Bill Pronzini – Tödliche Fremde

Pomo ist ein Städtchen irgendwo im Norden des Sonnenstaates Kalifornien. Wenig ist hier am Rand der Wildnis los, es herrscht Rezession. Viele Geschäfte stehen leer, der Wirtschaft geht es schlecht. Unzufrieden, neidisch und gereizt sind jene, die es sich nicht leisten können fortzuziehen. Das Geld ist knapp, der Alkohol billig, Schusswaffen und das Verprügeln der Ehefrau sind des Bürgers liebste Hobbys.

Das Establishment des Ortes hat seinen Glanz verloren. Storm Carey, die reichste Frau der Stadt, ist nach dem Tode ihres Gatten der krankhaften Nymphomanie verfallen. Mit den meisten Männern in Pomo hat sie bereits geschlafen, was dem Dorffrieden wenig zuträglich ist. Storms Verehrer bilden einen Club von Verlierern, Säufern, Ehebrechern und kleinen Gaunern.

Pomo ist ein Pulverfass, das der überforderte und ausgebrannte Sheriff Novak nur mühsam unter Kontrolle behält. Damit ist es vorbei, als John Faith in die Stadt kommt – ein großer, übel aussehender, unfreundlicher Mann, der sich den neugierigen Bürgern verweigert. Niemand kennt ihn, alle brennen darauf zu erfahren, was Faith nach Pomo treibt. Offenkundig sucht er etwas oder jemanden, taucht überall und nirgendwo auf.

Faith lässt sich weder einschüchtern oder von seiner mysteriösen Mission abbringen. Der stets geilen Storm Carey gibt er einen Korb, schafft sich Feinde, verbreitet Furcht, ohne dass ihm ein Verbrechen nachzuweisen wäre. Das ändert sich schlagartig, als ein Maskierter des Nachts den Frauen Pomos aufzulauern beginnt. Dann wird Storm Carey brutal vergewaltigt und ermordet. Verdächtige gibt es viele – sogar der Sheriff gehört zu ihnen -, aber auch den perfekten Sündenbock: John Faith. Die Jagd ist eröffnet, aber das Wild lässt sich nicht so einfach fangen …

Der Tropfen und das Fass

Ein Fremder kommt in eine Stadt, die etwas zu verbergen hat – ein bekannter Plot, der vielleicht am besten im schnörkellosen B-Film zum Tragen kommt. „Tödliche Fremde“ erinnert stark an „Bad Days at Black Rock“ (1955, dt. „Stadt in Angst“) mit Spencer Tracy, weist aber auch Züge von „High Plains Drifter“ (1973, dt. „Ein Fremder ohne Namen“) von und mit Clint Eastwood auf: John Faith trägt zwar einen Namen (der übersetzt ausgerechnet „Glaube“ oder „Redlichkeit“ bedeutet), ist jedoch zunächst ohne Identität. Er jagt den Bewohnern von Pomo Angst ein, weil sie aus diversen Gründen schlechte Gewissen haben und sich von Faith bedroht fühlen.

Der verbreitet nicht absichtlich Angst und Schrecken. Faith ist eher ein Katalysator, der die Lunte ansteckt, die schon lange nach Pomo führt. Zu viele unterdrückte Gefühle, zu viele schwelende Konflikte, zu viel Frustration und Zorn hat sich hier gesammelt. Zur Explosion wäre es ohnehin gekommen, aber nun ist mit Faith der (scheinbar) ideale Sündenbock in die Stadt gekommen.

Der Weg in die Katastrophe wird von Bill Pronzini meisterhaft geschildert. Er macht uns mit Pomo und seinen Bürgern vertraut, indem er jedes Kapitel seiner Geschichte von einer anderen Person erzählen lässt. Der Sheriff, die bald verblichene Storm Carey, ihre diversen Geliebten und weitere Bürgerinnen und Bürger – sie alle berichten scheinbar von ihren Erlebnissen mit dem furchteinflößenden John Faith. Tatsächlich geben sie aber sich und den Alltag in der vom Schicksal und seinen Bewohnern verfluchten Stadt Pomo preis.

Menschenhölle auf Erden

Das tun sie lakonisch und ohne Beschönigungen. Pomo ist eine regelrechte Brutstätte enttäuschter, ausgebrannter, desillusionierter Gestalten. Manchmal ist ihnen ihr Elend selbst nur dumpf bewusst; dann beschreibt uns Pronzini ihr Handeln, das die daraus resultierende Ratlosigkeit verrät. Andere wiederum wissen sehr wohl, was sie umtreibt, ohne jedoch dagegen angehen zu können. Storm Carey ist beispielsweise in der Tat mannstoll, doch Pronzini weiß uns deutlich zu machen, dass dies ein Zwang ist, der sein Opfer wie ein Dämon peinigt und schließlich in den Untergang treibt.

Helden gibt es nicht in Pomo. Geschickt spielt Pronzini mit entsprechenden Klischees. Der Sheriff, theoretisch Vertreter von Recht Gesetz, sitzt mit im Boot der Verdammten. Die Lehrerin, als Indianerin bzw. „nordamerikanische Ureinwohnerin“ üblicherweise politisch korrekt zur Gutfrau veredelt, ist selbst nicht frei von Vorurteilen. Der Journalist, der eigentlich der Wahrheit verpflichtet sein sollte, ist längst zum zynischen Alkoholiker verkommen. Der Bankchef ist ein Spieler und hat Kundengelder unterschlagen.

