John Dickson Carr – Der blinde Barbier

Eine Freundesgruppe gerät während einer Atlantik-Überfahrt in ein mysteriöses Komplott, das mit dem Diebstahl eines peinlichen Schmalfilms beginnt, sich zum Schmuckdiebstahl steigert und mit Mord endet … – Der dritte Band der berühmten Gideon-Fell-Serie wirkt über weite Strecken wie eine zeitgenössische Screwball-Komödie und verzichtet auf die Anwesenheit des Detektivs, der erst im Finale auftritt und souverän 16 lose Fäden zum Fall-Knoten schürzt: als Kriminalroman ein nur bedingt gelungenes Experiment.

Das geschieht:

Vom Hafen Southampton eilt Henry Morgan, der bekannte Kriminalschriftsteller, zum berühmten Privatermittler Dr. Gideon Fell, um ihm von seinen haarsträubenden Abenteuern zu erzählen. An Bord der „Queen Victoria“ ist er von New York nach England gereist und hat neue Freunde und einen Platz an der Tafel von Kapitän Whistler gefunden. Thomassen Valvick, ein alter Seebär, unterhielt mit Geschichten aus seiner wilden Jugend, während Curt Warren, ein junger Diplomat, von seinem Hobby, dem Schmalfilm, schwärmte. Peggy Glenn bildete das weibliche Element der Runde, während Dr. Oliver Kyle, ein Psychiater, den stillen aber einnehmenden Zuhörer gab. Zwei weitere Gäste hielten sich abseits. Jules Fortinbras wurde berühmt durch sein Marionettentheater mit lebensgroßen Figuren. Lord Sturton sammelt seltene Edelsteine und brachte sein aktuelles Beutestück – einen Smaragd-Anhänger in Elefantengestalt – nach England.

Dann wurde Warren in seiner Kabine überfallen. Man stahl ihm einen privaten Film, in dem sich hohe US-Politiker in entspannter Atmosphäre über die Regierung und ihre Wähler lustig machten. Um eine Weitergabe an die Presse und den dadurch entfachten Skandal zu vermeiden, beschlossen Morgan und seine Freunde, den Dieb während der Reise dingfest zu machen. Die unerfahrenen Detektive überfielen dabei versehentlich den Kapitän, stahlen ungewollt Lord Sturtons Schmuckstück und fanden vor Warrens Kabine eine blutende Frau, die wenig später spurlos verschwand.

Der Film und die Frau blieben verloren. Nun liegt die „Queen Victoria“ vor Anker. In wenigen Stunden werden die Passagiere das Schiff verlassen. Unter ihnen wird der Dieb und mögliche Mörder sein, sollte es Dr. Fell nicht gelingen, ihn nach der Auswertung von Morgans wirrem Bericht zu demaskieren …

Eine Seefahrt, die ist lustig …

Der Erfolg einer Krimi-Serie basiert vor allem auf der Variation bewährter und von der Leserschaft geliebter Elemente. In unserem Fall sind dies ein von der alltäglichen Außenwelt isoliertes Ambiente mit vielen schattigen Winkeln, in denen (scheinbar) das unheimlich Übernatürliche nistet, sowie der Auftritt des grandiosen Dr. Fell, der sich – den Gehstock in der einen und das stets mit Bier gefüllte Glas in der anderen Hand – über einen Tatort, der nur einander widersprechende Indizien, Geheimnisse und Unmöglichkeiten bietet, in kryptischen Andeutungen ergeht, die sich im großen Finale als kunstvoll rätselhafte Einleitungen zu einer Auflösung erweisen, auf die im besten Fall kein Leser gekommen ist.

