Richard Borg – Memoir ’44

Axis & Allies für Ungeduldige …

… so in etwa könnte man „Memoir ’44“ zumindest in Hinsicht auf die benutzerfreundliche Spielzeit im Vergleich zu so manch anderem Strategiespiel aus dem Umfeld des Zweiten Weltkriegs beschreiben, wenngleich man die Wortwahl ja auch falsch verstehen könnte. Fakt ist, dass es fanatische Liebhaber solcher Titel häufig schwer haben, im Bekanntenkreis jemanden zu entdecken, der die Vision einer authentisch nachempfundenen Schlacht teilt und bereit ist, sich für einen Zeitraum von etlichen Stunden an den Spieltisch zu setzen, um akribisch Zug für Zug Geschichte zu schreiben oder sie sogar zu verändern. Ob dies die treibende Kraft hinter Richard Borgs Idee zu „Memoir ’44“ war, steht jedoch auf einem anderen Blatt und soll an dieser Stell auch nicht weiter hinterfragt werden. Stattdessen sollte man sich zunächst einmal freuen, dass es endlich auch eine Alternative zu den unendlich währenden Brettspielepen gibt – gerade wenn man bedenkt, dass diese ihrem großen Bruder rein taktisch und spieltechnisch sogar noch einen Schritt voraus ist …

_Vom Atlantik nach Paris_

Ähnlich wie die besagten Ausgaben zu „Axis & Allies“ dokumentiert auch „Memoir ’44“ eine ganz spezielle Phase des Zweiten Weltkriegs und befasst sich in diesem Sinne mit der Landung der amerikanischen Truppen und der Eröffnung des so genannten D-Day bis hin zur stürmischen Befreiung von Paris. Der elementare Unterschied: „Memoir ’44“ ist insgesamt flexibler und auch vielseitiger konzipiert, weil man einerseits zwischen vielen verschiedenen Missionen wählen kann und andererseits auch nicht zu sehr auf das fixe Gelände des Spielplans angewiesen ist. Durch die Hinzunahme von verschiedenen Landschaftsplättchen zum Beispiel lässt sich das in Sechsecken angeordnete Spielfeld belieben verändern, was in immer neuen Momentaufnahmen des Schlachtfelds resultiert und die Motivation, immer tiefer in die Materie einzutauchen, weiter fördert. Dies hat im Übrigen auch einige hartgesottene Verfechter des Spiels dazu bewogen, eigene Szenarien zu erstellen, was wiederum mittlerweile ein Ausmaß erreicht hat, welches allein schon rein quantitativ absolut gigantisch ist. Wer sich mal einen kleine Überblick über die Rücklage für den experimentierfreudigen Spieler verschaffen möchte, sollte die offizielle Homepage]http://www.memoir44.com von „Memoir ’44“ besuchen und einfach nur ob der enormen Vielfalt staunen. Keine Frage – wer sich einmal infiziert hat, kommt so schnell nicht mehr von diesem taktischen Zweikampf los.

_Spielmaterial_

• 1 Battlefield-Karte
• 44 doppelseitige Terrain-Plättchen
• 10 seoppelseitige Siegmedaillen
• 14 „Special Forces“-Embleme
• 4 doppelseitige Bunker- und Brückenteile
• Jeweils 42 Infanterie-Figuren der deutschen und allierten Armee
• 24 Panzer für beide Seiten
• Jeweils 6 Artillerie-Geschütze
• 18 Hindernisse in beiden Farben
• 6 Kartenhalter
• 60 Kommando-Karten
• 9 Übersichtskarten
• 8 Kampfwürfel
• 1 Regel- und Szenarioheft

Bei der Qualität des Spielmaterials hat man bei diesem Verlag mittlerweile eine Erwartungshaltung entwickelt, die außer klarer Begeisterung nichts mehr zulässt, was schlussendlich nicht als Enttäuschung verbucht würde. Dementsprechend (und fast schon übertrieben) kritisch wurde daher der erneut reichhaltige Spielstoff genauer unter die Lupe genommen, nach fokussiertem Blick aber wieder für ’sehr gut‘ befunden. Allerdings sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das komplette Material in englischer Sprache vorliegt. Eine individuelle Übersetzung für den deutschen Markt hat es – warum auch immer – bislang nicht gegeben. Weil das Regelwerk aber ebenso wie das Kartenmaterial simpel konstruiert und insgesamt leicht verständlich ist, ist selbst dies vollkommen unproblematisch.

