Carol O‘Connell – Tödliche Geschenke

Als der vor Jahren verschollene jüngere Sohn knochenstückweise auf der Veranda des Elternhauses auftaucht, versucht sein Bruder die Lösung des makabren Rätsels und lüftet dabei gleich mehrere sorgfältig vertuschte Familien- und Ortsgeheimnisse … – Mit dem üblichen Sinn für das Absurde entwirft die Autorin ein klassisches Krimi-Rätsel, das nach vielversprechendem Auftakt zähflüssig wird und bis ins theatralische Finale bleibt: Jenseits ihrer „Mallory“-Serie liefert O‘Connell hier nur Durchschnitt ab.

Das geschieht:

Coventry ist eine Kleinstadt im Norden des US-Staat Kaliforniens, der dort nicht von Trockenheit geprägt ist. Dichter Wald umgibt deshalb den Ort, vor allem Touristen verlaufen sich oft. Die Städter sind stolz darauf, noch jeden Irrläufer gerettet zu haben. Nur einmal blieben sie erfolglos, als vor zwei Jahrzehnten ausgerechnet der jüngere Sohn des Richters Henry Hobbs spurlos verschwand.

Henry hat sich von diesem Schicksalsschlag niemals erholt. Seinen älteren Sohn Oren, der damals sogar unter Tatverdacht geraten war, hat er vorsichtshalber aus Coventry verbannt. Oren trat in die Armee ein und arbeitete dort lange als kriminalpolizeilicher Ermittler.

Nun kehrt er heim, weil Hannah Rice, die Haushälterin der Hobbs, die beide Söhne quasi als Ersatzmutter aufgezogen hat, Oren eine Nachricht schickte: Der Richter läge im Sterben, heißt es dort – eine bewusste Falschmeldung, denn tatsächlich soll Oren ein unheimliches Rätsel lösen: Seit Wochen legt ein Unbekannter Skelettknochen des verschollenen Joshua beim Haus des Richters ab. Henry sammelt sie in einem eigens angeschafften Sarg, statt Sheriff Cable Babitt zu informieren.

Oren bleibt in Coventry, denn er will endlich Gewissheit über das Schicksal des Bruders, für dessen Verschwinden er sich mitverantwortlich fühlt. Erwachsen und als Ermittler ausgebildet, beginnt er die in sich ruhende Gesellschaft der kleinen Stadt zu durchschauen. Die Honoratioren hüten ihre Geheimnisse, und Joshuas Ende scheint sie alle zu verbinden. Sheriff Babitt hat schon vor Jahrzehnten Beweismittel manipuliert, die u. a. auf Vater Henry als Täter hindeuteten. Allerdings ist der Sheriff selbst verdächtig. Anwalt Addison Winston und seine alkoholsüchtige Gattin wissen ebenfalls mehr, als sie preisgeben möchten. Überall rennt Oren gegen Mauern. Als diese zu bröckeln beginnen, wird es abermals mörderisch in Coventry …

Gute Nachbarn sind immer gefährlich

Eine kleine Stadt, bevölkert von freundlichen, hilfsbereiten, neugierigen Bürgern: Zumindest beim regelmäßigen Leser von Kriminalromanen beginnen bei dieser Konstellation die Alarmglocken zu schrillen. Solche Harmonie ist viel zu schön, um wahr zu sein. Bei näherer Betrachtung bleibt davon höchstens eine Pufferzone, die den vorgeblichen Idealzustand von der unerfreulichen Wahrheit des zwischenmenschlichen Alltagslebens trennt.

Denn der Nachbar weiß oft mehr, als ihm lieb ist oder ihm guttut. Da man Tür an Tür lebt oder leben muss und dieser Zustand Jahrzehnte währen kann, ist es durchaus ratsam, eine gewisse Taub- und Blindheit entwickeln, um Konfrontationen zu vermeiden, die über den Streit um schlecht gemähten Rasen hinausgehen: Wer will seinen Todfeind ausgerechnet auf dem Nachbargrundstück wissen?