Genannte Elemente finden wir auch in diesem Roman von 1934, der überhaupt erst der dritte der Gideon-Fell-Serie ist, die John Dickson Carr im Vorjahr startete. Dennoch liest sich „Der blinde Barbier“ gänzlich anders als die beiden Vorgängerbände oder die in den nächsten Jahrzehnten noch folgenden Abenteuer. Bevor sich die Strukturen dieser Serie festigen (und schließlich verkrusten) konnten, sprengte Carr mit „Der blinde Barbier“ die Grenzen des Genres, indem er den Krimi mit der Farce kreuzte. Heraus kam das literarische Gegenstück eines Filmgenres, das in den 1930er Jahren entstand und blühte.

Die „Screwball“-Komödie zeigt (scheinbar) gleichberechtigte Frauen und Männer im alltagsfernen Geschlechterkampf. Geistreiche, mit sexuellen Anspielungen gespickte Wortgefechte in rasanter Geschwindigkeit sind eingebettet in absurde Handlungen. Viel ohne Reue und schädliche Nebenwirkungen genossener Alkohol beflügelt die Protagonisten, deren sich zum Chaos aufschaukelnden Aktivitäten den Slapstick der Stummfilmzeit aufleben lassen. „Bringing up Baby“ (1938, dt. „Leoparden küsst man nicht“), „The Philadelphia Story“ (1940, dt. „Die Nacht vor der Hochzeit“) oder „The Palm Beach Story“ (1942; „Atemlos nach Florida“) hießen Klassiker dieses Genres, in das sich „Der blinde Barbier“ einfügen kann.

Liebeswerte Nichtsnutze sorgen für Verwirrung

Falls sie in ihrem Leben überhaupt jemals für ihren Lebensunterhalt arbeiten oder sich Alltagssorgen machen mussten, ist diese Zeit für die Figuren unserer Krimi-Komödie längst vorbei. Sie reisen komfortabel an Bord eines luxuriösen Dampfers, dessen Besatzung ihnen alle Wünsche erfüllt. Die Reise dauert mehrere Tage, in denen man höchstens per Funk zu erreichen ist, was die „Queen Victoria“ zur idealen Brutstätte für jene Wirrungen & Irrungen macht, die Autor Carr entfesselt.

Der leichtlebige junge Mann, der vergnügte, zu kindlichem Unfug neigende Senior, der es eigentlich besser wissen müsste und gerade deshalb gegen jede Vernunft handelt, die cholerische aber nicht ernst zu nehmende Respektsperson und selbstverständlich die junge, hübsche und aktive Frau: Sie gehören zum Personal der „screwball comedy“. Von Anfang an ist klar, dass sie als Detektive scheitern werden. Selbst ohne Versuche in dieser Richtung würden sie das Chaos entfachen, welches das Genre verlangt. Um auf Nummer Sicher zu gehen, schlüpft Autor Carr in die Rolle der mehrfach von ihm erwähnten Parzen und manipuliert die Schicksalsfäden seiner Figuren. Nicht unbedingt kunstvoll aber konsequent sorgt er für eine Kette sich akkumulierender Zwischenfälle, die sich zu einer Woge absoluten Durcheinanders auftürmen und alle Figuren schließlich unter sich begräbt.

Krimi-Vernunft gegen Komödien-Wahnsinn

Vor und hinter dem zentralen Tohuwabohu, das der „Queen-Victoria“-Handlungsstrang darstellt, bildet das Krimi-Element nur eine Klammer. Gideon Fell, der als Figur zwar eine Karikatur mit übertriebenen körperlichen Merkmalen und Charakterzügen ist, gehört allerdings nicht in eine „screwball comedy“, deren Komik auch darin besteht, dass die Protagonisten Stück für Stück ihrer Würde beraubt werden. Fell könnte eine solche Behandlung nicht verkraften; er ist es, der Scherze auf Kosten seiner Mitmenschen macht, und faktisch ist er eher exzentrisch als komisch.

