_Jules Verne im Cyberspace_
Eine Kombination aus digitalem Cyberpunk, Zukunftsstory und einer Abenteuergeschichte wie aus dem 19. Jahrhundert – so verwirrend präsentiert sich Caleb Carrs Buch „Die Täuschung“. Doch keine Angst: Die Story ist einigermaßen spannend und ideenreich.
_Handlung_
|1) Der Beginn|
New York City im Jahr 2026: Dem berühmten Kriminalpsychologen Dr. Gideon Wolfe – der uns all dies in Afrika sitzend im Rückblick erzählt – wird eine manipulierte Disk zugespielt, die eine weltberühmte Video-Szene zeigt: den Mord an der amerikanischen Präsidentin.
Allerdings ist Wolfe verblüfft, dass hier nicht der allseits bekannte und schon verurteilte Täter aus Afghanistan zu sehen ist, sondern ein Chinese. Als Wolfe seinem besten Freund, einem Ex-Polizisten, die Disk zur Untersuchung anvertraut, wird dieser mit einer unbekannten Waffe erschossen: Von ihm sind nur noch winzige Teile übrig. Die Spur der Bluttat führt zu Eli Kuperman, einem inhaftierten Anthropologen, den Wolfe sofort aufsucht. Kuperman wurde dafür eingebuchtet, dass er in Florida an Ausgrabungsstätten herumgedoktert hatte, wie es hieß.
|2) Die Verschwörer|
Doch dieser Anthropologe hat offenbar mächtige Freunde: Er und Wolfe werden bei einem abenteuerlichen Überfall auf das Hochsicherheitsgefängnis befreit. Ein seltsames Fahrzeug nimmt die beiden auf, das zuerst auf den Meeresgrund taucht und sie dann in die Stratosphäre transportiert – eine Art „U-2000“ aus japanischen Science-Fiction-Filmen oder Mangas, das sich in jedem Medium bewegen kann. Natürlich ist bis obenhin vollgestopft mit Elektronik und hypermodernen Waffensystemen, die es mit Leichtigkeit mit der amerikanischen Luftwaffe aufnehmen können.
Die an Bord dieses Schiffes lebenden Menschen sind weitaus interessanter, denn ihnen wird sich Dr. Wolfe anschließen. Es sind sieben der besten Wissenschaftler der Welt, dazu ein waschechter General. Sie unterstehen der Führung des genmanipulierten Marc Tressalian und seiner ebenso behandelten Schwester Larissa. Die silberhaarigen Geschwister sind die Kinder des Hightech-Unternehmers Tressalian, der das satellitengestützte 4-Gigabyte-Internet entwickelte, besaß und in Betrieb nahm. Klar, dass die beiden, nachdem sie Vater und Mutter für das Verbrechen der Genmanipulation umgebracht haben, nun über ausgezeichnete Abhör- und Datenmanipulationsmöglichkeiten verfügen. – Wenn die beiden Kapitän Nemo sind, dann ist ihr Superschiff die „Nautilus“.
Denn das Internet ist nach mehreren Wirtschaftszusammenbrüchen zum beherrschenden Kommunikationsmedium geworden: eine digitale Sphäre, die die gesamte Nordhalbkugel in ihrem Klammergriff hält: Was hier geschieht, bestimmt die Sicht der Menschen auf die Wirklichkeit. Und wer nicht ans Netz angeschlossen ist, lebt im zurückgebliebenen Analog-Gürtel südlich davon. Analog: ein anderes Wort für Mittelalter und Barbarei.
Doch Marc Tressalian ist keineswegs ein gieriger Nutznießer seines Monopols. Vielmehr ist es ihm ein Herzensanliegen, seine Mission, die Menschen darüber aufzuklären, wie sehr sie vom Netz manipuliert, belogen und getäuscht werden. Seine Wissenschaftler haben beispielsweise die genannte Disk produziert, um die Medien hinters Licht zu führen. Dummerweise kann die Lüge, selbst einmal enthüllt, nicht mehr zurückgenommen werden: Die Medien und die Mächtigen dahinter würden sich blamieren. Und so kommt es, dass die USA Afghanistan bombardieren. (Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor?)
|3) Die Entgleisung|
„Der Pfad zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“, heißt es. Dr. Wolfe hat die Disk verloren und sie ist einem Mitarbeiter des Mossad, des israelischen Geheimdienstes, in die Hände gefallen. Wie man im Schiff anhand des Disk-Originals herausfindet, enthält sie zwei manipulierte Videos: eines von dem Attentat auf die US-Präsidentin, das andere zeigt Josef Stalin 1938 im deutschen Konzentrationslager Dachau!
