Joachim Castan – Der Rote Baron. Die ganze Geschichte des Manfred von Richthofen

Ein Mann für Mythen

Er flog wie ein Gott und kämpfte wie ein Teufel in seinem feuerrot angemalten Dreidecker, schoss im ritterlichen Kampf 80 feindliche Flugzeuge vom Himmel und nahm seine besiegten Gegner am Boden persönlich in Empfang, um mit ihnen ein Glas Sekt auf das tolle Gefecht zu heben – das war Manfred Freiherr von Richthofen (1892-1918), der „Rote Baron“, gefürchtet und bewundert sogar von seinen Gegnern, die ihm das gebührende Heldenbegräbnis ausrichteten, als sie ihn endlich erwischten.

Legenden werden nicht ohne Grund geboren. Auf diese Weise gerät die lästige Wahrheit außer Sicht. Unzählige Bücher wurden über von Richthofen geschrieben. Sie stellen den Flieger in den Mittelpunkt und stützen sich biografisch auf fragwürdige Quellen, die viel zu oft der Verklärung dienten und den Menschen Manfred von Richthofen verzeichneten.

Ein Held wird geformt

Der Historiker Joachim Castan unternahm den Versuch, die nüchterne Realität hinter dem Mythos aufzudecken. Für „Der Rote Baron“ sichtete er bisher oft selektiv bearbeitete Quellen, arbeitete den unter historischen Gesichtspunkten relevanten Kern heraus und fand darüber hinaus eine Vielzahl bisher wenig beachteter oder gänzlich unentdeckter Belege, die neues Licht auf das nur scheinbar in allen Details bekannte Leben des Manfred von Richthofen werfen.

Nach einer Einleitung, die den ‚Kampf‘ des Historikers mit dem Mythos von Richthofen erläutert, wird der familiäre Hintergrund aufgerollt. Er ist zum Verständnis der Person von Richthofens unverzichtbar, wird hier doch die Formung – und Deformierung – eines möglicherweise intelligenten Mannes zum preußischen Mustersoldaten dargestellt. Tradition und Drill schufen eine eigene Kaste, die quasi lernresistent gegenüber den Veränderungen einer sich rasant verändernden Welt blieb und darauf brannte zu kämpfen, wie man es sie gelehrt hatte. Ein Nachdenken über den Sinn des Kampfes war unerwünscht; der Soldat hatte zu ‚funktionieren‘.

So sah auch Manfred von Richthofen im Aufbruch des Weltkriegs von 1914 nicht die sich anbahnende Katastrophe, sondern die Chance sich zu hervorzutun, befördert zu werden und Orden als Beweis für Tapferkeit zu sammeln. Castan beschreibt, wie aus dem ehrgeizigen Kavalleristen von Richthofen der Jagdflieger wurde, dem zumindest militärtechnisch der Schritt in die Moderne gelang.

Eine neue, fliegende Waffe

Das Flugzeug genoss 1914 nicht annähernd das militärische Vertrauen wie das seit Jahrhunderten bewährte Pferd. „Der Rote Baron“ ist auch eine Geschichte der organisierten Fliegerei. Aus dem wackligen Gefährt, das der Luftaufklärung diente, wurde ein Mittel zum Transport von Bomben. Die ersten Piloten schossen noch mit Pistolen oder Gewehren aufeinander, wenn sie sich als Feinde in der Luft begegneten. Die Erkenntnis, dass sich das Flugzeug mit entsprechender Waffenausrüstung selbst in eine tödliche Waffe verwandeln ließ, brauchte ihre Zeit. Als dies beiderseits der Front begriffen war, begann die eigentliche Karriere des „Roten Barons“.

Aus der ‚Jagd‘ wurde rasch ein Abschlachten möglichst vieler Feinde. Der Krieg entwickelte sich schlecht für Deutschland. Die Feinde waren zahlreich, ihre Ressourcen schienen unerschöpflich, während Deutschland buchstäblich ausblutete. Castan schildert von Richthofens schmerzhaften Lernprozess, der indes nie in der Konsequenz gipfelte, dem Krieg den Rücken zu kehren. Stattdessen entwickelte sich der „Rote Baron“ zur Mordmaschine, die in wahre Bluträusche verfallen konnte, und verdrängte die Erkenntnis der nahen Niederlage.

Gleichzeitig wurde von Richthofen zum Helden, weil die deutsche Militärführung ein Symbol benötigte, das die Bevölkerung und die Soldaten zum Durchhalten animierte. Von Richthofen verstand genug von diesem infamen Spiel, um angewidert zu sein. Gewehrt hat er sich nicht; zu tief saß der andressierte Gehorsam.

Tod als Verklärung

Ein Held darf zwar sterben, dies aber nicht banal. „Die vielen Tode des Manfred von Richthofen“ überschreibt Castan den Versuch einer Rekonstruktion des nie wirklich geklärten Endes. Er stellt diverse Theorien vor und destilliert den nach seiner Meinung korrekten Ablauf heraus. Im Anschluss beschreibt er den ab 1919 massiv einsetzenden Kult um einen Helden, der sich praktischerweise nicht mehr dagegen wehren konnte, als Vorbild für das Kanonenfutter des Nazi-Regimes instrumentalisiert und missbraucht zu werden. Aber der Mythos des „Roten Barons“ lebt noch im 21. Jahrhundert weiter und – damit schließt sich der Kreis – verdunkelt das Leben eines realen Menschen, der mutig aber alles andere als ein Held mit Vorbildfunktion war.

