Michael Capuzzo – Der Hai

1916 attackiert und tötet ein Hai an der US-Ostküste mehrere Menschen. Eine landesweite Hysterie bricht aus, denn die Natur meint man längst im Griff zu haben; ein Irrtum, dessen kollektive Wirkung die realen Ereignisse weit übertrifft … – Was zunächst übertrieben klingt, weiß Autor Capuzzo, ein Journalist, ebenso faktenkundig wie spannend zu begründen. Das Ergebnis ist ein Sachbuch mit Romanqualitäten und überaus lesenswert.

Ein Fisch als Wurm im globalen Apfel

Ein einsamer Schwimmer hat sich mutig weiter hinaus auf das Meer gewagt als jeder andere Besucher des Strandes. Erschöpft aber stolz malt er sich auf dem Rückweg aus, wie man feiern wird. Kaum anderthalb Meter tief ist das Wasser noch: Was könnte da noch schiefgehen an diesem schönen Sommertag des Jahres 1916? Aus den Wogen schnellt ein Hai auf den Schwimmer zu und reißt ihn in Stücke.

Diese Geschichte kommt uns bekannt vor. Nur das Datum irritiert, denn der Weiße Hai, den wir kennen & lieben hat erst Jahrzehnte später zugeschlagen – erst im Buchladen, wo Peter Benchley uns den nächsten Badeurlaub vermieste, und dann im Kino, als Stephen Spielberg Bruce, den Gummi-Hai trotz offensichtlicher Konstruktionsmängel eindrucksvoll zuschnappen ließ. Wer hätte gedacht, dass die „Jaws“-Story nach einer wahren Begebenheit erzählt wurde? Wir werden praktisch jede Szene aus Buch oder Film in dem spannenden Sachbuch des Journalisten Michael Capuzzo wiederfinden.

Auch die Fassungslosigkeit basiert auf der Realität: In einer modernen Welt kann es doch nicht geschehen, dass ein simples Tier den Menschen, jetzt endgültig die Krone der Schöpfung, wie in der Steinzeit packt und frisst! Zu allem Überfluss geschieht das in den USA, deren Bürger 1916 sogar noch stärker von sich eingenommen sind als ihre rezenten Nachkommen. Dem Land ist binnen weniger Jahrzehnte ein beispielloser Sprung in die Moderne gelungen. Entstanden ist die erste Supermacht der Gegenwart – ein wirtschaftlicher und militärischer Koloss, der turmhoch über den anderen Ländern dieser Welt thront. Zwar tobt in Europa seit zwei Jahren ein heftiger Krieg, aber der findet weit entfernt statt, und Präsident Wilson hat versprochen, dass sich die USA dem Gemetzel fernhalten werden.

Wieso geschieht, was nicht geschehen dürfte?

Nichts scheint mehr unmöglich zu sein, alles ist zu erreichen, wenn man sich nur bemüht. Höher, weiter und vor allem schneller ist die Devise der Stunde. Wer jetzt auf Zack ist, schnappt sich nicht nur den Zipfel, sondern die ganze Wurst; wer zu spät kommt, den bestraft das Leben – und das ist nur gerecht so!

Niemand wird wagen, den USA zu trotzen, das ist die feste Überzeugung der Amerikaner. Wir können alles, wir wissen alles; das ist der Tenor, der besonders denen angenehm in den Ohren klingt, die an der Spitze der sozialen Pyramide stehen. Sie haben die Macht, sie haben das Geld, und sie lieben es, beides zur Schau zu stellen, denn sie haben ihr Schicksal in die Hand genommen, und nun dankt es ihnen diesen Einsatz.

Das Baden und Schwimmen im Meer ist 1916 mehr als ein Sport: Es ist eine Lebensauffassung und legt Zeugnis ab vom Willen der amerikanischen Jugend, sich jeder Herausforderung zu stellen und siegreich zu bleiben. Was kann ihnen im Wasser schon geschehen? Haie? Lächerlich! Hat nicht Dr. Frederic Augustus Lucas, Direktor des „American Museum of Natural History“ und eine von der Presse und der Laienwelt gleichermaßen geachtete und beliebte Koryphäe auf dem Gebiet der Meereskunde, immer wieder verkündet, dass Haie weder den Mumm noch die Kraft aufbringen können, einen Menschen anzugreifen oder gar zu töten? Also bersten die Seebäder und Strände der amerikanischen Ostküste schier vor unternehmungslustigen jungen Männern, die darauf brennen, sich auf dem Wasser hervorzutun – das Auge des stolzen aber kritischen Vaters, der zukünftigen Gattin oder des immer nach hoffnungsvollem Nachwuchs spähenden Großindustriellen und potenziellen Arbeitgebers ruht mit Wohlgefallen auf solchen Szenen.

