Lyon Sprague de Camp – Vorgriff auf die Vergangenheit. Zeitreise-Roman

Technik oder Zauber? Ein Amerikaner bei den Goten

Den amerikanischen Archäologen Martin Padway verschlägt es an einer dünnen Stelle des Raumzeitkontinuums plötzlich ins Rom des Jahres 535 n. Chr. Was könnte er hier nicht alles ausrichten! Er könnte Orakel spielen und den Lauf der Geschichte ändern! Doch die Zeit hat ihre Tücken und eigenen Gesetze …

Der Autor

Lyon Sprague de Camp wurde 1907 in New York City geboren, studierte dort, lebte in verschiedenen Südstaaten und in Kalifornien, erwarb den akademischen Grad eines Bachelor of Science und machte 1933 seinen Master of Science. Neben seinen Gelegenheitsarbeiten als Dozent, Ingenieur, Patentanwalt, Werbetexter und Offizier der US Naval Reserve war er doch die meiste Zeit als freier Autor und Herausgeber tätig. Er verfasste mehr als achtzig Bücher, von denen die SF nur einen geringen Teil ausmacht. Am liebsten war mir immer „Mathemagie“, die fünf Harold-Shea-Romane, die de Camp zusammen mit Fletcher Pratt schrieb (1988, ISBN 3-453-02790-6).

Seine erste Story erschien 1937 in „Astounding Stories“. Seine besten Storys sind in der Kollektion „A gun for dinosaur“ gesammelt, die 1980 bei |Heyne| unter den Titeln „Ein Yankee bei Aristoteles“ und „Neu-Arkadien“ erschien. De Camp schrieb seinen Roman „Vorgriff auf die Vergangenheit“ bereits 1939, wobei er zunächst eine Kurzgeschichte im Magazin „Unknown“ veröffentlichte. Der komplette Roman erschien 1941 bei H. Holt & Co. und wurde 1949 von Galaxy Publishing sowie Philadelphia Prime Press nachgedruckt.

Schon bald schrieb de Camp Romane, auch in der Fantasy und in Zusammenarbeit mit Fletcher Pratt und P. Schuyler Miller. Sein herausragender SF-Roman ist „Vorgriff auf die Vergangenheit“ (Lest Darkness Fall, 1939), aber auch in der Fantasy und im Sachbuchbereich erhielt er mehrere Preise, und 1979 wurde ihm der |Nebula Award| für sein Lebenswerk, der „Grand Master Award“, verliehen. Er starb am 6. November 2000 und wurde auf dem Nationalfriedhof in Arlington, neben seiner Frau, beigesetzt.

Handlung

Manchmal kann eine Zeitreise ganz schnell erfolgen, ganz ohne Ticket und Vorbereitung. Als der amerikanische Archäologe Martin Padway im Jahr 1938 vor dem Pantheon in Rom steht, schlägt neben ihm ein Blitz ein, der eine Verschiebung des Raumzeitkontinuums bewirkt. Als Martin wieder etwas sehen kann, wirkt die Welt ein wenig verändert. Zum Beispiel hupen keine Taxis mehr, und die Luft riecht etwas besser. Die Häuser sehen etwas antiker aus, und die Leute auf dem Vorplatz tragen statt Jacke und Hose alle eine Tunika, manche zusätzlich eine Art Poncho. Findet hier ein Theaterspiel statt? Keineswegs. Wie Martin anhand einer in Latein und Italienisch formulierten Frage herausfindet, befindet er sich im Jahr 1288 ab urbe condita, also nach Gründung der Stadt Rom, die im Jahr 753 v. Chr. stattfand. Ups, er ist im Jahr 535 gelandet!

Als Archäologe weiß Martin über diese Epoche gut Bescheid. Es ist eine der schlimmsten Zeiten für Italien, der Anbruch des finsteren Mittelalters. Denn nachdem die Germanen und Goten (= Ostrogothen/Ostgoten) Rom erobert hatten, spaltete sich Ostrom ab, das seinen Sitz in Kontantinopel hatte. Dort herrscht nun der strenge Kaiser Justinian. In West-Rom regiert nur ein Statthalter des gotischen Königs Thiudahad, der seine Hauptstadt ins neblige Ravenna verlegt hat. (Dort liegt auch König Theoderich begraben.)

