Camilleri, Andrea – zweite Kuss des Judas, Der

Zu den Osterfeiertagen findet in Vigàta jedes Jahr ein „Passionsspiel“ mit Laiendarstellern statt. Der Filialdirektor einer ortsansässigen Bank spielt den Judas schon seit fünf Jahren. Doch diesmal verblüfft er Kollegen, Familie und Publikum gleichermaßen: Er verschwindet spurlos. Polizei und Carabinieri müssen gemeinsam ermitteln, um das Rätsel zu lösen – ein Politikum ersten Grades.

|Der Autor|

Andrea Camilleri ist kein Autor, sondern eine Institution: das Gewissen Italiens. Der 1925 in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle geborene, aber in Rom lebende Camilleri ist Autor von Kriminalromanen und -erzählungen, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur. Er hat dem italienischen Krimi die Tore geöffnet.

Die Hauptfigur in vielen seiner Romane, Commissario Salvo Montalbano, gilt inzwischen als Inbegriff für sizilianische Lebensart, einfallsreiche Aufklärungsmethoden und südländischen Charme und Humor. Er ermittelt in komplett erfundenen, aber „wirklich“ erscheinenden Orten wie Marinella, Vigàta und der Provinzhauptstadt Montelusa.

Allerdings ist der Commissario nicht der Liebling aller Frauen: Zu oft hindert ihn sein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein daran, dringende Termine mit seiner festen Freundin Livia wahrzunehmen, mit der er seit sechs Jahren liiert ist, die aber in Genua lebt, also aus „dem Norden“ kommt. (Auch Camilleris Frau stammt von dort, aus Mailand.)

_Handlung_

Am Karfreitag des Jahres 1890 findet auf dem Hauptplatz von Vigàta, direkt vor einem Palazzo, die jährliche Aufführung des „Passionsspieles“ statt. Laiendarsteller der Stadt inszenieren nach einer Vorlage aus dem Jahr 1750 die letzten Tage Jesu Christi, zum Lobe des Herrn natürlich, aber auch zur Unterrichtung der jungen, im Glauben vielleicht noch ungefestigten Generation.

Zeitungsartikel beschreiben Herkunft und Ablauf des Passionsspiels, den Schauplatz sowie die wichtigsten Beteiligten. Diesmal gibt es zwei Neuerungen: Der Jesus-Darsteller ist kein Geistlicher, sondern ein Lehrer. Dagegen hat es bereits Proteste gegeben. Und das Schicksal des Judas Ischariot ist ein recht ungewöhnliches.

Judas wird wie seit fünf Jahren wieder von Antonio Patò gespielt, dem Direktor einer Bankfiliale. Diesem ehrenwerten Bürger, Ehegatten und Familienvater bringen aber gewisse Subjekte neuerdings Vorbehalte entgegen: Kurz vor der Aufführung hatte er einen heftigen Streit mit einem Angehörigen der Mafia, und ein geistig verwirrter Religionsfanatiker stieß Todesdrohungen gegen den „Judas“ aus.

Am Ende seines Auftritts muss sich jedenfalls der Verräter Jesu an einem Baum die Schlinge um den Hals legen und erhängen. Anschließend öffnet der Darsteller eine Klappe im Bühnenboden und begibt sich eine kurze Treppe hinunter in die Unterbühne, so als ob er zur Hölle fahre. Eigentlich erwarten ihn seine Kollegen eine halbe Stunde später zurück, um den Applaus entgegenzunehmen. Doch diesmal bleibt Antonio Patò buchstäblich in der Versenkung verschwunden.

Wie Polizeikommissar Ernesto Bellavia und der später hinzugezogene Carabinieri-Maresciallo Paolo Giummàro zu ihrem Leidwesen herausfinden, war der Verschwindibus nicht irgendwer. Sein Onkel, Seine Exzellenz, der Unterstaatssekretär Senator Pecoraro, spielt eine wichtige Rolle in den Unternehmerkreisen der Region Vigàta/Montelusa und hat vielen Geld geliehen – wie sich herausstellt, auch einem Mafiachef. Mit solch einem Herrn ist nicht gut Kirschen essen, denn er macht gewaltig Druck auf die Vorgesetzten der Ermittler.

Zunächst heißt es, Patò sei „vermisst“. Er muss entweder ermordet oder verschleppt worden sein, denn nirgends taucht er auf. Oder hat er sich nach einem Vergehen aus dem Staub gemacht? Auch aus der Kasse der Bank fehlt nichts. Die Frage nach dem Warum lässt sich also vorerst nicht beantworten, aber dann vielleicht die Frage nach dem Wie? Auch die Suche nach dieser Antwort stellt sich als nicht ganz einfach heraus. Und die Lösungsvorschläge zweier englischer Gentlemen, die sich als „Wissenschaftler“ ausgeben, sind wenig konstruktiv (und außerdem viel zu teuer).