Der geneigte Interessent wird sich stattdessen sofort auf das Kriegsspielzeug stürzen und feststellen, dass die Figuren ziemlich stabil sind, was gerade bei den vielen feinen Details ein entscheidender Punkt ist, schließlich haben wir es hier mit einem Spieletyp zu tun, dessen Material in jeder Partie verhältnismäßig häufig beansprucht wird. Was man eventuell bemängeln könnte, ist hingegen das schlichte Design des Spielbretts. Zieht man dann aber die Spielbarkeit und die ausschließliche Fokussierung auf die taktische Komponente in Betracht, wird man schnell bemerken, dass hier wahrscheinlich sogar bewusst sämtliche Reize außen vor gelassen wurden, um eine größtmögliche Konzentration auf das strategische Vorgehen zu ermöglichen. Und falls dem tatsächlich so ist, dann ist Autor Richard Borg dies auch sehr ansprechend gelungen.

Um es also kurz zu fassen: „Memoir ’44“ fällt bereits beim Öffnen der Schachtel auf und hinterlässt auch bei intensiverer Betrachtung der Spielmittel einen souveränen Eindruck. Wer bei Days of Wonder kauft, der bekommt eben immer beste Qualität!

_Spielvorbereitungen_

Borgs Kriegsgetümmel eröffnet dem Strategen bereits vor Beginn des Spiels eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Möglichkeiten. Bevor man nämlich seine Armeen bewegt und das deutsche Heer gegen die Alliierten oder umgekehrt streiten lässt, gilt es zunächst, sich für ein Szenario aus dem Umfeld des D-Day zu entscheiden und dementsprechend auch die Rollen zu verteilen. Das Basisspiel bietet im Anhang an das Regelbuch 16 gewöhnliche Szenarien sowie ein Overlord-Game, welches auf zwei zusammengefügten Spielflächen ausgetragen wird – und alleine dies durchzuackern, ist schon eine Angelegenheit, mit der man monatelang seine Wochenenden verbringen kann.

Hat man sich schließlich für einen Schauplatz entschieden, sucht man die entsprechende Plättchen für Terrain oder besondere Geländestücke heraus und ordnet sie gemeinsam mit den eingezeichneten Einheiten der beiden Armeen der vorgegebenen Zeichnung entsprechend auf dem Spielplan an. Anschließend wählt man alle Infokarten zu Gelände und Hindernissen aus, die in diesem Szenario verwendet werden, und stellt sie in die jeweiligen Kartenhalter. Als Letztes erhält jeder Spieler die im Briefing der Mission beschriebene Anzahl Kommando-Karten. Dann geht’s zur Sache!

_Spielaufbau_

Nachdem die Anordnungen vollzogen sind und man sich einen ersten Eindruck von der aktuellen Lage und seinem Material verschafft hat, kann die Partie beginnen. Der alliierte Spieler darf häufig den ersten Zug bestreiten und wählt hierzu eine seiner Kommandokarten, die er auf der Hand hält. Diese werden noch einmal unterschieden zwischen Befehls- und Taktikkarten, wobei die Verfügbarkeit ein deutliches Schwergewicht auf den Befehlen hat. Ist eine Handkarte nun ausgewählt, wird sie offen ausgespielt und die darauf beschriebene Order durchgeführt. Handelt es sich um einen Befehl, darf man zumeist eine bestimmte Zahl seiner Einheiten auf dem Spielfeld bewegen. Allerdings gibt es hier die Einschränkung, dass dieser Befehl immer nur für ein bestimmtes Drittel des Spielfeldes gilt, welches im Übrigen durch rote Trennlinien in genau drei Sektoren unterteilt ist. Man sollte also schon gut überlegen, ob man direkt in die Vollen geht und eventuell seine einzige Karte aus einem vollbesetzten Gebiet ausspielt oder doch erst einmal aus dem Hinterhalt Truppen abzieht, um andere Gebiete wiederum zu verstärken.

