John Cassells – Der Nebelkreis

cassells-nebelkreis-cover-kleinIn London treibt die berüchtigte „Eulenbande“ ihr Unwesen. Ein junger Reporter findet heraus, dass der Bande von der Polizei Rückendeckung gegeben wird. Höchste Beamte stehen womöglich im Dienst der Schurken, was deren Verfolgung zu einem lebensgefährlichen Abenteuer werden lässt … – Polizeikrimi mit simplem Plot, schwarzweißer Figurenzeichnung, Räuber-und-Gendarm-Spielen in schaurig-schönen Nebelkulissen, ‚verruchten‘ Clubs und finsteren Verschwörer-Kammern: ein altmodischer Krimi ohne literaturkritischen Ritterschlag.

Das geschieht:

Schon seit Monaten treibt sie ihr Unwesen und Scotland Yard zur Verzweiflung: Die „Eulenbande“, so genannt, weil ihre Mitglieder sich mit großen Automobilbrillen tarnen, überfällt unter dem Befehl ihres ebenso genialen wie charismatischen Anführers Mortimer Chark in London Juweliere und Banken. Die Übeltäter lassen sich einfach nicht fassen, was damit zusammenhängen könnte, dass hochrangige Verbündete im Yard sie mit Informationen versorgen. Vor anderthalb Jahren musste sogar Chefinspektor Marigold unter diesem Verdacht seinen Hut nehmen. Lange war er untergetaucht aber jetzt wieder in London. Das behauptet jedenfalls ein „Wohlmeinender“, der einen anonymen Brief an Nathaniel Webb schickt. Der Chefredakteur des „Western Orator“ beauftragt den Reporter Peter Rae mit der schlagzeilenträchtigen Suche.

Rae entdeckt, dass die Schnittstelle zwischen der Eulenbande und Scotland Yard der feudale Nachtclub „Nebelkreis“ des undurchsichtigen Gordon Dargi bildet. Hier zeigt sich Marigold, hier trifft Rae den zwielichtigen ‚Rechtsanwalt‘ Chesney Lisgard, hier weiht Sergeant Gage den Reporter in die Hintergründe der Eulenbanden-Affäre ein, bevor Chark ihn umbringen lässt. Auch auf Rae wird ein Bombenattentat verübt, das er nur knapp überlebt.

Für einen Rückzug ist es zu spät. Chark ist davon überzeugt, dass Rae mit der Polizei und seinem Erzfeind, Chefinspektor Flagg, zusammenarbeitet. Ohnehin hat der Reporter Blut geleckt. Da ist eine große Story für ihn drin – wenn er sie denn überlebt. Aber es gibt einen Bonus: In Lisgards Diensten steht die schöne Jane Selby, die es aus den Fängen ihres für die Eulenbande aktiven Chefs zu retten gilt, als sie diesem auf die Schliche kommt …

Krimi-Welt zwischen den Zeiten

Es war einmal … eine Stadt namens London, bevölkert von vielen redlichen Bürgern, bedroht von kriminellen Lumpen, verteidigt von tapferen Ordnungshütern. Hier ist das Ende der Welt bereits nahe, wenn Ganoven das Niveau des gewöhnlichen Taschendiebs hinter sich lassen und sich organisieren. Scotland Yard wirkt jedenfalls völlig überfordert mit einer Räuberbande, die keine Postkutschen überfällt, sondern mit Autos zum Tatort reist und sich unsportlich hinter Masken verbirgt.

1950 schrieb John Cassells „Im Nebelkreis“. Tatsächlich wurzelt die Geschichte noch tief im viktorianischen Thriller der Sherlock-Holmes-Ära. Das verdeutlicht nicht nur die Abwesenheit jeder modernen Technik. Scotland Yards Beamte ermitteln wie zu Großvaters Zeit mit Köpfchen, Beinarbeit & Spitzelkitzeln. Vom realen kriminologischen Alltag hat der Verfasser sichtlich keine Ahnung. Er benötigt für seine Story auch kein entsprechendes Hintergrundwissen, denn er will nur eine bestimmte Stimmung heraufbeschwören: London im Nebel, der unheimlichen Gestalten Schutz und Tarnung bietet, bis der lange Arm des Gesetzes sie doch zu fassen bekommt.

Krimi-Abenteuer ohne Hintertüren

So schlicht wie das Ambiente ist der Plot. Verfasser wie Cassells (und Edgar Wallace, E. Phillips Oppenheim oder Victor Gunn) repräsentieren eine bestimmte Sparte des (englischen) Kriminalromans, die lange und unnötig abfällig als „Groschenheft“ bezeichnet wurde. Vordergründige Spannung soll erzeugt werden, ohne gleichzeitig an einer Welt zu rühren, in der Recht & Ordnung letztlich die Oberhand behalten.

Die Leser dieser Thriller wünschen unterhalten, aber nicht beunruhigt zu werden. Sie wollen keine Grauzonen, sondern eine sauber zwischen Weiß und Schwarz unterteilte Welt. Verbrechen ist keine stets allzu präsente Möglichkeit, die jede/n treffen kann, sondern eher ein Spuk oder eine Krankheit, die nur Außenseiter befällt und eingedämmt werden kann, indem man ihre Träger ins Gefängnis steckt. Soziale Missstände, politische Ungerechtigkeiten, wirtschaftliche Nöte als Ursprung des Verbrechens? Das gibt es in diesen Thrillern nicht. Ein Strolch ist ein Strolch; seine einzige Entschuldigung ist vielleicht, dass ihm diese Veranlagung vererbt wurde.

