C. J. Cherryh – 40.000 in Gehenna. Ein Alliance-Union-Roman

Siedlungsexperiment Gehenna: Zehn Generationen in der Hölle

Die auf Cyteen geklonten Union-Kolonisten werden wie Bootsflüchtlinge auf einem fremden Planeten ausgesetzt und im Stich gelassen und müssen sich entweder einigeln oder mit der einzigen intelligenten Lebensform, großen Echsen, einlassen, um zu überleben. Nach zehn Generationen ist es schwierig, noch von Menschen zu sprechen, denn alle haben sich verändert… Dies ist Cherryhs SF-Umsetzung von Shakespeares Utopia-Stück „Der Sturm“.

Die Autorin

Caroline Janice Cherryh, geboren 1942 in St. Louis, ist von Haus aus Historikerin und lebt in Oklahoma. Sie erhielt schon 1980 ihren ersten Science Fiction-Preis für ihre umwerfende Novelle „Kassandra“***. 1983 folgte der erste HUGO Award für „Pells Stern“, später ein weiterer für „Cyteen“. Beide Romane gehören zu ihrem Allianz-Union- bzw. PELL-Zyklus, der eine Future History darstellt, wie sie schon von anderen Größen des Science Fiction-Feldes geschaffen wurde, darunter Robert A. Heinlein oder Isaac Asimov.

***: Die Story ist jetzt im Sammelband „The short fiction of C.J. Cherryh“ (Januar 2004) zu finden.

Wichtige Romane und Trilogien des Allianz-Union- bzw. PELL-Zyklus:

„Downbelow Station“ („Pells Stern“): PELL 1
„Merchanter’s Luck“ („Kauffahrers Glück“): PELL 2
„40.000 in Gehenna“ (dito): PELL 3
„Rimrunners“ („Yeager): PELL 4
„Heavy Time“ („Schwerkraftzeit“): PELL 5
„Hellburner“ („Höllenfeuer“): PELL 6
„Finity’s End“ („Pells Ruf“): PELL 7
„Tripoint“ (dito): PELL 8

„Cyteen“ (3 Romane im Sammelband „Geklont“)
„Regenesis“ (Prequel zu „Cyteen“)
„Serpent’s Reach“ („Der Biss der Schlange“)
„Cuckoo’s Egg“ („Das Kuckucksei“)

Hintergrund und Vorgeschichte

In „Pells Stern“ (PELL #1) schildert die Autorin, wie es zur Entstehung von Kauffahrer-Allianz und Kolonien-Union kam. Die Union besteht aus selbständig gewordenen Kolonien, die sich gegen die Flotte der Erde zur Wehr setzen, die die Earth Company gegen die abtrünnigen Kolonien in Marsch gesetzt hat. Der Verlauf des Konflikts erinnert in bestimmten Merkmalen an den Unabhängigkeitskrieg der amerikanischen Kolonien gegen das Mutterland England.

Zunächst hatte die Earth Company nur eine Station nach der anderen gebaut, die um andere Welten nach dem Vorbild der erdnahen Sol Station kreisten. Die einen großen Kreis fliegenden Frachter versorgten die Stationen mit Waren, die nur die Erde herstellen konnte, v.a. Lebensmittel. Sie lieferten dafür Rohstoffe, v.a. Erze. An den Profiten wurde die Company fett, satt und träge. Dann gewannen die Isolationisten großen Einfluss, die der Company den Einfluss neideten. In der Folge entfremdeten sich die Stationen von der Company, und umso mehr dann, nachdem eine lebensfreundliche Welt entdeckt worden war: Pells Welt.

Mit Pell und seiner Station änderten sich die Regeln des Spiels. Denn nun konnten sich die Stationen selbst versorgen und waren nicht auf Nachschub von der Erde angewiesen. Sie schlossen sich zur Union zusammen, insbesondere auf Betreiben der Regierung, die auf der neuentdeckten und autarken Welt Cyteen herrschte und Unmengen von Klonen herstellte, um die umliegenden Welten und Stationen zu bevölkern (man lese dazu die „Cyteen“-Trilogie). Die auf Pells Welt lebenden Fremdwesen war friedliche Kreaturen auf der Stufe von Primaten. Sie stellten keine Gefahr dar. Pells Welt ließ sich ausbeuten. Weil man auf Cyteen auch die Sprung-Technologie erfunden hatte, ließen sich die Reisezeiten von Jahren auf Monate, Wochen oder gar Tage reduzieren. Das Draußen rückte enger zusammen.