Man kann sich leicht ausmalen, wie ein fanatischer Israeli, dessen Familie im Holocaust vernichtet wurde, angesichts eines lächelnden Stalin in Dachau fühlt. Leider hinken Tressalian und seine Leute stets einen Schritt hinter dem Agenten hinterher, so dass sie zwar herausbekommen, dass er Plutonium geraubt und eine französische Mini-Atombombe gekauft hat, aber sie können ihn nicht aufhalten. Selbst als sie ihn in Malaysia aufstöbern, entkommt er mit einem Stealth-Bomber. Können sie ihn aufhalten, bevor er die Welt in einen Krieg stürzt?
_Mein Eindruck_
Der Autor von historischen Thrillern wie „Engel der Finsternis“ und „Die Einkreisung“ hat sich diesmal auf das Terrain der Science-Fiction gewagt, um einen klassischen Agententhrillern zu erzählen. Der Verlag will uns zwar weismachen, dies sei so etwas wie „The Matrix“ oder „Das Netz“, aber wie ich oben schon andeute, kommt sich der Leser angesichts dieser Räuberpistole vor wie in einem Roman von Jules Verne oder in einem japanischen Manga. Des Öfteren traten Momente von Moorcock’scher Geschichtsklitterung auf, und Superagent Jerry Cornelius (= Tressalian/Wolfe) mittendrin.
Die Coolness von „Matrix“ fehlt völlig. Vielmehr befleißigt sich der Autor der humanistischen Mitgefühlsmoral des 19. Jahrhunderts (die nicht die schlechteste ist). Und hier sind wir wieder bei Onkel Jules und Sherlock. Der einzige moderne Faktor sind die digitalen Daten, moderne Waffen – wohingegen uns die alten korrupten Politsysteme und selbsternannten Kriegsherren nerven.
Natürlich ist Tressalians Effekt von Täuschung, Entlarvung und Belehrung des Menschengeschlechts zum Scheitern verurteilt. Und angesichts dessen, wozu dies führt, steigt Dr. Wolfe auch aus. Doch uns hilft Zynismus nicht: Er ist nur das Eingeständnis der Niederlage, dass wir die Welt nicht verbessern können, selbst wenn wir es mit den mächtigsten Mitteln bewerkstelligen könnten.
Der Originaltitel „Killing Time“ bezieht sich auf die Geheimwaffe, die Tressalian als Trumpf in der Hinterhand hat. Und hier lässt wiederum H. G. Wells grüßen – damit hätten wir die drei besten Schreiber von Abenteuergeschichten des ausgehenden 19. Jahrhunderts beisammen: Arthur Conan Doyle (Sherlock Holmes), Jules Verne (Kapitän Nemo) und Wells. Und so kommt es, dass uns die Pointe, die uns eigentlich überraschen sollte, in all unseren Erwartungen bestätigt.
_Fazit_
Spannend erzählt, doch zuweilen schrecklich vorhersehbar. Stellenweise gute Actionszenen wechseln sich mit langen Dialogen über Ethik und Moral ab. Die Protagonisten, allen voran die schrecklichen Zwillinge, sind gut ausgedacht und skizziert, besonders in der Liebesbeziehung Dr. Wolfes zu Larissa. Dennoch gehorcht der Roman den Gesetzen seines Genres: Abenteuer zuerst, dann die Philosophie und Psychologie. Immerhin kommt der ironische Humor nicht zu kurz, so dass sich der Roman selbst nicht allzu ernst nimmt. Wer aber die Cornelius- und Zeitnomaden-Romane Michael Moorcocks kennt, wird auch davon schon Besseres gelesen haben.
|Originaltitel: Killing Time, 2000
Aus dem US-Englischen übertragen von Peter Robert|