James P. Blaylock – Brunnenkinder

Blaylock Brunnenkinder Cover kleinDas geschieht:

Placentia, ein kleiner Flecken unweit der südkalifornischen Küste, im Jahre 1884: Hale Appleton, geistiger Führer eines obskuren spiritistischen Kultes, ertränkt seine kleine, kranke Tochter in einem der Brunnen. Er ist davon überzeugt, dass sich die letzten Gedanken des sterbenden Kindes als gläserne Kugel manifestieren werden, mit deren Hilfe er das Kind sogar ins Leben zurückrufen kann.

Tatsächlich findet sich im Opferbrunnen eine solche Kugel, doch sie wird Appleton vom zwielichtigen Alejandro Solas gestohlen, der damit ein lukratives Geschäft plant. Der gutherzige Lehrer Colin O=Brian erfährt von der Schandtat und entwendet seinerseits die Kugel, um sie dem Dorfpfarrer zu bringen, der wissen wird, wie damit zu verfahren ist. Unterstützt wird er von den Freundinnen May und Jeanette. Doch das Trio verhält sich recht ungeschickt. Bald ist ihm der gefährliche Solas auf die Schliche gekommen; ihm folgt der vor Kummer irrsinnig gewordene Appleton. Über dem Brunnen kommt es zum großen Finalkampf aller Beteiligten. Als sie dabei ins Wasser stürzen, entpuppt sich dieser als Tunnel durch die Zeit, der die Geister der fünf Menschen in der Zukunft verstreut …

Ein Jahrhundert später ist aus der historischen Begebenheit eine Gruselgeschichte für die Dorfkinder geworden. Neben dem Opferbrunnens erhebt sich nun das Haus des Fotografen Phil Ainsworth, der hier im Außenbezirk des Städtchens Orange ein einsames Leben führt, bis ihm eines Tages Schwester Marianne das Sorgerecht für ihre zehnjährige Tochter Betsy überträgt. Marianne wusste besser als ihr Bruder Bescheid über eine Familiengeschichte, die durch seltsame Lücken geprägt ist. Betsy besitzt sogar eine Seelenkugel, die sie mit nach Kalifornien bringt.

Umgehend beginnt es am alten Brunnen tüchtig umzugehen. Appleton hat dem Tod ein Schnippchen geschlagen und lauert noch immer auf eine Chance, seine Tochter aus dem Reich der Schatten zurückzuholen. Ihm zur Seite steht die skrupellose Elizabeth Kelly, die alles dafür tun wird, im Auftrag ihres Meisters die Seelenkugel zu bergen. Aber Phil und Betsy finden auch Verbündete – eigentümlich orientierungslos wirkende Gestalten, die direkt aus dem Wasser des Brunnens gestiegen zu sein scheinen …

(Alb-) traumhafter Grusel der sanften Art

Als Leser phantastischer Geschichten fasst man es kaum, wenn man zwischen den hoch aufgetürmten Bestseller-Gebirgen moderner Kettenbuchhandlungen einen Gruselroman findet, der weder in der Schreibfabrik King, Koontz & Hohlbein produziert wurde noch dem „Chic-Lit“-Grauen zugeordnet werden kann. Die große Zeit des auflagenstark gedruckten Horrors neigt sich wieder einmal dem Ende zu; zumindest die etablierten Verlage gehen ungern Risiken mit hierzulande noch namenlosen Autoren ein.

James P. Blaylock ist kein ‚echter‘ Unbekannter. Aufmerksame (sowie ältere) Leser erinnern sich vielleicht noch an seine fabelhaften Fantasy-Romane, die vor vielen Jahren im Heyne-Verlag erschienen. „Brunnenkinder“ war Blaylocks erster ‚richtiger‘ Horror-Roman, wenn man dem Klappentext Glauben schenken möchte (was immer mit einem gewissen Risiko verbunden ist).

Tatsächlich betritt der Autor nur bedingt Neuland: Der ‚Blaylock-Stil‘, jene eigentümliche Mischung aus Traum und (erdachter) Realität, prägte schon die früheren Werke. Typisch ist das Konzept der „Seelenkugel“, das für eine Gruselgeschichte fast schon poetisch wirkt, während der Brunnen als Tunnel durch die Zeit der Science Fiction angenähert ist.

Schwungvoller Start, dann Leerlauf

Blaylock hält sich mit dem freien Assoziieren dieses Mal zurück und integriert die phantastischen Elemente in einer ganz im Hier und Jetzt verankerten Geschichte. Das Ergebnis überzeugt zunächst, weil „Brunnenkinder“ endlich einmal nicht mit der längst tot erzählten Mär vom schleimigen Monster aus der Urzeit, dem Weltall oder dem Genlabor langweilt, den Teufelskindern der Klasse Bah! schulfrei gibt und den notorisch schwatzhaften und mit ektoplasmatischen Kunststückchen protzenden Rachegeistern moderner Spukhäuser kein Forum bietet.

