Brier, Bob – Mordfall Tutanchamun, Der

Wurde er ruchlos im zarten Alter von 20 Jahren von opportunen, machtgierigen Mitgliedern seines Hofes dahingemeuchelt? Wer war der wohl bekannteste Pharao überhaupt, und warum wurde er so berühmt, obwohl sich jemand offensichtlich sehr viel Mühe gab, seine Person aus den Annalen der Geschichte zu tilgen? Die Gründlichkeit, mit der dies versucht wurde, erwies sich für uns – die Nachwelt – als Segen, denn das prachtvolle Grab des vergessenen Pharaos aus der auslaufenden 18. Dynastie ist 3000 Jahre lang von Grabschändern unberührt geblieben, weswegen Entdecker Howard Carter 1922 quasi eine Zeitkapsel öffnete, die sehr viel Aufschlussreiches über die damalige Zeit verriet – aber nur vergleichsweise wenig über den dort Bestatteten selbst. Zumindest auf den ersten Blick.

In den offiziellen Königslisten von Sethos I taucht sein Name nicht auf und erst nach und nach wird seine Identität enthüllt: Tutenchamun (auch |Tutankhamen|, |Tutankhamun| oder |Tutanchamun|, je nach verwendeter Schreibweise). Er erweist sich, ebenso wie seine Familie, für die Forscher als weißer Fleck in der ägyptischen Geschichte. Sohn (manche mutmaßen gleichzeitig Neffe) von Echnaton, dem Ketzer. Mysteriöser Kindkönig. Quell sämtlicher Gerüchte über den Fluch der Pharaonen. Doch wieso wurde er verfemt? Die Hinweise verdichten sich, dass ein beispielloser Staatsstreich stattfand. Das alte Reich war danach belegbar jedenfalls nie mehr wie zuvor. Paläo-Pathologe Professor Bob Brier spricht gar von einem Mord und er verrät uns in diesem Buch auch, warum er ein Komplott nicht ausschließt …

_Ein Blick ins Album der Familie König – Zum Inhalt_
Tutenchamun wurde unter dem Namen Tutench|aton| als Sohn des später als „Ketzerkönig“ gebrandmarkten Pharaos Echnaton in Acheaton (heute Amarna genannt) geboren. Die Umstände, warum Echnaton (den übrigens nicht wenige mit der biblischen Gestalt des Moses gleichsetzen) die Staatsreligion des Amun-Kultes und Vielgötterei in eine monotheistische Religion um den Gott Aton zu wandeln versuchte, sind mysteriös und nicht restlos geklärt. Fakt jedoch ist, dass es der Amun-Priesterschaft, dem Adel und dem Militär in Theben (der eigentlichen Hauptstadt des alten Ägypten) sicher nicht geschmeckt hat. Die Verlegung der Hauptstadt von Theben nach Tell el-Amarna wohl ebensowenig – die Stadt wurde komplett neu aus dem Boden gestampft, mit einer für Ägypten vollkommen neuen Kunstrichtung und einzig und allein auf die neue Staatsgottheit Aton ausgerichtet.

An dieser Stelle ändert Amenophis IV auch seinen Namen in Echnaton („Der Aton Gefällige“). Etwas Vergleichbares hat es in der gesamten Geschichte Ägyptens noch nie gegeben und wiederholte sich auch nie wieder. Seinen isolatorischen Lebensmittelpunkt verlegt er ebenfalls in die neu gegründete Stadt, zusammen mit seiner Erst-Frau Nofretete und seinen sechs Töchtern, die er mit ihr hat. Er gelobt, die Stadt fürderhin nicht mehr zu verlassen. Das ehemals mächtige Reich beginnt unter seiner Ägide böse zu wanken und büßt wirtschaftlich sowie militärisch viel von seinem Glanz ein.

