Archiv der Kategorie: Belletristik

Gavalda, Anna – Alles Glück kommt nie

Die Messlatte liegt hoch für Anna Gavalda, nachdem ihr vorangegangener Roman [„Zusammen ist man weniger allein“ 938 so enorm erfolgreich war. Entsprechend hoch sind nun die Erwartungen an den Nachfolger mit dem etwas holprig klingenden Titel „Alles Glück kommt nie“.

Charles Balanda ist 46 Jahre alt, lebt als erfolgreicher Architekt mit seiner Lebensgefährtin Laurence und deren halbwüchsiger Tochter Mathilde in Paris. Charles steht mit beiden Beinen im Leben – zumindest glaubt er das – und jettet um den Globus, um die Baustellen seiner illustren, internationalen Projekte zu betreuen.

Eines Tages erhält er einen Brief, in dem nur drei Worte stehen. Drei Worte, die Charles völlig aus der Bahn werfen: „Anouk ist tot.“ Anouk hat einmal eine wichtige Rolle in Charles‘ Leben gespielt. Sie war nicht nur die Mutter seines besten Freundes Alexis, sondern wurde im Laufe der Jahre zu seiner großen Liebe. Doch zusammen mit der Geschichte um Anouk hat Charles viele ebenso schöne wie schmerzhafte Erinnerungen verborgen. Nach und nach drängt all das zurück an die Oberfläche und sorgt dafür, dass Charles immer mehr ins Straucheln gerät.

Charles versucht herauszufinden, was mit Anouk geschehen ist, und je mehr er sich gedanklich mit Anouk befasst, desto mehr stellt er fest, dass er eigentlich gar nicht das Leben führt, das er gerne hätte. So richtig merkt er das aber erst, als er Kate kennenlernt, die zusammen mit einer Schar von Kindern auf einem abgelegenen Herrensitz in der Provinz lebt. Das Chaos und die Herzlichkeit, die Charles hier erfährt, lassen ihn umdenken und sein Leben auf den Kopf stellen …

Auch in ihrem neuesten Roman konzentriert Anna Gavalda sich auf das, was sie am besten kann: lebendige Figurenskizzierung und eindrückliche Gefühlswelten, die sie so einfach, klar und präzise wiederzugeben vermag, dass man glauben könnte, die Protagonisten stünden neben einem. Viel Plot brauchte Anna Gavalda noch nie.

Da wäre Anouk, die in ihrer Bewältigung des alltäglichen Leben manchmal der Verzweiflung nahe ist, aber als Krankenschwester wahre Wunder bewirkt. Da wäre Charles, der orientierungslos durch sein straff organisiertes Architektenleben hastet und dabei völlig aus den Augen verliert, was Leben eigentlich bedeutet. Da wäre Alexis, ein begnadeter Musiker, der seiner Mutter so viel Kummer bereitet. Da wäre Nounou, ein alter Zauberer, dessen Anouk sich eines Tages angenommen hat und der im Geheimen ein Doppelleben führt. Und da wäre natürlich Kate mit ihrer Kinderhorde, die herrlich chaotisch auf einem alten Herrensitz leben. Wieder einmal lebt Anna Gavaldas Roman von den Figuren und ihren Beziehungen zueinander.

Und dennoch haftet Gavaldas neuestem Werk auch ein nicht zu ignorierender Makel an. Nie zuvor hatte ich bei einem Text von ihr solche Schwierigkeiten, in die Geschichte einzutauchen. Lange dauert es, bis die Geschichte überhaupt auf Touren kommt, und das gesamte erste Romandrittel stellt den Leser auf die Probe. Ein bisschen schleicht sich das Gefühl ein, Anna Gavalda wollte es diesmal auf irgendeine Art und Weise besonders machen – aber das heißt leider nicht, dass sie es gut macht.

Der Roman gliedert sich in vier Teile, und erst mit Ende des zweiten Teils geht es eigentlich so richtig los. Bis dahin hadert Charles mit der Vergangenheit. Er kommt mit seinem Alltag nicht mehr zurecht, stolpert nach der Nachricht von Anouks Tod durch sein Leben und verzettelt sich ganz in Gedanken und Erinnerungsfetzen – so gesehen gibt Anna Gavalda Charles‘ Lebenssituation höchst authentisch wider. So richtig lesenswert ist dieser Teil des Romans dennoch nicht, denn wie ihre Hauptfigur scheint auch Anna Gavalda sich dabei ein wenig zu verzetteln.

Sie springt von hier nach dort, erhascht überall nur einen Bruchteil eines Eindrucks, einer Schwingung oder Erinnerung, und als Leser kann man dabei nicht immer ganz genau folgen. Man kommt dadurch nicht so leicht wie sonst typischerweise in Anna Gavaldas Romanen auf Augenhöhe mit den Protagonisten, und krass formuliert, hätte man die ersten 250 Seiten sicherlich auch auf gute 50 Seiten zusammenraffen können, ohne dass der Leser etwas verpasst hätte. Gerade das war ja auch immer Anna Gavaldas Stärke: kurz und prägnant, aber nicht minder einfühlsam und plastisch ihre Figuren zu skizzieren. Diesmal gelingt ihr das leider nicht so gut.

Auch stilistisch unterscheidet sich „Alles Glück kommt nie“ von den Vorgängern. Straff und auf den Punkt genau hat Anna Gavalda sonst meistens formuliert – diesmal stückelt sie mit Ein- und Zweiwortsätzen herum oder schleppt einen einzigen Satz auch mal über mehr als zwei Seiten. All das wirkt gekünstelter, als man es von Anna Gavalda gewohnt ist – dabei hat sie diesen gekünstelten Erzählstil nie nötig gehabt.

Und so muss der Leser eben sehr viel Geduld mitbringen, um bis zum Ende des zweiten Teils durchzuhalten, wenn der Plot dann endlich auf Touren kommt, und um ganz ehrlich zu sein, ob ich mit einem anderen Autoren so viel Geduld gehabt hätte wie mit Anna Gavalda (weil sie eben Anna Gavalda ist), weiß ich nicht.

Erst mit Charles‘ Aufbruch in die Provinz nimmt die Geschichte Fahrt auf. Die Figuren nehmen Formen an und so langsam tritt auch wieder der vertraute Gavalda-Effekt beim Lesen ein: Man klebt an den Seiten, und auch wenn eigentlich nichts Weltbewegendes passiert, kann man schlecht die Finger von dem Buch lassen. Anna Gavalda beherrscht ihr Handwerk eben doch noch.

Und so stimmt einen die zweite Buchhälfte doch noch einigermaßen versöhnlich. Die Seiten fliegen dahin und die Figuren wirken so lebensecht, als würden sie neben dem Leser stehen. Lediglich die Figur der Kate hinterlässt in diesem guten Eindruck einen Kratzer. Was Kate an Gutmenschentum heraushängen lässt, ist ein bisschen viel des Guten. Sie opfert ihr Leben einer Horde Kinder, lebt in der letzten Ecke der Provinz in einer Art idyllischem, chaotischem Zirkus, der das reinste Paradies zu sein scheint, und steckt Charles mit ihrem Gutmenschentum auch noch an. Das klingt dann doch alles ein bisschen zu dick aufgetragen für meinen Geschmack – aber wie immer bei Anna Gavalda, liest es sich wunderbar. Als besonderen Leckerbissen gibt es dann noch ein herrliches Wiedersehen mit altbekannten Figuren, die Charles in Paris bei einem Bistrobesuch trifft – eines der absoluten Highlights dieses Romans.

Letzter Fehlgriff, der nicht unerwähnt bleiben soll, ist die Buchgestaltung. Die deutsche Übersetzung, die holprig und verkitscht zugleich klingt, gepaart mit einem Titelbild, das mehr auf die Generation Rosamunde Pilcher abzuzielen scheint – das kann auf den ersten Blick schon abschreckend wirken, und in der Buchhandlung hätte ich diese Buch wohl gar nicht wahrgenommen.

Bleiben am Ende etwas enttäuschte Erwartungen zurück. Anna Gavalda hatte sich mit ihren bisherigen Büchern in die Riege meiner persönlichen Lieblingsautoren geschrieben, „Alles Glück kommt nie“ wird sich aber definitiv nicht in die Liste meiner persönlichen Lieblingsbücher einreihen.

Zu lange braucht das Buch, um in Fahrt zu kommen, zu aufgebläht wirkt das erste Buchdrittel, und so kommen Anna Gavaldas markanteste Fähigkeiten diesmal erst sehr spät zum Tragen. Erst ab der zweiten Hälfte des 608-seitigen Romans schafft Gavalda es, den Leser mit ihrer prägnanten und einfühlsamen Figurenskizzierung um den Finger zu wickeln.

Bleibt zu hoffen, dass dies nur ein Ausrutscher war, denn der sei Anna Gavalda gerne verziehen, wenn sie sich dafür mit ihrem nächsten Roman wieder ihrem gewohnten Qualitätsniveau annähert.

|Originaltitel: La consolante
Aus dem Französischen von Ina Kronenberger
604 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-446-23057-6|
http://www.hanser.de

Dunthorne, Joe – Ich, Oliver Tate

_Die Mannwerdung hat schon so ihre Tücken …_

… Das ist auch die leidvolle Erfahrung des fünfzehnjährigen Oliver Tate. Oliver lebt mit seinen Eltern in Swansea und weiß alles – zumindest glaubt er das. Und weil er ja schon so gut Bescheid weiß, wird es Zeit, den Worten Taten folgen zu lassen. Das Motto lautet: Weg mit der Jungfräulichkeit! Dabei helfen soll ihm seine Freundin Jordana, die nicht abgeneigt ist, obwohl Oliver küsst, als wolle er Zahnfüllungen spachteln.

Oliver Tate macht es seinen Mitmenschen auch sonst nicht immer leicht. Er sammelt Fremdwörter, ist klug und selbstgerecht, quält dicke Mädchen und hasst Jordanas Hund. Darüber hinaus überwacht er penibel das Sexleben seiner Eltern. Als Oliver feststellt, dass der Dimmerschalter im Elternschlafzimmer schon seit zwei Monaten morgens nicht mehr auf dunkelster Stufe eingestellt ist (laut Oliver ein eindeutiges Zeichen vollzogenen Beischlafs), diagnostiziert er das Ende der Ehe seiner Eltern.

Das kann und will Oliver nicht hinnehmen, und so macht er sich auf, das Eheleben der Eltern in Schwung zu bringen. Dazu ist ihm jedes Mittel recht, und schon bald schießt er mit seiner Mission ein wenig über das Ziel hinaus …

Erster Kuss, erste Liebe, erster Liebeskummer – das mag literarisch schon ziemlich abgegrastes Terrain sein, dennoch hat Joe Dunthorne mit „Ich, Oliver Tate“ einen durchweg unterhaltsamen Debütroman abgeliefert. Dabei braucht der Roman eine gewisse Einlesezeit. Immer wieder streut Dunthorne in Olivers Erzählung Zitate ein: Kühlschrank-Botschaften, Tagebucheinträge, Lexikondefinitionen. Dadurch wirkt der Erzählfluss anfangs etwas unruhig, hat man sich aber erst einmal auf die Art des Romans eingelassen, macht die Lektüre dann richtig Spaß.

Was Joe Dunthornes gelungenes Debüt besonders ausmacht, ist sein gewitzter Ton. Treffend ironisch beschreibt er Olivers pubertäres Gehabe, lässt ihn nichtsdestotrotz aber immer wieder als den klugen Menschen durchschimmern, der er tatsächlich zu sein scheint. Ihm gelingt die Balance, die Figur des Oliver von allen Seiten zu beleuchten, mit all ihren Macken, ihrer Selbstgerechtigkeit und der Verletzlichkeit, die sich hinter einer Fassade aus Fremdwörtern verbirgt.

Oliver durchlebt ein Wechselbad der Gefühle, erlebt den ersten Sex, muss aber gleichzeitig bangen, dass die Ehe seiner Eltern auseinanderbricht. Dieses drohende Unheil bestimmt sein Denken dermaßen, dass er seiner Freundin Jordana, die eigentlich viel Schlimmeres durchmacht, nicht wirklich eine Stütze ist. Und so folgt auf den unausweichlichen Bruch mit Jordana schließlich auch der unausweichliche erste Liebeskummer – mit Weltuntergang und allem, was dazugehört.

