Brecht, Berthold / Reich-Ranicki, Marcel – Texte von und über Bertolt Brecht

_“Ungeheuer oben“: Wolken, Liebe, Gedichte_

Der einflussreichste Literaturkritiker Deutschlands spricht über einen seiner Lieblingsautoren und trägt dessen Lieder und Gedichte vor. Ein Booklet-Text von Hans Sarkowicz erhellt die Beziehung zwischen Kritiker und Autor auf anschauliche und informative Weise.

„Auf seine unverwechselbare Art und Weise liest Marcel Reich-Ranicki verschiedene Texte von und über den großen Dramatiker Bertolt Brecht. Der Hörer bekommt einen kleinen, aber lebendigen literaturhistorischen Überblick. Marcel Reich-Ranicki schenkt dem Lyriker Bertolt Brecht besondere Beachtung. Er rezitiert und interpretiert ausgewählte Gedichte.“ (Verlagsinfo)

_Der Autor_

Bertolt Brecht, am 2. Februar 1898 in Augsburg geboren, war Dramatiker, Lyriker, Erzähler und Essayist. Schon mit seinem Debüt „Trommeln in der Nacht“ sorgte er 1922 (dem „Ulysses“-Jahr) für Aufsehen. In dem von ihm so genannten „epischen Theater“ setzte er gegen das möglichst realistische Spiel die kritische Befragung des Bühnengeschehens mit Kommentar, szenischer Montage und Verfremdung (der berühmte „V-Effekt“). Die mit dem Komponisten Kurt Weill geschriebene „Dreigroschenoper“ wurde in Berlin zum Sensationserfolg, und noch heute gibt es Theaterrestaurants, die das Stück oder Ausschnitte daraus regelmäßig aufführen (z. B. im Münchner Stadtteil Au).

1933 blieb dem bekennenden Marxisten nur die Flucht ins Exil, u. a. nach Finnland, in die Sowjetunion und die USA. Erst 1949 kehrte er zurück, nach Ost-Berlin. Weil er sich im Osten niederließ und den Aufbau der DDR mit kritischer Sympathie verfolgte, blieb er nach Angaben des Booklet-Autoren Hans Sarkowicz im Westen geächtet, auch noch lange nach dem 14.8.1956, an dem BB starb. Regelrechte Anti-Brecht-Kampagnen sollen bis in die 60er Jahre hinein die Aufführung seiner Stücke ver- und behindert haben.

_Der Leser_

Marcel Reich-Ranicki, geboren 1920, ist schlicht und ergreifend der einflussreichste Literaturkritiker Deutschlands. Ob er auch der beste usw. ist, sei dahingestellt. Er ist Bertolt Brecht persönlich begegnet, wie uns das Booklet aufklärt: 1952 in Warschau. „MRR, der Sohn polnisch-deutschjüdischer Eltern, hatte die Verfolgung durch die Nationalsozialisten überlebt und arbeitete im kommunistischen Polen als Kritiker, Übersetzer und Journalist. BB war aus seinem Exil nach Ost-Berlin zurückgekehrt und besuchte als kultureller Repräsentant den sozialistischen Bruderstaat. MRR hatte Glück. Er wurde in das Hotelzimmer des Dichters geführt und durfte mit ihm ein Interview führen. (…) Nicht erst seit dieser Begegnung, schon lange vorher war MRR ein leidenschaftlicher Verehrer BBs.“ 1958 siedelte MRR nach Westdeutschland über, wurde allmächtiger Literaturchef der FAZ und Gastgeber des „Literarischen Quartetts“ im ZDF. (Alle Abkürzungen stammen von mir, der Text stammt teilweise von Hans Sarkowicz.)

Die Hörbuchaufnahme stamme von 1998, schreibt Sarkowicz. Hier spreche MRR als „bekennender Brecht-Verehrer“ v. a. über den Dramatiker und Lyriker, dessen schönste Gedichte er auch selbst vortrage. 2001 hat MRR im Aufbau-Verlag ein Buch über BB veröffentlicht.

Wer mehr über MRR erfahren möchte, dem sei sein Buch „Mein Leben“ wärmstens empfohlen. Ein Auszug daraus ist in „Das Buch der Deutschen“ abgedruckt, das 2005 von Johannes Thiele bei |Lübbe| herausgegeben wurde.

_Inhalte_

Schon mit 22 oder 23 Jahren, noch vor dem Erfolg von „Trommeln in der Nacht“ (s. o.), will BB sich als „Klassiker“ wahrgenommen haben. Koketterie? Oder zu Recht? Woran ist der „Klassiker“ zu messen – an seiner Wirkung auf die Nachwelt oder auf seine Zeitgenossen? Wie nehmen wir ihn heute wahr: als politischen Dichter oder doch mehr als Dramatiker, als Lehrer oder als Mensch? MRR meint, zuvorderst sei BB doch auch Verführer gewesen. Ganz einfach auch deshalb, weil es die Aufgabe eines Dramatikers und des Theaters sei, den Zuschauer a) zu verführen und b) zu unterhalten, bevor es c) anfangen könne, eine Botschaft zu verbreiten. Pädagogik wirke abschreckend (und langweilig obendrein).