Tutenchaton jedoch ist nicht der Sohn Nofretetes, sondern der Zweit-Frau Kija, die bereits Tutenchatons älteren Bruder Semenchkare zuvor gebar. Sie verstirbt – höchstwahrscheinlich – auf dem Kindsbett bei der Geburt Tutenchatons, jedenfalls verschwindet sie abrupt aus den Aufzeichnungen und einige Indizien und Grab-Malereien belegen, dass Kija tatsächlich die Niederkunft nicht überlebte. Echnaton hat zwei potenzielle Thronfolger aus dieser Verbindung, Nofretete kann offensichtlich nur Töchter gebären. Die beiden Prinzen wachsen recht behütet und wohl auch abgeschirmt von der Öffentlichkeit auf, jedenfalls zeigen die gefundenen Szenen aus dem Leben derer von Echnaton stets nur ihn und Nofretete mitsamt Töchtern als liebevolle Familie, auch das ist ein Bruch mit der traditionellen Darstellungsweise in der ägyptischen Kunst.

Echnaton ernennt in der Tat den zehn Jahre älteren Bruder Tutenchatons – Semenchkare – zu seinem Mitregenten (und dieser wird somit offiziell zum designierten Nachfolger erhoben), doch etwa zwei Jahre später verstirbt der älteste Sohn – woran oder warum konnte bis heute nie ganz geklärt werden. Tutenchaton rückt somit automatisch nach, doch ist er erst vier und wohl grade erst dabei, das Schreiben und die anderen Pflichten eines Prinzen zu erlernen.

Es dauert weitere fünf Jahre, bis ihn das Schicksal zum jüngsten König machen soll: In seinem 17. Regierungsjahr und zwei Jahre nach dem Tode Nofretetes und mittlerweile aller Töchter – bis auf Anchesepaaton – stirbt auch Echnaton. (Das heißt, manche glauben, er sei nicht gestorben, sondern als Moses mit den Semiten nach Judäa gezogen … Doch das ist eine andere Geschichte.) Tutenchaton und Anchesepaaton werden von General Haremhab und Wesir Eje zur Krönung nach Theben geleitet. Als engster Berater des jungen Prinzen und Mittler zwischen der Priesterschaft managt Eje die Inthronierung des unmündigen Tutenchaton, wobei es ein paar Hürden zu bewältigen gibt: Als Erstes muss der junge König mit Anchesepaaton vermählt werden, denn er ist als Kind der Zweit-Frau Echnatons ein „Halbblut“ und nicht berechtigt, ohne weiteres den Thron zu besteigen, erst die Heirat mit seiner Halbschwester verleiht ihm die Königswürde, denn sie ist die Tochter Nofretetes und somit „reinen Blutes“.

Um die Rückkehr zum alten Pantheon zu verdeutlichen, werden selbst die Namen der beiden geändert: in Tutenchamun und Anchesenamun – nichts soll mehr an ihren ketzerischen Vater erinnern. Doch das reicht offensichtlich nicht. In kurzer Folge werden Echnatons Stadt Amarna und sämtliche kulturelle Andenken ausgemerzt – glücklicherweise jedoch nicht zu hundert Prozent, denn einige Teile der Bauwerke und Reliefs wurden nur halbherzig umgebaut oder zum Bau anderer (Amun-)Kultstätten wiederverwertet, sodass sie 3000 Jahre später aufgrund ihres frappant anderen Stils von Archäologen entdeckt wurden und uns Zeugnis von einigen Vorgängen ablegen können. Vieles davon befindet sich im heutigen Luxor und kann sogar besichtigt werden.

In seinen letzten neun Jahren, die er nominell das Reich regiert, erstarkt Ägypten wieder und läuft unter General Haremhab auch zur gewohnten militärischen Stärke auf. Hinter den Kulissen ziehen jedoch aus nachvollziehbaren Gründen ganz andere die Fäden als Tutenchamun, nämlich das Triumvirat seiner Berater: Haremhab, Eje und der „königliche Schreiber“ Maja (quasi der Finanzminister). Sie vergrößern ihren Einfluss stetig. Das persönliche Glück des jungen Pharaonenpaares steht ebenfalls unter einem schlechten Stern, denn obwohl die beiden ein scheinbar inniges Verhältnis zueinander haben, gestaltet sich die Geschichte mit der Thronfolge als sehr schwierig. Anchesenamun erleidet eine Totgeburt (es wäre ein Mädchen gewesen) und beim zweiten Versuch kommt die neuerliche Tochter vier Monate zu früh und stirbt. Der letzte Pharao der 18. Dynastie bleibt weiterhin ohne erbberechtigte Nachkommen.