Je mehr sich die Ermittlungen hinziehen, desto mehr geraten die Ermittler selbst unter Beschuss. Zwei konkurrierende Zeitungen, die eine erscheint in Montelusa, die andere in Palermo, äußern konträre Ansichten und Vorschläge, je nachdem, welcher politischen Partei sie gehören. Der Druck auf die Behörden steigt.

Zunehmend sind die Vorgesetzten der beiden Ermittler befremdet von den Resultaten, die die beiden ihnen in den Tagesberichten liefern. Was für absonderliches Zeug! Konstruktions- und Lagepläne der Bühne, Beschreibungen von belanglosen Schubladeninhalten, Fahrplanänderungen der Bahn – ja, sind Bellavia und Giummàro von allen guten Geistern verlassen? Und dann nehmen die beiden auch noch einen Tag Urlaub und fahren nach Palermo!

Während die entnervten Bosse ihnen eine letzte Frist von zehn Tagen stellen, stoßen der Kommissar und der Carabiniere, die inzwischen gute Freunde geworden sind, auf einen derart kühnen Plan hinter Patòs Verschwinden, dass ihnen niemand die Lösung des Rätsels abnehmen wird, schon gar nicht der Senator Pecoraro. Wenn sie ihre Posten behalten wollen, müssen sich die beiden dringend etwas einfallen lassen …

_Mein Eindruck_

|Dossier|

Dieser Roman besitzt eine außergewöhnliche Form: Er besteht nämlich ausschließlich aus Dokumenten. Wie der Autor anmerkt, handelt es sich um ein Dossier. Dieses besteht aus Tagesberichten, Anweisungen, Zeugenberichten, persönlichen Briefen, Zeitungsartikeln, sogar Wandschmierereien (Volkes Stimme) und so weiter. Das Ganze mündet in nicht weniger als zwei Abschlussberichten der zwei Chefermittler an ihre Vorgesetzten, die das Vorgetragene für baren Unsinn halten. Na, bitte, dann muss es eben noch ein drittes Resultat geben. Und das ereignet sich, abseits jeglichen Papierkriegs, auf typisch sizilianische Weise.

Dossier – das klingt nach einer reichlich trockenen und langweiligen Angelegenheit. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe das Buch in wenigen Stunden gelesen. Hilfreich dabei war sicherlich, dass all diese amtlichen Briefköpfe und Schlussformeln eine Menge unnötigen Platz auf den Seiten wegnehmen. So vergehen die 250 Seiten wie im Fluge.

|Vitalität|

Doch auch die Handlung, von der ich oben nur die wichtigsten Aspekte skizziert habe, trägt wesentlich zur Unterhaltung des Lesers bei. Man befindet sich im Jahr 1890, und die Menschen um diese Zeit sind noch unbeleckt von den Feinheiten kultivierter Zivilisation. Die Angehörigen der niederen Stände beispielsweise geben, im Unterschied zu den zwei höheren Klassen (Bürger/Beamte/Militär sowie Adel), ihren körperlichen Bedürfnissen ungeniert nach. Das betrifft, wie den Polizeiberichten zu entnehmen ist, nicht nur der Verrichtung der Notdurft an allen möglichen und unmöglichen Örtlichkeiten, sondern auch den Sex.

|Horrible Unzucht|

Die absolut köstlichste Episode hat damit zu tun. Die alte Fürstin, die im Palazzo lebt, vor und in dessen Erdgeschoss das Theater zeitweilig eingerichtet wurde, ist sehr fromm und daher sehr erbost über das gottlose Schauspielervolk in ihren Mauern. Doch weh!, als sie ihre eigene Kapelle aufsucht, um dem Herrn ihr Leid zu klagen, traut sie ihren Augen kaum: Vor ihr, mitten in der Kapelle, kopulieren zwei Schauspieler in schamloser Weise. Die arme Fürstin verliert stante pede die Besinnung, sinkt zu Boden und holt sich dabei eine Kopfverletzung. Der Aufruhr im Palazzo kennt keine Grenzen mehr. Doch welchen Vergehens, so fragt Commissario Bellavia seinen Chef scheinbar naiv, soll ich die beiden Übeltäter bezichtigen? Es war ja nicht gerade öffentliche Unzucht. Und erkannt wurden sie auch nicht.