Charakter spiegelt sich im Gesicht wider

Gute, alte Werte bestimmen auch die Figurenzeichnung. Unseren Protagonisten stehen Wesen und Handeln buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Die Polizisten von Scotland Yard sind sämtlich von riesenhafter Gestalt und unerschütterlichem Pflichtbewusstsein. Sie wohnen anscheinend im Revier, das sie nur verlassen, um die braven Bürger zu beschützen bzw. die nicht so braven Zeitgenossen einzufangen. Dabei schauen sie selten auf die Buchstaben des Gesetzes, der Zweck heiligt die Mittel: Verdächtige werden eingeschüchtert und bedroht, gern schiebt man ihnen heimlich Belastungsmaterial in die Tasche. Die Atmosphäre im Verhörzimmer erinnert stark an eine Folterkammer. Der Verbrecher ist ein Wurm, der zertreten gehört, und Cobbs Scotland-Yard-Beamte übernehmen diesen Job mit der Begeisterung mittelalterlicher Henkersknechte.

Natürlich erkennt man die Bösewichter am verschlagenen Gesichtsausdruck, an überkorrekter Kleidung; die arbeitende Bevölkerung kann sich solchen Luxus nicht leisten. Anwalt Lisgard ist dick und rosig und kann seinem Gegenüber nicht ins Auge blicken. Braucht es noch mehr, um ihn als Schurken zu brandmarken?

Ritter und Burgfräulein

Peter Rae ist ein Zeitungsmann aus dem Bilderbuch: Er will zuerst „die Wahrheit“, um anschließend eine „Bombenstory“ aus ihr zu machen. Selbstverständlich ist er ehrlich, unbestechlich, mutig, von ansehnlicher Gestalt, kurz: ein Ritter der Gegenwart, der nicht lange auf seine Prinzessin warten muss.

Frau darf in diesen ‚modernen‘ Zeiten durchaus arbeiten, wenn es sein muss, d. h. die Dame ohne männlichen Schutz (Vater, Bruder, Gatte) in der Welt steht. Jane Selby wirkt recht selbstbewusst, was aber Fassade ist, hinter der sich jene weibliche Schwäche verbirgt, die dem wahren Mann das andere Geschlecht so reizvoll werden lässt. Deshalb darf Jane zwar diverse Munkeleien ihres Bosses aufdecken, muss aber dabei in höchste Gefahr geraten und gerettet werden. Für diese Aufgabe bietet sich der fesche Peter förmlich an, was dem Leser bereits anlässlich der ersten Begegnung zwischen Mann & Weib mit dem Zaunpfahl eingeprügelt wird.

‚Gemütliche‘ Krimis wie dieser haben sich ihre Nische erhalten. Sie werden auch heute geschrieben, gekauft und gelesen. Ob sie ebenso drastisch altern werden wie „Der Nebelkreis“? Das ist anzunehmen, da auch ihnen meist jenes spielerische Element fehlt, das beispielsweise die Thriller eines John Dickson Carr, eines Edmund Crispin oder einer Agatha Christie zeitlos lesbar macht. Das wird auch so bleiben, während der eher bemühte als talentierte John Cassells sich zu Recht mit einem Dasein als Fußnote der Kriminalliteratur begnügen muss.

Autor

John Cassells (alias Peter Malloch, Neill Graham, John Dallas, Martin Locke, Lovat Marshall) hieß eigentlich William Murdoch Duncan (1909-1976). Seine zahlreichen Pseudonyme verbargen den Lesern anspruchsloser Kriminalromane, dass der schottische Autor dieses Marktsegment mit seinen Werken fast im Alleingang abzudecken vermochte. Duncan stellt sogar seinen Landsmann Edgar Wallace in den Schatten: Mehr als 200 Thriller verfasste der fleißige Mann, den hierzulande und heute kaum noch jemand kennt, obwohl seine Bücher lange auch in Deutschland gern gedruckt wurden.

Freilich ist unbestreitbar, dass Duncan von der Zeit nicht nur eingeholt, sondern überrollt wurde. Seine Romane sind einfach gestrickt und ohne die Raffinesse einer Dorothy L. Sayers, eines Michael Innes oder anderer Vertreter jener „Goldenen Ära“ des Thrillers, deren Werke auf der Nostalgie-Schiene direkt in den Krimi-Himmel auffuhren, wo sie auf ewig thronen werden.

Duncan konnte nie viel Zeit auf seine Geschichten verwenden, was andererseits aber nicht bedeutet, dass sie zwangsläufig schlecht geschrieben wären. Es fehlt nur das gewisse Etwas, das altmodische Gemütlichkeit zeitlos werden lässt. Wer freilich einfach ‚nur‘ nach Krimis im Wallace-Stil (schlicht geplottet, bevölkert mit ‚Typen‘, durchzogen von Nebelschwaden) sucht, wird mit Duncan zufrieden sein.

Taschenbuch: 184 Seiten
Originaltitel: The Circle of Dust (London : Andrew Melrose 1950)
Übersetzung: Anneliese von Eschstruth
http://www.randomhouse.de/goldmann

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