Orson Scott Card – Der Ruf der Erde (Homecoming 2)

Angriff auf die heilige Stadt

Dies ist der zweite Band von O. S. Cards fünfbändiger „Homecoming“-Saga, die mit dem Band [„Die verlorene Erde“ 1688 begann. Nun müssen die auserwählten Männer von Basilika noch Gefährtinnen für die lange Reise zur Erde suchen. Und das Schicksal ihrer Stadt Basilika erfüllt sich.

Der Autor

Orson Scott Card wurde 1951 in Richland, Washington, geboren. Er erlangte einen legendären Ruf im Science-Fiction-Genre, als er mit den ersten beiden Bänden der ENDER-Serie zweimal hintereinander den Hugo- und den Nebula-Award gewann.

Er hat bislang über 60 Romane geschrieben, etliche Kurzgeschichten, ein Dutzend Theaterstücke, ein Musical, hunderte von Hörspielen und mehrere Drehbücher für Videospiele. Sein umfangreiches Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, er selbst kommt des öfteren zu Conventions in Europa. Und er hat, wie man hört, es geschafft, dass Andreas Eschbachs Roman „Die Haarteppichknüpfer“ im April 2005 in den USA erscheint – im Hardcover.

Er ist Vater von sechs Kindern , von denen eines an Zerebralparese starb. Heute lebt er mit seiner Frau Kristine und seiner jüngsten Tochter in Greensboro, North Carolina. Zwischenzeitlich stand er der „Kirche der Heiligen der letzten Tage“ (vulgo: Mormonen) nahe, hat sich aber inzwischen von ihr abgewandt. Aber es erklärt, warum er sich mit allen, selbst den obskursten Büchern der Bibel (Neues und Altes Testament sowie die Apokryphen) hervorragend auskennt.

Handlung

Nafais Brüder und sein Vater, die nun im Exil in der Wüste campen, sind im Besitz des Index und erfahren, dass sie weiterziehen sollen. Doch zuvor haben sie noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen: Sie müssen sich Frauen besorgen, am besten ihre Schwestern und Nichten und vielleicht noch ein oder zwei Seherinnen. Schließlich kann man ein Generationenraumschiff schlecht nur mit einem Geschlecht bemannen, oder?

Doch die Dinge stehen nicht günstig in ihrer Stadt Basilika, denn es wurden zwar die zwei Anführer der verfeindeten Parteien der Stadt getötet (einer davon von Nafai), doch weiterhin versetzen Söldner die Frauen und Kinder in Angst und Schrecken. Zu allem Überfluss hat Nafais Mutter einen Fehler begangen: Sie schickte den Wachsoldaten, der Nafai durchs Tor aus der Stadt ließ, zum falschen Nachbarvolk, zu den Gorajni.

Nun sind die Gorajni zufällig gerade dabei, eifrig ein Imperium aufzubauen. Der Imperator betrachtet sich als keinen Geringeren als den von Gott Gesandten. Und sein General, zu dem der Wachsoldat flieht, ist sein bester Feldherr. Muuzh, so heißt dieser verschlagene Bursche, kann zwar insgeheim den großkotzigen Imperator nicht ausstehen, weil dieser Muuzhs Volk unterworfen hat. Doch hindert dieser Umstand Muuzh nicht daran, sofort die günstige Gelegenheit zu ergreifen, das verängstigte und gespaltene Basilika mit tausend Soldaten anzugreifen.

So hofft er sich in eine strategisch günstige Position zu bringen, um das wichtigste Nachbarvolk in Schach zu halten und schließlich erobern zu können. Nach dieser Eroberung könnte er weitere Truppen um sich sammeln und so schließlich den Imperator in Bedrängnis bringen. Gegen die Stadt Basilika hat Muuzh also im Grunde gar nichts. Im Gegenteil: Nachdem er die einflussreiche Herrin Rasa, Nafais Mutter, in der Stadt durch Diffamierung isoliert hat, macht er sich daran, die Bürgerehre Basilikas zu erwerben. Dies geht am besten, indem er eine der angesehensten Frauen nach Rasa ehelicht: die „Wasserseherin“ Luet oder die „Entwirrerin“ Huschidh.

Als Nafai den General besucht, eröffnet er ihm, dass Nafai selbst bereits Luet geheiratet habe. Und dass zweitens die Überseele den General nach Basilika geführt habe. Muuzh staunt nicht schlecht und streitet alles ab: Er habe stets gegen Gott gehandelt, so sehr dieser ihn auch mit Vergessen und Dummheit schlagen wollte. Genau das, so entgegnet Nafai, war die Strategie der Überseele: Sie musste Muuzh nur etwas verbieten und sofort tat er es, einfach um ihr zu trotzen!

Nun bleibt Muuzh als letzte Chance noch Huschidh, um sich mit Basilika zu vereinigen. Die 16-jährige Seherin willigt ein, doch als es zur Eheschließung kommen soll, tritt eine unvorhergesehene Person auf. Muuzh könne ja schlecht seine eigene Tochter heiraten …

Mein Eindruck

Dieser zweite Band des Heimkehr-Zyklus befasst sich hauptsächlich mit den Beziehungen zwischen den Mitgliedern des bedeutendsten Clans der Stadt, den Auserwählten aus Rasas Sippe. Sie müssen sich zusammenraufen, Gefährtinnen finden und mit diesen den Exodus wagen. Allerdings spielt hier Nafai, der in Band 1 im Mittelpunkt stand, nur eine untergeordnete Rolle. Das ist etwas unbefriedigend. Zudem wird enthüllt, dass diese Auserwählten Produkte eines jahrtausendelangen Zuchtprogramms der Überseele sind.