Auch diese Episode hat der Autor nicht zum Selbstzweck aufgenommen, sondern sie spielt eine gewisse Rolle bei Patòs Verschwinden. Der religiöse Fanatiker, der dem Judas den Tod androhte, erleidet ebenfalls ein erotisches Schicksal: Er geht lieber zur Dorfdirne Agata als zum Morden. Ansonsten zeigt sich das Leben in Sizilien immer wieder von seiner lebensgefährlichen Seite. Schlägereien sind ebenso gang und gäbe wie der eine oder andere Mafiamord. Leidenschaft, die Leichen schafft.

|Zur Hölle mit ihm!|

Noch einen Tick krasser mutet hingegen die Erklärung an, die der strenge Fastenprediger Seminara der hinterbliebenen Gattin des Antonio Patò anbietet: Der Verschwundene sei geradenwegs zur Hölle gefahren, weil er es verdient habe – schließlich habe er ja das Verbrechen des Schauspielens begangen. Signora Patò bricht vor Entsetzen ohnmächtig zusammen. (Es gibt eine Menge Ohnmachten in diesem Roman.)

|Rationalität|

Dagegen heben sich die rationalen Überlegungen, die die Ermittler in ihren Tagesberichten ausbreiten, geradezu beruhigend ab. Nicht ganz so schlau und verwegen wie Sherlock Holmes, aber doch hartnäckig auch das Undenkbare einbeziehend, treiben sie die Ermittlung in eine Richtung voran, die den Vorgesetzten und insbesondere dem Senator überhaupt nicht behagt. „Finger weg von der Bank!“ heißt es immer wieder. Doch natürlich ist genau dort der Hund begraben. Angesichts der fortwährenden Schikanen sehen die Ermittler auch keinen Grund mehr, bei der Durchsuchung der Bank die erflehte Diskretion walten zu lassen: Alles geschieht am helllichten Tag, vor großem Publikum, unter aller Augen.

|Wahrheit vs. Politik|

Der Konflikt, der sich zwischen dem Streben nach Wahrheit und den Einmischungen der Politik anbahnt und schließlich karrieregefährdend zuspitzt, schält sich klar heraus. Der Autor bricht dabei eine Lanze für die beiden Ermittler – wie könnte es anders sein? Denn gerade Bellavia ähnelt seinem Commissario Montalbano in allen Grundzügen. Leider lässt es die Form des Dossiers nicht zu, dass individuelle Charakterzüge beschrieben werden (allenfalls durch Zeugenaussagen). Die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Carabinieri ist aber auch Modell für die Kooperation, die Montalbano in der Novelle „Das vierte Geheimnis“ (in „Die Rache des schönen Geschlechts“) pflegt. Bellavia ist es dann, dem der rettende Einfall kommt, wie sie ihren Hals aus der Schlinge ziehen können.

|Alles Roger!|

Spätestens auf Seite 200 weiß der Leser ziemlich genau, wie der Hase läuft, also was es mit Patòs Verschwinden auf sich hat und was sein Motiv war. Das tut aber dem Spaß an der Darlegung der Auflösung in den beiden Abschlussberichten keinen Abbruch. Dort ergeben sich noch einige nette Seitenaspekte. Insgesamt ist der Roman durchaus spannend, humorvoll (in Komik und Ironie), sinnlich und ziemlich flott zu lesen (s. o.).

_Unterm Strich_

Dieser „historische Kriminalroman“ beleuchtet zwei Aspekte: erstens die im Jahr 1890 bestehende sizilianische Gesellschaft, gerade mal 25 Jahre nach der Ausrufung des unabhängigen Königreichs Italien (und nur 35 Jahre vor Camilleris Geburt) – das ist schon recht interessant und erhellend; und zweitens das Innenleben der Polizeibürokratie, in die sowohl der Einfluss der Kirche (inklusive eines Wanderpredigers) als auch der Politiker in Rom hineinwirkt. Nicht zu vergessen die Mafia. Das kommt einem doch alles recht vertraut vor, erinnert in manchem an Szenen aus Coppolas „Pate“-Trilogie. Es kommt sogar jemand namens Corleone vor. Sizilien ist eben klein.

Wer die Form des Dossiers nicht scheut – sie unterscheidet sich nur unwesentlich vom vertrauten Briefroman des 18. Jahrhunderts (z.B. „Werther“) -, wird mit einem spannenden und mitunter sehr komischen Krimi belohnt, der sich vor Serienhelden wie Salvo Montalbano nicht zu verstecken braucht.