Das führt zu einem deutlichen Stimmungsbruch, wenn in „Der blinde Barbier“ die Handlung die „Queen Victoria“ verlässt und auf das feste Land wechselt. Hier residiert Gideon Fell in seinem Haus, das er nicht ein einziges Mal verlässt. Den Fall löst er durch pure Deduktion und unter Berücksichtigung der ihm bekannten Fakten. Plötzlich ganz im Stil des klassischen „Whodunit“ gliedert Fell das Rätsel mit 16 elementaren Fragen, die gleichzeitig ein Stichwortverzeichnis zu seiner Auflösung darstellen. Genretypisch arbeitet Fell anschließend diese Liste systematisch ab. Der Humor verflüchtigt sich, wie auch die lustigen Gesellen um Henry Morgan spurlos verschwinden, und wird von detektivischer Sachlichkeit abgelöst. Der Kontrast zur Komödie wird noch deutlicher, weil Carr um der Dramatik willen (und unter Missachtung der Logik, denn die Polizei würde sicher kaum einen Mordverdächtigen in Fells Haus bringen, nur damit dieser dessen Fallrekonstruktion bestätigt) den überführten Mörder auftreten lässt, dessen Ende am Galgen bereits besiegelt ist.

Zur Irritation trägt bei, dass Carr einen recht grausamen Mord geschehen lässt. Es fehlt die komödiengerechte Brechung der Untat, die sich zum fröhlichen Durcheinander nicht fügen will. Nicht zünden wollen außerdem die sonst so zuverlässigen und für Carr typischen Mystery-Effekte. Aufwendig werden menschengroße Marionetten, ein geheimnisvoller Smaragd-Elefant und vor allem der „blinde Barbier“ als simples Gravur-Motiv auf der Klinge eines Rasiermessers eingeführt, ohne für die Handlung wirklich von Bedeutung zu sein. Zudem ist die „screwball comedy“ ein Genre, zu dem solche Geisterbahn-Effekte nicht passen. Faktisch lässt die Lektüre des „Barbiers“ deshalb sowohl die Krimi-Puristen als auch die Komödien-Freunde unzufrieden zurück. Sie kommen hier nicht zusammen. Kein Wunder, dass Carr mit dem nächsten Gideon-Fell-Roman auf sicheres Terrain zurückkehrte!

Autor

John Dickson Carr (1906-1977), der so wunderbar „englische“ Kriminalromane schrieb, wurde im US-Staat Pennsylvania geboren. Europa hatte es ihm sofort angetan, als er 1927 als Student nach Paris kam. Carrs lebenslange Faszination richtete sich auf alte Städte, verfallene Schlösser, verwunschene Plätze. Diese fand er nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und Großbritannien, die von ihm eifrig bereist wurden.

1933 siedelte sich Carr in England an, wo er bis 1965 ansässig blieb. Als Schriftsteller war er schnell erfolgreich. Ihm kam dabei zugute, dass er nicht nur gut, sondern auch schnell arbeitete. Obwohl ihm dank einer allzu ausgeprägten Liebe zu Alkohol und Tabak kein ausgesprochen langes Leben vergönnt war, verfasste Carr ungefähr 90 Romane. Seine Biografie des Sherlock-Holmes-Vaters Arthur Conan Doyle wurde 1950 mit einem Preis ausgezeichnet. Da hatte man ihn bereits in den erlesenen „Detection Club“ zu London aufgenommen, wo er an der Seite von Agatha Christie, G. K. Chesterton (der übrigens das Vorbild für Gideon Fell wurde) oder Dorothy L. Sayers thronte. 1970 zeichneten die „Mystery Writers of America“ Carr mit einem „Grand Master“ aus – die höchste Auszeichnung, die in der angelsächsischen Krimiwelt vergeben wird.

Zu John Dickson Carrs Leben und Werk gibt es eine Unzahl oft sehr schöner und informativer Websites; an dieser Stelle sei daher nur auf diese verwiesen, die Ihrem Rezensenten ganz besonders gut gefallen hat.

Taschenbuch: 158 Seiten
Originaltitel: The Blind Barber (New York & London: Harper & Brothers 1934)
Übersetzung: Ursula von Wiese
http://www.ullsteinbuchverlage.de

Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Schreibe einen Kommentar