Brunner, John – Der ganze Mensch / Beherrscher der Träume


Spannendes SF-Drama um Telepathie

Was könnte es für dich bedeuten, mit anderen Menschen unmittelbaren geistigen und emotionalen Kontakt zu haben? Mit allen Gefahren und Glücksmomenten, die daraus entstünden?

Diese Vorstellung hat der britische Autor John Brunner in diesem schmalen Roman auf bewegende Weise gestaltet. Als ich das Buch zum ersten Mal las, war ich stark beeindruckt. In der Folge habe ich jedes Buch von Brunner gelesen, das ich in die Finger bekommen konnte.

Das Buch „Der ganze Mensch“ und sein Autor

Der Roman „Beherrscher der Träume“, der später bei |Heyne| in „Der ganze Mensch“ umgetauft wurde, besteht aus einzelnen Storys, die Brunner von 1958 bis 1959 im Magazin „Science Fantasy“ veröffentlichte. Es ist der erste Roman, der Brunners Image als kompetenter Verfasser von Space-Operas und Agentenromanen ablöste – der Outer Space wird hier durch Inner Space ersetzt, die konventionelle Erzählweise durch auch typographisch deutlich innovativeres Erzählen von einem subjektiven Standpunkt aus.

Fortan machte Brunner durch menschliche und sozialpolitische Anliegen von sich reden, was 1968 in dem ehrgeizigen Weltpanorama [„Morgenwelt“ 1274 gipfelte, der die komplexe Welt des Jahres 2010 literarisch mit Hilfe der Darstellungstechnik des Mediums Film porträtierte.

Diesen Erfolg bei der Kritik konnte er mit dem schockierenden Buch „Schafe blicken auf“ wiederholen. Leider fanden es die US-Leser nicht so witzig, dass Brunner darin die Vereinigten Staaten abbrennen ließ und boykottierten ihn quasi – was sich verheerend auf seine Finanzlage auswirkte. Gezwungenermaßen kehrte Brunner wieder zu gehobener Massenware zurück. Er starb 1995 auf einem Science-Fiction-Kongress, vielleicht an dem besten für ihn vorstellbaren Ort.

Handlung

Gerald Howson ist als Krüppel geboren worden, und er leidet an Hämophilie: Bei der geringsten Verletzung, bei der harmlosesten Operation würde er verbluten. Er ist außerdem auch hässlich und wächst auf in einer hässlichen Welt, in den verdreckten, deprimierenden Slums einer Großstadt. Er lernt früh, sich in Traumwelten zu flüchten, und als er einmal versucht, sich in der Realität zu behaupten und seinen Mann zu stehen, erfährt er ihre gnadenlose Brutalität. Keine gute Aussichten also für ihn, alt zu werden.

Doch in der Auseinandersetzung hat noch etwas anderes über sich erfahren: Er verfügt über die äußerst seltene Gabe der Telepathie. Doch schon bald tauchen auf seinem persönlichen Radarschirm Unbekannte auf: Eine Spezialtruppe der Weltgesundheitsorganisation, die Telepathen dazu benutzt, um Krisenherde „auszuhorchen“, hat ihn geortet. Man bringt ihn in ein Ausbildungscamp. Er soll als Psychotherapeut in einer Telepathentruppe der UNO eingesetzt werden, deren Aufgabe es ist, als Vermittler in Krisengebieten zu arbeiten.

Doch Gerald Howson hat kein Interesse an der Welt da draußen. Wie sollte er? Sie hat ihm nichts geschenkt, er schenkt ihr nichts. Und je weiter sein Talent trainiert – und er belastet – wird, desto größer wird die Versuchung, alle Kontakte zur Wirklichkeit abzubrechen und völlig in eine selbst geschaffene Fantasiewelt auszuflippen.

Howsons Aufgabe ist es, in den Traumwelten seiner Kollegen nach einer dominierenden Persönlichkeit zu suchen und sie in die Realität zurückzubringen. Er wird berühmt und gewinnt die Achtung und Freundschaft der anderen, aber dennoch ist er kein ganzer Mensch.

Erst als er in seine Heimatstadt zurückkehrt, den Künstler Rudi vor dem Selbstmord bewahrt und ihn aus seiner Hoffnungslosigkeit befreit, findet er seine Erfüllung: Er hat Rudi auf geistigem Wege eine vollendete Synthese aus Licht, Farbe und Bewegung ermöglicht. Nun weiß Howson: Er kann seinen Mitmenschen helfen, indem er ihnen etwas „vordenkt“.

Nach mehreren Gesprächen mit den besten Medizinern der Welt bietet sein neuer Freund Howson auch eine physische Befreiung an: Er soll eine geistige Verbindung mit dem intakten Regenerationszentrum Rudis schaffen und jenen Teil des Gehirns, der bei ihm nicht funktioniert, telepathisch von Rudi ‚ausborgen‘. Howsons Körperfunktionen, die geistig bedingt quasi verkrüppelt sind, werden sich normalisieren; endlich wird er „ein ganzer Mensch“ werden.

Mein Eindruck

„Morgenwelt“ und „Schafe blicken auf“ sind Horrorvisionen, die die Aufgabe von Warnschildern für die Heutigen haben: Nicht hier entlang! Auf der anderen Seite haben auch die Agentenromane und Space-Operas recht wenig mit der inneren Verfasstheit des Menschen zu tun. Daher kommt dem Roman „Der ganze Mensch“ in Brunners Werk eine besondere Bedeutung und Stellung zu: Es ist einfach sein menschlichster Roman. Es wird keinen Leser kaltlassen, was bei den genannten anderen Werken durchaus der Fall sein kann.

Hier versucht Brunner aufzuzeigen, wie die innere Welt eines verkrüppelten Menschen aussehen kann, der sein einziges Talent, die Telepathie, dazu nutzen kann, mit anderen Menschen zu kommunizieren, diese zu heilen und dadurch schlussendlich sich selbst. Der Weg zu dieser Art platonischer Liebe (‚agape‘ statt ‚eros‘) ist hart und steinig, doch notwendig, wenn Howson überleben will.

Das Buch vermittelt ein hohes Maß an Wärme und Anteilnahme, ist aber dennoch spannend. Doch diese Spannung stammt nicht so sehr aus äußerer Action und Bedrohung (jedenfalls zu einem geringen Maß) als vielmehr aus einer bangen Hoffnung auf Heilung eines Menschen, der sich selbst fast aufgegeben hat. Ein Buch, das man gerne mehrmals liest, sofern man die Anspannung aushalten kann. Es mag Unterhaltung sein, doch auf eine anstrengende Art und Weise. Von dieser Dosis kann man nicht allzu viel auf einmal (v)ertragen.

Originaltitel: The Whole Man, 1964
Aus dem Englischen übertragen von René Mahlow
ISBN-13: 9783453305168

www.heyne.de