Andererseits verliert Blaylock nach einem auch formal sehr verheißungsvollen Start seinen Schwung. Sobald die Katze aus dem Sack (bzw. aus dem Brunnen) ist, bleibt kaum mehr als eine von den üblichen chronologischen Verwicklungen begleitete Zeitreise-Story mit sachten Fantasy-Elementen. Blut und Gekröse vermisst man nicht, doch andererseits bleibt nicht unbemerkt, dass die Handlung sich im Mittelteil sacht im Kreis dreht.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die „Seelenkugeln“ funktionieren nicht als Treibriemen für Blaylocks Geschichte. Dasselbe gilt für den Zauberbrunnen. Aufwändig und sehr geschickt als märchenhaftes Wunder eingeführt, entpuppt er sich zunehmend als simples physikalisches Phänomen. Echten Spuk gibt es eigentlich nicht in „Brunnenkinder“; nicht einmal dieser deutsche Titel ist zutreffend, denn die so schrecklich geendeten Kinder geistern beileibe nicht durch die Handlung, sondern existieren nur als unbelebte Schatten ihrer Selbst und bleiben für die eigentliche Geschichte völlig ohne Bedeutung.

Geschichte be- oder verendet?

Die Figurenzeichnung ist solide, aber es irritiert, dass Appleton, der eigentliche Bösewicht, eine reichlich uninteressante Gestalt bleibt, während Elizabeth Kelly, seine Handlangerin, von ganz anderem Kaliber ist. Kaltherzig und habgierig stiehlt sie ihrem Boss jederzeit die Show. Die ‚Guten‘ bleiben wie so oft farblos. Phil Ainsworth ist der brave Durchschnittsbürger, der sich maßvoll künstlerisch betätigt und als Adoptivvater wie Ehemann der Ideal-Kandidat ist. Die kleine Betsy ist zwar ein vom Schicksal gebeuteltes aber dennoch langweiliges Kind, um das man in Momenten der Gefahr nicht besonders zittern mag. May und Jeanette, die Gäste aus der Vergangenheit, bleiben völlig ohne Konturen; sie scheinen allein deshalb zu ihrem Auftritt zu kommen, um den Brunnen in Aktion zu zeigen und für einige (dringend erforderliche) dramaturgische Verwicklungen zu sorgen.

Das Ende ist erfreulich unblutig und ‚happy‘, ohne in Heile Welt-Kitsch zu ertrinken. Der böse Möchtegern-Hexer taucht buchstäblich ab und könnte für eine Fortsetzung erneut aus dem Brunnen steigen. Allerdings ist die Geschichte der „Brunnenkinder“ schon mindestens einhundert Seiten vor dem Finale zu ihrem logischen Ende gekommen, sodass sich die Bereitschaft des Lesers, den Sehenswürdigkeiten der Stadt Orange einen neuerlichen Besuch abzustatten, in Grenzen hält. Autor Blaylock empfand offenbar ebenso. Mit „Brunnenkinder“ schloss er seine „Ghosts“-Trilogie ab, die er 1994 mit „Night Relics“ begonnen und 1997 mit „Winter Tides“ (dt. „Gezeiten des Winters“) fortgesetzt hatte.

Blaylock gilt zwar als einer der großen zeitgenössischen Phantasten. Mit „Brunnenkinder“ kann diesen Ruf nicht unterstreichen. In den USA mochte man sich diesem Urteil entweder nicht anschließen oder wollte ein deutliches Zeichen in der Buch-Flut minderbegabter Tolkien-Klone setzen: „Brunnenkinder“ wurde im Jahre 2000 für den „World Fantasy Award“ nominiert (den der Roman allerdings nicht gewann).

Autor

Dass die Welt von Little Orange so wunderbar getroffen wurde, kommt nicht von ungefähr: James Paul Blaylock, geboren am 20. September 1950, ist ein Bürger dieser südkalifornischen Kleinstadt. Er wurde in Long Beach geboren, studierte Englisch an der California State University und lehrt heute Kreatives Schreiben an der Chapman University sowie der Orange County School of the Arts.

Als Schriftsteller veröffentlichte Blaylock 1978 seine erste Story. „The Elfin Ship“ (dt. „Das Elfenschiff“) wurde sein Romanerstling sowie der Einstieg in die „Elfen“-Trilogie. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt wich Blaylock von den ausgetretenen Pfaden der traditionellen Science Fiction und Fantasy ab. Er wurde zu einem frühen Autoren und Gestalter des Steampunks, während er seine Fantasy-Romane gern im Hier und Jetzt ansiedelt, um die Phantastik so kunstvoll mit der Realität zu verzwirbeln, dass beide zum „magischen Realismus“ verschmelzen. Darin gleicht er dem Schriftsteller Tim Powers, mit dem Blaylock nicht nur mehrere Kurzgeschichten schrieb, sondern auch das Gemeinschafts-Pseudonym „William Ashbless“ schuf.

Blaylock wurde oft für die großen Preise der Phantastik nominiert, die er mehrfach gewann. So wurde „Homunculus“ 1987 mit dem „Philip K. Dick Memorial Award“ ausgezeichnet. Über sein Werk informiert Blaylock auf dieser ebenso schlichten wie schön layouteten Website.

Taschenbuch: 383 Seiten
Originaltitel: The Rainy Season (New York : Penguin Putnam 1999)
Übersetzung: Karin König
http://www.ullsteinbuchverlage.de

Der Autor vergibt: (2.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Schreibe einen Kommentar