Den Löwenanteil an MRRs Vortrag nimmt sympathischerweise das Thema Liebe und Erotik in BBs Lyrik ein. Dieser Aspekt kommt in vielen kritischen Würdigungen BBs zu kurz, wenn er überhaupt beachtet wird. Aber BB befasste sich schon mit 18 schreibenderweise mit der ersten Liebe, erst himmelhoch jauchzend, dann zu Tode betrübt, dann zynisch. Das hat ihm die Rosa Marie angetan. In seinen Liebesgedichten verbindet BB den Wahnsinn der Liebe und das Mysterium der Sexualität mit dem, was dieser Wahn am stärksten bedroht: mit dem Intellekt. Das ist eine höchst interessante Verbindung. In seinem Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“, das auf Rosa Marie anspielt, durchläuft das lyrische Ich im dialektischen Dreisprung These, Antithese und Synthese, um schließlich festzustellen, dass jene weiße Wolke, die so „ungeheuer oben“ erblickt wurde, immer noch in der Erinnerung herumspukt und ihn an die Marie A. gemahnt.

MRR zeigt, wie die Liebe von BB in verschiedenen Aspekten reflektiert wurde, und zieht eine interessante Parallele zu Franz Kafka. Kafka liebte „Milena“, die er um ein Haar geheiratet hätte. Er gesteht, dass sich der Liebende in dem durch die Geliebte geschenkten Leben wiederfinde, ja, selbst liebe. Liebe kann durchaus egozentrisch sein. Und BB nutzte seine Frauen (Ruth Bärlau, Helene Weigel, etc.) durchaus aus, wobei sie sich das offenbar gefallen ließen.

|Lieder|

In der „Dreigroschenoper“ tragen Mackie Messer und seine Geliebte ein klassisches Sonett vor, das aber solches kaum erkennbar ist: Die ironisierende Parodie verdeckt die altehrwürdige Form und verbirgt so auch Pathos und Poesie der Liebe, um sie zu schützen. In der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ findet sich ebenfalls ein Liebeslied, das darin allerdings wie ein Fremdkörper wirkt: Es bedient sich ebenfalls eine uralten Form, nämlich der Terzine. Literaturkenner wissen natürlich, dass das berühmteste Gedicht, das jemals in Terzinen verfasst wurde, die „Göttliche Komödie“ von Dante Alighieri ist. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?

In „Mahagonny“ singen die Hure „Seeräuber-Jenny“ (die später vom Schwarzen Frachter singen wird) und der Holzfäller Ackermann das Lied „Die Liebenden“. Sie tun dies ohne jede Ironie, sind jedoch von einer von Gewalt geprägten Welt umgeben. Daher erscheint das Lied so unpassend und anachronistisch. Seltsamerweise bildet es ein poetisches Gegengewicht zu dem schwermütigen Rest der Oper. Nicht zuletzt deshalb, weil Seeräuber-Jenny und Ackermann auf Dantes Vorlage verweisen. In der „Göttlichen Komödie“ schmort ein Liebespaar im Inferno (= Hölle), weil seine Liebe nicht sein darf. (Wer die genauen Details wissen will, der höre MRR genau zu oder schlage bei Dante nach.)

|Klassisch|

Mit größter Begeisterung, ja, geradezu hingerissen trägt MRR eines von BBs bekanntesten Gedichten vor, das dieser in dem Stück „Schweijk im Zweiten Weltkrieg“ veröffentlichte: „Das Lied von der Moldau“. „Es rollen die Steine am Grunde der Moldau, es liegen drei Kaiser begraben in Prag …“ Obwohl es um die Vergänglichkeit alles Irdischen gehe (die Kaiser, die Steine), so lasse uns Brecht doch Hoffnung: „denn der Tag kommt schon noch.“ Eine Bitte um Nachsicht in „An die Nachgeborenen“ und ein – natürlich lobendes – Fazit beschließen den Vortrag.

_Mein Eindruck_

Nun bin ja als Germanist einschlägig vorbelastet, was Lyrik im Allgemeinen und Brecht im Besonderen anbelangt, doch Reich-Ranicki gelang es in seinem Vortrag, meine Aufmerksamkeit über weite Strecken zu fesseln. Denn MRR hat keineswegs die Brechtianischen Schlager wie „Mackie Messer“ ausgewählt, sondern a) weitgehend weniger beachtete Texte ausgewählt („Erinnerung an Marie A.“ ist relativ bekannt, wird aber selten zitiert) und b) vor allem Liebeslyrik.