2007 jährte sich sein Geburtstag zum 115ten, 2008 sein Todestag zum 90ten Mal: eine doppelte Gelegenheit also, sich des „Roten Barons“ wissenschaftlich anzunehmen. Obwohl die Zahl der Bücher und Artikel, die über Manfred von Richthofen geschrieben wurden, bemerkenswert groß ist, fehlte bisher eine Betrachtung, die das Schwergewicht nicht (nur) auf den Soldaten, sondern auf den Menschen von Richthofen legt. Die Erklärung ist ebenso einfach wie erstaunlich: Sogar die Mehrheit der Historiker war bisher zufrieden mit dem überlieferten Bild.

Joachim Castan unterzieht dieses nun einer genauen Überprüfung. Seine Einsichten sind nicht unbedingt sensationell: Unter der Oberfläche des ‚Helden‘ verbarg sich eine beschädigte Psyche, was bereits früher vermutet wurde. Castan sichert jedoch seine These durch Fakten ab und fasst sie in klare, auch dem Laien verständliche Worte, ohne dafür wissenschaftliche Grundprinzipien zu vernachlässigen. Der Prozess der Wissensfindung ist erst dann komplett, wenn dieses Wissen erfolgreich vermittelt wurde: Das ist hier publikumswirksam der Fall, und es geschieht in angemessener und angenehmer Kürze; der Verfasser widerstand der Verlockung, mühsam erarbeitete Fakten um jeden Preis in seinen Text zu pressen.““Der Rote Baron“ wird mit 350 Seiten seinem Thema völlig gerecht. Joachim Castain ist nicht ’nur‘ Historiker, sondern auch Dokumentarfilmer.

Die eigentliche Biografie von Richthofens und seine Aktivitäten im I. Weltkrieg werden stets in ihr historisches Umfeld eingebettet. Die geschickt miteinander verschränkten Fakten geben der Darstellung eine Mehrschichtigkeit, deren Informationsgehalt ebenfalls weit über das hinausgeht, was eine auf das Flieger-As von Richthofen zentrierte Betrachtung aussagen würde.

Blick in das Hirn des Helden

Die sorgfältige Suche in den von Richthofenschen Familienarchiven und anderen Dokumentensammlungen hat viele Erkenntnisse ans Tageslicht befördert, die zwar vorhanden und zum Teil sogar bekannt waren aber ignoriert wurden, weil sie nicht in das Bild passten, das man sich zu verschiedenen Zeiten von ‚seinem‘ Richthofen machen wollte. Dennoch blieben Lücken, die Castan mit Hilfe der psychologischen Deutung füllen möchte. Hier geht er m. E. ein wenig zu weit, wenn er beispielsweise Gedanken beschreibt, die von Richthofen angeblich durch den Kopf gingen, denn dies ist Phantasie, die nicht belegt werden kann. Die Analyse der Psyche ist generell nicht unproblematisch, weil sie zwar auf wissenschaftlicher Basis, aber doch nachträglich erfolgt: Der Interpretation bleibt ein schwer einzuschätzender Freiraum. Da Castan diese Deutungen jedoch als solche stets deutlich macht, bleibt dem Leser die Entscheidung, ob oder wie weit er ihnen folgen möchte.

„Der Rote Baron“ ist sicherlich nicht das letzte Wort in Sachen Manfred von Richthofen und soll es wohl auch nicht sein. Castans Buch gibt jedoch eine neue Richtung vor: Die historische Forschung wird zukünftig die ‚menschliche Seite‘ des Barons stärker als bisher berücksichtigen müssen, um ihm und seinen Taten gerecht zu werden.

Abgerundet wird diese Darstellung durch diverse, gut ausgesuchte zeitgenössische Fotos, wobei der Verfasser abermals Wert auf Bilder legte, die selten, noch nie oder – dem Mythos entsprechend – nur ‚bearbeitet‘, d. h. retuschiert gedruckt wurden. Als Anhänge folgen ein umfangreicher Anmerkungsapparat, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Ortsregister.

Autor

Joachim Castan (geb. 1966) studierte Geschichte und angewandte Literaturwissenschaften an der Universität Osnabrück. Er promovierte in den Fächern Geschichte und Medienwissenschaft und verfasste zahlreiche Artikel zu Themen der Film- und Bildungsgeschichte. Seit 1998 arbeitet er als historischer Berater für das Fernsehen, seit 2003 schreibt und inszeniert er eigene TV-Dokumentationen. Außerdem konzipiert und realisiert er historische Ausstellungen.

Gebunden: 360 Seiten
ISBN-13: 978-3-608-94461-7
http://www.klett-cotta.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Schreibe einen Kommentar