Fantasy für Denker: Zauberer auf dem Lande
Vlad Taltos, einst ein gefürchteter Draufgänger und Messerheld, ist auf der Flucht vor seinen Mördern. Vergebens. Von einer Übermacht bedrängt, gelingt ihm in letzter Sekunde der rettende Teleport. Doch sein Kontrahent Loraan, der als Untoter noch zaubermächtiger von den Pfaden des Todes zurückgekehrt ist (siehe die Bände „Jhereg“, „Taltos“ und „Yendi“), weiß inzwischen, wo Vlad sich verbirgt. Dieser allerdings war trotz seiner Wunden nicht untätig. Denn es gibt einen Weg und ein Mittel, den Zauberer zu vernichten. Doch sein einziger Helfer ist ein Junge, schwach und verängstigt. Wird er im entscheidenden Moment Loraan standhalten können?
_Hintergrund_
Auf der Welt Dragaera ging bislang in der Stadt Adrilankha unser Held Vlad Taltos (sprich: taltosch) seinem Beruf nach: Er war ein erstklassiger Auftragskiller. Adrilankha ist eine Art ernsthafte Version von Terry Pratchetts Ankh-Morpork: komplett mit Diebes- und Mördergilden, Kaufleuten, Schenken und Bordellen. Vlad hat sein Büro in der Altstadt, von wo er seinen eigenen Bezirk verwaltet, Schutzgelder abkassieren lässt und Konkurrenz aus dem Weg räumt.
Als hilfreich hat sich sein Vertrauter erwiesen: Loiosh ist ein Flugdrache der Spezies Jhereg. Ähnlich wie Anne McCaffreys Feuerechsen auf dem Planeten Pern, kann Loiosh fliegen, mit seinem Herrn Gedanken austauschen und giftige Bisse austeilen. Loiosh hat seit kurzem eine Partnerin: Rosza.
Auf der uralten Welt Dragaera stellen die Menschen („Ostländer“) wie Vlad Taltos eine Minderheit dar; angeblich kamen sie aus dem Ostreich in das Reich der Nichtmenschen, die so etwas wie kriegerische Elfen sind. Diese Dragaeraner sind in exakt 17 Häuser oder Clans aufgespalten, so etwa Dragons und Hawks …
Definition: ATHYRA – das Haus der MAGIE. Eulenartige Vögel. Senden telepathische Signale aus, die ihre Beute anlocken oder Menschen in Furcht versetzen.
Der Jhereg-Clan, der Vlad aufgenommen hat, ist ein Bastard-Clan und steht außerhalb der Clan-Hierarchie. Die Dragons bilden die Spitze, sie gehorchen nur der Imperatorin. Hochnäsig schauen sie auf die Jhereg-Mitglieder herab, mit einer Ausnahme: Seit seinen Heldentaten in „Jhereg“ hat Vladimir Taltos einen großen Stein im Brett des Dragon-Clans e’Kieron, namentlich bei der zauberischen Aliera und ihrem Verwandten, Morrolan, der über das furchterregendste Schwert auf ganz Dragaera verfügt: „Schwarzstab“ frisst Seelen. Wiederbelebung ausgeschlossen.
_Handlung_
In einer sehr friedlichen Ecke des dragaeranischen Reiches lebt ein friedliches Völkchen sehr langlebiger Flachsbauern. Sie können durchaus mehrere hundert Jahre alt werden, doch Savn ist erst achtzig und somit noch ein junger Hüpfer. Er lebt im Hause seiner Eltern und erträgt seine ständig plappernde Schwester Polyi mit Gleichmut. Lieber denkt er an die Lehren, die ihm sein Lehrmeister Wack erteilt, denn der ist Medikus und weiß alle möglichen interessanten Sachen. Außerdem hat Savn bei Wack das Lesen gelernt und wirft ab und zu einen Blick in die Bücher des Arztes. Sie handeln unter anderem von Zauberei und Philosophie.
Eines Tages kehrt Savn nach Hause zurück und begegnet auf der Landstraße einem Fremden. Der stellt sich als Vlad vor, sei Ostländer und komme aus dem Süden. Savn zeigt ihm freundlich, bei wem er ein Quartier bekommen kann. Am nächsten Tag findet man eine Leiche. Das passiert im Dorf Kleinklippe nicht jeden Tag, nicht einmal in Großklippe, und so gibt es mächtig Aufsehen.