Anders verhält sich das Ganze, sobald man eine Taktikkarte ausspielt. Hierin sind ganz spezielle Angriffe beschrieben, die nur selten auf ein Gebiet beschränkt und allgemein betrachtet auch effektiver sind. Beispielsweise kann man mit diesen Karten vier Einheiten auf dem gesamten Plan verschieben, an vielen Stellen gleichzeitig das Feuer eröffnen und mit ein bisschen Glück sogar gescholtene Einheiten wieder auffrischen.

Egal für welche Variante man sich nun entschieden hat, gilt es anschließend, seine Einheiten zu versetzen und nach Möglichkeit auch angreifen zu lassen. Dazu sind jedoch ganz spezielle Voraussetzungen zu erfüllen. So gibt es deutliche Zuglimits, was die Fortbewegung der einzelnen Einheiten (Infanterie, Panzer, Artillerie) betrifft, und auch die Angriffstechniken bzw. die Menge der zu verwendenden Würfel hängen von Faktoren wie Sichtweite, möglicher Sichtbehinderung, situativer lokaler Befindlichkeit und eventuellen Behinderungen durch Gelände oder Hindernisse ab. Im Idealfall befindet sich das Zielobjekt natürlich im benachbarten Feld und ist weder von Wald und dergleichen noch durch einen Bunker geschützt.

Im anschließenden Gefecht würfelt der Angreifer nun mit der zuvor ermittelten Gesamtwürfelzahl, die sich in der Regel zwischen eins und drei einpendelt. Einen defensiven Ausgleich durch Abwehrwürfel oder Ähnliches gibt es indes nicht. Jeder gewürfelte Typ der Verteidigungseinheit und jede Granate gelten nun als Treffer. Ferner haben auch erwürfelte Sterne oft bei der Verwendung von Taktikkarten die Funktion eines Treffers. Eine letzte Möglichkeit beim Würfel ist die Flagge, die so viel wie Rückzug bedeutet. Jeder erwürfelte Treffer drängt den Gegner um ein Sechseck zurück.

Ziel der meisten Missionen ist es, die Einheiten des Gegners komplett auszuradieren, wobei jede zerstörte Einheit eine Medaille einbringt. Und häufig sind vier oder fünf Medaillen schon siegbringend. Daher sollte man sich nach Möglichkeit um die kleineren Einheiten des Gegners kümmern und sie dezimieren, sofern dies möglich ist. Gerade die Infanterie ist sehr anfällig, da die Chancen beim Würfeln bei 50 % stehen. Die Artillerie steht indes bei 16,6 % …

Nachdem man seine Einheiten bewegt, ggf. Angriffe durchgeführt hat oder aber nach bester „Capture the flag“-Methode Eckpfeiler und Stützpunkte der Kontrahenten eingenommen hat, ist der aktive Zug beendet. Zum Schluss füllt man lediglich seine Kartenhand wieder um eine Kommando-Karte aus dem Nachziehstapel auf und übergibt das Regiment nun an sein Gegenüber.

_Spielende_

„Memoir ’44“ endet, sobald der erste Spieler das jeweilige Etappenziel erreicht hat, welches durch eine bestimmte Anzahl ergatterter Medaillen beschrieben ist. Allerdings handelt es sich dabei zunächst nur um einen Teilsieg, denn die Regeln empfehlen ausdrücklich, dass man anschließend dieselbe Mission noch einmal spielt, hierzu allerdings die Seiten tauscht. Daraufhin werden schließlich die ergatterten Medaillen beider Partien addiert und ein Gesamtsieger ermittelt. Dies ist gerade deswegen sinnvoll, weil die deutsche Armee in vielen Missionen eindeutig schwächer besetzt und positioniert ist und man demzufolge sicherlich nicht von Chancengleichheit sprechen kann – durch diese hervorragende Überlegung hingegen schon!