Der Pharao ist nunmehr 19 Jahre alt und wird aller Wahrscheinlichkeit nach so langsam in seine Rolle gewachsen sein und seinen eigenen Kopf zu entwickeln beginnen. Offenbar ist es nun höchste Zeit, dass ihm selbiger eines Nachts eingeschlagen wird und zwar auf äußerst subtile Weise. Das vermutet Brier jedenfalls. Sein Wesir Eje ergreift erstaunlich schnell die Regierungsgeschäfte, lässt sich zum Pharao krönen und nimmt zu allem Überfluss die Witwe Anchesunamun zur Frau, kann sich aber nicht lange halten. Er stirbt vier Jahre nach der Machtübernahme, hat aber zuvor versucht, seinen Vorgänger ebenso aus den Annalen der Geschichte zu löschen wie dessen Vater Echnaton. Sein Nachfolger wird – man ahnt es bereits – General Haremhab und begründet so als Erster die Reihe der „Soldatenkönige“ in Ägypten. Erst 3000 Jahre später soll man die Puzzleteile dieses altertümlichen Krimis zusammenfügen können, als das Grab des „Unbekannten Pharaos“ 1922 entdeckt und Jahrzehnte später (1968) die Mumie zum ersten Mal geröntgt wird.

_Beweisaufnahme – Pharao Jürgens Meinung_
Briers Theorie wirft ein sehr menschelndes und lebendiges Licht auf buchstäblich tote Geschichte; es liegt in der Natur der Sache, dass hier viel hineininterpretiert werden kann. Er macht davon auch regen Gebrauch, wobei er stets versucht, seine angeführten Punkte soweit es geht mit Fakten zu untermauern, was freilich nicht immer gelingt. Das äußert sich schon darin, dass er einen sehr großen Teil des Buches darauf verwendet die dunkle Familiengeschichte Tuts aufzurollen (was ich weiter oben zusammengefasst habe, stellt nur einen Bruchteil dar) und sie als Schlüsselpunkt für seinen Kriminalfall heranzuziehen.

Betrachtet man diese sehr wirre und lückenhaft dokumentierte Zeit des politisch-religiösen Umbruchs in der ägyptischen Geschichtsschreibung, so ist dies keine leichte Aufgabe und dementsprechend häufig blanke Interpretation, der man folgen mag oder eben nicht. Seine Rekonstruktion der Vorgeschichte war bereits mehr als einmal Gegenstand hitziger Diskussionen und gerade in letzter Zeit immer wieder Stoff für ein aufflammendes Interesse am wohl berühmtesten Pharao in den Medien.

Briers Ausführungen haben einiges für sich, bieten sie doch so manche Antwort darauf, warum genau diese Epoche und die geheimnisvolle Vita Tutenchamuns und seiner Familie nur fragmentarisch erhalten blieben. Sehr belastbar ist die These nicht in allen wichtigen Punkten, hat aber auch eine Menge gut durchdachter Ansätze und nachvollziehbarer Begründungen für sich. Einige seiner Kollegen mögen seiner Argumentation trotzdem so gar nicht recht zustimmen, während sie bei anderen Ansichten mit ihm konform gehen. Dass der junge Pharao keines natürlichen Todes gestorben ist, gilt in der Fachwelt nämlich als gesichert, stellt sich nur die Frage, ob dort tatkräftig und mithin absichtlich nachgeholfen wurde. Brier ist jedenfalls dieser festen Überzeugung, was er nicht nur durch Herleiten einer langen Indizienkette, sondern anhand von Fotos auch schlüssig zu stützen versucht.