Die Earth Company sah ihre Felle davonschwimmen. Zuerst versuchte sie es mit Steuern, genau wie seinerzeit die Engländer. Und manche Stationen und Kauffahrer zahlten, doch andere, rebellischere weigerten sich. Also baute die Earth Company eine Kriegsflotte: die „America“, die „Europe“, die „Australia“ und die „Norway“ waren die größten ihrer Schlachtkreuzer, allesamt Sprungschiffe. Die erdnahen Stationen zahlte Steuern nun wie einen Tribut, doch die rebellische Union breitete sich immer weiter erdabgewandt aus und verweigerte die Zahlungen. So manches ungeschützte Ziel wurde abgeschossen.

Dann änderte sich die Erdpolitik abermals, und die Earth Company stellte die Unterstützung für ihre eigene Flotte ein: zu teuer. Der erneute Isolationismus zwang die Flotte, sich selbst zu versorgen, und aus 50 Schiffen wurden nur noch fünfzehn, die sich als Piraten betätigten. Nach einem ihrer Befehlshaber, Conrad Mazian, wurden sie Mazianni oder Mazianer genannt. Sie verbreiten Furcht und Schrecken, wo sie auftauchen.

Handlung

Man hat die Siedler nach Gehenna (arabisch für „Hölle“) verschifft, einen kaum erforschten erdähnlichen Planeten in einer neutralen Zone der Galaxis: 40.000 Männer, Frauen und Kinder. Es war von Anfang an eine illegale Aktion gewesen, um vollendete Tatsachen zu schaffen und Territorialansprüche zu ergaunern. Die Verantwortlichen dachten gar nicht daran, die Siedler zu unterstützen – ein paar würden schon überleben, schließlich hatte man ihnen von Bändern im Tiefschlaf vielfältiges Wissen einflößen lassen.

Das Erwachen ist die Hölle. Die alleingelassenen Kolonisten sind verzweifelt, denn der Nachschub ist ausgeblieben. Die einheimische Fauna, echsenähnliche Wesen mit unterirdischer Lebensweise, die zuvor als harmlos eingestuft worden waren, erweist sich als halbwegs intelligent, äußerst schwierig und zunehmend aggressiv gegen die Eindringlinge.

Bald zerfällt die Kolonie in zwei Lager: Das eine verharrt in einer Art Brückenkopf-Mentalität, igelt sich ein und hofft weiter auf Hilfe von draußen; das andere versucht mit der einheimischen Ökologie zurechtzukommen und sich anzupassen; doch diese Anpassung bedeutet, auf einen Teil des Menschseins zu verzichten. Und während zehn Generationen kann sich der Mensch deutlich verändern. Als die Alliance auf Gehennas Siedler stößt, ergeben sich ein paar kleine Probleme…

Die Übersetzung

Die Übersetzung stammt von Thomas Schichtel, dem Übersetzer der Gor-Romane. Ich bezweifle, dass er stilistisch dieser Herausforderung gewachsen war, kann aber keine Fehler nennen.

Die deutsche Ausgabe ist innen geradezu luxuriös ausgestattet worden. Das Titelbild stammt von Altmeister C.A.M. Thole. Es gehört zum scheußlichsten, das ich je auf dem Buchmarkt gesehen habe: Eine der Alien-Echsen scheint eine nackte weiße Frau zu vergewaltigen.

Auch in den Illustrationen von John Stewart tauchen die intelligenten Echsen auf. Hinzukommen Stammtafeln der Siedlergenerationen, die von der Autorin stammen. Aufwendige und detaillierte Landkarten, geschaffen von Christine Göbel, ergänzen das üppige Zusatzmaterial.

Mein Eindruck

Dieser Alliance-Union-Roman ist ein beachtliches Beispiel für glaubwürdigen Weltenbau, und Cherryh zieht das gewagte Konzept bravourös durch. Vielleicht sollte der Leser aber zuvor den voluminösen Roman „Cyteen“ bzw. „Geklont“ lesen, um alle Begriffe wie etwa „Azi“ (Klone) zu verstehen. Dieses Siedlungsexperiment wird von der Union unternommen, und die ist nun mal ganz anders eingestellt als die Earth Company oder die Allianz der Kauffahrer: Hier wird geklont, konditioniert -. Jede Bene Gesserit wäre entzückt.

