Blick auf ein neues Europa

Der größte Umbruch in der Europäischen Union stand mit der Eingliederung der ehemaligen Ostblock-Staaten bevor, als Hofbauers „Osterweiterung“ erschien, und dies wurde und wird in allen Medien ohne Ausnahme als positives Ereignis kommentiert. Umso wichtiger sind Bücher wie dieses, das auch die Schattenseiten aufzeigt. Die nachfolgenden Darstellungen sind aus zeitlicher Perspektive der Veröffentlichung formuliert, liegen also vor den kürzlichen Neubeitritten in die EU.

Die heutigen Humanisten wissen, dass der Name „Europa“ auf die von Zeus entführte Tochter des Phönix zurückgeht. Dabei ist die Herkunft des Namens eigentlich noch viel älter und entstammt nicht der griechischen Mythologie. Etymologisch leitet sich der Name vom assyrischen |erp| ab, was soviel wie „düster, dunkel, finster“ bedeutet: wo die Sonne untergeht. „Asis“ nannten dem gegenüber die Assyrer das Helle, Leuchtende: wo die Sonne aufgeht, Asien. Genauso sprechen wir auch heute noch vom Abendland, wo die Sonne untergeht, und vom Morgenland, wo sie aufgeht.

Die ersten Ambitionen für ein großes Reich hatten die Römer, die den Lîmes als Grenzwall bauten, und innerhalb lebten die „zivilisierten“ römischen Bürger und außerhalb die „Barbaren“. Ihr Reich erstreckte sich vom Norden Englands über Belgien und Süddeutschland entlang der Donau bis ans Schwarze Meer und den Dnjestr. Als die Römer an Bedeutung verloren, bekam die Idee religiösen Charakter und wurde vom christlichen Denken als Maßstab bestimmt, in all den Jahrhunderten immer voran auch von den Deutschen mit ihrem „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“. Gespalten wurde dieses Reich 1054 durch das große Schisma, das die Kirche in einen lateinisch-römischen und einen griechisch-orthodoxen Lebensraum spaltete.

Dies genügt an dieser Stelle für das Wesentliche aus der Vergangenheit, im Buch selbst wird die Historie wesentlich detaillierter dargestellt. Interessant, um das jetzige Geschehen einschätzen zu können, ist hier nur die jüngere Vergangenheit. Nachdem der Expansionsdrang der Deutschen mit dem Zweiten Weltkrieg erst einmal wieder beendet war, wurde im Zuge des Kalten Krieges mitten in Europa eine imaginäre Mauer gezogen. Treibende Kraft dafür waren die USA, die Russen unter Stalin wollten eigentlich dem entgegen arbeiten und 1949 zur Gründung der NATO ersuchte Russland noch die Aufnahme. Auch wollte Russland nie die Teilung Deutschlands, und 1952 machte Stalin noch das Angebot, auf seine Besatzungszone zu verzichten, um Deutschland als Ganzes politisch zu neutralisieren und damit zu vereinen. Dies wurde vom Westen komplett ignoriert und zurückgewiesen. Die USA hat kräftig die westlich europäischen Länder aufgerüstet und investiert, aber davon auch so profitieren können, dass es durch die Kreditzinsen wirtschaftlich gut voranging.

Dass der Ostblock dann 1989 zusammenbrach, lag nicht am System, sondern daran, dass die dortigen Völker nicht mehr mithalten konnten. Vor allem die Computertechnologie, die diese nicht hatten und die den westlichen Unternehmen all ihre Einsparungen möglich machte, brachte das Aus für den Kommunismus. Die letzte sozialistische Regierung Ungarns wurde durch einen von Otto Habsburg, dem Sohn des 1918 abgedankten Monarchen Karl, vermittelten 500 Millionen DM-Kredit aus Bonn eingekauft und dafür machten sie 1989 die Grenzen nach Österreich auf. Millionen DDR-Bürger wurden erwartet und große Flüchtlingslager eingerichtet, aber es waren dann nur wenige Tausend – trotzdem wurde das spektakulär vermarktet. Die Durchreise nach Bayern war generalsstabsmäßig geplant. So gut wie alle von diesen hatten bereits ihre Arbeitsverträge mit bayrischen und baden-württembergischen Unternehmen in der Tasche. Nach und nach brach damit der ganze Ostblock zusammen. Wohin dieses für ein halbes Jahrhundert scheinbar verloren gegangenes Osteuropa „heimkehrte“, wurde erst später deutlich: in einen von Krisen und Kriegen arg in Mitleidenschaft gezogenen Kontinent, wie er vor der kommunistischen Zwangsmodernisierung bestanden hatte. In Jugoslawien, Albanien, Moldawien und Teilen Russlands kehrte der Krieg nach 45-jähriger Unterbrechung wieder auf die politische Bühne zurück. Und das übrige Europa wird von wirtschaftlichen Krisen gebeutelt, im Osten nun freilich noch um ein Spürbares höher als im Westen.