In den späteren forensischen Untersuchungen anhand von in den 60er Jahren angefertigten Röntgenbildern Tuts und der lange unbeachteten (und kaum bekannten) Mumien seiner beiden totgeborenen Töchtern wird’s dann aufgrund der wissenschaftlich überprüfbaren Sachlage weitaus weniger spekulativ. Dies ist auch sein angestammtes Fachgebiet als Mumienexperte respektive Paläo-Pathologe. N24, ZDF und GEO stürzen sich in letzter Zeit gerne auf den Lieblingspharao.

Brier ist dort immer wieder als Fachberater mit von der Partie, rückt aber mittlerweile von einigen seiner damaligen Erkenntnisse im Buch teilweise ab. Kein Wunder, war er doch wegen der wilden Spekulationen – die sich eben nicht auf seine Arbeit, sondern seine Interpretationen des Drumherums bezogen – aus der Fachwelt ganz schön unter Beschuss geraten. Man hielt ihn für nicht kompetent, sich als Historiker zu betätigen, während man seine pathologische Arbeit durchaus würdigte. Eine ziemlich überhebliche Sichtweise, wie ich finde. Seine Kernaussage hat jedoch auch noch nach sechs Jahren seit der Erstveröffentlichung Bestand:

Der ominöse Knochensplitter im Inneren des Kopfes, der die Gemüter von Wissenschaftlern seit seiner Entdeckung erhitzte und schon 1968 für die ersten Mordtheorien sorgte, ist seiner Untersuchung nach kein Beleg für die Todesursache. Seine Meinung ist, dass dieser von einer Ungeschicklichkeit bei der Einbalsamierung herrührt, soll also demnach erst nach dem Tode entstanden sein. Vielmehr sind er und einige Gerichtsmediziner einem vermutlichem Hämatom nahe des Übergangs zwischen Genick und Hinterkopf auf die Spur gekommen.

Das Hämatom an ausgerechnet diesem Teil des Kopfes ist durch einen Unfall kaum zu erklären (zumindest höchst unwahrscheinlich) und daher vermutet Brier (zusammen mit einigen anderen), dass diese Verletzung absichtlich durch einen gezielten Schlag auf diese empfindliche Stelle herbeigeführt wurde. Die teilweise Verknöcherung dieses ehemaligen Blutgerinsels legt den Schluss nahe, dass Tutenchamun schätzungsweise etwa einen Monat lang damit gelebt haben kann, einen Teil davon im Koma, bis dann letztlich der Tod eintrat.

_Abschlussplädoyer – Fazit_
Bob Briers Schlussfolgerungen entbehren durchaus nicht einer nachvollziehbaren Logik, sind aber in Ägyptologenkreisen nicht ganz unumstritten, denn für viele Behauptungen fehlt letztendlich der Beweis in Form von Inschriften o. ä. – sprich: Die Hardware. Somit müssen die hier dargebrachte Mordfall-Story und hergeleitete Indizienkette gegen die vermeintlichen Tatverdächtigen mit den wenigen wirklich nachprüfbaren Fakten aus Fundstücken und Autopsien dennoch hochspekulativ bleiben, doch das trifft auf die Lehrmeinung ebenso zu, welche sich allzu oft als ebenso falsch erwiesen hat.

Unfall, Mord oder gar Komplott? Das Mord-Szenario ist eine durchaus denkbare Variante, sofern Briers angestellte Mutmaßungen über den Hintergrund akkurat sind. Beweisen lässt es sich nicht, ein Unfall kann nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden. Die dargebrachten Verdachtsmomente würden heutzutage wohl vor Gericht kaum Bestand haben und nicht zu einer Verurteilung der beiden von Brier bezichtigten Hauptangeklagten führen: In dubio pro reo. Kurios und mysteriös genug bleibt das Leben und Sterben des jungen Regenten auch nach Lesen des interessant und flüssig geschriebenen Buches. Brier fügt dem Puzzle fantasiereich einige weitere Teile hinzu, doch bin ich sicher: Das letzte Wörtchen ist in diesem Fall noch nicht gesprochen.

|Originaltitel: „The Murder Of Tutankhamen. A True Story“
Ersterscheinung: 1998 – G. P. Putnam’s Sons / NY
Deutsche Übersetzung: Wolfgang Schuler
354 Seiten – diverse s/w-Fotos im Mittelteil|