_Persönlicher Eindruck_

„Memoir ’44“ hat auf jeder entscheidenden Ebene starke bis fabelhafte Eindrücke hinterlassen, weil es einerseits die Thematik sehr authentisch aufgreift und sie spieltechnisch exquisit umsetzt, andererseits aber aufgrund der enormen Spieltiefe, begonnen bei der unendlichen Liste der Missionen bis hin zur taktischen Finesse, die sich nach einigen Probedurchgängen wie von selbst entwickelt und das Spiel zweier (Semi-)Professioneller zum immer komplexeren Schlagabtausch werden lässt.

Unzweifelhaft ist „Memoir ’44“ aber auch zu einem nicht gerade geringen Teil auch vom Glück der Beteiligten beeinflusst; so kann bereits die erste Kartenhand über den gesamten Spielverlauf entscheiden, denn derjenige, der in den erforderlichen Sektoren mangels benötigter Kommando-Karten keine Befehle ausführen kann, gerät alsbald ins Hintertreffen und gewährt dem Kontrahenten die besten Voraussetzungen für einen zunächst einseitigen Schlagabtausch. Und dennoch sollte man dies letztendlich nicht überbewerten, weil sich auf keiner Seite eine echte Überlegenheit entwickeln kann. Die Kampfkraft der Einheiten ist nämlich ganz unabhängig von der Zahl der zugehörigen Truppen, weshalb man mit ein bisschen Glück mit nur einer Infanterie-Figur ein ganzes Panzerregiment auslöschen kann, wenn die Bedingungen sowie die Würfelergebnisse ideal sind. Auch deutliche zahlenmäßige Unterlegenheiten sagen nicht immer alles über ein Szenario aus, da man sich mit einigen Kniffen selbst mit schwächeren Einheiten wieder in Position bringen und dennoch gewaltig abräumen kann. Und außerdem geht es ja auch nicht um die komplette Vernichtung des Gegners, sondern lediglich um die im Briefing genannte Zahl der zu erreichenden Medaillen.

Diese stete Ausgeglichenheit beschreibt auch auf den Punkt genau die bis zum letzten Gefecht anhaltende Spannung, die sich durch nahezu jede Partie dieses angehenden Kriegsspiel-Klassikers zieht. Anders als beispielsweise bei den meisten Varianten von „Axis & Allies“ tritt hier nicht der „Monopoly“-Effekt (einmal unterlegen, immer unterlegen) ein und macht noch jede Kriegerei zu einem bis zuletzt (besonders nach dem Seitenwechsel) spannenden Spektakel. Nicht zuletzt wegen der ständigen Erweiterung des Spiels mit neuen Missionen ist das Potenzial von „Memoir ’44“ selbst für den absoluten Fanatiker kaum zu erschöpfen. Immer wieder ergeben sich neue Möglichkeiten, und wer das Spiel schon etwas besser beherrscht, sollte sich schließlich auch in die Lage versetzen können, selber kreativ zu werden, seine Szenarien erstellen und diese mit dem täglich wachsenden Kollegium austauschen. Sollte es dann tatsächlich noch Leute geben, die nicht genug bekommen können, stehen mittlerweile schon drei Erweiterungen zur Verfügung, mit denen sich der Umfang auch auf Kriegsgebiete im Pazifik und an der Ostfront verlagert. Diese Basis ist also nur der Anfang – allerdings der Anfang zu einem der besten, im Prinzip simpelsten und doch am weitesten reichenden Strategiespiele auf dem heutigen Markt und als solches bereits die Vorlage zum nächsten Kassenschlager: „Battlelore“. Mehr Referenz geht wahrlich nicht!

http://www.memoir44.com

Weitere Rezensionen zu Spielen von Days of Wonder beim Buchwurm:

„Kleopatra und die Baumeister“
„Zug um Zug – Europa“
„Zug um Zug – USA 1910 Erweiterung“
„Zug um Zug – Märklin“
„Colosseum“