Die Revolution, von der gesprochen wird, ist ein Mythos. Die DDR wurde einfach mit Stumpf und Stiel ausradiert. Die anderen Länder, die über eine nationale Identität verfügten, schreckten nicht vor inszenierten Falschmeldungen zurück. In Prag präsentierte das Bürgerforum einen von Sicherheitskräften Erschlagenen. Das war im Westen tagelang der Headliner, derjenige dagegen, der am gleichen Tag in Göttingen bei einer antifaschistischen Demo von prügelnden Polizisten unter die Räder eines PKW getrieben wurde und verstarb, wurde kaum wahrgenommen. Später stellte sich heraus, dass es einen Toten in Prag gar nicht gegeben hatte. Auch Havels kometenhafter Aufstieg vom Dramaturgen zum Republikgründer ist Teil einer Inszenierung, die aus drei Massenkundgebungen und zwei Stunden Generalstreik eine Revolution gemacht hat.

Noch krasser ist der Widerspruch zwischen Mythos und Wirklichkeit in Rumänen. 1989 verfolgte unter dem Weihnachtsbaum die christliche Welt mit Genugtuung die Hinrichtung des Ehepaars Ceausescu, weil sie das für gerecht für einen solch blutrünstigen Dracula hielt. Tage zuvor sah man nämlich zehntausend bestialisch ermordete ungarischstämmige Rumänen in den Nachrichtenbildern. Als sich später die ganze revolutionäre Aufregung gelegt hatte, kam heraus, dass die gezeigten Leichen keine Revolutionsopfer waren, sondern Spitaltote, die mit Geld bestochene Wärter aus dem krankenhauseigenen Friedhof ausgruben und revolutionär drapierten. Es gab keine zehntausend Tote. 96 Tote waren lediglich registriert. Nur als Vergleich: Beim zeitgleichen Überfall der USA auf Panama gab es 7.000 tote Panamesen. Ceausescu wollte im Gegensatz zu den Präsidenten wie Honecker, Husak und Schivkoff, die für ihre Länder keine wirtschaftliche Perspektive mehr sahen, einfach nicht das Feld kampflos räumen. Denn er hatte gerade einen großen wirtschaftlichen Triumph gefeiert. Zehn Jahre lang hatte er seinem Volk die härtesten sozialen Bedingungen des Internationalen Währungsfonds aufgebürdet, um sämtliche Auslandsschulden zurückzahlen zu können. Im April 1989 war Rumänien als einziges Ostblockland schuldenfrei. Zu spät, denn ringsherum begann sich der osteuropäische Wirtschaftsraum aufzulösen. Als einziger politischer Führer der ehemaligen Ostblockstaaten wurde der rumänische KP-Chef am weströmischen Christtag 1989 hingerichtet.

Die ganzen ehemaligen Ostblockländer stehen heute unter einem sozialen Schock, was natürlich verschwiegen wird. Nach Statistiken der UNICEF stieg die Sterberate in diesen Ländern von 1989 bis 1997 um 12 Prozent. Betroffen sind eher Männer als Frauen und vor allem Arbeiter im Alter von 35 bis 49 Jahren. Teile einer im Kommunismus großgewordenen Generation haben die wirtschaftliche Krise nach der Wende und deren heftigen sozialen Auswirkungen nicht verkraftet. Dass der westliche Kapitalismus drei Millionen Menschenopfer brachte, wird nicht bekannt gegeben. Im selben Zeitraum sanken die Geburtsraten aus Zukunftsangst um 20 Prozent. Demographische Katastrophen dieser Art wirken sich erst nach mehreren Jahrzehnten drastisch aus, wenn es dann in den peripher-kapitalistischen künftigen Gesellschaften darum gehen wird, Alterssicherung für jene sicher zu stellen, die die Wende überlebt haben.

Dass das kommunistische System an sich versagt hätte und deswegen von innen her zusammenbrach, ist ein Mythos. Den Menschen im Ostblock geht es heute noch weit schlechter als zu den Zeiten vor 1989. Sämtliche nationale Statistiken wiesen bereits in den ersten Jahren nach der Wende zweistellige Einbrüche des Bruttoinlandprodukts auf. Pro Kopf liegt es weit unter den EU-Werten. Auf dem fiktiven BIP-Konto hat jeder Deutsche 25.000 Euro, jeder Pole 4.600, jeder Ungar 5.100, jeder Balte 3.000 und jeder Bulgare sogar nur 1.500 Euro. Das angebliche Reformjahrzehnt ist ein einziges Desaster. Lohnabhängige und Rentner wurden enteignet und die großen ausländischen Konzerne gingen als Gewinner der Transformation hervor. Die Schrumpfung von Sparguthaben durch Hyperinflation sowie die Streichung von Arbeitsplätzen mittels Privatisierung und Schließung von Betrieben zählten zu den effektivsten Formen des sozialen Raubs.