Vom tolerierten zum verschuldeten Unrecht ist es oft nur ein kleiner Schritt. Carol O‘Connell schildert eine Gemeinschaft, die zu dem Schluss kam, dass selbst ein Mord kein Grund ist, ein tradiertes System zu hinterfragen, wenn dadurch liebgewonnene Privilegien in Gefahr geraten. Wer sich dem nicht fügen will, gerät in Lebensgefahr, denn auch oder gerade der in die Enge getriebene Ehrenmann – und natürlich sein weibliches Pendant – neigt zu Gewalt und Panik, wenn es gilt, dem Störenfried die Schnüffelnase zu stopfen.

Der lange Weg zur Wahrheit

„He was sent to Coventry“: Wenn man in England jemanden kaltstellen i. S. von abschieben möchte, schickt man ihn zumindest sprichwörtlich in diese wohl etwas abgelegene Stadt. So ist es auch Oren Hobbs ergangen, den man nicht nach, sondern aus Coventry fortgeschickt hat: Carol O’Connell liebt den Subtext ebenso wie abstruse Plot-Schlingen, mit denen sie eine konventionelle Story wie diese bereichert.

Kleine Orte mit großen Geheimnissen sind nicht gerade ein fruchtbares Feld für originelle Kriminalgeschichten. Wie so oft kommt es auf die Variation des Bekannten an. In diesem Punkt legt die Autorin insgesamt leider nicht so viel Geschick an den Tag wie in ihren „Mallory“-Romanen (und hier vor allem in den frühen). Auf einen furiosen Auftakt – ein Mann muss erleben, wie man seinen unter tragischen und verdächtigen Umständen verschollenen Bruder Knochen für Knochen ‚heimbringt‘ – folgt ein zunehmend zäher Mittelteil, der die lange vergebliche Suche nach der Wahrheit schildert.

O’Connell bringt zahlreiche verdächtige Gestalten in die Handlung ein, die einander umkreisen, belügen, manipulieren. Dies ist im Ansatz interessant, beginnt sich jedoch bald zu wiederholen. Der Plot an sich ist verwickelt genug und benötigt den eifrigen Einsatz des Zufalls, bis seine langen Schlingen sämtliche Figuren erfassen.

Im Reservat der Exzentriker

Schon dies fordert einen langmütigen Leser, dessen Geduld weiter strapaziert wird, wenn O’Connell ihre Geschichte mit episodischen Nebenhandlungen bestückt, die erneut viel versprechen und dann erst recht versanden, weil die Verfasserin hier tatsächlich nur auf die Rätsel- und Action-Tube drückt – und dies oft eher ungestüm und auf den Effekt bedacht als im Dienst der Story. Richter Hobbs drängt es in Schlaftrance zur Familiengruft; Haushälterin Hannah ist möglicherweise eine flüchtige Kriminelle; Oren hat seine vielversprechende Karriere aufgegeben und will den Grund nicht einmal dem Leser nennen: Faktisch gibt es keinen Sinn für solche und viele andere Einlagen.

Generell hat O’Connell keine Scheu vor Überraschungen und Übertreibungen. So haust in der Bibliothek von Coventry die verrückte Mutter des Hilfssheriffs, die sich seit Jahren nicht mehr wäscht und deren übelriechende Anwesenheit vor Ortsfremden kollektiv verschwiegen wird. Die dem Alkohol ergebene Gattin des Anwalts Winston haust wie Rapunzel in einem Turm und ist eine Ornithologin, die in ihren womöglich entlarvenden Tagebüchern alle erwähnten Personen als Vögel porträtiert und damit verschlüsselt. Oren, der heimgekehrte Sohn muss als Ermittler mit dem Problem kämpfen, selbst einer der Hauptverdächtigen im Fall seines Bruders zu sein. Eine kluge und taffe Polizeifrau aus der Stadt tarnt sich als freundliches Mütterchen.

Wiederum treibt es O‘Connell zu weit. Hinter den kultivierten und gehäuften Marotten und dem exzentrischen Auftreten stecken nur die üblichen Versatzstücke eines Krimis, der bei nüchterner Betrachtung weder ein originelles noch ein wenigstens interessantes Rätsel präsentiert, sondern nur handwerklich solide Hausmannskost bietet.