Das Dumme ist nun, dass Justinian die beiden Reichshälften wieder vereinen möchte und deshalb bereits eine Flotte ausgeschickt hat, um das Königreich der Vandalen in Tunis zu erobern. Von dort wird sein Feldherr Belisarius Sizilien, Kalabrien und Neapel erobern. Aber hat ihm Thiudahad irgendetwas entgegenzusetzen? Nein, der Gotenkönig hat gerade seine Mitregentin Amalasuntha ermorden lassen. Die war wesentlich fähiger als Regentin als der Poet, der sich gerne als Wissenschaftler in die Geschichtsbücher einschreiben möchte. Justinian sieht nun seine Chance und setzt Flotte und Heer in Marsch.

Martin beschließt, den drohenden Krieg, der zwanzig Jahre dauern und Italien verwüsten wird, zu verhindern. Dazu fängt er erstmal ganz klein mit einem Geldwechsel und einem Kredit an. Der Bankier und Möchtegernwucherer Thomasus der Syrer lässt sich jedoch von Martin überreden, nachdem ihm dieser die doppelte Buchführung mit arabischen Zahlen beigebracht hat, die das Abrechnen um ein Vielfaches beschleunigt und obendrein Unterschlagungen sofort aufdeckt. Mit dem Kredit richtet Martin eine Brantweindestille ein: So etwas ist neu im alten Rom und findet rasch Anklang.

Die Gründung einer Zeitung und die Einrichtung einer Semaphoren-Telegrafenlinie sind da schon folgenreicher: Das ist politisch. Er wird verhaftet – wegen Zauberei. Doch nachdem er sich mit dem Statthalter auf einen Aktienanteil an seiner Firma geeinigt hat (an der er die Mehrheit hält), wird er noch einmal verhaftet, denn diesmal hat der König etwas gegen ihn. Thiudahad mag es nicht, wenn die Nachricht vom Verrat seines Kommandeurs in Neapel nach nur wenigen Stunden schon in ganz Italien bekannt wird. So etwas könnte das Ansehen der Armee untergraben. Außerdem hat sich Martin den Sohn des Königs, Thiudegiskel, zum Feind gemacht, als er diesem nicht sein neues Teleskop überlassen wollte. Auch diesmal erreicht Martin eine Einigung, allerdings um einen Preis.

Doch die Invasion Justinians hat politische Folgen. Der General Wittiges setzt Thiudahad ab und erhebt sich selbst zum König. Martin beschließt im Gefangenenlager, Thiudahads Leben zu retten, denn er weiß, dass Wittiges einen Mörder auf ihn angesetzt hat. Er hofft, mit Thiudahads Rückendeckung den Untergang Italiens und den Anbruch des finsteren Zeitalters zu verhindern. Doch erst einmal muss er ausbrechen, und das gelingt ihm mit Hilfe seiner Freunde und einer genialen List …

Mein Eindruck

Was könnte man doch alles anstellen, wenn man als Mensch des 20. Jahrhunderts ins 6. Jahrhundert zurückversetzt werden würde! Was könnte man nicht alles vorhersagen und dabei großen Reibach machen. Doch Martin sieht statt eines großen Gewinns vielmehr viel Unheil auf die Zeit zukommen, in die ihn das Schicksal verschlagen hat. Und als Archäologe hat er ein vitales Interesse daran, dass die Altertümer, die seine Kollegen in 1400 Jahren ausgraben werden, möglichst gut erhalten sind.

Kampf gegen die Finsternis

Doch muss es künftig überhaupt nur Trümmer auszugraben geben? Martins Idealismus reicht so weit, dass er auch die Menschen selbst vor dem Unheil, das auf sie zukommt, bewahren will. Doch er muss einsehen, dass es nicht reicht, eine Destille zu errichten, ein Teleskop zu bauen und eine Zeitung herauszugeben. Binnen eines Jahres wird er zum großen Schicksalslenker auf höchster politischer und militärischer Ebene. Die Kompromisse, die er eingeht, und die Attentate, die er verhindern muss, sind Legion. Doch er hat Erfolg, und wenn alles gutgeht, segelt seine Flotte bald hinter die „Säulen des Herkules“ (Gibraltar) gen Westen, um jenes sagenhafte Land America zu entdecken. Denn Martinus Paduei, der Quästor des Königs, sehnt sich sehr nach einem Pfeifchen Tabak.