Die Verschuldung der Regierungen im Westen ist enorm. IWF und Weltbank geben die groben Linien vor. 165 Milliarden US-Dollar umfassen die Schulden bei westlichen und amerikanischen Banken, Russland weist dazu weitere 160 Milliarden US-Dollar Auslandsschuld auf. Rumänien hat seine Verschuldung aus den Achtzigerjahren, die während der Herrschaft von Nicolae Ceausescu abgebaut worden war, nach wenigen Wendejahren wieder erreicht. Das große Druckmittel sind nun die Verschuldung und die Bereitschaft zur Anpassung im Hinblick auf den EU-Beitritt. Das ist alles nicht aufzubringen und wird nichts in diesen Ländern verbessern. Bei solchen Schuldenhöhen und circa 12 Prozent Zinsen wird der jährliche Kaptitalabfluss aus dem Osten beträchtlich sein. Das Kapital fließt also, entgegen der medialen und politischen Suggestion, Jahr für Jahr von Ost nach West. Daran ändern auch die groß angekündigten Hilfen für Osteuropa nichts. Das von Brüssel ausgeschüttete Programm für die EU-Beitrittskandidaten betrug ja gerade mal 11 Milliarden Euro. Ein wirtschaftliches Aufholen in den Ostblockländern ist völlig unmöglich.

Seit 1945 wurde Europa nicht von demokratischer, sondern ausschließlich durch wirtschaftliche und militärische Integration geprägt, sowie teilweise durch die noch bestehenden monarchistischen Kreise in Holland, Luxemburg, Belgien, Dänemark, Spanien und Großbritannien. Der Vertrag von Maastrich 1992 über eine „Europäische Union“, den damals zwölf Staaten unterschrieben, veränderte den Charakter Europas. Brüssel war zum Zentrum der politischen Macht geworden.

Im Dienste der großen, nach Markterweiterung und Marktvereinigung strebenden europäischen Konzerne häuft die von keiner Volkswahl oder ähnlichem demokratischen Akt belastete EU-Kommission Kompetenzen an, die weit jenseits derer der Regierungen jedes einzelnen Teilnehmerstaates liegen. Tausende nationaler Normen in so gut wie allen Branchen werden aufgehoben, auf dass europaweit agierende Konzerne in einer Wirtschafts- und Währungsunion produktionstechnisch rationalisieren und damit Kosten sparen bzw. Gewinne maximieren können. Von heute auf morgen bestimmten der EU-Rat und Kommissare des Brüsseler Großraums über die Finanz- und Währungspolitik, Wirtschaft, Außen- und Innenpolitik, Agrarpolitik sowieso auch über Verkehr, Forschung und Entwicklung, Bildung und Justiz. Im nationalen Rahmen blieben im Grunde nur noch die Kulturpolitik und Teilbereiche der Beschäftigungs- und Sozialpolitik sowie der Justiz und Innenpolitik. Brüssel bestimmt den wirtschaftspolitischen Spielraum der nationalen Regierungen und der ist denkbar eng. Mittlerweile wacht auch die Europäische Zentralbank über den EURO als eingeführte gemeinsame Währung. Die Finanzminister der nationalen Mitgliedsstaaten stehen in der Rolle von Erfüllungsgehilfen einer restrektiven Budgetpolitik, deren Ziel es ist, den Konzernen Investitionssicherheit im Großraum herzustellen. Für Sozial-, Wohnungs-, Gesundheits- und Rentenpolitik fehlt dann logischerweise das Geld. Der Nationalstaat verliert Zug um Zug seine Existenzberechtigung.