Die zweite Haupthandlung entspinnt sich natürlich um den General Muuzh, denn er befreit die Stadt zunächst, um ihr dann ein anderes Schicksal aufzuzwingen. Allerdings hat er dabei ein klein wenig seine eigene Vergangenheit außer Acht gelassen. Auch er ist ein Teil jenes Zuchtprogramms.

Ein drittes, völlig neues Element sind Botschaften vom Hüter der Erde. Muuzh ist überrascht, dass nicht nur er diesen Traum hat, sondern auch Luet und Huschidh. In diesen Träumen – sie entsprechen dem „Ruf der Erde“ aus dem Titel – erscheinen Menschen, die von behaarten Engeln mit Lederflügeln angegriffen werden. Die zu Fall gebrachten Menschen werden von übergroßen Rattenwesen attackiert. Muuzh interpretiert den Menschen als den Imperator, doch die Seherinnen wissen’s besser: Der Hüter der Erde erzählt vom Notstand auf der Erde, wo alle drei Rassen miteinander im Widerstreit liegen.

Unterm Strich

Auch in Band 2 der Homecoming-Saga verknüpft Card geschickt die Schicksale der Auserwählten inklusive Muuzh miteinander, so dass ihnen nichts anders übrig bleibt, als den Willen der Überseele zu erfüllen. Und um es weiter spannend bleiben zu lassen, tritt ein neues rätselhaftes Element auf: der „Ruf der Erde“. Um wen oder was handelt es sich bei diesem mysteriösen „Hüter der Erde“? Wo sind die Raumschiffe auf Harmonie, wie bedient man sie, wie findet man die Erde und wie überstehen die Auserwählten die lange Reise über tausend Lichtjahre hinweg? Diese Fragen sind gute Gründe, die nächsten Bände zu lesen.

Glaubensfragen

Den Leser beschleicht immer ein ungutes Gefühl, wenn eine höhere Macht so mir nichts, dir nichts über das Schicksal von Personen verfügt (siehe das Alte Testament). Den Figuren in diesem Buch ergeht es nicht anders. Ganz besonders den Leuten, die Nafai, der absolut von der Überseele erfüllt ist, davon zu überzeugen sucht, dass sie deren Willen ebenfalls erfüllen müssten. Da ist Luet, seine Braut, die um ihrer Selbst willen geliebt werden will und nicht aus Gründen einer höheren Art von „Staatsräson“; und da ist General Muuzh, der noch viel schwerer von der „Wahrheit“ zu überzeugen ist, denn er hat zeit seines Lebens den Willen Gottes geleugnet.

In diesem Gespräch wird Nafais Glaube auf eine harte Probe gestellt. Und es sagt viel über Cards eigene Glaubensauffassung aus, wie Nafai seinen Glauben verteidigt: Der Glaube erkläre alle von der Überseele erzeugten Phänomene so überzeugend, dass es besser ist, nach diesem Glauben ein erfülltes und bedeutungsvolles Leben zu führen statt ein Leben, dessen Bedeutung nur von einem General und dessen Plänen gestiftet wird. Dagegen ist nichts zu einwenden, doch andererseits kann Nafai nicht von der Hand weisen, dass auch die Argumente des Generals gegen die Existenz einer Überseele Glauben verdienen. Doch er, Nafai, wähle den Glauben an die Überseele. Es ist eine freie Willensentscheidung. Er beugt sein Haupt nicht vor einem eifersüchtigen Gott Jahwe, sondern er glaubt aus Gründen, die direkt mit seinem eigenen Leben zu tun haben.

Religion und Science Fiction?!

Religion und Science Fiction also? Ein unheilige Allianz? Keineswegs. Denn auch in so hochgelobten „Kultromanen“ wie „Der Wüstenplanet“ von Frank Herbert gehen Religion (Muad’dib als der verheißene Messias), Ökologie und politische Herrschaft eine Allianz ein, wie immer man sie auch bewerten mag. Und es gibt noch zahlreiche weitere Beispiele, beispielsweise Mary Doria Russells zwei Jesuitenromane „Sperling“ und „Gottes Kinder“.

Wer sich mit diesem Themenkreis nicht befassen möchte, blendet wichtige Fragen wie etwa moralische Prinzipien und Verantwortung, Glaubensvorstellungen von einer besseren Zukunft usw. aus. Wer dagegenhält, dass diese Dinge heute von den Politikern und den Wissenschaftlern geregelt würden, der hat bereits kapituliert: Denn beide Eliten haben bereits mehrfach ihren moralischen Bankrott unter Beweis gestellt.

Taschenbuch: 350 Seiten.
Originaltitel: The Call of Earth, 1993
Aus dem US-Englischen übertragen von Uwe Anton.
www.luebbe.de