Die bittere, bissige Wahrheit

Der berechtigte Stolz auf Geleistetes geht nicht selten einher mit Übermut, welcher direkt in die Katastrophe führen kann. In den Wassern der See gibt es wirklich Ungeheuer, und eines erteilt in diesem 1916 einer ganzen Nation eine bittere Lektion. Dabei ist der Weiße Hai, der im Juli an der Ostküste auftaucht, nicht einmal ein ausgewachsenes, sondern ein halbwüchsiges Tier: ein Halbstarken-Hai von gerade einmal drei Metern Länge. Das macht die Niederlage doppelt bitter, obwohl sich Amerika um solche Details zunächst nicht kümmert, als Charles Vansant, Sohn eines prominenten Arztes der Metropole Philadelphia, am 1. Juli 1916 ein Bein abgerissen wird und der junge Mann seinem machtlosen Vater noch am Strand unter den Händen stirbt.

Das Medienecho ist enorm; naturgemäß steigert es sich, als der Hai, nun auf den Geschmack gekommen, in den nächsten Wochen mehrfach an der Küste von New Jersey wieder zuschlägt. Er zeigt dabei eine Zielstrebigkeit, die in den entsetzten Zeugen die Überzeugung weckt: Dieses Ungeheuer hat es auf sie abgesehen! Die Gewissheit, zum Herrn der Welt aufgestiegen zu sein, wird ersetzt durch ein archaisches Grauen aus der Urzeit: Der Mensch war einst die Beute furchtbarer Jäger – und diese Situation kann auch im 20. Jahrhundert wiederkehren!

Wie die Geschichte vom Mörderhai 1916 ausging, sei an dieser Stelle verschwiegen, um dem Leser die Spannung nicht zu rauben. Nur eines sei versichert: Sie endet in einem ebenso bizarren wie spektakulären Finale, das so im Kino für ungläubiges Gelächter gesorgt hätte. Michael Capuzzo arbeitet schwer, den Spannungsbogen, den er über 300 Seiten mit spielerischer Meisterschaft aufgerichtet hat, zu einem sauberen Schlussknoten zu zwirbeln. Es gelingt ihm, obwohl die Elemente, aus denen sich die unerhörten Ereignisse zusammensetzen, dem Leser von Heute recht bekannt sein dürften. Aber dies ist die Realität – ein Bonus, der immer noch sticht.

Die Suche nach einer verdrängten Geschichte

Hinzu kommt Capuzzos Ehrgeiz, der ihn trieb, nicht nur eine halb vergessene Episode der Geschichte zu neuem Leben zu erwecken, sondern das Panorama einer ganzen Epoche zu rekonstruieren. Den bösen Hai erleben wir über weite Strecken nur in Lauerstellung, was dem Verfasser die Gelegenheit bietet, seinem Publikum nahezubringen, was die Wissenschaft heute über dieses seltsame Tier weiß; es ist nicht grundsätzlich mehr als 1916.

Ansonsten schweift Capuzzo als imaginärer Chronist meist über Land. Wir dringen mit ihm in eine untergegangene Welt vor, die nicht einmal ein Jahrhundert zurückliegt. Sie war alles andere als primitiv und prunkte u. A. mit technischen Meisterleistungen, die auch aus heutiger Sicht noch für Staunen und Bewunderung sorgen. Die Bilder der „Titanic“ vor ihrer verhängnisvollen Jungfernfahrt legen Zeugnis ab von der schwelgerischen Pracht einer Epoche, die fest davon überzeugt war, es werde stetig aufwärts gehen. Dieses ungebrochene Selbstbewusstsein weiß Capuzzo seinem Publikum begreiflich zu machen. Eben weil es so unerschütterlich war und gleichzeitig auf tönernen Füßen stand, reichte ein Fisch aus, es zum Einsturz zu bringen.

Zwei Jahre hat Capuzzo für „Der Hai“ recherchiert. Das glaubt man ihm auch ohne die eindrucksvolle Literaturliste im Anhang. Noch der kleinste Nebensatz quillt förmlich über vor Informationen. Damals hielt sich der Erkenntnisprozess in Grenzen. Schon immer lernen primär jene Unglücksraben aus der Not, für die es nicht selten zu spät ist. Wer nicht persönlich betroffen ist, verdrängt dunkle Kunde lieber; mal schneller, mal langsamer, aber letztlich so erfolgreich, dass es bis heute immer eine Überraschung und Sensation darstellt, wenn wieder ein Hai einen Schwimmer fängt.

Anmerkung

Für das US-Fernsehen verfilmte Richard Bedser Capuzzos Buch 2009 unter dem Titel „Blood in the Water“. Er hatte bereits zwei Jahre zuvor den thematisch ähnlichen Film „Ocean of Fear“ in Szene gesetzt, die den Untergang der Ende Juli 1945 von japanischen Torpedos versenkten „USS Indianapolis“ beschrieb und jene Mischung aus Fakten und (sparsam budgetierten) Spielszenen bot, die heutzutage dreist als „Dokumentation“ versendet werden.

Taschenbuch: 351 Seiten
Originaltitel: Close to Shore – A True Story of Terror in an Age of Innocence (New York : Broadway Books 2001)
Übersetzung: Yvonne Badal

http://www.randomhouse.de/heyne

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