Geheimnis mit wenig interessanter Lösung

Hinzu kommt eine Figurenschar, die trotz detailfroh geschliffener Ecken und Kanten keine scharfen Profile entwickelt. Oren Hobbs ist keine Haupt-, sondern eher eine Leitfigur, die durch die Handlung führt, aber oft an andere Figuren übergibt. Was ihn umtreibt, bleibt unklar, sein Verhalten folgt zu stark dem O‘Connellschen Sinn für das sprunghaft Obskure. Hinzu kommt eine in diesem Sinne konzipierte Liebesgeschichte mit einer feuerhaarigen Schönfrau, die liebenswert bizarr sein soll und stattdessen peinlich witzlos ist.

Wie sie des Rätsels letztlich schnöde Lösung ansprechend verpacken sollte, wusste die Autorin offensichtlich ebenfalls nicht. Also spitzt sie die Ereignisse theatralisch zu und möchte ihnen auf diese Weise Tragik und Spannung förmlich einpeitschen. Wieder merkt der Leser die Absicht und ist verstimmt; u. a. ist es deutlich kontraproduktiv, dass ein Balkonsturz sich Minuten später wiederholt, weil zumindest Todesfall Nr. 2 gar nicht mehr dramatisch wirkt. Diesem ‚Höhepunkt‘ folgt – selbstverständlich – ein zweites Finale, das den eigentlichen Twist beinhaltet. Der funktioniert, bietet aber keine an Überraschungen reiche Offenbarung, sondern ebenfalls Krimi-Routine, bevor im Epilog noch diverse lose Enden vertäut werden.

Nicht nur viele Köche verderben den Brei; es genügt auch eine Köchin, die hochwertige Zutaten in einen Topf wirft, ohne ein Rezept zu haben, nach dem sie daraus eine schmackhafte Mahlzeit zubereiten kann. „Tödliche Geschenke“ – der deutsche Titel scheint übrigens einmal mehr per Zufallsgenerator entstanden zu sein – unterhält einigermaßen als eine Art „Twin Peaks light“, enttäuscht aber, wenn man weiß, was Carol O’Connell zu leisten vermag.

Autorin

Carol O‘Connell (geb. 1947) verdiente sich ihren Lebensunterhalt viele Jahre als zwar studierte aber weitgehend brotlose Künstlerin. Zwischen den seltenen Verkäufen eines Bildes las sie fremder Leute Texte Korrektur – und sie versuchte sich an einem Kriminalroman der etwas ungewöhnlichen Art.

1993 schickte O‘Connell das Manuskript von „Mallory‘s Oracle“ (dt. „Mallorys Orakel“/„Ein Ort zum Sterben“) an das Verlagshaus Hutchinson: nach England! Dies geschah, weil Hutchinson auch die von O‘Connell verehrte Thriller-Queen Ruth Rendell verlegte und möglicherweise freundlicher zu einer Anfängerin sein würde.

Vielleicht naiv gedacht, vielleicht aber auch ein kluger Schachzug (und vielleicht nur eine moderne Legende). Hutchinson erkannte jedenfalls die Qualitäten von „Mallory‘s Oracle“, erwarb die Weltrechte und verkaufte sie profitabel auf der Frankfurter Buchmesse. Als der Roman dann in die USA ging, musste der Verlag Putnam eine aus Sicht der Autorin angenehm hohe Geldsumme locker machen.

Seither schreibt O‘Connell verständlicherweise hauptberuflich; vor allem neue Mallory-Geschichten, aber auch ebenfalls erfolgreiche Romane außerhalb der Serie. Carol O‘Connell lebt und arbeitet in New York City.

Taschenbuch: 416 Seiten
Originaltitel: Bone by Bone (New York : G. P. Putnam‘s Sons 2008/London : Headline 2008)
Übersetzung: Renate Orth-Guttmann
www.randomhouse.de/btb

E-Book: 895 KB
ISBN-13: 978-3-641-08270-3
www.randomhouse.de/btb

Der Autor vergibt: (3.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)