Technik allein reicht nicht

Ein Amerikaner des 20. Jahrhunderts mag zwar mit seinem Pragmatismus und seinem überlegenen technischen Wissen weit kommen, so erkennen wir, doch wenn man wegen Zauberei verhaftet und ins Loch gesteckt wird, nützt einem das herzlich wenig. Was Martin als wichtigste Fähigkeit entwickeln muss, sind diplomatisches Geschick und eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit, die auch vor der Anwendung von milder Erpressung nicht zurückschreckt, so etwa bei einem Bischof, der zwei Konkubinen hat. Die Macht eines Zeitungsherausgebers, so erkennt Martinus, ist beträchtlich, aber leider nicht genug, um es mit dem König aufzunehmen. Will er im Strom der Hindernisse nicht untergehen, die man ihm auf seiner Rettungsmission in den Weg legt, so muss er auf immer höherer Ebene schwimmen.

Liebe

Die Lektüre ist äußerst kurzweilig, denn von einer Überraschung fällt Martin in die Arme der nächsten. Auch die Liebe kommt nicht zu kurz, doch was er in den Armen der fetten Hilfsköchin Julia erlebt, ist nicht dazu angetan, ihn an sie zu binden: Sie hat Läuse! Er wirft sie hinaus, doch sie revanchiert sich mit einem Hexenzauber. Ist er jetzt verflucht? Sein gotischer Leibwächter lässt sich nur durch eine Lohnerhöhung zum Bleiben bewegen.

Goten!

Überhaupt, die Goten! Schon in dem legendären Asterix-Band kommen sie nicht besonders gut weg, werden aber von den Franzosen mit den Germanen verwechselt. Die Goten kamen ursprünglich aus Südschweden: Gotland heißt bis heute eine Insel. Sie spalteten sich während der Völkerwanderung des 5. Jahrhunderts in West- und Ostgoten sowie Burgunder auf. Anders als die Ackerbauern der Franken waren sie nicht sesshaft und hatten eine völlig andere Befehlshierarchie. Das muss auch Martin zu seinem Leidwesen feststellen. Goten neigen durchaus gerne dazu, Befehle ihrer Offiziere zu ignorieren und sich lieber ins Schlachtgetümmel zu werfen, um noch etwas von der Beute abzukriegen. Hin und wieder möchte sich Martin durchaus gerne sonstwohin beißen, wenn er mit ansehen muss, wie sich die Gefangenen selbst bewachen müssen, weil ihre Bewacher gerade mit Plündern beschäftigt sind.

Es ist Wahlkampf, Mann!

Natürlich bleibt es nicht aus, dass Martin auch amerikanische Sitten und Institutionen einführt. Das fängt bei der Hygiene an (siehe die Julia-Episode) und hört mit dem Wahlkampf für den neuen König nicht auf. Dieser Wahlkampf verläuft nach amerikanischem Vorbild, mit kostenlosen Partys für das Wahlvolk, auf denen natürlich Kundgebungen der Kandidaten stattfinden. Zu seinem Entsetzen erfährt Martin, dass es einen neuen Gegenkandidaten zu seinem Favoriten Urias gibt: der Königssohn Thiudegiskel. Und dieser Mann vermag es tatsächlich, mit seiner Rhetorik seinen Widersacher in den Dreck zu ziehen und lächerlich zu machen. Alles ist erlaubt, solange nur das Wahlvolk über den Gegner lacht.

Na, warte, denkt sich Martin, und denkt sich eine List aus. Er schickt das Kind eines Negersklaven auf die Rednerbühne und lässt den Jungen „Atta!“ zu dem Kandidaten sagen. Thiudegiskel kommt völlig aus dem Konzept, denn dass ihn ein dunkelhäutiges Kind „Vater“ nennt, bringt ihn sehr in Verlegenheit. Was wird nun aus seiner weißen Westen? Der Pöbel lacht ihn aus, und als er fast sein Schwert gegen das Kind zieht, hat er endgültig verspielt.

Der komische Vorfall sollte dem Leser aber zu denken geben. Der Roman erschien im Jahr 1949, als in den USA noch die strikte Rassentrennung herrschte. Könnte es sein, dass sich der Autor hier des Rassismus schuldig macht?

Finale

Für recht bodenständigen Humor und Realpolitik ist also zur Genüge gesorgt. Und alles gipfelt in der grandiosen Schlacht in der Nähe des Dorfs Benevento, wo um ein Haar die politischen Ambitionen des Martinus Paduei zuschanden werden. Die Rettung kommt erst in letzter Sekunde, und bis er dies erkennt, vergehen einige absurd komische Momente.

Ab und zu erfahren wir auch etwas über die politisch-kulturellen Hintergründe der Zeitläufe, wie ich sie oben kurz skizziert habe. Aber ob diese Kürze auf das Original oder auf die deutsche Ausgabe zurückzuführen ist, kann ich leider nicht beurteilen, weil mir das Original nicht vorliegt.