Es gibt natürlich auch eine Handvoll zentraler Charaktere, aber die Liste der Teilnehmer, die das Verteidigungsministerium von Cyteen ausgewählt hat, ist alleine schon zweieinhalb Seiten lang. Militärisches Personal, ziviles Personal wie etwa Wissenschaftler, Mediziner und Techniker – schließlich die knapp 42.000 „Nichtbürger“, also Azis, in fünf Klassen. Es gilt also für den Leser, den Überblick zu behalten – zehn Generationen lang! Listen und Stammbäumen sollen ihn dabei unterstützen. Schnell wird klar, dass ein solches Romanprojekt noch nie zuvor unternommen wurde.

Symbiose

Die spannende Handlung umfasst einen langen Zeitraum und benötigt deshalb sehr lange, um überhaupt einen Spannungsbogen zu entfalten. Die besten Szenen sind immer die anschaulichen Begegnungen mit den intelligenten Echsen, denn Cherryh beherrscht Alien-Begegnungen aus dem Effeff, wie ihr Kurzroman „Hestia“ belegt. Die „Kalibane“ genannten Echsen weisen den Weg zu Shakespeares Utopia in seinem Stück „Der Sturm“. Ein Magier hat für sich und seine Tochter Miranda ein Paradies geschaffen. Doch dann tauchen Schiffbrüchige, ein hässlicher Hexensohn namens Caliban und ein dienstbarer Luftgeist namens Ariel auf. Es ist also kein Zufall, dass hier auch Ariels auftauchen.

Auf S. 374/75 wird die Situation metaphysisch beschrieben: „Die Kalibane schreiben auf der Welt. Sie schreiben die Welt als Mikrokosmos und verändern sie fortwährend. Sie haben keine Technologie. So etwas kann für sie keine Rolle spielen, Städte nicht, die Zivilisation nicht. Es sind keine Menschen. Aber dieses große Gehirn verarbeitet die Welt und gibt sie wieder…“

Verantwortung

Aber es gibt auch einen größeren Rahmen, der genauso wichtig ist. Es geht um Handlungsmoral, Verantwortlichkeit und die Intelligenz von großen Organisationen wie den Militärs von Cyteen. Die rivalisierende Allianz kommt jedenfalls schon auf Seite 206 zu einem niederschmetternden Schluss: „Die Tatsache, dass diese Welt es geschafft hat, ein Unternehmen gut ausgerüsteter Menschen in die Jungsteinzeit zurückzuwerfen, ist ein beredtes Argument dafür, dass die Menschheit in ihrem Umgang mit dieser Umwelt und dem, was darin lebt, klüger werden muss.“

Unterm Strich

Dies mag vielleicht der beste Roman in der Union-Allianz-Reihe von Cherryh sein, auf jeden Fall aber einer der ambitioniertesten – neben „Cyteen“ und „Pells Stern“. Der kalten Logik auf der Ebene der Militärs auf Unions- und Allianz-Seite steht die wilde Lebendigkeit der vielfältigen Kreaturen auf Gehenna gegenüber. Die Kaliban-Echsen tun sich mit den sensiblen Frauen und den Kindern der Siedler zusammen, um eine neue symbiotische Gesellschaftsform hervorzubringen, die über ein andersartiges Bewusstsein verfügt. Kann man diesen Vertretern der Spezies Mensch Verständnis oder gar Sympathie entgegenbringen?

Es ist etwa so, als würden unwissende Bootsflüchtlinge im Amazonas-Urwald landen und dort von den Indios in den Stamm aufgenommen werden (wie in John Boormans Film „Der Smaragdwald“). Dieser Prozess macht vor allem jenen Angst, die sich an die tradierten Normen klammern, besonders aber den Militärs und Managern. Sie bekommen es auf einmal mit einer fremden, aber dennoch menschlichen Daseinsform zu tun. Das fordert auch den Leser heraus, wie man an dem vielsagenden Titelbild ablesen kann.

Taschenbuch: 461 Seiten
Info: Forty Thousand in Gehenna, 1983
Aus dem US-Englischen übertragen von Thomas Schichtel; illustriert von John Stewart, Cover von C.A.M. Thole, Karten von Christine Göbel
www.heyne.de

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