Es ist Zaum, der da mausetot auf der Dorfstraße liegt, ein Lieferant und Fuhrmann. Wack leitet seinen Lehrling an, wie man eine Leiche untersucht, und Savn wird ganz grün im Gesicht. An Zaums Körper findet sich keine einzige Wunde, und nur am Hinterkopf sind ein paar Blutflecke zu sehen. Doch als sich Zaum diese Wunde beim Sturz gegen seinen Wagen zuzog, muss er schon tot gewesen sein. Aber wodurch? Ein Rätsel.
Unfachmännische Lösungen von Rätseln haben die Tendenz, stets die Falschen zu treffen, und so gerät auch Vlad alsbald ins Visier von Verdächtigungen, schließlich trägt er als einziger ein Schwert – also?! (Dass Schwertwunden fehlen, macht den Verdächtigern nichts aus.) Doch Savn hält zu ihm und erfährt einige Dinge über Zauberer und Hexer. Das ist beileibe nicht dasselbe. Vlad kannte den Toten, Zaum, und hat einen Verdacht, der den Baron von Kleinklippe betrifft. Erstaunlich, dass der alte Loraan immer noch lebt. Er hätte schon den Weg alles Sterblichen gehen müssen. Aber schließlich ist Loraan ein Zauberer.
Savn zeigt Vlad einen „Ort der Kraft“: eine tiefe Höhle. Hier hätte Loraan die Kraft eines Untoten gewinnen können, meint Vlad, enthüllt aber nicht, wie er das meint. Dem neugierigen Savn bringt er bei, sich auf telepathische Weise mit ihm, Vlad, zu verständigen. Das wird sich noch als sehr nützlich erweisen. Unterdessen suchen Vlads zwei Jheregs Loiosh und Rosza nach dem Zauberer. Auch sie kommunizieren auf telepathische Weise.
Denn Loraan, so zeigt sich im Laufe der Ereignisse, hat sich mit Vlads Verfolgern zusammengetan. Bevor Vlad fliehen kann, tauchen sieben schwer bewaffnete Krieger auf, Soldaten Loraans. Vlads Verteidigungskräfte reichen nicht ganz aus, und so muss er sich der Übermacht durch Teleportation entziehen. Allerdings ist er zu stark verwundet, um sich selbst heilen zu können. Seine letzte Hoffnung liegt in Savns medizinischen Fähigkeiten. Doch wie soll Savn ihn nach dem Teleport finden?
_Mein Eindruck_
Man muss die eingangs angeführten drei Romane nicht unbedingt kennen, um diesen Band zu genießen, aber es hilft. Denn der Unterschied ist ziemlich deutlich. Ist Vlad Taltos dort ein tatkräftiger Attentäter, der sich seiner Haut zu wehren weiß, so präsentiert er sich in „Athyra“ die meiste Zeit als Flüchtling und Invalide, was nicht besonders viele Aktivität zulässt, wie sich denken lässt.
|Vlad als Fremder|
Da das Geschehen komplett aus der Perspektive von Savn erzählt wird, erscheint uns Vlad diesmal quasi als Außenstehender: ein Fremdkörper, ein verdächtiger Eindringling, ja, möglicherweise nicht einmal ein Mensch – schließlich ist er kein Dragaeraner, sondern ein Ostländer. Und wer weiß, was in deren Köpfen vor sich geht? Savns Schwester Polyi vertritt die Seite der vorurteilsreichen Einheimischen, die den Eindringling suchen und am liebsten umbringen würden. Schließlich hat er ja drei der Soldaten des Herrn Baron getötet, oder? Wenn sich Savn auf Vlads Seite stellt und ihm hilft, gerät er automatisch in die Schusslinie. Prügel setzt es schon mal als Warnung.
|Emanzipation|
Doch Prügel schrecken Savn nicht ab. Die Begegnung mit Vlad und dessen Ansichten hat in Svans Geist ein Tür geöffnet, die ihm Ausblicke auf andere, entfernte Gefilde gewährt – nicht nur andere Gegenden, sondern auch neue Ideen. Und die Methoden seines Lehrmeisters Wack, der auf wissenschaftliche Beobachtung vertraut, tun ein Übriges, um Savn zu einer Person zu machen, die nicht dem Augenschein traut, sondern sich ihr eigenes Urteil bilden will.
|Das Problem der Erkenntnis|
Doch der achtzigjährige Junge befindet sich im gleichen Dilemma, dem sich jeder Kriminalist gegenübersieht: Wie soll man wissen, was man glauben soll? Jeder, den er fragt, behauptet etwas anderes. Sogar Lehrmeister Wack ist kein reiner Wissenschaftler, der experimentiert, sondern auch er fantasiert von „Fieberkobolden“ und singt so etwas wie schamanistische Lieder, um den Patienten zu beruhigen und zu heilen. Der Medikus ist keine große Hilfe beim Herausfinden der Wahrheit: Hat Vlad die drei Soldaten absichtlich getötet – oder war es wirklich Notwehr, wie Vlad behauptet?
Diese zentrale Frage muss Savn erst beantworten, bevor er entscheiden kann, ob er Vlad dabei hilft, sein erklärtes Ziel zu erreichen: den Baron von Kleinklippe zu töten. Das ist keine kleine Sache, wie sich jeder denken kann. Schon immer gab es auf Kleinklippe einen Baron und schon immer haben die Dörfler ihn sich den besten Teil der Flachsernte nehmen lassen. Die Herrschaft des Barons ist praktisch von den Göttern gegeben. Wie kann Savn es da zulassen, dass der Baron getötet wird, noch dazu von einem fremden Ostländer?
|Handeln oder untergehen|
Der Junge hat jedoch ein phänomenales Gedächtnis. Und mit diesem schlägt er Vlad mit seinen eigenen Waffen. Er beweist, dass Vlad kein Deut besser ist als dessen Gegner Loraan oder als dessen Verbündeter, der Assassine Isztvan. Dieser will Vlad mit einer Morganti-Waffe töten, so dass eine Wiederbelebung Vlads ausgeschlossen ist. Das bedeutet, dass Vlads Existenz in höchster Gefahr schwebt: Die Konfrontation mit Loraan und seinem Helfer wird auf jeden Fall die einzige und entscheidende sein. Zum Glück hat Vlad ein paar Tricks auf Lager.
Da hat Savn die rettende Idee, um alle Zweifel auszuräumen: Warum fragt er nicht einfach Loraan selbst, was Sache ist? Dass diese Idee nicht so glorreich ist, wie er zunächst dachte, findet Savn bald heraus, als er in das Herrschaftshaus des Barons gebeten wird. Er gerät vom Regen in die Traufe.
_Unterm Strich_
Actionfreunde kommen hier nicht auf ihre Kosten. Im Gegenteil: Hier wird sehr viel geredet. Der Kampf mit den sieben Soldaten des Barons stellt quasi nur eine Ablenkung vom Reden dar. Doch das Reden ist natürlich kein Selbstzweck, sondern dient der Erkenntnis. Wir können mitverfolgen, wie sich die Geisteshaltung der Hauptfigur, nämlich Savns, verändert und ihn von einem ahnungslosen naiven Dörfler zu einem ebenbürtigen Diskussionsgegner Vlads macht. Das ist ziemlich erstaunlich. Andererseits ist es absolut notwendig, dass diese Wandlung erfolgt, denn nur so kann am Schluss Savn als glaubwürdiger Helfer Vlads und Kontrahent Loraans auftreten. Im Gleichgewicht der Kräfte der beiden Zauberer stellt er das Zünglein an der Waage dar.
Ich konnte den Roman wie alle Taltos-Bände zuvor in zwei Tagen lesen. Doch die Einfachheit der Sprache sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es um ein wichtiges Thema geht, das sich nur in zahlreichen Dialogen realisieren und darstellen lässt: Wie können wir wissen, was wir glauben sollen? Savn hat einen Weg gefunden: Sein Gedächtnis hilft ihm, Aussagen zu vergleichen und Widersprüche aufzudecken. In unserer Welt müssten hierfür die Presse und die Geschichtswissenschaft entsprechend einspringen – mit Erfolg?
Savn erkennt, wie schändlich ihn Vlad missbraucht und benutzt hat. Er emanzipiert sich bei diesem Vorgang der Aufklärung aus den Fesseln von Vorurteil und Täuschung. Zu diesen Vorurteilen gehört ganz klar auch Rassismus. „Athyra“ ist eines der seltenen Fantasy-Werke, in denen der Rassismus ziemlich deutlich dargestellt und einer kritischen Betrachtung unterzogen wird.
Am Ende des Showdowns trägt Savn schwere seelische Verletzungen davon; er ist traumatisiert. Vlad nimmt ehrenvollerweise die Aufgabe auf sich, die Seele seines Freundes zu heilen. Er hat einiges wiedergutzumachen. Der Autor hebt niemals den Zeigefinger, sondern behält stets die Figuren im Vordergrund. Umso überzeugender und fesselnder ist ihm seine Geschichte geraten. Wer sich nicht an langen Dialogen stört, sondern im Geiste daran teilnimmt, wird wesentlich mehr von diesem – auch optisch – schönen Buch haben. Die Übersetzung ist einwandfrei gelungen.
|Die Motti|
Jedem der 17 Kapitel ist der Vers eines langen lustigen Liedes vorangestellt, das Savn einmal mit Polyi singt. Es handelt von einer jungen Frau, die praktisch sämtliche Männer, die in Frage kommen, als Freier ablehnt. Dazu gehören der Schweinebauer, der Soldat, der Edelmann, der Koch und viele, viele andere. Wen sie dann am Schluss erwählt, soll hier nicht verraten werden, aber es ist sehr ironisch.
|Look & Feel|
Die Cover-Art der |Klett-Cotta|-Reihe mit Steven-Brust-Romanen weist einen eigenen Stil auf. Der monochrome Hintergrund zeigt einen Jungen mit einem starren Blick – ähnlich wie der traumatisierte Savn. Doch im Vordergrund schwebt ein hochgereckter Dolch mit gewellter Klinge. Es ist die Morgantiwaffe, die für Vlad bestimmt ist. Aber natürlich ebenso gut Savn treffen könnte.
_Der Autor und seine Werke_
1955 in Minneapolis geboren, ist Steven Karl Zoltán Brust schon Programmierer, Drummer in einer Reggae-Band, Schauspieler und Gitarrist in verschiedenen Bands gewesen. Er liebt vor allem zwei Dinge: die Küche seiner ungarischen Vorfahren und den Kampfsport – zumindest Letzteres merkt man seinem Buch an.
Er ist ein Mitglied der wichtigen Schriftstellergemeinschaft der „Scribblies“, die 1980 in Minneapolis gegründet wurde. Ihr gehören bekannte AutoInnen wie Emma Pull, Patricia Wrede und vor allem Kara Dalkey (die bei |Knaur| veröffentlicht wurde) an. Sie schreiben, was sie gerne selbst lesen würde. Dazu gehört besonders zeitgenössische und urbane Fantasy. Bull und Shetterly edierten die Romane, die auf der Shared-World Liavek spielen. Viele Scribblies-Mitglieder gehören der Bewegung der Pre-Joycean Fellowship (PJF) an. Sie unterstützen Literatur, wie sie vor James Joyce geschrieben wurde. Sie sind somit anti-modernistisch (aber modern) und anti-elitär, außerdem meist humorvoll.
In den USA ist Brust bisher durch neunzehn Romane und eine Soloplatte bekannt geworden. Seine Bücher werden immer wieder neu aufgelegt. Mit „Jhereg“ erschien 1983 der Startband eines ganzen Zyklus um den Antihelden Vlad Taltos. Zu diesem gehören folgende Werke:
Jhereg (1983), Yendi (1984), Teckla (1986) – zusammengefasst als „Taltos the Assassin“ (1991);
Taltos (1988; auch „Taltos and the Paths of the Dead“, 1991), Phoenix (1988) und Athyra (1991).
Verwandt ist die „Khaavren“-Sequenz, die sozusagen historische Romane à la A. Dumas umfasst, die auf Dragaera spielen: The Phoenix Guard (1991), Five Hundred Years After (1994) und The Viscount of Adrilankha (ca. 1996). „Brokedown Palace“ (1986) enthält ebenfalls verwandtes Material.
Bei |Klett-Cotta| erschienen die Bücher in folgender Reihenfolge: „Jhereg“ (2002), „Taltos“ (2002), „Yendi“ (2003), „Teckla“ (2003), „Phönix“ (2004), „Athyra“ (2005).
Weitere Werke Steven Brusts:
– To Reign in Hell (1984): Jehova als politischer Intrigant, der seine gleichberechtigten Kollegen verstoßen hat, die nun in der Hölle herrschen;
– Agyar (1993): Vampir-Roman mit einer Hauptfigur, die sich weigert, über ihren Zustand zu sprechen;
– Gypsy (mit Megan Lindholm/Robin Hobb, 1992): Zigeunerfolklore;
– The Sun, the Moon, an the Stars (1987): Nacherzählung eines Märchens;
– Cowboy Feng’s Space Bar & Grille (1990); Science-Fiction-Parodie.