Olivers Leben stellt sich innerhalb weniger Wochen komplett auf den Kopf, und so durchlebt er so manche hoffnungslos absurde Situation. Das verleiht dem Buch eine weitere wunderbar komische Note. Die Methoden, die Oliver anwendet, um die Ehe seiner Eltern zu retten, sind schon herrlich skurril und gipfeln in einem verzwickt schrägen Finale.

Es ist zwar nicht so, dass man bei der Lektüre pausenlos von Lachkrämpfen geschüttelt wird, dennoch gibt es viele Szenen zum Schmunzeln und das ganze Buch ist ein feiner Unterhaltungsspaß. Dunthorne weiß seinen Sprachwitz wunderbar einzusetzen, und so ist „Ich, Oliver Tate“ weniger ein Roman der Schenkelklopfer als vielmehr feinsinnige und schräge Lektüre, die mit jeder Seite Spaß macht.

Bleibt unterm Strich ein positiver Eindruck zurück. Joe Dunthorne hat mit „Ich, Oliver Tate“ einen bemerkenswerten Debütroman abgeliefert. Humorvoll, feinsinnig und anrührend zugleich beschreibt er die Tücken der Pubertät auf wunderbar lesenswerte Art. Bleibt zu hoffen, dass der Waliser uns nicht zu lange auf sein nächstes Werk warten lässt.

|Originaltitel: Submarine
Aus dem Englischen von Mayela Gerhardt
379 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-498-01326-4|
http://www.rowohlt.de

Saramago, José – Stadt der Blinden, Die

|“[…] ein Mensch wird nicht blind, nur weil er einen Blinden ansieht, Blindheit ist eine private Angelegenheit zwischen dem Menschen und den Augen, mit denen er geboren wurde.“|

_Alles weiß_

In einer namenlosen Stadt springt eine Ampel auf grün. Ein Auto bleibt stehen, und die anderen Autofahrer hupen wild, bis die Worte des Fahrers nach außen dringen – ich bin blind! Urplötzlich hat der Mann – der erste Blinde – sein Augenlicht verloren. Die Blindheit taucht seine Welt nicht in ein tristes Dunkel, sondern in ein helles Weiß. Von nun an herrscht immer Tag für ihn. Ein anderer Mann bietet dem ersten Blinden seine Hilfe an und bringt ihn nach Hause. Dort endet seine Hilfsbereitschaft, denn er nutzt die Blindheit des Mannes aus und entwendet ihm sein Auto. Kurz darauf erblindet auch der Dieb. Zu Hause wartet der erste Blinde auf seine Frau, die ihn schleunigst zu einem Augenarzt bringt. Der Augenarzt und seine Patienten sind die nächsten, die erblinden.

Wie eine Epidemie greift die Blindheit in der Stadt um sich. Die Regierung beschließt, die Blinden und diejenigen, die mit ihnen in Kontakt waren, in einer ehemaligen Irrenanstalt zu internieren, um sie vom Rest der Bevölkerung zu isolieren. Soldaten bewachen die Anstalt und stellen den Internierten dreimal am Tag Lebensmittel vor die Tür. Doch das Essen reicht für die schnell wachsende Gruppe der Internierten hinten und vorne nicht. Lange dauert es auch nicht, bis sämtliche Toiletten verstopft sind und die Blinden ihre Notdurft verrichten, wo sie sich gerade befinden, sei es im Bett, auf dem Flur oder sonstwo. Nur eine Frau ist dort untergebracht, die das ganze Elend, den ganzen Ekel noch sehen kann – die Frau des Augenarztes, die ihre Blindheit nur vorgetäuscht hat, um ihren Mann begleiten zu dürfen. Sie ist der Rettungsanker in der Irrenanstalt, auch wenn niemand außer ihrem Mann weiß, dass sie noch sehen kann.

Die Frau des Arztes versucht unauffällig, das Leben in der Irrenanstalt zu organisieren. Doch als immer mehr Blinde eingeliefert werden, schließt sich in einem anderen Saal eine Gruppe von Männern zusammen, die sämtliche Lebensmittel für sich beanspruchen und von den anderen Internierten Wertsachen als Bezahlung einfordern. Als diese schließlich verteilt sind, verlangen die Männer Frauen als Gegenleistung. Die Situation in der Irrenanstalt läuft nun völlig aus dem Ruder …

_Anarchie, und niemand sieht zu_

Der portugiesische Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger José Saramago zeichnet in diesem Buch ein Schreckensszenario, wie man es sich niemals ausgemalt hätte. Nach und nach erblinden alle Menschen einer Stadt oder sogar eines ganzen Landes. Alle Arbeit liegt brach, niemand kann mehr Auto, Bus oder Straßenbahn fahren und auch kein Pilot lenkt mehr ein Flugzeug. Niemand kümmert sich um die Lebensmittelversorgung, und als schließlich alle Menschen erblindet sind, fällt überall der Strom aus. Die Menschen irren blind durch die Straßen – auf der Suche nach Lebensmitteln und Obdach, denn wenn sie auf der Straße erblindet sind, finden sie ihr Zuhause nicht mehr. Jede Wohnung, jedes Haus oder jeder Laden wird nun zur zeitweisen Unterkunft. Niemand hat mehr eine Heimat.

Davon ahnen die Internierten noch nichts, sie hausen unter unvorstellbaren Bedingungen, haben kein Wasser, um sich zu waschen oder etwas zu putzen. Sie hungern, weil es immer wieder Blinde gibt, die sich bei der Essensverteilung mehrfach anstellen – wer sollte es schließlich sehen und für Ordnung sorgen? Alles stinkt, alles ist verdreckt, sodass es eigentlich ein Wunder ist, dass nicht mehr Menschen in der Irrenanstalt sterben.

Die Blinden führen Krieg untereinander, sie bestehlen sich gegenseitig und misstrauen allem und jedem, denn niemand kann die anderen sehen und sie kontrollieren. Niemand sorgt für Ordnung, niemand sieht die Schuldigen. Und so wundert es nicht, dass eine Gruppe Männer die Führung an sich reißt und sämtliche Lebensmittel für sich beanspruchen kann. In der Anonymität der Blindheit und ausgestattet mit einer Pistole und einem „echten Blinden“ trauen sie sich, sich über die anderen Blinden zu erheben. Niemand sieht sie dabei und könnte hinterher gegen sie vorgehen. Doch zwei gequälte Frauen, die mehrfach brutal von den aufrührerischen Männern vergewaltigt wurden, wagen den Aufstand: Die Frau des Arztes bringt den Anführer um und sorgt für Chaos unter der Gruppe der Männer. Doch diese lassen sich das Zepter immer noch nicht aus der Hand nehmen, und so schleicht sich heimlich des Nachts eine blinde Frau mit einem Feuerzeug zu den Männern und zündet die Barrikade aus Betten im Zimmereingang an.

Nur eine Frau kann dem Elend zusehen und doch nicht helfen, da niemand wissen darf, dass sie sehen kann. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn jemand erführe, dass die Frau sehen kann. Sie müsste sich um alle Kranken kümmern, Menschen zu den nicht funktionierenden Toiletten bringen, andere Menschen trösten oder sich vermutlich vor Angriffen schützen, da andere ihr das Augenlicht neiden würden. So wird sie zur Zeugin, wie die Menschen angesichts der Blindheit zu Tieren werden. Sämtliche Menschenwürde ist verschwunden, als die Blinden beginnen, ihre Notdurft an allen möglichen und unmöglichen Stellen zu verrichten. Männer und Frauen fallen blindlings übereinander her, um sich gegenseitig Trost und Nähe zu spenden, auch wenn sie sich sonst vermutlich nie miteinander abgegeben hätten. Verzweifelt versucht die Frau des Arztes, für Ordnung zu sorgen, doch misslingt es ihr immer mehr. So flüchtet sie sich immer häufiger unter die Bettdecke, um still in sich hineinzuweinen.

_Die Macht der Sprache_

José Saramagos Schreibstil ist gewöhnungsbedürftig: Kaum Absätze sorgen für Zäsuren, die wörtliche Rede findet sich durch Kommas abgetrennt mitten im Fließtext, und keine Anführungszeichen deuten darauf hin, ob diese Worte wirklich gesagt oder nur gedacht wurden. Dieser Schreibstil (den Andrzej Sapkowski in seiner historischen Trilogie vom Narrenturm ähnlich einsetzt) fordert den Leser heraus, passt aber wunderbar zur Geschichte, denn auch dort fließen Worte ineinander, niemand kann den Sprechenden erkennen, und so wundert es nicht, dass keine handelnde Person einen Namen erhält. Bis zum Ende werden die Personen über Merkmale charakterisiert, mit denen die Blinden etwas anfangen können. Was bedeuten Namen, wenn man die Person ohnehin nicht erkennen kann? Saramagos Figuren stehen für bestimmte Rollen, nicht aber für eine individuelle Person; er will uns keine konkreten Menschen vorstellen, sondern eine grausame Situation zeichnen, in der Menschen mit ihrem Schicksal hadern und um ihr Leben kämpfen. Doch was ist das überhaupt für ein Leben?

Saramagos Sprache ist unauffällig und still, aber manchmal umso poetischer. Seine Sätze sind lang und verschachtelt und beschwören eine spannungsgeladene Atmosphäre herauf. Meist sind es die wenigen Worte, die still und unbemerkt daherkommen, die dem Leser einen Schauder über den Rücken laufen lassen, oder es sind die langen detailgetreuen Beschreibungen. So verwendet Saramago mehrere Seiten darauf, um die schrecklichen Lebensbedingungen in der Irrenanstalt zu schildern – die verstopften Toiletten oder die Gänge, die vor Dreck und Kot überschwemmt sind, Menschen, die schon aus Gewohnheit jeden Winkel des Gebäudes in ein Scheißhaus verwandeln, den Gestank, den jeder einzelne Blinde ausdünstet, sodass auch die morgendlichen Blähungen oder die schweißgetränkten Körper die Luft nicht weiter verpesten könnten.

Der Wechsel aus diesen ausschweifenden Beschreibungen und den Dingen, die nur angedeutet werden, sorgt für eine unglaublich dichte Atmosphäre. Viele Schrecken muss man sich als Leser ausmalen, und manchmal kann die Fantasie noch schrecklicher sein als die Worte, die explizit aufgeschrieben werden. In einer Szene verbrennt eine Frau, und hier beweist José Saramago sein unglaubliches Sprachgefühl, denn er nimmt sich zurück und überlässt es dem Leser selbst, wie er sich diese Situation vorzustellen hat:

|“[…] o ja, sie sind nicht vergessen, die Schreie der Wut und der Angst, das Brüllen vor Schmerz und Agonie, das sei hier erwähnt, es werden auf jeden Fall immer weniger, die Frau mit dem Feuerzeug zum Beispiel schweigt schon seit langem. […] Lieber sterbe ich durch einen Schuß als im Feuer, es schien die Stimme der Erfahrung zu sein, deshalb war es vielleicht nicht er selbst, der sprach, sondern vielleicht hatte durch seinen Mund die Frau mit dem Feuerzeug gesprochen, die nicht das Glück gehabt hatte, von einer letzten Kugel durch den blinden Buchhalter getroffen worden zu sein.“|

Das Schweigen der Frau wird den Schreien der Wut und Angst gegenübergestellt und wirkt dadurch noch dramatischer. Diese Worte, die Saramago fast schon lapidar dahingeschrieben hat, erhalten dadurch eine viel stärkere Wirkung. Erst zwei Seiten später deutet Saramago das Unglück an, das der Frau mit dem Feuerzeug widerfahren ist, denn sie ist bei lebendigem Leibe verbrannt.

Besonders gelungen empfand ich auch Saramagos Beschreibungen des Hausstaubs, der die Abwesenheit der Bewohner genutzt hat, um sich friedlich und still auf den Möbeln zu verteilen. Niemand hat ihn dabei gestört, niemand ihn aufgewirbelt oder gar abgewischt. Kein geöffnetes Fenster hat für Durchzug gesorgt und den Staub verteilt. Erst als die Bewohner zurückkamen, begann der Reinigungsprozess – Finger, die über Möbel wischten und den Staub verteilten und Spuren auf der Oberfläche hinterließen. José Saramagos Schreibstil versetzt den Leser mitten in die Szene, der Autor nimmt uns an die Hand und zeigt uns alles, das er für wichtig erachtet. So kann man tief in diese aufreibende Geschichte abtauchen.

_An der Menschlichkeit festhalten_

|“[…] jemanden mit sehenden Augen unter uns zu haben, die letzten, die geblieben sind, wenn sie eines Tages erlöschen, daran möchte ich gar nicht denken, dann wird der Faden, der uns an die Menschheit bindet, zerreißen, es wird sein, als würden wir uns einer vom anderen im Weltraum entfernen, für immer […]“|

Nur dieses eine zarte Band – die sehenden Augen der Frau des Arztes – ist es, das für einige Blinde Hoffnung bedeutet, doch auch Verzweiflung, denn die Augen sind so empfindlich – und was wäre, wenn auch diese letzten erlöschen würden? Fragen der Hoffnung, der Menschlichkeit, des Zusammenlebens, des Misstrauens und der Freundschaft sind es, die José Saramago hier aufwirft. Nie hätte ich mir die Situation so dramatisch ausgemalt, wenn plötzlich alle Menschen erblinden würden, doch natürlich müsste die Situation eskalieren – zunächst durch die Angst der noch Sehenden und dann durch das Chaos, wenn niemand sich mehr um eine geordnete Lebensmittelversorgung oder um die Elektrizität kümmern könnte. Die Menschen müssten zugrunde gehen, und wie dieses Zusammenleben dann aussehen könnte, stellt uns Saramago eindrucksvoll vor.

„Die Stadt der Blinden“ ist ein Buch, das sehr nachdenklich stimmt. Sind wir wirklich so kurz davor, unsere Menschenwürde aufzugeben und allen Mitmenschen zu misstrauen, wenn uns das Augenlicht verloren geht? Werden wir nicht nur mit den Augen blind, sondern auch mit dem Herzen? Und was bedeutet es, wenn niemand mehr sehen kann – kein Arbeiter, keine Regierung …? Dieses Buch fordert den Leser inhaltlich und sprachlich heraus, erzählt aber eine umso bewegendere Geschichte, die nachwirkt und mich tief beeindruckt hat. Ein Buch, welches das Prädikat ‚besonders wertvoll‘ definitiv verdient hat!

|Originaltitel: Ensaio sobre a Cegueira
Deutsch von Ray-Güde Mertin
398 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-499-22467-6|
http://www.rowohlt.de
[Wikipedia-Eintrag]http://de.wikipedia.org/wiki/Jos%C3%A9__Saramago

Benni, Stefano – schnellfüßige Achilles, Der

_“Es ist zwar nicht Beckett …“_

Ulysses ist Lektor in einem kleinen Verlag, der sich mit unaufhaltsamen Schritten auf den Ruin zu bewegt. Rettung könnte ein erfolgreicher Roman bringen, den es jedoch unter der Unmenge von Einsendungen zahlreicher Möchtegernschrifsteller erst noch zu finden gilt. Während Ulysses also die Nächte mit Manuskripten verbringt, deren Autoren und Figuren ihn bis in die Träume sowie auch tagsüber verfolgen, fordert die aufreizende Sekretärin Circe beständig seine Treue heraus. Obendrein droht seiner bildhübschen Freundin Pilar Penelope die Abschiebung. In dieser Situation macht Ulysses die Bekanntschaft des schwer körperbehinderten und durch eine missglückte OP entstellten Achilles, welcher mit Ulysses‘ Hilfe ein Buch schreibt, das den Verlag retten wird.

So viel zum Inhalt des Romans des italienischen Schriftstellers und Kolumnisten Stefano Benni, der in „Der schnellfüßige Achilles“ einen ironisch komischen Blick auf den Alltag eines Kleinverlages wirft. Der Autor hat sich in seinem Heimatland mit satirischen und politischen Texten einen Namen gemacht. Nach seinem Erstlingsroman „Terra“ (1983) veröffentlichte er in den Folgejahren weitere fantastische Werke. Was jedoch diesen Roman abgesehen von seinem durchaus originellen und in der Realität der Gegenwart angesiedelten Plot lesenswert macht, ist vor allem die überschäumende Fantasie des Autors, sein Spiel mit Ideen, Ironie und Intertextualität. Das fängt bereits bei den Namen der drei Protagonisten an, welche allesamt nach Helden von griechischen Sagen benannt sind, deren Heldenstatus sich wiederum ironisch an der Realität bricht. So muss der Abenteurer Odysseus (Ulysses) seine um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten strippende, aber sonst absolut treue Penelope vor der Auswanderungsbehörde retten; während der beinahe unverwundbare Achilles tatsächlich ein an den Rollstuhl gefesselter Krüppel und nur in seiner Fantasie ein schnellfüßiger Held sein kann. Denkt man weiter, ergibt sich die Tatsache, dass Italos in einem latent fremdenfeindlichen Italien, welches tatsächlich von einem beständigen Flüchtlingsstrom aus Afrika heimgesucht wird, bei Benni nun von einer illegal eingewanderten Latinoschönheit gezeugt wird.

Doch kritisiert Benni auf den 260 Seiten nicht nur gesellschaftliche Phänomene wie Fremdenfeindlichkeit, menschlichen Wankelmut und den Drang zur Öffentlichkeit, sondern auch Politiker sowie Gesetzesvertreter, bei denen Korruption und Bestechung an der Tagesordnung sind. Dabei führt der allgegenwärtige Einfluss der Politik in „Der schnellfüßige Achilles“ nicht zur Ausweisung von Pilar, sondern ironischerweise nur zur Publikation eines weniger guten Buches. Wortspiele wie „Skriptmanuse“ statt Manuskripte oder die Verweigerung von Anglizismen, was beispielsweise zur Folge hat, dass die Protagonisten einen „Hahnenschwanz“ statt einen Cocktail trinken, sind nur die Spitze des intellektuellen Spiels mit Wortbedeutungen sowie von metatheoretischen Ausflügen ins Schreiben. Mit Hilfe der Manuskripttexte und des skurrilen Buches, in welchem Achilles sein und Ulysses‘ Leben verfremdet darstellt, gelingt es Benni, verschiedenste Textgattungen miteinander zu verweben und Möglichkeiten literarischen Schreibens aufzuzeigen. Den durchaus philosophischen Betrachtungen über Leben, Tod, Liebe und Freundschaft wird dadurch eine komische Komponente hinzugefügt. Dieses Umschlagen ins Humorvolle bewahrt den Autor stets vor philosophierendem Geschwafel. Außerdem hat Benni in den Figuren selbst bereits eine breite Intertextualität angelegt. Der eine ist Lektor und Schriftsteller; der andere hat sich eine riesige Bibliothek einverleibt, um aus der Literatur das zu lernen, was das Leben ihm verwehrt hat. So findet man zum Beispiel eine vergleichende Anspielung auf Kafkas hässlichen Käfer in [„Die Verwandlung“. 2395

Beeindruckend gelingt es dem Autor außerdem, Realität und Fiktion immer wieder verschmelzen zu lassen. Ulysses leidet an der „Bäckerkrankheit“, welche ihn nachts wach hält und tagsüber immer wieder unvermittelt einschlafen und träumen lässt. Somit wird es dem Leser schwer gemacht, sich von der Geschichte einlullen zu lassen. Immer wieder befindet man sich unvermittelt an Punkten, an denen man sich fragt, ob Ulysses noch wach ist oder schon wieder träumt. Manchmal scheinen die Träume in ihrer Absurdität gar nicht so realitätsfern zu sein.

Die Sprache ist dabei so vielfältig wie die Textgattungen. Vor allem Achilles neigt zu einer derben Ausdrucksweise, insbesondere was die Sexualität betrifft. Er liebt es, mit seiner Ausdrucksweise zu verstören, um von seiner verstörenden Erscheinung abzulenken. Zum Schluss bleibt es dem Leser überlassen, ob man an einen Selbstmord oder Mord von Achilles glauben möchte. Doch ahnt man als Leser nun, was es bedeuten könnte, eine „unerträgliche Wahrheit“ gesehen zu haben, die „sich in einem dunklen Winkel des Herzens festsetzt“. Es gibt nicht viele zeitgenössische Autoren, die es ihren Lesern ermöglichen, gleichzeitig anspruchsvolle Literatur zu genießen, zu lachen und sich zudem unmerklich mit einem Text und seinen Anspielungen auf die eigene Welt auseinanderzusetzen. Oder um es mit den Worten von Achilles zu sagen: „Es ist zwar nicht Beckett, aber doch ein merkwürdiges Buch. Und vor allem ist es kurz.“

|Originaltitel: Achille piè veloce
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
265 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-404-92302-1|
http://www.blt.de

Kürthy, Ildikó von – Schwerelos

|“Wenn man die dreißig hinter sich gelassen hat, tut man gut daran, wichtige Termine auf den sehr späten Vormittag zu legen, um dem eigenen Gesicht genügend Zeit zu geben, sich zu entrunzeln und daran zu erinnern, dass irgendwo unter dieser alten Haut auch noch ein paar Bindegewebszellen stecken, die gefälligst allmählich ihren Dienst anzutreten haben.“|

Ildikó von Kürthy, freie Journalistin aus Hamburg und die Meisterin der gepflegten Frauenlektüre, legt nun endlich mit ihrem neuen Frauenroman nach. Nachdem sie mit ihren Verkaufsschlagern „Mondscheintarif“ oder auch „Freizeichen“ bewiesen hat, dass sie die Frau von heute, Anfang oder Mitte 30, so treffend beschreiben kann, dass sich fast jede Leserin in diesem Alter in der einen oder anderen Szene wiederfindet (oder auch in fast allen), erfindet sie mit Rosemarie Goldhausen, kurz Marie, eine neue Anti-Heldin, die man auf leider nur 251 Seiten kennen und lieben lernt.

_Ja oder nein – das ist hier die Frage_

Marie begräbt ihre Lieblingstante, die den gleichen Namen getragen hat wie sie. Rosemarie war erst 77 und stand mitten im Leben. Gerade war sie mit ihrem neuen Freund nach Kapstadt geflogen, doch sollte sie aus diesem Urlaub nicht zurückkehren. Obwohl die beiden Rosemaries den gleichen Namen hatten, hatten sie doch wenig gemeinsam. Während die Tante ihr Leben in vollen Zügen genossen und keine Minute mit einem Mann verschwendet hat, mit dem sie nicht vollkommen zufrieden war, gibt sich die junge Marie mit Frank zufrieden, obwohl die große Liebe und die Schmetterlinge im Bauch in der Beziehung fehlen. Sie geht ihr Leben ganz pragmatisch an, will kein Risiko eingehen und lässt sich dadurch viele Chancen entgehen. „Werd‘ endlich unvernünftig!“ rät ihr daher die geliebte Tante vor ihrem Tod.

Und diesen Rat nimmt Marie nun ernst. Als Frank ihr nach fast zehn Jahren Beziehung endlich den ersehnten Heiratsantrag macht, sagt Marie nicht im vollen Überschwang der Gefühle „ja“, sondern erbittet sich Bedenkzeit. Damit stößt sie Frank zwar vor den Kopf, aber sie erkennt, dass sie diese Zeit tatsächlich zum Nachdenken braucht. Auch mit ihrem Job bei einem stinklangweiligen Fachverlag ist sie unglücklich. Die literarischen Werke, die sie dort als Lektorin betreuen muss, widmen sich immer wieder der Esoterik oder der Bachblütentherapie, Risiken will man in dem Verlag nicht eingehen. Doch dann ist Maries Chefin im Urlaub, und Marie hat die einmalige Gelegenheit, einen Autor an Land zu ziehen, der den ultimativen Eheratgeber geschrieben hat. Der Verlagsleiter kocht vor Wut – allerdings nur so lange, bis der Ratgeber alle Bestsellerlisten stürmt und sich dort monatelang halten kann.

Während Marie darüber nachdenkt, ob Frank der richtige Mann fürs Leben ist, hilft sie ihrer Cousine, die schwanger ist, aber nicht weiß, von welchem Mann, bei der Geburtsvorbereitung. Glücklicherweise wünscht sich Maries bester Freund Erdal unbedingt ein Kind, obwohl er mit einem Mann zusammenlebt und schwul ist – das passt doch wunderbar zusammen. Und so begleiten Erdal und Marie ihre Cousine schon bald zum Geburtsvorbereitungskurs, wo Marie neidvoll feststellen muss, dass Erdal seine Gebärmutter besser fühlen kann als die meisten schwangeren Frauen im Kurs. Maries beste Freundin betrügt derweil ihren Mann mit einem bekannten Stadtpolitiker, womit sie vollkommen zufrieden ist. Als Marie sich dann auch noch in einen gutaussehenden Fernsehmoderator verliebt, ist das Chaos in ihrem Leben eigentlich perfekt, aber am Ende sorgt ihre tote Tante dafür, dass alles gut wird …

_Mittdreißigerin auf Abwegen_

„Schwerelos“ beginnt einmal ganz ungewöhnlich. Marie steht auf dem Friedhof und liest auf dem Grabstein am offenen Grab ihren eigenen Namen – allerdings falsch geschrieben, weil der Grabstein ein besonderes Schnäppchen war, das ihre Mutter gemacht hat. Nur leider ist der Stein so schmal, dass „Rosemarie Goldhausen“ nur mit zwei Trennstrichen draufpasst, von denen einer auch noch fehlt. Erst einige Seiten später klärt Ildikó von Kürthy auf, dass Marie ihre Tante begräbt und nicht etwa sich selbst. In vielen Rückblenden erfahren wir mehr über das Verhältnis von Marie und ihrer Tante und über die Freundschaft zwischen zwei so ungleichen Frauen. Doch obwohl die Tante tot ist, erinnert sich Marie immer wieder an ihre Ratschläge und fängt erstmals an, diese auch zu befolgen. Denn sie merkt, dass sie zwar fast 37 Jahre alt ist, aber doch ihr Leben nicht voll auskostet. Und das soll sich nun ändern.

Diese Rückblenden sind leider ein Problem des Buches, denn von Kürthy wechselt unvermittelt und ziemlich häufig die Zeitebenen, sodass man manchmal nur schwer folgen kann und deswegen auch nicht immer sortiert bekommt, welche Ereignisse in der Vergangenheit liegen und welche aktuell passieren. Hier habe ich zugegebenermaßen manchmal den Faden verloren.

Gut gefallen hat mir dagegen die Hauptfigur Marie, die wieder einmal herrlich unperfekt ist und mit sich und ihrem Leben hadert. Natürlich haben alle anderen Frauen eine bessere Figur und niemand sieht morgens so zerknittert aus wie sie selbst, und im Übrigen ist ihr Job sterbenslangweilig, genau wie ihre Beziehung auch. Je weiter wir Marie auf ihrem Weg begleiten, umso mehr eröffnet sich uns ein eher trostloses Bild ihres Lebens. Sie hat den sicheren Weg ohne Aufregungen und ohne Überraschungen gewählt, „schwerelos“ fühlt sie sich dabei niemals. Doch die Tante mit ihren guten Ratschlägen krempelt Maries Leben nun sogar postum um, denn der plötzliche Tod ihrer Tante bringt Marie erstmals so richtig ins Grübeln.

Diese Wandlung gefiel mir ausgesprochen gut, zumal sie absolut nachvollziehbar war, denn jede(r) kennt Beziehungen, die herrlich bequem sind, aber auch nicht mehr. Oftmals verharrt man in diesen Beziehungen, weil ja doch alles ganz gut läuft und man der Meinung ist, dass es besser ist als ein neuer Partner, der vielleicht total aufregend ist, diese Aufregung aber womöglich auch mit anderen Frauen ausleben will. Gemeinsam mit Marie suchen wir nach Abwechslung und nach dem Mann, der bei Marie wieder für Schmetterlinge im Bauch sorgt. Mit Marie hat Ildikó von Kürthy eine Frauenfigur gezeichnet, die nicht nur unperfekt ist und sich somit prima zur Identifikationsfigur eignet, sondern die auch bereit ist, ihr Leben auf den Kopf zu stellen, selbst wenn das mal unangenehm werden kann. Sie scheut sich nicht länger vor Risiken und macht sich aktiv daran, ihr Leben auf die Reihe zu bringen. Diese Eigenschaft gefiel mir wunderbar, da wir hier nicht die jammernde Frau Anfang 30 kennen lernen, die nichts anderes will als in ihrem eigenen Elend zu versinken.

Auch die anderen Charaktere sind herrlich sympathisch gezeichnet; selbst die tote Tante lernen wir gut kennen – einmal in den Rückblenden, aber auch in Maries Erinnerungen und in den vielen weisen Sprüchen, die ihre Tante Marie mit auf den Weg gegeben hat. In „Schwerelos“ gibt es auch ein nettes Wiedersehen mit dem schwulen Halbtürken Erdal, der bereits in „Höhenrausch“ seinen großen Auftritt hatte. Hier lebt er nun glücklich und zufrieden mit seinem Freund Karsten zusammen. Zwar plagen ihn nach wie vor die Asthmaanfälle, aber als Marie ihm tatsächlich ein „Baby besorgen“ kann, ist für Erdal alles perfekt, und er widmet sich gleich liebevoll seiner neuen Vaterrolle – oder ist es doch eher die Mutterrolle?

_Witz komm raus, du bist umzingelt_

Der Grund, warum ich immer wieder zu Ildikó von Kürthys Büchern greife, ist neben ihren herrlich menschlichen und komplizierten Frauenfiguren vor allem ihr Wortwitz und ihr Talent, Situationen zu überzeichnen und wunderbare Metaphern zu finden. Allerdings ist die Wortwitzdichte in dem vorliegenden Buch zugegebenermaßen nicht so groß wie in von Kürthys früheren Werken. Dennoch nimmt die Autorin insbesondere das Altern und auch überflüssige Pölsterchen aufs Korn.

Zwei Beispiele:

|“Ausgerechnet Veronica Ferres findet sich, wie ich der ‚Bunten‘ entnahm, sehr ansehnlich: ‚Ich liebe meine Falten, denn jede einzelne bedeutet gelebtes Leben.‘ Dasselbe könnte man natürlich auch über jeden verlorenen Zahn sagen, über Tränensäcke, Alterskurzsichtigkeit und über Schlupflider, die einem zunehmend die Sicht versperren.“|

|“Ich frage mich wirklich, wie diese Frauen das machen: Passen Minuten nach der Entbindung wieder in ihre 27er Miss-Sixty-Jeans und rennen leichtfüßig zwei Wochen später hinter ihrem Jogging-Kinderwagen an der Alster entlang. Für mich immer noch demütigend ist die Szene, wie Heidi Klum vier Wochen nach der Geburt ihres zweiten Kindes in Unterwäsche für Victoria’s Secret über den Laufsteg schwebte. Man sah ihr nichts an. Und ich? Ich habe noch nicht mal ein einziges Kind bekommen – was man mir leider auch nicht ansieht.“|

Immer wieder überspitzt Ildikó von Kürthy die beschriebenen weiblichen Problemzonen dermaßen komisch, dass ich mich beim Lesen köstlich amüsieren kann. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, die Schlupflider so zu vergrößern, dass sie die Sicht versperren. Auch der Gedanken an die frisch gebackene Mutter, die direkt nach dem Kreißsaal in ihre bauchfreie Minijeans steigt und nur 14 Tage später um die Alster joggt, ist so herrlich überzeichnet, dass die eigentlich belanglose Szene dadurch unheimlich an Witz gewinnt.

Auch einem Thema wie die Frau beim Sex, die in Gedanken den Einkaufszettel zusammenstellt oder darüber nachdenkt, dass sie den Anfang ihrer Lieblingsserie verpasst, das bereits tausendfach in einschlägigen Frauenzeitschriften abgehandelt wurde, gewinnt von Kürthy noch eine neue Seite ab:

|“Ich nutze die Zeit während des Beischlafs lieber sinnvoll. […] Als ich das letzte Mal mit Frank geschlafen habe, auch schon wieder ein paar Wochen her, habe ich mich zum Beispiel gefragt, warum Barbapapas keine Beine haben und wie sie sich eigentlich fortbewegen. Eine interessante Fragestellung, die meines Wissens noch nirgends hinreichend beantwortet wurde. Immerhin war ich so taktvoll, dieses Problem mit mir selbst auszumachen und mich ein wenig über mich selbst zu wundern – allerdings nur so lange, bis mich Frank kurz nach Abschluss des Aktes als solchem unvermittelt fragte: ‚Sag mal, lebt Inge Meysel eigentlich noch?'“|

Hier wälzt Marie ihrer Meinung nach echte Probleme, aber auch ihr Herzbube ist mit den Gedanken offensichtlich ganz woanders, wie sonst kann er kurz nach dem Akt schon an die verschrumpelte Grand Dame des deutschen Fernsehens denken?

_Kurzes Lesevergnügen_

Leider hat frau „Schwerelos“ nur allzu schnell durchgelesen; schon nach drei bis vier Stunden heißt es wieder Abschied nehmen von Marie und ihren Freunden und Problemen. Aber natürlich versöhnt das Ende die Leserin und lässt sie zufrieden zurück. Ausgeschmückt wird das schrecklich pinkfarbene Buch von einigen Zeichnungen aus der Feder Tomek Sadurskis, die stets zu den beschriebenen Szenen passen, aber alle Pink als Grundfarbe aufweisen. Meinen Geschmack haben die Zeichnungen jetzt nicht so sehr getroffen, dennoch lockern sie die Optik des Buches ganz nett auf.

„Schwerelos“ ist ein locker-flockiges Lesevergnügen, das von seinen fantastischen Charakteren und Ildikó von Kürthys erfrischendem Schreibstil lebt. Mit ihrem Wortwitz sorgt die Autorin immer wieder für kleine bis große Schmunzler, zumal frau sich immer wieder in den Beschreibungen wiederfindet. Einzig die verwirrenden Zeitsprünge störten den Lesefluss etwas, sodass es „Schwerelos“ unter dem Strich nicht aufnehmen kann mit von Kürthys hochbejubelten Werken „Mondscheintarif“ und „Freizeichen“. Nichtsdestotrotz hat Ildikó von Kürthy ihren Ruf als Meisterin des Frauenromans wieder einmal erfolgreich verteidigt!

_Mehr von Ildikó von Kürthy auf |Buchwurm.info|:_
[„Freizeichen“ 838
[„Höhenrauch“ 2672

http://www.rowohlt.de

Marc Levy – Kinder der Hoffnung

Frankreich, 1940. Das Land ächzt unter der Besatzung der Militärmacht Deutschland unter der Führung der Nationalsozialisten. Als Frankreich besiegt und ein Waffenstillstand vereinbart wurde, schlug die Geburtsstunde der Widerstandsbewegungen in Frankreich, der Résistance. Sie kämpfte gegen die deutsche Besatzungsmacht und kollaborierenden französischen Institutionen und auch gegen Sympathisanten innerhalb der Bevölkerung. Die Résistance war hervorragend und streng organisiert. Es gab innerhalb der Widerstandsbewegung kleinere operierende Gruppen, die Bahn- und Nachschubverbindungen sabotierten, Anschläge auf Soldaten und Offiziere verübten sowie Kasernen und Stützpunkte zerstörten.

Marc Levy – Kinder der Hoffnung weiterlesen

Allende, Isabel – Siegel der Tage, Das

Isabel Allende, chilenische Bestseller-Autorin mit Wohnsitz in San Fancisco, geht mittlerweile stark auf die siebzig zu, und doch scheint sie keineswegs müde. Erst letztes Jahr erschien ihr farbenprächtiger historischer Roman [„Inés meines Herzens“, 4229 und auf den aktuellen PR-Fotos, die auf ihrer Homepage einsehbar sind, lacht sie strahlend in die Kamera. Vielleicht ist Allende ja tatsächlich ein bisschen altersweiser geworden, verspürt den Wunsch nach Reflektion ihres Lebens stärker denn je. Doch gleichzeitig ist sie immer noch leidenschaftlich, spleenig und ein erzählerischer Wirbelwind.

Ihr neuestes Buch, „Das Siegel der Tage“, knüpft lose an ihren großen Erfolg „Paula“ an, einem romanhaften Brief an ihre sterbende Tochter Paula, der ihr die Geschichte der Allendes – also ihre eigene Geschichte – näherbringen soll. „Paula“ ist ein intimes Buch, ein Buch, das vom großen Mut seiner Autorin zeugt, sich der Geschichte, dem Schmerz und dem eigenen Leben zu stellen. „Paula“ zu lesen, ist ergreifend, auch weil durch all die Trauer um die verlorene Tochter die unglaubliche Stärke dieser Isabel Allende durchscheint.

„Das Siegel der Tage“ nun ist eine Art Fortsetzung; wieder beginnt Allende mit einem Adressat an ihre Tochter. Diesmal ist es eine Reminiszenz an deren Beerdigung. Die vertrauliche Anrede, „du, meine Tochter“, wird der Leser des Öfteren während der Lektüre finden, doch die Verbindung ist lockerer. Allende kehrt immer wieder zu Paula zurück, doch das erlebte Leid ist nicht mehr so allgegenwärtig wie in „Paula“.

Was geschah also nach Paulas Tod? Wie ging es mit der Familie weiter? Genau das, und vieles mehr, packt Allende in ihren langen Brief. Sie erzählt von der lähmenden Trauer nach Paulas Tod, dem Stillstand in ihrem eigenen Leben. Sie erzählt, wie diese Zäsur fast ihre Ehe zerstört hätte. Kurzum, sie erzählt, wie es mit der Sippe weitergeht. Dabei gibt es längst nicht nur Happy Ends, doch auch in katastrophalen Situationen, die das Potenzial haben, eine Familie komplett zu zerstören, verliert Allende nie den unerschütterlichen Glauben daran, dass sich alles irgendwie und irgendwann zum Positiven wenden wird. Es ist diese Grundeinstellung, dieser unverwüstliche Wunsch nach Leben, der sich bei der Lektüre unweigerlich auf den Leser überträgt. Und dieses Feel-Good, trotz aller Widrigkeiten und Probleme, ist eines der Geheimnisse von Isabel Allendes Prosa.

Isabel Allende schart eine große Familie um sich, nicht nur ihre leibliche, sondern auch eine angeheiratete und „adoptierte“ (so hat sie kein Problem damit, auch enge Freunde zur Sippe zu zählen). Diese unorthodoxe Großfamilie bietet ihr einen perfekten Spielplatz, um „Das Siegel der Tage“ mit erheiternden, spannenden, komischen, mitreißenden und persönlichen Anekdoten zu füllen. Der Leser erfährt tatsächlich ziemlich genau, was seit Paulas Tod im Leben der Allende passiert ist. Einiges davon kennt man schon, anderes ist neu, und es ist wohl auch diese Melange aus Bekanntem und Neuem, die beim Leser den Eindruck erweckt, zum Plausch bei einer guten Freundin eingeladen zu sein. Sie sieht ihren Leser als Freund, dem man auch Geheimnisse anvertrauen kann, und als Leser kann man sich des Eindrucks der Demut nicht erwehren, dass einem solcherart Ereignisse so offen und ehrlich anvertraut werden.

Die Kritik hat ihr das offensichtlich übel genommen. Die Rezensentin der |Süddeutschen Zeitung| sieht den Voyeurismus des Lesers bedient und spricht erschrocken von „Intimitäts-Terror“. Das sei alles nur ein einfaches Herunterschreiben von Familiengeschichten, an dem nichts Erdachtes zu finden sei – was in ihren Augen offensichtlich ein Qualitätsmakel ist. Dabei wird ein aufmerksamer Leser längst gemerkt haben, dass Isabel Allendes Bücher schon immer (auto)biographisch waren. Mal mehr, mal weniger hat sie Familienmitglieder verfremdet und zu Protagonisten gemacht – im „Geisterhaus“, im „Unendlichen Plan“, in „Paula“, in [„Mein erfundenes Land“ 2979 – überall findet sich der Allende-Clan wieder. Es ist gerade ihre Stärke, Biographien in Romane und Profanes in Literarisches zu verwandeln. Bei der Veröffentlichung von „Paula“ wurde ihr dafür noch applaudiert, bei „Das Siegel der Tage“ ist das gleiche Prinzip plötzlich anrüchig? Wohl kaum …

„Das Siegel der Tage“ trägt weder den Untertitel ‚Roman‘ noch ‚Autobiographie‘, und das aus gutem Grund, denn es ist weder das eine noch das andere. Sicher, die Charaktere existieren – sie sind Familie und Freunde der Autorin. Doch zu welchem Grad sie und ihre Lebenswege fiktionalisiert wurden, das bleibt das Geheimnis der Autorin, die sich persönlich keinen Deut um den Zusammenhang zwischen Fiktion und Realität schert. „Jedes Leben kann wie ein Roman erzählt werden, wir sind alle Hauptfiguren unserer eigenen Geschichte“, sagt sie relativ am Anfang des Buches, um daraufhin den Beweis ihrer These anzutreten. „Meine Darstellung der Ereignisse ist eigenwillig und überspitzt“, heißt es später. Solche kleinen Einwürfe sollten dem Leser eigentlich Hinweis genug sein, um einschätzen zu können, inwieweit er hier eine Intimschau der Autorin vor sich hat.

Zugegeben, „Das Siegel der Tage“ wird sicherlich hauptsächlich für Leser interessant sein, die Allendes Bücher kennen und mehr über die Autorin erfahren wollen. Sie rekapituliert nicht nur die fünfzehn Jahre seit Paulas Tod, sondern gibt auch Einblick in ihr Schaffen. Wie schreibt sie? Wie findet sie Stoffe? Wie entstehen ihre Romane und wie empfindet sie Lesereisen? Doch am beeindruckendsten ist zu sehen, dass die starken Protagonistinnen, die Allende gern auftreten lässt, keineswegs unerreichbare Heldinnen sind. Isabel Allende lebt diese unerschütterliche Stärke vor. Sie kämpft, sie liebt und sie steht wieder auf, wenn sie gefallen ist. Sie hat ihre Schwächen (es scheint, als wäre sie als Schwiegermutter ein echter Drachen) und sie ist nicht immer erfolgreich. Aber ihr Durchhaltewillen und ihre Leidenschaft – in allen Dingen des Lebens – machen sie, genauso wie ihre Bücher, so unglaublich bemerkenswert.

|Originaltitel: La Suma de los Días
Aus dem Spanischen von Svenja Becker
409 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-518-42010-2|
http://www.suhrkamp.de

_Mehr von Isabel Allende auf |Buchwurm.info|:_

[„Zorro“ 1754
[„Mein erfundenes Land“ 2979
[„Inés meines Herzens“ 4229
[„Im Bann der Masken“ 605
[„Die Stadt der wilden Götter“ 1431
[„Im Reich des goldenen Drachen“ 1432

Hein, Jakob – Vor mir der Tag und hinter mir die Nacht

Das Buch beginnt mit einer herrlich verrückten Idee: Boris Moser, ein sympathisch unkonventioneller Mensch und Geschäftsmann, ist durch eine Erbschaft zu etwas Geld gekommen und erfüllt sich seinen Traum: Er eröffnet eine „Agentur für verworfene Ideen.“ Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, auch die irrwitzigsten Gedanken zu sammeln, um vielleicht für den einen oder anderen Gedankentopf einen Gedankendeckel zu finden.

Der passende Deckel auf seinen Topf kommt eines Tages in Gestalt seiner ersten Kundin, Rebecca, in den Laden. Diese hat sich zwar im Grunde nur verlaufen, lässt sich aber dann doch bereitwillig auf ein amüsantes Gespräch über skurrile Ideen und alltägliche Außergewöhnlichkeiten verwickeln. Damit sie nicht, wie alle Frauen zuvor, einfach wieder aus seinem Leben verschwindet, beginnt Boris schließlich, ihr einen der vielen Romananfängen zu erzählen, die er in seiner Agentur gesammelt hat.

Nun beginnt eine Reihe von ineinander verschachtelten Geschichten. Die eine ist kaum angefangen, da beginnt eine ihrer Hauptpersonen eine neue Geschichte zu erzählen, nur um dann gleich die nächste einzuleiten. Alle Menschen in Jakob Heins Roman sind auf der Suche: der eine nach der Liebe, eine nach der besten Freundin und ein anderer gleich nach dem Sinn des Lebens. Wie Boris, den man zuweilen völlig aus den Augen verliert, wollen alle den Punkt erreichen, an dem sie die Nacht hinter sich lassen können und der Tag auf sie wartet.

Vielleicht hat der Autor hier selbst ein paar verworfene Ideen verarbeitet! Obwohl die Handlungen der einzelnen, man möchte fast sagen: Kurzgeschichten kaum miteinander verbunden sind, sind die Übergänge fließend. Durch den ungewöhnlichen Aufbau des recht kurzen Buches kann Jakob Hein zudem eine Vielzahl von verschiedenen Personen und Gedanken unterbringen und zu einem einzigen Roman zusammenzufügen.

Das Schönste an diesem Buch sind jedoch die kleinen und großen Ausschweifungen, die mit origineller Sprache und Wortwitz die Absurditäten und Besonderheiten des Alltags beschreiben und wahrscheinlich jedem Leser ein Grinsen aufs Gesicht zwingen.

|173 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-492-05207-8|
http://www.piper-verlag.de

_Wolfgang Roidl_

Carlotto, Massimo – dunkle Unermesslichkeit des Todes, Die

Silvano Contin ist der Vater eines ermordeten Kindes und der Ehemann einer ermordeten Frau. 15 Jahre nach dem Verbrechen erhält er einen Brief aus dem Gefängnis, mit der Bitte des Mörders, Raffaello Beggiato, sein Gnadengesuch zu unterstützen. Bei einem schlecht geplanten Raubüberfall erschossen Beggiato und sein Komplize im Koksrausch den achtjährigen Jungen und seine Mutter. Während der zweite Täter unerkannt mit der Beute fliehen konnte, musste Beggiato als Raubmörder lebenslänglich hinter Gitter. Nun, da bei ihm eine tödliche Krankheit diagnostiziert wurde, lässt er nichts unversucht, um zumindest in Freiheit zu sterben. Nur bedarf es dazu einer Stellungnahme Silvano Contins.

Contins Leben hat sich nach dem Tod seiner Familie drastisch geändert. Er hat seinen Beruf aufgegeben, alle sozialen Kontakte abgebrochen und lebt seit 15 Jahren mit der Erinnerung an seine Liebsten in „der dunklen Unermesslichkeit des Todes.“ An Verzeihen ist freilich nicht zu denken, doch mit der Freilassung des ohnehin todgeweihten Mörders bietet sich Silvano Contin endlich die Chance, auch den zweiten Täter zu finden und ihn einer gerechten Strafe zuzuführen.

Mit „Die dunkle Unermesslichkeit des Todes“ hat Massimo Carlotto keinen gewöhnlichen Krimi geschrieben. Nicht das Verbrechen, sondern dessen Auswirkungen auf den Täter und die Hinterbliebenen der Opfer stehen im Mittelpunkt des Romans. Die eigentliche Handlung des Buches plätschert gemächlich vor sich hin und nimmt erst in der zweiten Hälfte etwas Fahrt auf. Das Entscheidende jedoch passiert in den Köpfen der beiden Gegenspieler. Kapitelweise lässt uns der Autor abwechselnd in die Gedanken- und Gefühlswelt von Contin und Beggiato blicken. Obwohl von Seiten des Mörders oft wenig zu berichten ist – was den Aufbau zuweilen etwas künstlich wirken lässt -, hat Massimo Carlotto damit die richtige Form für sein Thema gefunden.

Spannend, kalt und mitunter in derber Sprache schafft er es, den Leser an beide Personen heranzuführen. Das Opfer Silvano Contin ist gefangen in den Erinnerungen an seine ermordete Familie. Er lebt verzweifelt und jedes schönen Gefühls beraubt vor sich hin. Erst die Aussicht auf Rache und Gerechtigkeit lässt ihn seinen täglichen Trott abschütteln. Nicht viel besser geht es dem nach 15 Jahren Knast zermürbten Täter, Raffaello Beggiato. Von Krebs zerfressen und von der Erinnerung an seine Tat gequält, bleibt ihm nur noch die Hoffnung, wenigstens noch die ihm verbleibende Zeit in Freiheit zu verbringen.

Wem die Sympathie der Leser gehört und wer hier Opfer und wer Täter ist, scheint zu Beginn des Buches noch sehr klar. Doch diese Kategorien werden nach und nach aufgelöst. Dabei geht der Roman weit über die persönlichen Schicksale seiner Akteure hinaus. Teils implizit und beiläufig, teils direkt fragt Carlotto nach dem Verhältnis von Mörder und Opfer in unserer Gesellschaft. Kann oder darf man mit Mördern Mitleid empfinden? Kann Rache gerecht sein? Oder kann sie wenigstens dem Opfer Gerechtigkeit verschaffen? In düsterer Atmosphäre wird diesen Gedanken nachgegangen, wobei 200 Seiten wohl leider etwas zu knapp sind, um ein solches Thema anzugehen.

Eine besondere Erwähnung verdient schließlich noch die beeindruckende Beschreibung des Gefängnisalltags. Massimo Carlotto, Jahrgang 1956, wurde in den 70ern selbst wegen eines Mordes, den er nicht begangen hatte, zu 18 Jahren Haft verurteilt und erst 1993 wieder freigelassen, woraufhin er sich der Schriftstellerei zuwandte. Radikal und bedrückend schildert er das Essen, den Drogenkonsum und die Sprache im Gefängnis, vor allem aber, wie Beggiato krampfhaft versucht, seinen Tag zu strukturieren, damit er nicht völlig den Verstand verliert.

„Die dunkle Unermesslichkeit des Todes“ ist in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Buch. Es hat eine ungewöhnliche Geschichte, ungewöhnliche Charaktere und ist überdies ungewöhnlich spannend. Wer einen Kriminalroman erwartet, wird nicht unbedingt enttäuscht sein. Und doch ist dies viel mehr als nur ein einfacher Krimi. Carlotto schreibt nicht über irgendein Verbrechen, er schreibt über das Verbrechen an sich.

|Originaltitel: L’oscura immensita della morte
Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel
188 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-608-50200-8|
http://www.klett-cotta.de/tropen.html

_Wolfgang Roidl_

Savage, Sam – Firmin – Ein Rattenleben

Ratten sind eigentlich nicht sonderlich beliebte und gern gesehene Geschöpfe, sieht man mal von den beiden rein fiktiven Artgenossen Rizzo (die „Muppets“-Ratte) und Rémy (die kochende Ratte aus „Ratatouille“) ab. Dieser Liste sympathischer Ratten kann man nun eine weitere hinzufügen: Firmin.

Firmin wächst im Keller einer Buchhandlung am Bostoner Scollay Square auf, als jüngstes von dreizehn Geschwistern. Als Kleinster und Schwächster des Wurfs hat Firmin keine leichte Kindheit. Im Kampf um eine freie Zitze bleibt er meist auf der Strecke, und während seine Geschwister groß und stark und (dank des stetigen Alkoholpegels von Mama Ratte) beschwipst werden, bleibt Firmin dürr und schwach. Seine Nahrung werden fortan die Bücher.

Firmin knabbert sich von Buch zu Buch, bis er eines Tage feststellt, dass auf den Seiten der Bücher Worte gedruckt stehen, die er nicht nur versteht, sondern die ihn auch sein Elend vergessen lassen. Und so frisst er sich fortan nur noch im übertragenen Sinne durch die Bücher. Er verschlingt Sachbücher und Belletristik gleichermaßen und ist fasziniert von der Welt der Menschen.

Er beobachtet das bunte Treiben in der Buchhandlung und ist überzeugt, dass ihn dank der gemeinsamen Liebe zu den Büchern schon bald eine innige Freundschaft mit Buchhändler Norman verbinden wird. Firmin macht sich auf, die Freundschaft der Menschen zu suchen, und bis er das erreicht hat, träumt er sich halt im Keller mithilfe der Bücher in die Welt der Menschen. Doch irgendwie stellt Firmin sich das alles ein wenig zu einfach vor …

Man mag erwarten, dass Firmin eine komische Figur und die Geschichte, wie er die Freundschaft der Menschen sucht, zwangsläufig lustig sein muss. Doch wer einen witzigen Roman über eine komische Ratte mit bibliophilen Neigungen erwartet, der dürfte etwas enttäuscht sein. Firmin hat zwar durchaus komische Züge, aber insgesamt bietet die Geschichte weit weniger Anlass zur Heiterkeit, als man auf den ersten Blick vermuten mag.

Sam Savage hat mit „Firmin – Ein Rattenleben“ vielmehr eine gleichermaßen melancholische wie liebenswürdige Geschichte geschrieben. Firmin ist der große Sympathieträger, der den Plot zusammenhält, und für manch einen mag Firmins Welt enttäuschend klein sehr. Er ist halt nur eine Ratte, und so kennt er nicht viel mehr als die Buchhandlung und das ebenfalls am Scollay Square gelegene Kino „Rialto“, in das er sich gerne zwecks Nahrungssuche und Horizonterweiterung begibt.

Der Plot bleibt damit auch stets sehr überschaubar, aber was den Roman eben so sympathisch macht, ist Sam Savages feinfühlige Art, nicht nur seinen ungewöhnlichen Protagonisten Firmin zu skizzieren, sondern auch die übrigen Figuren. Und so kommt die Geschichte eben größtenteils ohne Spannung im eigentlichen Sinne aus, und es ist mehr die charmante Hauptfigur, die den Leser durch den Roman zieht, als die Geschichte an sich.

Das mag manchem Leser zu wenig sein, aber wer die Muße hat, sich darauf einzulassen, der wird mit einer durchaus unterhaltsamen und warmherzigen Geschichte belohnt. Erst ungefähr ab der Hälfte ändert sich Weltbewegendes in Firmins Leben, und damit wird auch die Geschichte interessanter, musste sie doch vorher lediglich mit Andeutungen Firmins bezüglich zukünftiger Ereignisse auskommen.

Dass dennoch keine Langeweile aufkommt, ist sicherlich auch Sam Savages ebenso einfacher wie bildhafter Sprache zu verdanken. So kann sich der Roman trotz seines eher belanglos anmutenden Plots in wahres Kopfkino verwandeln und wird zu einem schönen Leseerlebnis.

Anhand von Firmin dokumentiert Sam Savage ein Kapitel der Stadtgeschichte Bostons, als der Scollay Square mit all seinen schummrigen Bars, kleinen Läden und schmierigen Kinos in den 60er Jahren der Moderne weichen musste. Firmin lebt genau zu dieser Zeit dort und sieht den Niedergang des Stadtteils von seinem Beobachtungsposten in der Buchhandlung.

Besonders ansprechend ist übrigens die Optik des Buches gelungen. „Schlampiger“ Buchschnitt, „schmuddeliger“ Schutzumschlag – man könnte fast glauben, der Roman hätte lange Jahre im Keller der Buchhandlung Staub angesetzt, bis eine dürre, bibliophile Ratte das Buch aus dem Regal gezogen hat …

Insgesamt bleibt von „Firmin – Ein Rattenleben“ ein durchaus positiver Eindruck zurück. Ein sehr leiser Roman – lebendig und charmant -, der die traurige Geschichte eines verkannten Außenseiters erzählt. Firmin muss man einfach ins Herz schließen. Wer die Muße hat, sich auf einen feinfühlig skizziert Roman mit sympathischen Figuren und einer wunderbar melancholischen Art einzulassen, der dürfte seine Freude daran haben. Wer aber Bücher vor allem nach Faktoren wie Spannung und Tempo misst, der dürfte sich langweilen und dabei ein herrlich warmherziges Kleinod verpassen.

|Originaltitel: Firmin. Adventures of a Metropolitan Lowlife
Deutsch von Susanne Aeckerle, Marion Balkenhol und Hermann Gieselbusch
213 Seiten, gebunden, Buchschnitt mit Rattenzahnung|
http://www.ullsteinbuchverlage.de/ullsteinhc/

Dasgupta, Rana – geschenkte Nacht, Die

_Märchenhaftes von den Rändern der menschlichen Fantasie_

Ein Flugzeug muss wegen eines Sturmes mitten im Nirgendwo notlanden. Verständlicherweise sind die Passagiere nicht gerade erfreut über den unfreiwilligen Aufenthalt; am wenigstens diejenigen, welche in keinem der umliegenden Hotels mehr untergebracht werden können. So kommt es, dass 13 Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern der Welt diese eine Nacht gemeinsam auf dem Flughafen zu verbringen gezwungen sind, obwohl jeder von ihnen eigentlich Termine oder andere Pläne gehabt hatte. Da ihnen in der unheimlichen Stille der Wartehalle schnell langweilig wird, schlägt einer der Wartenden vor, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen.

Solchermaßen führt der englische Autor indischer Abstammung Rana Dasgupta in seine Aneinanderreihung von märchenhaft fantastischen Geschichten aus der ganzen Welt ein. Sie spielen in Paris, London, Argentinien, Istanbul oder Odessa; stammen also aus so verschiedenen Orten wie die Erzählenden selbst und sind zeitgemäß global, trotz der märchenhaften Archetypen, die uns in Gestalt von Fabelwesen begegnen.

Einer Geschichte über einen unglücklichen Schneider folgen zwölf weitere, die einander an Erzählkraft ein ums andere Mal zu übertreffen vermögen. Dabei verarbeitet der Autor Probleme unserer Zeit, die man in einer solchen erzählerischen Form nicht vermuten würde. Da ist beispielsweise ein Paar, welches auf natürlichem Wege keine Kinder bekommen kann und sich zu einer kostspieligen sowie höchst geheimen In-vitro-Befruchtung entschließt. Die Frau schenkt schließlich Zwillingen das Leben, von denen der Junge jedoch entstellt zur Welt kommt. Das Monster wird von der Familie verstoßen, die Tochter dafür umso stärker umhegt. Als sich jedoch unerklärliche Phänomene einstellen, die mit dem Mädchen zu tun haben müssen – so wachsen plötzlich Pflanzen im ganzen Haus und zerstören dabei auch das Mauerwerk -, droht das Geheimnis ans Licht zu kommen. Die Tochter wird daher in einem Turm versteckt und damit praktisch gefangen gehalten.

Der entstellte Junge wächst heran und findet seinen Platz im Leben, als er vom TV für Monsterrollen entdeckt wird. Das Monster, das eigentlich versteckt gehalten werden sollte, erreicht eine immense Popularität; bleibt jedoch im Grunde einsam, denn mit ihm als Persönlichkeit möchte niemand etwas zu tun haben, während man sich auf der anderen Seite gern in seinem Glanz als Star sonnt – und natürlich bleibt auch das Geheimnis des Mädchens nicht für immer unentdeckt.

Dem Autor gelingt es mit vordergründig märchenhaft absurden bis surrealen Geschichten Themen anzusprechen, die von aktueller Bedeutung sind, ohne dass man sich dessen sogleich bewusst wird. Sollte man mit Geld wirklich alles kaufen können? Kann der Mensch abschätzen geschweige denn verantworten, was er mit seinen Möglichkeiten zu erschaffen vermag? Wie behandeln wir unsere Nächsten, wenn sie nicht unseren Vorstellungen entsprechen, wenn wir die Grenzen unseres Handelns erkennen und Gegebenheiten akzeptieren müssen – ganz abgesehen davon, dass sich nichts geheimhalten lässt und Pläne, die wir mit anderen haben, nicht nur unseren eigenen Wünschen unterliegen.

„Die geschenkte Nacht“ ist ein Buch, das man nicht einfach zuschlägt und vergisst. Die Geschichten regen zum Nachdenken an. Vieles, was wir bereits als selbstverständlich hinnehmen, wird hier auf eine Art und Weise verarbeitet, die es nicht mehr selbstverständlich erscheinen lässt. Dasgupta schreibt über die Angst vor dem Verlust der Erinnerungen und die Möglichkeit, mit Ängsten wie diesen Geld zu machen. Er schreibt über Menschenhandel, das Klonen, illegale Einwanderung und maffiöse Strukturen auf eine poetische, zauberhafte und bezaubernde Art und Weise, so dass man selbst das fehlende märchentypische Happy-End in Geschichten verzeiht, in denen menschliche Grundwerte wie Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und Respekt auf die Probe gestellt werden und oft versagen. Wie es in der Geschichte von Deniz heißt: „Was für unsägliche Dinge häufen sich an den Rändern der Fantasie zivilisierter Menschen.“ Dabei handelt es sich gar nicht mehr um bloße Fantasie, sondern um das menschlich Vorstellbare unserer aktuellen Realität.

Es scheint nicht abwegig, dass Robert de Niro mit einer verheirateten Waschsalonbesitzerin einen Sohn zeugt, den diese aussetzt und der dadurch auf dem New Yorker Flughaften mit 19 illegal eingewanderten „Vätern“ groß wird und vom Taxifahren träumt. Magische Elemente wie in diesem Fall die Zauberkekse verleiten die Protagonisten dazu, ihren Träumen untreu zu werden und für die Gier nach Geld und einem vermeintlich besseren Dasein ihr Leben aufs Spiel zu setzen, denn wie in der Realität die Chancen müssen in der Fiktion die Zauberkräfte weise und überlegt genutzt werden.

Man erkennt, dass Rana Dasguptar mehr von Literatur versteht als so mancher Autor, der sich aktuell in den Bestsellerlisten befindet. Tatsächlich hat er Literatur und Medienwissenschaften studiert. Somit erklären sich technische Raffinessen wie der Vogel, der in der Geschichte von Natalia und Riad mit abgeschnittenen Flügeln als Metapher für die Schwierigkeiten auftritt, welche die beiden auf dem Weg in ein besseres Leben überwinden müssen. Die Flügel beginnen dann auch just in dem Moment wieder zu wachsen, in dem die beiden sicheres Land erreicht haben; als sich ihnen also die Möglichkeit bietet, nicht mehr nur ums nackte Überleben zu kämpfen, sondern sich und ihren Träumen ebenfalls wieder Flügel wachsen zu lassen. Es liest sich wunderbar, wenn man nicht nur die bloßen Fakten serviert, sondern die Menschlichkeit im Kampf gegen die Übel der Welt in den Mantel anspruchsvoller Worte gehüllt bekommt.

Dabei bedient sich der Autor nicht nur der Vorlagen aus Märchen, sondern passt diese seinen Intentionen an. Der Wechselbalg Bernard ist beispielsweise kein kränklicher Feensohn, der gegen ein gesundes Menschenkind getauscht wurde. Er ist vielmehr scheinbar unsterblich und stirbt schließlich doch zusammen mit Farid, dessen Suche nach einem unbekannten Wort er sich angeschlossen und mit dessen Leben er physisch und psychisch immer mehr verschmolzen ist. Der Leser fragt sich, ob damit der Grund seiner Ehefrau, ihn zu verlassen, nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie niemals mit ihm alt werden kann, nicht rückwirkend dadurch aufgehoben wurde und welchen weit glücklicheren Weg sein Leben bei ein wenig mehr Toleranz, weniger Angst vor Fremden, kurz: mit ein bisschen mehr Menschlichkeit hätte nehmen können. Durchaus philosophisch verarbeitet der Autor in Geschichten wie dieser Erkenntnisse über das Leben und die Welt, beispielsweise die ewige Frage nach dem Tod: Beginnt der Tod in der Mitte des Lebens, wenn der Körper und der Geist auf dem Höhepunkt der Entwicklung sind, setzt der Tod bereits mit der Geburt ein oder zählt im Leben doch nur der Moment; die „Syntime“ – ein faszinierendes Paradoxon, in welchem Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig mit der Gegenwart existieren?

Katyas Geschichte wiederum erzählt vom Spiel mit der Macht und der Erfüllung von Wünschen. Im Moment des Missbrauchs von Macht versagen die märchenhaften Gaben. Somit kann es auch kein Happy-End geben, sondern nur eine limitierte Version – einen Ausgang der Geschichte etwas besser als erwartet. Xiaosong hingegen erkennt rechtzeitig, dass Geld und Karriere nicht wichtiger sind als Liebe und Glück. Einem „Hans im Glück“ gleich tauscht er scheinbar seinen Klumpen Gold gegen einen Stein, doch kehrt Dasgupta das Motiv um, und auch der Leser wird verleitet, daran zu glauben, dass Xiaosong zwar die romantischere, aber dennoch die richtige Entscheidung getroffen hat. Zur erzählerischen Hochform läuft der Autor aber in der Geschichte vom Traumrecycler auf, in welcher der Leser bereits so in der fiktionalen Welt gefangen ist, dass er gar nicht mehr merkt, wo die erzählte Realität endet und der Traum beginnt. Dieses eigentümliche Verschmelzen von realen Elementen und märchenhafter Fiktion ist es denn auch, was den Reiz dieses Buches tatsächlich ausmacht. Die Geschichten hallen im Leser nach, auch wenn die letzte Seite bereits umgeschlagen ist.

Das Debüt des 1971 geborenen Rana Dagupta wurde vielfach mit Boccaccios „Decamerone“ und Chaucers „Canterbury Tales“ verglichen. Es erinnert im Aufbau mindestens ebenso stark an die „Geschichten aus 1001 Nacht“, welche im Stil des magischen Realismus zeitgemäß interpretiert wurden. Das Einzige, was der Leser eventuell vermissen könnte, ist eine stärker ausgebaute Rahmenhandlung. Der Flughafen und die 13 Reisenden bleiben ebenso blass wie die Handlungsorte der Geschichten zwar eindeutig lokalisierbar, aber dennoch beliebig austauschbar sind. Doch auch das darf man als zeitgemäße Umsetzung des Faktes nehmen, dass in unserer globalisierten Welt die Menschen und Orte, mindestens wenn es um deren Funktion geht, tatsächlich austauschbar sind. Daher darf man gespannt sein, was dem erfolgreichen und viel beachteten Debüt „Die geschenkte Nacht“ aus dem Jahr 2005, welches hiermit nun auch im kostengünstigeren Taschenbuchformat vorliegt, im kommenden Jahr unter dem Titel „Solo“ folgen wird.

|Originaltitel: Tokyo Cancelled
Originalverlag: Blessing, 2006
Aus dem Englischen von Barbara Heller
480 Seiten
ISBN-13: 978-3-453-40524-0|
http://www.heyne.de

Homes, A. M. – Dieses Buch wird Ihr Leben retten

Der Titel von A. M. Homes‘ Roman – „Dieses Buch wird Ihr Leben retten“ – mag im ersten Moment eher abschreckend wirken und an Bücher wie „Sorge dich nicht, lebe!“ erinnern. Darauf jedoch seine Erwartungshaltung aufzubauen, wäre völlig falsch. Hinter dem vermeintlichen Lebensratgeber verbirgt sich ein wunderbar warmherziger und liebenswerter Roman.

Die Geschichte dreht sich um Richard Novak. Reich geworden durch den Aktienhandel, lebt er zurückgezogen in den Hügeln von L.A. Er ist geschieden und hat zu seiner Familie und vor allem zu seinem Sohn Ben kaum Kontakt. Das Essen bringt die Ernährungsberaterin ins Haus, seine Putzfrau kümmert sich um den Haushalt und ansonsten kriegt er eigentlich nur noch von seiner Fitnesstrainerin Besuch.

Richard Novak tut sich selbst zwar jede Menge Gutes, ernährt sich gesund und hält sich fit, aber alles, was sich auf zwischenmenschlicher Ebene abspielt und soziale Interaktion erfordert, meidet er weitestgehend. Kurzum, er führt ein irgendwie steriles Leben. Das ist ihm selbst nicht wirklich bewusst, zumindest so lange, bis ein vermeintlicher Herzinfarkt ihn dazu zwingt, die Notrufnummer zu wählen.

Mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert, wird Richard plötzlich bewusst, dass es niemanden in seinem Leben gibt, mit dem er über sein Leid reden könnte. Als er dann auch noch sein geliebtes Haus verlassen muss, weil es in einem Erdloch zu versinken droht, beginnt Richard sein Leben umzukrempeln. Er schließt Freundschaften und hilft anderen, doch vor die schwierigste Aufgabe stellt ihn immer noch sein Sohn Ben, an den Richard einfach nicht heranzukommen scheint …

Richard präsentiert sich zu Beginn des Romans nicht gerade als sonderlich sympathischer Protagonist. Er lebt in seiner eigenen Welt. Er arbeitet nicht, sondern kontrolliert nur jeden Tag brav, wie seine Aktien stehen. Er pflegt keine nennenswerten zwischenmenschlichen Kontakte – zumindest nicht mit persönlicher Komponente und verlässt so gut wie nie das Haus. Er lebt wie unter einer Glasglocke und wahrt dabei stets die Distanz nicht nur zu anderen Menschen, sondern auch zu sich selbst. Und so ist Richard eben auch kein Protagonist, in den man sich hineinversetzen kann. Er bleibt auf Distanz und es dauert eine Weile, bis man ihn ins Herz zu schließen beginnt.

Als Richard dann eines Abends wegen heftiger Schmerzen den Notruf wählt und ins Krankenhaus verfrachtet wird, ist das für ihn ein höchst einschneidendes Erlebnis. Im Krankenhaus weiß er nicht recht, wen er überhaupt anrufen sollte, um mitzuteilen, dass es ihm sehr schlecht geht und er vielleicht bald sterben wird: Seine Ex-Frau? Seinen Anwalt? Oder seine Putzfrau?

Und so reift in Richard schließlich die Erkenntnis, dass seinem Leben etwas ganz entscheidendes fehlt. Ganz langsam und ohne, dass er selbst großartig merkt, was er da eigentlich tut, beginnt er sein Leben zu ändern. Er beginnt auf andere Menschen zuzugehen. Er schließt Freundschaften, die er vorher nie für möglich gehalten hätte. Seiner Ex-Frau und seinem Bruder ist diese Verwandlung fast schon ein bisschen unheimlich. Richard tritt aus seinem eigenen Schatten und fängt an etwas zu tun, von dem er vorher zwar immer geglaubt hat er würde es tun, es aber nie wirklich getan hat: Er fängt an zu leben.

Es ist schön mit anzusehen, wie Richard sich zunächst ganz zaghaft und dann mit zunehmend festerem Schritt in die Welt hinauswagt, wie er Anteil am Leben anderer nimmt und dafür etwas zurückbekommt, von dem er sich früher niemals hätte eingestanden, dass es ihm fehlt: Menschliche Wärme und Zuneigung. Dankbarkeit und Mitgefühl.

Und so entwickelt sich „Dieses Buch wird Ihr Leben retten“ mit seinem Protagonisten zu einer einfühlsamen und warmherzigen Geschichte ohne dabei in kitschige Gefilde abzugleiten. Richard entwickelt gar heldenhafte Züge und sammelt beim Leser wie auch bei seinen Mitmenschen massig Sympathiepunkte. Dennoch schießt A.M. Homes in der Wandlung Richards nicht über das Ziel hinaus. Es gibt nicht das überzogene Friede-Freude-Eierkuchen-Finale, das man im Verlauf des Romans vielleicht schon mal befürchten mag.

Die Autorin beweist ein feines Gespür dafür, die richtige Balance zu finden und die Wandlung von Richard nicht zu sehr zu überzeichnen. Er wird eben nicht zu einem komplett neuen Menschen. Er streift seine Ängste und Gewohnheiten nicht einfach über Nacht ab.

Zu sehen, wie Richard sich langsam aus seinem Schneckenhaus hinauswagt, macht auch deswegen Spaß, weil A.M. Homes einen so lockeren und eingängigen Schreibstil hat. Obwohl die meiste Zeit nicht so wahnsinnig viel passiert und das Buch ohne Spannung im engeren Sinne auskommt, hält Homes den Leser bei Laune. Das Buch lässt sich wunderbar flott herunterlesen. Homes weiß auch mit einfachen Mitteln zu unterhalten und erzählt so eine Geschichte, die man gerne weiterverfolgt und die auch immer wieder mit einem Augenzwinkern daher kommt.

Bleibt unterm Strich insgesamt ein positiver Eindruck zurück. „Dieses Buch wird Ihr Leben retten“ ist ein wunderbar warmherziger Roman, eingängig geschrieben und voller liebenswerter, teils gar skurriler Figuren. A.M. Homes schafft es, stets glaubwürdig zu bleiben. Nirgends gleitet die Geschichte in kitschige Gefilde ab, nichts wirkt überzeichnet. Ein leiser, aber durchaus sehr unterhaltsamer Roman, dessen Figuren man mit der Zeit immer mehr ins Herz schließt.

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Binding, Tim – Cliffhanger

|“Neuerdings glotzt du mich nur noch an. Weiß Gott, was du dabei denkst.“ Gott wusste es allerdings. Zum Glück sonst niemand. Das hoffte ich zumindest.|

Denn Al Greenwood hat keinen anderen Gedanken als seine Frau, die er neuerdings nur noch anglotzt, um die Ecke zu bringen!