Das ist bei einem derart politisch und auch das Tagesgeschehen (17. Juni 1953!) kommentierenden Autor recht verwunderlich. Andererseits eignet sich das Thema Liebeslyrik für eine kompakte Darstellung weitaus besser als etwa eine weitgehend theoretische Erörterung dessen, was man sich unter „epischem Theater“ vorstellen kann bzw. soll. Zudem spricht es auch weibliche Hörer in gleichem Maße an wie männliche. Drittens ist es ein Thema, das politisch unverfänglich ist und an dem sich der Kritiker weder als rechtskonservativ noch als linksliberal zu erkennen geben muss.

Als Literaturfreund, der seit über 50 Jahren nichts anderes tut, als sich mit Literatur zu beschäftigen, ist MRR in der Lage, eine Argumentationskette ebenso geschickt aufzubauen wie seine Thesen mit entsprechenden Werkbeispielen zu belegen. Da Brecht zu seinen Lieblingsautoren gehört, weiß er ganz genau, welche Werke in welchen Ausgaben zu finden sind. Er teilt uns ohne Umschweife mit, welche aktuelle Werkausgabe die maßgebliche ist und dass man darin auch Gedichte aus dem Nachlass finden kann. Eines davon trägt er vor …

|Der Sprecher MRR|

MRR ist ja in manchen Kreisen berüchtigt für seine Dampfwalzenrhetorik, die das Gegenüber, das vielleicht ein paar Einwände anbringen möchte, einfach durch eine vehement vorgetragene Meinung einfach niederbügelt. Als ich die CD einlegte, befürchtete ich einen ebensolchen Vortrag, der auf apodiktische Weise keine andere Interpretation gelten lässt.

Ich wurde angenehm überrascht. Liegt es an der Vorliebe für den Dichter, liegt es am Sujet der Liebeslyrik? Jedenfalls lässt es MRR sachte angehen, und es ist einfach, seinem Vortrag zu lauschen sowie seiner Argumentation zu folgen. Wenn er Liebesgedichte vorträgt – es ist jeweils eine Pause vorgeschaltet -, so tut er dies mit sehr deutlicher Aussprache, langsam vortragend und klar betonend. Diese Vortragsweise eignet sich meines Erachtens für jede Schulklasse, die sich mit dem Thema befasst. Dabei lässt MRR keineswegs den Oberlehrer heraushängen, der ihm früher so viel Ablehnung eingetragen hat.

Die meisten Textzitate sind vollständig, es handelt sich also in der Regel nicht um Auszüge, sondern um das vollständige Gedicht. Das ist bei Lyrik natürlich besonders wichtig, weil ja die letzte Zeile oft eine Pointe bereithält. Wenn also „Erinnerung an die Marie A.“ in allen drei Strophen zitiert wird, so ist dies nicht ein ätzender Versuch des Kritikers, uns zu nerven, sondern pure Notwendigkeit, um den Text zu begreifen. Sicherlich erfordert dies von der MTV-Generation etwas Geduld, aber tut dies nicht alle Literatur, die diese Bezeichnung verdient?

_Unterm Strich_

Das Hörbuch erlaubt es dem Hörer, den berühmten Dichter Brecht von seiner allgemein zugänglichsten und doch unbekanntesten Seite kennen zu lernen: durch seine Liebeslyrik und die entsprechenden Lieder aus Opern und Stücken. Dadurch besteht keine Notwendigkeit, sich mit dem Marxisten Brecht oder dem Theatertheoretiker Brecht auseinander zu setzen. Das Thema ist allgemein verständlich und jedem erwachsenen Menschen zugänglich.

Dass dabei Brechts ganz besonderer und persönlicher Ansatz zum Tragen kommt, ist dem Kritiker Reich-Ranicki zu verdanken. Dass wir diese Gedichte zu mögen lernen, ist dem Sprecher Reich-Ranicki zu danken. Dass die Gedichte einen Platz finden in Brechts Werk und ein Beleg sind für die These „Brecht ist ein Klassiker“, können wir ebenfalls MRR danken, müssen wir aber nicht.

|Die Reihe|

Die |LübbeAudio|-Reihe „X liest Texte von und über Y“ ist eine Gelegenheit, auf schnelle und doch kompetente Weise wichtige Autoren der deutschen Literatur kennen zu lernen. In Zeiten der PISA-Misere eine willkommene Unterstützung im Bemühen vieler Pädagogen und Vermittler, den nachfolgenden Generationen etwas vom mühsam Errungenen – wie vieles wurde verbannt, zensiert, sogar verbrannt! – weiterzugeben, und zwar auf eine Weise, dass es ohne Weiteres zu begreifen ist.

|61 Minuten auf 1 CD|