regel den Wald vor lauter Bäumen nicht; ihm bleibt auch verborgen, dass ihn Charlie Chan ständig durch hintergründige aber sehr sarkastische Aphorismen durch den Kakao zieht. Karikierend wirkt auch Franklins Obsession, jegliche Zeitgenossen, die sich irgendwie ‚verdächtig‘ machen, umgehend verhaften zu lassen.
Von dem aus allen geschilderten Elementen entstehenden Spiel konnte das Krimi-Publikum niemals genug bekommen. Nicht alle Charlie-Chan-Romane sind gelungen, aber mit diesem hat Earl Derr Biggers großartige Arbeit geleistet und das Genre dauerhaft bereichert.
Autor
Geboren wurde Earl Derr Biggers 1884 in Warren, US-Staat Ohio. Einem Studium in Harvard folgte eine erfolgreiche Karriere als Humorist und Kritiker für den „Boston Traveler“. 1911 veröffentlichte Biggers seinen ersten Roman, heiratete, zog nach New York City, verfasste eine erste Theaterkomödie, setzte seine Karriere als Humorist fort und begann eine neue als gefeierter, überaus produktiver Bühnenautor. 1919 brach er auf zu neuen Ufern: Mr. Biggers ging nach Hollywood, wo man einen Mann mit seinen Talenten durchaus zu würdigen wusste.
Biggers wurde auf das Genre Kriminalroman aufmerksam und beschloss, auch hier sein Glück zu versuchen. 1919 hatte er während eines Urlaub in Honolulu über einen hier tätigen chinesischen Kriminalbeamten namens Chang Apana gelesen. Trotzdem dauerte es noch sechs Jahre, bis Biggers, durchaus direkt auf den Zeitgeist zielend, der exotische Helden schätzte, die Figur des Charlie Chan schuf, eines trügerisch sanften aber klugen bzw. mit der sprichwörtlichen Weisheit des Orients gesegneten Polizisten. Der Humorist Biggers scheint in den zahllosen Aphorismen durch, die dieser seinem Helden in den Mund legt; heute erscheinen sie freilich oft albern und abgeschmackt.
Was uns zur unschönen Frage trägt, ob denn die Charlie Chan-Romane aus politisch korrekter Sicht nicht als bodenloser Sumpf rassistischer Stereotypen zu verdammen sind. Hier muss man wiederum zwischen Film und Buch scheiden, denn den Schwarzen Peter behält Hollywood. Earl Derr Biggers hat sich im Rahmen des zeitgenössischen Weltbilds durchaus weit aus dem Fenster gelehnt. “Hinter jenem Vorhang” zeigt sehr deutlich einen Charlie Chan, der ungeachtet aller skurrilen Züge ganz sicher nicht als Menschen zweiter Klasse oder Vorzeige-Exoten abgewertet wird. Statt dessen streut Biggers immer wieder Momente ein, die Chan ist bei aller Zurückhaltung sehr wohl als selbstbewussten, von seinen Fähigkeiten eingenommenen Charakter zeigen, der als solcher von seinen denkenden Mitmenschen auch wahrgenommen und respektiert wird.
Zu Lebzeiten Earl Derr Biggers war den Charlie Chan-Romanen nur bescheidener Erfolg beschieden. Tragisch starb der Verfasser schon 1933 an einem Herzinfarkt. Zwischen 1931 und 1948 entstanden 47 Kinofilme mit Chan-Darstellern wie Warner Oland, Sidney Toler und Roland Winters, die sich noch heute trotz der billigen Machart (sowie diverser hässlicher Rassismen) mit großem Vergnügen anschauen lassen. („Behind That Curtain“ wurde bereits 1929 und schon als Tonfilm inszeniert; E. L. Park spielte Charlie Chan.) Mit dem ‚echten‘ Charlie Chan haben diese Streifen freilich nur wenig zu tun. Überhaupt gibt es nur sechs Original-Romane, die Earl Derr Biggers zwischen 1925 und 1932 verfasste.
Der chinesische Meisterdetektiv ist Objekt der Verehrung auf zahlreichen Websites. Zu den informationsreichsten und schönsten gehört diese.
Taschenbuch: 253 Seiten
Originaltitel: Behind That Curtain (Indianapolis : The Bobbs Merrill Company 1928)
Übersetzung: Dietlind Bindheim
http://www.randomhouse.de/heyne
Der Autor vergibt: