Byron, Lord / Polidori, John William / Gustavus, Frank – Vampyr, Der – oder Gespenstersommer am Genfer See (Hörspiel)

Literarischer Psychothriller

Juni 1816 am Genfer See, in der Villa Diodati: Der berüchtigte Schriftsteller Lord Byron, sein Leibarzt Dr. Polidori, der Dichter Percy Shelley, dessen Geliebte Mary Wollstonecraft (später Shelley) und deren Stiefschwester Claire Clairmont lesen Gespenstergeschichten. Hierdurch inspiriert, hat Byron eine Idee: „Wir wollen jeder eine Geistergeschichte schreiben!“ Es kommt zu dem berühmten Wettstreit, aus dem Mary Shelleys „Frankenstein“ und Polidoris „Der Vampyr“ hervorgehen. Polidori erzählt, was geschah. So gab einer der Gebrüder Grimm den Anstoß zu „Frankenstein“, und Lord Byron und „Der Vampyr“ wurden zum Fluch für den Möchtegerndichter Dr. Polidori. In einem Interview hält er im Jahre 1821 Rückblick auf jene verhängnisvollen Tage am See.

Die Autoren

John William Polidori:

John William Polidori wird 1795 in London geboren. Er geht auf ein kirchliches College in Yorkshire und studiert danach erfolgreich Medizin an der Universität von Edinburgh. Im Frühjahr des Jahres 1816 zieht er mit dem bereits sehr erfolgreichen Schriftsteller Lord Byron an den Genfer See. Nach ihrer Trennung im Herbst desselben Jahres arbeitet Polidori das beim Autorenwettstreit entstandene – auf Eingebungen Byrons basierende – „Vampyr“-Bruchstück zur fertigen Geschichte aus, welche 1819 in einer englischen Zeitschrift veröffentlicht wird – wobei Byron als Ko-Autor genannt wird!

Es bleibt sein einziger erfolgreicher Versuch als Schriftsteller, denn seine Stücke und späteren Prosatexte werden fast durchweg abgelehnt. Er praktiziert danach wieder recht erfolglos als Arzt. Im August 1821 stirbt Polidori im Alter von nur 26 Jahren; vermutlich durch Selbsttötung mittels Gift.

Lord Byron:

Der berühmte englische Dichter Lord George Gordon Noel Byron (1788-1824), genannt Lord Byron (und unter Freunden „Albie“), stellte zeitlebens seine recht zwiespältige Natur zur Schau. Leidenschaftliche Liebe, ausschweifende Lebensfreude, Weltschmerz und Selbstmitleid kennzeichneten ihn. Seine als Belastung empfundene körperliche Behinderung durch ein verkrüppeltes Bein (ein Klumpfuß), kompensierte er durch gelebte Sinnlichkeit und diabolische Ablehnung von Teilen seiner Umwelt (so etwa Polidori).

Inzestverdacht sowie finanzielle Exzesse machten ihn 1816 in der englischen Gesellschaft zu einem Exoten und Außenseiter. 1824 entschloss er sich zur Reise nach Griechenland, um die Nation in ihrem Kampf gegen die Türken zu unterstützen. Er starb jedoch kurz nach der Landung an Malaria. Berühmt wurde er bereits durch sein Frühwerk „Childe Harold’s Pilgrimage“ (deutsch „Ritter Harolds Pilgerfahrt“) von 1812, in dem er Erlebnisse auf einer Jahre zuvor unternommenen Mittelmeer- und Orientrundreise verarbeitet.

Das Urbild des Vampyrs erfand er bereits 1813 in seinem Versepos „The Giaour“ (Der Ungläubige). Die Stelle ist im Booklet abgedruckt: „Doch zunächst, als Vampir gesandt zur Erden, / Soll dein Leichnam dem Grab entrissen werden / Um sodann deine Geburtstätte gespenstisch heimzusuchen / Und das Blut all deiner Artverwandten auszusaugen.“ (meine Übersetzung)

Die Sprecher

J. W. Polidori: Andreas Fröhlich, die deutsche Stimme von John Cusack, Edward Norton und Sméagol/Gollum aus dem |Herrn der Ringe|
Lord Byron: Joachim Tennstedt, die deutsche Stimme von John Malkovich, Mickey Rourke, Michael Keaton
Mary Wollstonecraft-Godwin-Shelley: Anna Carlsson
Percy B. Shelley: Santiago Ziesmer (Stimme von Steve Buscemi, Matthew Broderick)
Claire Clairmont: Dorette Hugo
Gräfin von Breuss, Signora Cassati: Marianne Groß (Stimme von Whoopi Goldberg, Cher, Meryl Streep)
Reporter bei Polidori: Timmo Niesner (Stimme von Elijah Wood in |Herr der Ringe|, Tobey Maguire)
Buch, Produktion, Regie: Frank Gustavus / Musik: Stephan Jacobi; |Ripper Records| (Elmshorn) 2004

Handlung

PROLOG

In der Villa Diodati (siehe oben) findet am 18.6.1916 eine Lesung von Gespenstergeschichten statt. Anwesend sind der berüchtigte Schriftsteller Lord Byron, sein Leibarzt Dr. Polidori, der Dichter Percy Shelley, dessen Geliebte Mary (später Shelley) und deren Stiefschwester Claire Clairmont, eine angehende Schauspielerin. Claire oder Mary tragen die Erzählung „Die Totenbraut“ aus der Anthologie „Phantasmagoriana“ vor. Sturm und Donner liefern eine eindrucksvolle Soundkulisse zum gruseligen Inhalt der Story.

Wesentlich dramatischer trägt Byron das Gedicht „Cristabel“ seines Landmannes Samuel Coleridge vor. Der Eindruck des charismatischen Vortragenden ist derart, dass Percy Shelley einen Nervenzusammenbruch erleidet. Der Laudanum-Süchtige muss von „Pollydolly“, wie Byron und Shelley Dr. Polidori herabsetzend nennen, behandelt werden, und Mary macht sich Sorgen um ihren Geliebten. Laudanum ist in Alkohol verflüssigtes Opium, enthält aber auch giftiges Bilsenkraut.

Anderntags macht Byron den folgenreichen Vorschlag, jeder solle eine Geistergeschichte schreiben und sie anschließend zum Ergötzen der Freunde vortragen.

Haupthandlung

Polidori ist auf die Reise mitgegangen, weil ihm Byron den Posten des Leibarztes angeboten hat. Der junge Mediziner mit den hochfliegenden literarischen Ambitionen ist geschmeichelt, doch hintergeht er zunächst seinen Chef, indem er mit dessen Verleger einen Vertrag über ein Reisetagebuch abschließt, für das er 500 Pfund, eine Menge Geld, bekommen soll. Doch er kann das Geheimnis nicht lange für sich behalten. Schon bei der Kanalüberfahrt plaudert er, und Byron bittet ihn um Diskretion in persönlichen Dingen.

Am Rhein verärgert er Byron ernstlich durch seine Anmaßung, er stünde dem Lord nur in wenigen Dingen nach. Er ist unten durch, und Byron macht ihn durch den Spitznamen „Pollydolly“ lächerlich, besonders gegenüber den Begelitern in der Villa Diodati.

Hier präsentiert Byron im Rahmen seines Wettbewerbs seine Geschichte „Der Vampyr“, die er aus dem Versepos „The Giaour“ (siehe oben die Autorenbeschreibung) abgeleitet hatte. Es handelt sich lediglich um eine Reisebeschreibung aus dem Jahr 1700 und das Begraben eines Gefährten namens Augustus Darville auf einem türkischen Totenacker. Eine Idee dazu ist aus „Die Totenbraut“. Doch Byron hat auch eine Idee zur Weiterführung, und diese greift Polidori später auf: Darville ist in England aufgetaucht und inzwischen der Liebhaber der Schwester des Erzählers …

Den eigentlichen Anstoß, die Geschichte weiterzuführen, liefert die Gräfin Breuss, die Polidori besucht, um dem Mobbing in der Villa auszuweichen. Sie glaubt nicht, man könne „etwas aus derartigem Humbug machen“. Um dieses Urteil zu widerlegen, nimmt er ihre Herausforderung an und schreibt eine fertige Geschichte binnen drei Tagen. Erst dies ist der fertige „Vampyr“.

Darin taucht ein bleicher Lord Ruthven auf, der große Ähnlichkeit mit einem dämonischen Byron hat. Im Spiel stürzt er skrupellos ganze Existenzen ins Nichts, zieht aber dadurch das Augenmerk des jungen angehenden Erben Aubrey auf sich. Er verführt dessen Schwester, während er Aubrey selbst immer schwächer werden lässt. Kurz vor seinem Tod beichtet Aubrey seinen Vormündern alles über Ruthven und warnt sie, was dieser mit seiner Schwester vorhabe. Doch jede Hilfe kommt zu spät, und Ruthven ist weiterhin auf der Jagd nach frischem Blut. –

In der Vermarktung des Werkes erlebt er vielerlei Rückschläge, nachdem die Gräfin sein Manuskript hat veröffentlichen lassen. Von einem Honorar des Bestsellers, der bald auf Europas Bühnen aufgeführt wird, sieht Polidori, der Urheber, lediglich 30 schlappe Pfund von einem Verleger. Er muss sich bis zum bitteren Ende mit Urheberstreitigkeiten herumschlagen. Lebenslang bleibt Polidori der unverstandene Literatur-Novize, den Pech und Verhängnis immer wieder beruflich und privat abstrafen.

Das Hörspiel beginnt und endet am letzten Tag von Polidoris Leben, dem dieser selbst und live am 24. August 1821 mit Zyankali ein Ende setzt, nachdem er einem Reporter die „Wahrheit“ über sein Leben berichtet hat.

Mein Eindruck

Der Autor des Hörspiels, Frank Gustavus, stellt eine schöne, wenn auch vielleicht kühne Parallele her zwischen der Geschichte „The Vampyre“ und der Beziehung zwischen Byron und Polidori. Um dies akzeptieren zu können, muss der Leser erst einmal genau wissen, wie Polidoris Leben verlief – das wäre seine Biografie – und wie sich die Byron-Beziehung auf sein Seelenleben auswirkte – das wäre das Psychogramm.

Beides zusammen liefert so etwas wie einen literarischen Psychothriller. In dessen letzter Konsequenz erfolgt natürlich des Tod des Opfers: Polidori. Zuvor hat er noch seine Seele erleichtert, indem er einen Reporter als Beichtvater heranzog. Ein letzter Versuch, sich im Blätterwald, der Polidori so übel mitgespielt hat, zu rechtfertigen und seinen persönlichen Vampir, eben Byron, an den Pranger zu stellen. Vergebliche Liebesmüh! In seinen letzten Millisekunden erlebt Polidori nicht nur Spieluhrklingeln und Geisterstimmen, sondern auch die ölig-spöttische Stimme Byrons: „Hallo, Pollydolly!“

Ironie und Untergang

Die Ironie bei dieser Geschichte ist jedoch, dass Polidori in seinem blinden Eifer, jugendlichen Stolz und gegen keinerlei Versuchung gefeiter Unschuld der Schöpfer seines eigenen Untergangs ist. Seine Biografie ist die Verkettung von Ereignissen des eigenen Versagens. Er kann weder den Schnabel halten, wenn es klüger wäre zu schweigen, noch eine Herausforderung unbeantwortet lassen. Und sein Spielglück kann er erst recht nicht unversucht lassen.

Daher verprellt er seinen Arbeitgeber, schreibt dessen Story „Der Vampyr“ weiter (was man als Plagiat ansehen könnte) und tappt so in die Falle, die die ihm die schlaue Gräfin Breuss gestellt hat. In seiner blinden Wut, sich an Byron & Co. zu rächen, verrennt er sich zu der pittoresken Beschreibung eines Blutsaugers, der für jeden Zeitgenossen offenkundige Ähnlichkeit mit einem gewissen Lord hat. Byrons abgelegte Geliebte Charlotte Lamb nannte selbst einmal den Namen eines gewissen „Lord Ruthven“. Man braucht nicht das Einmaleins zu beherrschen, um die Verbindung zu sehen.

Aber Polidori erkennt in seinen bitteren letzten Minuten, dass er mit dem „Vampyr“ einen ebensolchen Blutsauger geschaffen hat, der ihm die Lebensenergie aussaugen wird. In seinem Eifer, „meine Geschichte, meine!“ für sich zu retten und zu reklamieren, passiert das genaue Gegenteil: An publizistischer Energie, sprich: Attraktivität, ist der Name „Byron“ weitaus stärker, als es sich der unbekannte Polidori hat träumen lassen. Statt mit dem Strom zu schwimmen und Kapital daraus zu schlagen, stemmt er sich dagegen. Kein Wunder, dass er über kurz oder lang untergeht. Der „Vampyr“ ist stärker. Und der Vampir heißt nicht nur Byron, sondern auch Verlagswesen, Publizität, Public Relations. Für den Literaturhistoriker ist dies eine Offenbarung: Die Macht der englischen Presse ist bereits um 1819 ausreichend, um eine Existenz zu vernichten.

Mary und das Monster

Jedoch geht es nicht nur um Polidoris Lebensgeschichte. Beim Treffen am See entstand in einer Nacht beispielsweise auch die Grundidee zu Mary Shelleys Roman „Frankenstein oder der moderne Prometheus“, dessen Ursprünge sich bis zur Burg Frankenstein und den Gebrüdern Grimm zurückverfolgen lassen. (Wie dies im Einzelnen zurückzuverfolgen ist, findet sich im Hörspiel. Das hier alles wiederzugeben, würde zu weit führen.)

Eine der besten und schönsten Szenen – nach dem Prolog und dem Schluss – ist Polidoris Unterredung mit der 19-jährigen Mary Wollstonecraft Godwin, die später als Mary Shelley weltbekannt werden wird. Die Szene ist der emotionale Dreh- und Angelpunkt, zumindest auf der positiven Seite von Polidoris Lebensgeschichte. Und an diesen magischen Moment hat er immer noch, selbst in einer letzten Stunde, ein Andenken behalten: eine Spieluhr, die Mary ihm als Dank dafür geschenkt hat, dass er ihr ein wenig beim Konzipieren des „Frankenstein“ geholfen hat und als Ausgleich für die Sticheleien der Gesellschaft in der Villa Diodati. Schließlich ist er selbst ein Arzt, und als solcher kompetent genug, das Treiben eines gewissen Frankenstein bei der Belebung eines zusammengestückelten „Menschen“ zu beurteilen. Aus der Spieluhr erklingt „Sur le pont d’Avignon“, ein altes französisches Volkslied. Auch dann, als ihr Besitzer seinen letzten Atemzug tut.

Unterm Strich

Das Hörspiel ist für Kenner ein Genuss. Doch für Hörer, die sich weniger für Literaturhistorie interessieren und einen handfesten Horrortrip erwarten, eignet sich das Werk keineswegs. Es ist eine Inszenierung der meist leisen zwischenmenschlichen Töne, zumindest in den langen Passagen, die auf den gruseligen Prolog folgen. Und die zweite CD langweilt nach der „Frankenstein“-Szene und dem Niederschreiben des „Vampyr“ sogar ein wenig mit Polidoris relativ verwirrenden Italien-Reisen und wechselnden Lebensumständen. Statt Handlung findet sich hier meist Exposition, also Bericht. Dafür entschädigt das dramatische Finale.

Dieses Hörbuch demonstriert eindrucksvoll, was heute mit ausgefeilter Soundtechnik und einem professionellen Tonmeister alles möglich ist. Nicht nur Stereoton – am Anfang hört man, wie die rezitierende Mary von einer Seite des Klangraums zur anderen wechselt -, sondern auch eine sehr nahe und dichte Geräuschkulisse, wie in der Szene auf dem Genfer See (mit Möwengeschrei und Wasserplätschern etc.), sind ohne weiteres realisierbar, um dem Hörer eine unmittelbarere, eindrucksvollere Erfahrung des Geschehens zu ermöglichen. Gut, dass dabei die Gefahr, das Klangerlebnis zu überfrachten, vermieden wird. Übereifer kann eben auch negativ wirken.

Der hohe Preis von ca. 20 Euro ist durch diese Qualitäten gerechtfertigt. Wer mehr Horror will, greife zu den ausgezeichneten Produktionen von LPL records, die Maßstäbe setzen. Frank Gustavus führte dort auch Regie für „Der Schatten über Innsmouth“.

Demnächst erfährt die Produktion eine direkte Fortsetzung: Im Dezember 2004 veröffentlicht Ripper Records Lord Byrons „Vampyr-Fragment“ und John W. Polidoris „Der Vampyr“ als ungekürzte, inszenierte Lesung von Joachim Tennstedt und Andreas Fröhlich. Die Erstauflage gibt es exklusiv bei Ripper Records, ab Februar 2005 ist die CD dann auch über |Lübbe Audio| im Buch- und Tonträgerhandel erhältlich.

Umfang: 124 Minuten auf 2 CDs
Mehr Infos unter: http://www.ripperrecords.de/