So geht es immer weiter die soziale Stufenleiter hinab. Unten treffen wir auf Unterschicht-Proleten, auf weniger verschrobene als hasserfüllte Außenseiter, auf zu kurz Gekommene und Geprügelte, die ihren Teil dazu beitragen, diese kleine Stadt in eine Hölle auf Erde zu verwandeln. Wir schaudern vor ihnen zurück, aber wir verstehen sie auch: Pronzini vermeidet simple Schwarz-Weiß-Zeichnungen und schafft sensibel glaubhafte Charaktere.

Zu tief gesunken

John Faith ist – es klang bereits an – für Pomos Bürger die ideale Projektionsfigur für ihre unbewältigten Konflikte. Aber Strafe muss sein: In die Enge getrieben zahlt Faith es seinen Peinigern heim. Wieder einmal bleibt die Erlösung aus. Das Finale bringt keine Reinigung und keinen Neuanfang für Pomo. Nur wenige haben ihre Lektion gelernt. Die Mehrheit überlebt – bloß: wozu?

„Ödland der Fremden“ hat Bill Pronzini selbst seinen Thriller genannt. Dieser Titel fasst den Inhalt vorzüglich zusammen: Die Bürger von Pomo, die doch seit Jahr und Tag Tür an Tür leben, sind tatsächlich einander stets fremd geblieben. Und mit der Öde, die Pronzini anspricht, ist nicht die karge Wüstenlandschaft gemeint, sondern die Leere, die in den Herzen und Seelen der Menschen herrscht. Das mag pompös klingen – vor allem deshalb, weil Pronzini doch ‚nur‘ einen Krimi (ohne Detektiv oder Polizisten im Mittelpunkt) geschrieben hat -, aber es trifft den Kern.

In seinen Romanen und Geschichten treten keine kriminalistischen Vollprofis auf. Pronzinis Detektive und Polizisten sind oft überfordert, werden von privaten Sorgen abgelenkt oder irren sich schlicht. Noch schlimmer ergeht es den ‚normalen‘ Zeitgenossen, die mit dem Verbrechen beruflich gar nichts zu tun haben, sondern durch einen unglücklichen Zufall oder persönliches Fehlen in seinen Bann geraten. Wie „Tödliche Fremde“ zeigt, gelingt Pronzini die bemerkenswerte Konstruktion eines Strudels, der seine unglücklichen Opfer arg zaust oder gar in den Untergang reißt.

Autor

William John Pronzini ist ein lebenslanger Kalifornier. Im US-Sonnenstaat wurde er 1943 geboren, dort wuchs er auf, er arbeitet und lebt heute gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Kriminalschriftstellerin Marcia Muller, in San Francisco.

Schon früh wusste Pronzini, dass er Geschichten erzählen konnte und wollte. Lange haperte es freilich damit, auf diese Weise den Lebensunterhalt zu sichern. Den verdiente sich Pronzini in einer langen Reihe unterbezahlter Hilfstätigkeiten. 1966 veröffentlichte er seine erste Story, 1971 seinen Debütroman „The Snatch“ (dt. „Irrgarten“), gleichzeitig der erste „Nameless-Detective“-Roman.

Als Autor genießt Bill Pronzini vor allem im angelsächsischen Sprachraum einen ausgezeichneten Ruf, ohne zu den ganz Großen des Genres gezählt zu werden. Das ist ungerecht, aber vielleicht verständlich, da er in den Augen der Kritiker zu vielseitig und vor allem zu produktiv ist, was stets als verdächtig gilt.

Pronzini lässt sich nicht festnageln. Er schreibt Thriller, historische Krimis, klassische Whodunits, Abenteuergeschichten, Science-Fiction, Phantastik oder Western. Damit nicht genug, schreibt Pronzini auch unter diversen Pseudonymen (u. a. Jack Foxx, Alex Saxon, William Jeffrey) und sprang auch schon einmal als Ghostwriter (so für Brett Halliday, 1904-1977) ein. Darüber hinaus schriftstellert Pronzini gern im Team und verfasste Romane gemeinsam mit John Lutz, Barry Wahlberg, Colin Wilcox und seiner Gattin Marcia Muller (die selbst durch ihre Sharon.McCone-Reihe bekannt geworden ist).

Pronzinis wohl bekannteste Arbeit ist seine seit 1971 laufende Serie um den „Nameless Detective“, eine „Private-Eye“-Saga, die spannend Krimi und Gesellschaftskritik mit Seifenoper-Elementen des Alltagslebens verquickt (was hier zur angenehmen Abwechslung einmal kein Nachteil ist). Ihren merkwürdigen Namen erhielt die Serie, weil Pronzini seinem Helden nie einen Namen gab.

Wie sein namenloser Detektiv liebt auch Pronzini die alten „Pulp“-Magazine der 1920er bis 1950er Jahre. Er nennt eine bemerkenswerte Sammlung sein Eigen und bemüht sich, die dort enthaltenen Story-Schätze neu zu heben. So hat Pronzini neben seinen zahlreichen eigenen Werken auch noch mehr 100 (!) einschlägige Sammlungen herausgegeben.

Die Deutschen scheinen nicht recht zu wissen, was sie mit Bill Pronzini anfangen sollen: Fast jeder Verlag hat sich schon an seinen Werken versucht. Immer wieder blieb er für Jahre gänzlich vom Buchmarkt verschwunden. Auch aktuell ist dies so und stellt eine grobe Vernachlässigung der Krimi-Leserschaft dar.

Taschenbuch: 415 Seiten
Originaltitel: A Wasteland of Strangers (New York : Walker Publishing Company, Inc. 1997)
Übersetzung: Cornelia Holfelder-von der Tann
www.fischerbuchverlage.de

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