Die Bevölkerungen Europas waren in heftigem Widerstand gegen eine solcherart Europäische Union, der nur unter Einsatz aller Mittel der Propaganda gebrochen werden konnte. Dänemark lehnte ab, aber bei Nachbefragung kam es zu einer knappen Mehrheit. Auch Frankreich stimmte nur mit einer hauchdünnen Mehrheit. Typischerweise entschieden die Deutschen über das Bundesverfassungsgericht. In Großbritannien blockierten die Konservativen. Die einzigen Länder, die still hielten, waren die ärmeren südlichen Staaten. Gleich nachdem die wirtschaftliche Struktur der neuen Supermacht stand, legte die Kommission 1993 bereits die Beitrittsbedingungen für die Ostblockstaaten fest, ohne dass von diesen überhaupt ein Antrag gestellt worden war. Die in den Beitrittserklärungen formulierte Definition von Demokratie hat aber nichts mit Volksherrschaft zu tun, sondern versteht darunter ein fest in der Hand der europäischen Kapitalgruppen befindliches Medien- und Parteiensystem, das sich dem Kapitalismus verpflichtet fühlt. Osteuropäische Parteien und Präsidenten, selbst wenn demokratisch von ihren Bevölkerungen mehrheitlich gewählt, gelten, sobald sie den Kapitalismus kritisieren, als nicht demokratisch. {Man betrachte dazu die verschiedentlich geäußerten US-amerikanischen Ansichten über den Begriff „Demokratie“. Zudem ist die Lektüre der neuen EU-Verfassung in Bezug auf die Wertstellung von demokratischen gegenüber marktwirtschaftlichen Aspekten sehr erhellend. – Anm. d. Lektors}

Die EU kostet die Mitgliedsstaaten eine Menge Geld. Deutschland ist dabei der größte Nettozahler und bestreitet 30 Prozent der gesamten Beitragszahlungen. Ein beträchtlicher Teil davon fließt in die vorbereitende Integration der beitrittswilligen Länder, aber nicht etwa an die Menschen dort. Die Gelder kommen den größten westeuropäischen Konzernen zugute, z.B. Volkswagen für die logistische Unterstützung der Investitionen in Tschechien und Fiat für Selbiges in Polen.

Die „großen“ Nationen begriffen recht schnell, dass sie zusammenarbeiten müssen, wenn sie die Macht innerhalb eines Großeuropas wollen. Nachdem sich 1989 zeigte, dass Deutschland den 2. Weltkrieg doch nicht so eindeutig verloren hat, wie man in den Jahrzehnten nach 1945 annahm, reichte Frankreich dem einstigen Kriegsgegner aus Einsicht in die neuen Machtverhältnisse die Hand. Deutschland und Frankreich zettelten gemeinsam die europäische Verfassungsdiskussion an. Die Beitrittskandidaten werden regelmäßig geladen und geprüft. Das verläuft nach dem sportlichen Muster einer Superstar-Gewinnshow – es werden Pluspunkte bei Übernahme vergeben und Minuspunkte bei kritischen Äußerungen. In diesem sogenannten „Screening“-Verfahren fallen die Nationen im Rennen vor und zurück und die einzelnen osteuropäischen Staaten stehen dabei im Konkurrenzkampf. Verhandlungen finden mit keinem der Beitrittsbewerber statt. Für diese geht es nur darum, den gesamten Bestand an Rechtsvorschriften und kapitalistischer Norm zu übernehmen, während die EU-Spezialisten das Gelingen dieser Maßnahme überprüfen. Rumänien und Bulgarien haben vorerst dieses Spiel verloren. Die Gewinner für Mai 2004 sind Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern. Dass das als Demonstration eines europäischen Friedens propagandagerecht beworben wird, ist reiner Zynismus. Der Krieg als Mittel der Politik ist nach Europa zurückgekehrt. Soldaten aus der EU und den USA sind in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und Mazedonien im Einsatz. Die Erweiterung der NATO Richtung Osten bringt US-amerikanisches, deutsches und britisches Militär in Stellung. Jetzt, wo die Soldaten aus den EU-Ländern auf dem Balkan, in Afghanistan und demnächst in einer Reihe anderer Länder und Regionen der Welt stationiert sind, kehren angeblich „Frieden, Demokratie, Stabilität und Wohlstand auf unserem Kontinent“ ein.

Nach diesem Abriss, der nur ein Drittel des Buches erfasst, folgen die Zustandsanalysen der neu hinzukommenden Beitrittsländer. Auf diese einzugehen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, aber er ist auch nicht als Ersatz zum Lesen des Buches gedacht. Auffallend sind in allen Ländern das gleiche Muster der erfolgten Übernahme der bedeutendsten wirtschaftlichen Sektoren durch westeuropäische Eigentümer, die einseitige Ausrichtung des Außenhandels, die De-Industrialisierung ganzer Regionen und damit das extreme Auseinanderdriften von Reich und Arm in regionaler und sozialer Hinsicht.

_Hannes Hofbauer
[Osterweiterung]http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3853711987/powermetalde-21
Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration
Pb., 239 S., ProMedia, 2003
ISBN 3-85371-198-7_

|Dieser Essay erschien zuerst im alternativ orientierten Magazin [AHA.]http://www.aha-zeitschrift.de|