Die deutsche Ausgabe

Ich weiß gar nicht mehr, ob ich meine zerknickte Ausgabe aus dem Altpapiercontainer gefischt oder auf dem Flohmarkt erstanden haben. Macht nichts: Es ist ist noch alles zu lesen. Doch an der deutschen Übersetzung, die Heinz Nagel anfertigte, kommt mir einiges spanisch vor. So etwa wechselt die Szene häufig mitten in einem der Abschnitte, aus denen die Kapitel aufgebaut sind. Diese Zusammenziehung kann den Leser, der nicht aufpasst, durchaus verwirren.

Sie ist ein Indiz dafür, dass der Text auf eine bestimmte Seitenzahl zurechtgestutzt wurde, denn sonst wäre das Streichen einer Leerzeile hie und da ja nicht nötig gewesen. Ich hege den Verdacht, dass auch an anderen Textstellen gespart wurde, und das könnte erklären, warum es so wenige Szenen über den Hintergrund der gotisch-italienischen Kultur in dieser Ausgabe gibt. Das Taschenbuch lässt sich zwar sehr flott in wenigen Stunden lesen, weil es fast nur aus Dialog besteht, aber das ist eigentlich bedenklich. Wo ist der Rest abgeblieben?

Unterm Strich

Der Originaltitel „Lest darkness fall“ bedeutet so viel wie „Damit nicht die Dunkelheit hereinbreche“. Damit ist die religiöse Finsternis des Zeitalters des fanatischen Glaubens gemeint, das Mittelalter. Die Welt des humanistischen Altertums ging im 6. Jahrhundert in zwanzig Jahren Krieg, der Italien verwüstete, unter. Dass dies zu verhindern wäre, erkennt der Zeitreisende Martin Padway als Einziger, doch bis er sein Ziel erreicht, muss er all seine Findigkeit und sogar sein Leben einsetzen. Das erinnert mich an den humorvollen Zeitreiseroman „Ein Yankee am Hofe König Arthurs“ von Mark Twain.

Nicht nur dieser Plot macht „Vorgriff auf die Vergangenheit“ zu einem der besten Alternativgeschichtsromane der SF-Literatur, es ist auch die einfallsreiche und bodenständige Handlung, die der Autor dafür ersonnen hat. Lyon Sprague de Camp, geboren 1907, war Dozent für Wissenschaft sowie Ingenieur. Er verstand etwas von Technik wie auch von Politik und als Werbetexter auch etwas von Massenpsychologie. Von alledem hat er etwas in seinen besten SF-Roman einfließen lassen. Hinzukam eine gehörige Portion Quellenstudium über das 6. Jahrhundert, so etwa bei Prokop von Cäsaräa und Cassidorus. Erst dadurch wird seine Zeitreisegeschichte einigermaßen glaubhaft.

Ich habe den dünnen Roman in nur wenigen Stunden verschlungen und amüsierte mich dabei bestens. Allerdings stieß ich immer wieder auf Zusammenziehungen im Text, die den Verdacht nahe legen, dass hier massiv gekürzt wurde. Sämtliche Schnörkel, die Autoren sonst für den Hintergrund eines Romans erfinden, fehlen, und die Geschichte des 6. Jahrhundert wird in nur wenigen Absätzen abgehandelt.

Daher wäre es eine verdienstvolle Aufgabe, wenn sich ein deutscher Verlag bereit fände, diesen flotten SF-Roman neu zu übersetzen und alle Stellen wieder einzufügen, die 1972 gestrichen wurden. Ich könnte mir dies bei |Edition Phantasia| sehr gut vorstellen.

Hinweis

Es gibt von S. M. Stirling eine Kurzgeschichte namens „Die Apotheose des Martin Padway“, die eine Fortsetzung zu diesem Roman bildet. Die Kurzgeschichte erschien in Harry Turtledoves Ehrungs-Anthologie „The Enchanter Completed“ (2005). Die Erzählung liefert wertvolle Einblicke in die Möglichkeiten, wie sich die Realität, die Padway veränderte, während seines Alters und ein paar hundert Jahre später hätte entwickeln können. Harry Turtledove, der Herausgeber der Anthologie, ist inzwischen selbst einer der wichtigsten Autoren für Alternativweltgeschichten. Angeblich ließ er sich von „Vorgriff auf die Vergangenheit“ dazu inspirieren.

Taschenbuch: 138 Seiten
Originaltitel: Lest darkness fall, 1941
Aus dem US-Englischen von Heinz Nagel
ISBN-13: 9783548310466