Der britische Autor Tim Binding war bis vor kurzem ein unbeschriebenes Blatt für mich – bis ich im Börsenblatt eine Anzeige zu seinem aktuellen Roman „Cliffhanger“ fand und sofort von der kurzen Inhaltsbeschreibung begeistert war. Manchmal findet man ganz zufällig eben auch noch kleine literarische Schmückstückchen …

_Am Abgrund stehen_

Al Greenwood hat ein Problem, nämlich seine Frau Audrey. An ihr hasst er jeden schwabbeligen Zentimeter, ihre gehässige Art ist ihm verhasst, er mag nicht, wie sie isst, spricht oder sich verhält – kurz: Er kann sie nicht ausstehen. Deswegen hat er beschlossen, sie umzubringen. An einem regnerischen Abend schickt er sie los zu einem Spaziergang zu den Klippen. Eingehüllt in ihren gelben Regenmantel, stapft sie los, während Al sich auf einem Nebenweg zu den Klippen schleicht. Als er dort eine weinende Frau im gelben Regenmantel entdeckt, stößt er sie kurzerhand in den Abgrund. Freudestrahlend tänzelt er beinahe nach Hause, stößt euphorisch die Haustür auf, stürmt in sein neues eigenes Heim – und entdeckt dann seine Frau Audrey, die putzmunter und ziemlich rollig im Wohnzimmer auf ihn wartet.

Schockschwerenot! Wen hat er bloß die Klippen hinunter gestürzt und wo war Audrey in der Zwischenzeit? Denn sie taucht durchnässt und in ungewohnter Stimmung zu Hause auf … Was ist bloß in der Zwischenzeit passiert? Al versteht die Welt nicht mehr. Nur einen Tag später erfährt er, dass die junge Miranda spurlos verschwunden ist. Miranda ist die Tochter seiner ehemaligen Affäre und somit mit großer Wahrscheinlichkeit auch seine eigene Tochter! Al ist verzweifelt; Miranda war ihm näher als irgendjemand sonst. Regelmäßig hat er sich mit ihr in seinem Wohnwagen getroffen, um zu reden und sie besser kennenzulernen. Wie konnte er bloß seine über 50-jährige beleibte Frau mit der jungen und schlanken Miranda verwechseln? Al versteht die Welt nicht mehr, doch scheint alles darauf hinzudeuten, dass es Miranda war, die ihr Ende an den Klippen gefunden hat.

Doch noch mehr Überraschungen warten auf Al: Seine Nachbarin, von ihm eher weniger liebevoll Mrs. Schnüffelnase getauft, stürzt nach vielen Schnäpsen und einigen Joints die heimische Treppe hinunter. Wieder ist Al dabei, auch wenn er dieser Frau keinen Schubs gegeben hat. Er lässt seine Nachbarin leblos liegen, aber kurze Zeit später sitzt auch sie in seinem eigenen Hause! Sie war nur bewusstlos, kann sich aber nicht richtig bewegen und quartiert sich daher im Hause Greenwood ein, um sich wieder zu erholen. Das geht allerdings nur mit großzügigem Grasnachschub, den Al im nachbarlichen Haus in den Sofakissen eingenäht findet. Nach einer Taxifahrt entdeckt Al eine vergessene Sporttasche in seinem Taxi. Der Herr Major hat sie dort vergessen, allerdings enthält die Tasche nicht die vermuteten Sportsachen, sondern lauter Dessous. Al behält das Corpus Delicti kurzerhand und will sich einen Spaß aus der ganzen Sache machen.

Derweil lebt seine Ehe wieder auf. Audrey ist wie ausgewechselt, fällt fast täglich über ihn her, ist bester Laune und geht inzwischen sogar ins Fitnessstudio. Al beschließt, die Frau von den Klippen zu vergessen, denn dieser misslungene Klippenstoß war offensichtlich das Beste, was seiner Ehe passieren konnte. Noch ahnt er aber nicht, was den wahren Sinneswandel bei Audrey bewirkt hat …

_Von Fischen, bekifften Nachbarinnen und gefährlichen Klippen_

Schade, dass ich Tim Binding noch nicht früher entdeckt habe, denn „Cliffhanger“ ist ein wahrer Schatz britischen schwarzen Humors. Glücklicherweise versucht Binding nicht, den mysteriösen Klippensturz durch übersinnliche Phänomene zu erklären, sondern klärt am Ende alles logisch auf. So bleibt der Leser breit grinsend und zufrieden zurück.

Was das Buch auszeichnet, sind zunächst seine Charaktere, die alle irgendwo einen kleinen oder auch großen Schatten haben. Al Greenwood beschließt einfach mal so, seine verhasste Ehefrau loszuwerden und sie in die Tiefe zu stürzen. Gewissensbisse hat er erst, als er vermuten muss, dass er stattdessen seine Tochter aus dem Leben befördert hat. Als seine Frau aber immer zugänglicher wird, verdrängt er auch dieses schlechte Gewissen schnell. Seine größte Leidenschaft sind die zwei Kois im Gartenteich, die leben wie Gott in Frankreich. Ihnen zuliebe hat er einen künstlichen Wasserfall angelegt, der einem Kunstwerk gleicht. Die Fische schwimmen in einem perfekt temperierten Becken und bekommen stets die leckersten Köstlichkeiten zu essen. Seinen Karpfen widmet Al mehr Zeit als seiner Frau, seinem Job oder irgendetwas sonst. Sie sind sein Hobby und seine große Liebe.

In Detective Inspector Rump findet er einen Gleichgesinnten. War Rump eigentlich zu seiner Befragung bei den Greenwoods, so geht das Gespräch bald in ein Fachgesimpel über Karpfen über, als Rump erfährt, dass Greenwood zwei wahre Prachtstücke im eigenen Teich zu schwimmen hat. Die Ermittlung wird schnell zur Nebensache, was auch gut ist, denn Audrey hält sich bei der polizeilichen Befragung nicht an die Version, die Al vorher mit ihr abgesprochen hatte, und behauptet kackfrech, sie wäre den ganzen Abend zu Hause gewesen. Auweia, das stimmt doch nun wirklich nicht, und angesichts der überneugierigen Nachbarin ist Al sich sicher, dass diese Lüge schnell auffliegen muss, denn keinen Schritt können die Greenwoods tun, ohne dass die benachbarte Alice Blackstock es mitbekommt. Und tatsächlich hat sie sogar Al an den Klippen bemerkt, als sie auf einem Baum herumgeklettert ist, um ihre Wäscheleine zu retten.

Doch die liebe Frau Blackstock hat nicht nur scheußliche Angst vor ihrem Zahnarzt, sondern vor allem ein schweres Drogenproblem. Mit ihrem heimischen Grasvorrat könnte sie eine ganze Kompanie über Monate hinweg versorgen. Sie ist auch nicht geizig und gibt gerne von dem guten Stoff ab; so überrascht sie die Greenwoods mit interessanten Gemüsekroketten, die eher aussehen wie „behaarte Männerhoden“, weil die „Petersilie“ nicht fein genug gehackt ist. Erst als Al in ganz anderen Welten schwebt, geht ihm auf, dass es keine Petersilie war, sondern das gute Gras aus Mrs. Blackstocks Kissen.

Audrey hat eine mysteriöse Wandlung durchgemacht, dennoch wird sie dem Leser nur wenig sympathisch, denn als Menschenfreundin kann man sie nicht gerade bezeichnen. Auch die Nebencharaktere haben Potenzial, allen voran der frisch verliebte Inspector, der seine Befragungen dazu nutzt, um mehr über Karpfen zu erfahren. Sein Job wird da schnell zur Nebensache. Auch der Major, der statt Joggingsachen Damenwäsche mit sich führt, oder Mirandas Exlover Kim, der seine Frau an ein Seil bindet, um des nachts mit ihr spazieren zu gehen, gefallen gut.

Bei Binding gibt es keine normalen Menschen, alle haben ihre Ticks, aber es sind lustige Spleens, die einem zum Lachen bringen und von Bindung hervorragend komisch dargestellt werden.

_Witz komm raus, du bist umzingelt_

Der zweite Aspekt, der „Cliffhanger“ zu einem wahren Leseschatz macht, ist Bindings genialer Schreibstil. Sein Buch lässt sich nicht nur wunderbar flüssig lesen, sondern der Autor verwendet herrliche Metaphern, die den Leser immer wieder zum Schmunzeln verleiten. Die Bilder, die Tim Binding verwendet, sind natürlich überzeichnet, aber dennoch passen sie meist wie die Faust aufs Auge; zwei Beispiele:

|Obendrein war sie helle, auf Draht, interessiert, hatte einen super Schulabschluss und konnte so geschmeidig vom zweiten in den dritten Gang schalten, wie ein Vaselinefinger in den Verdauungskanal fluscht.| Oder: |“Ich bin ziemlich sicher, dass es die Bauchwassersucht war. Alle ersten Anzeichen sprachen dafür, aufgeblähter Leib, Glotzaugen.“ Hörte sich an wie Audrey nach anderthalb Flaschen Merlot.|

Dieser herrliche Schreibstil, der stete Wortwitz und die Situationskomik sorgen für ein kurzweiliges und erheiterndes Lesevergnügen. In Al Greenwoods Leben geht alles schief, und Tim Binding findet die richtigen Worte, um diese kuriosen und absurden Szenen zu beschreiben. Fast nie verwendet er Metaphern, wie man sie schon tausendmal zuvor gelesen hat, immer fällt ihm etwas Neues ein, auf das man selbst nie gekommen wäre. Und trotzdem sind die Bilder stimmig. Auch wenn die Handlung ab der Hälfte des Buches angesichts der chaotischen Zustände etwas zu zerfransen droht, liest man gerne weiter, weil man sich in Bindings Sätzen und Beschreibungen verlieren und in sie verlieben kann.

Ich bin wirklich froh, dass ich diesen kleinen Schatz durch Zufall entdeckt habe, denn jedem Satz, jeder Beschreibung merkt man Tim Bindings Schreibtalent an, jede Zeile liest man gerne – manche sogar noch lieber als andere. Schräge Figuren, skurrile Geschichten und köstliche Situationskomik – das sind gleich drei Wünsche auf einmal. Aber bei Tim Binding geht das!

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Savage, Sam – Firmin – Ein Rattenleben

So manch einer musste sich in Kindheitstagen und sicherlich auch als Erwachsener noch als Bücherwurm oder Leseratte betiteln lassen – vielleicht als Vorwurf gedacht, sicherlich überwiegend aber augenzwinkernd und manchmal auch verwundert. Der Wissensdurst oder die Spannung an der Geschichte, die Möglichkeit, teilzuhaben am Schicksal der Protagonisten, entführen den Leser, der dies zulässt, in eine ganz eigene Welt.

In diesen Geschichten können wir verwegene Helden sein, romantische und stürmische Liebhaber, oder in die Gedankenwelt von bösen Charakteren eintauchen; all dies ganz gefahrlos, es sei denn, man verliert dabei den Bezug zur Realität. Bücher können Waffen sein in den Händen ihrer Autoren oder Leser, sie können Existenzen erklären, aufbauen und vernichten, sie können uns viel lehren und unser Leben bereichern, manchmal sogar Schlüsselerlebnisse für das weitere Leben erzeugen.

Der Autor Sam Savage zeigt uns in seinem Debütroman „Firmin – Ein Rattenleben“, dass belesene langschwänzige Ratten durchaus auch zwischen den Zeilen lesen können und die Literatur uns manchmal genauso real erscheint wie die Wirklichkeit.

_Inhalt_

In der Heimat des Jazz, Boston in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts erblickt Firmin eines von dreizehn Rattenbabys das Licht der Welt. Seine Geburtsstätte ist eine Buchhandlung in der auch seine Jugend verbringt. Firmin ist sonderbar, nicht nur für seine Geschwister oder seine alkoholabhängige Mutter.

Sein Verhaltensmuster entspricht nicht unbedingt seinem Wesen. Firmin ist neugierig und entdeckt dabei sein Faible für die Literatur. Das Nest, in dem er und seine Geschwister aufwachsen, ist isoliert und ausgelegt mit den losen Seiten eines dicken Buches, wohl einer Enzyklopädie. Firmin verschlingt diese Seiten quasi, sprich: Er isst sie ganz einfach auf. So werden in frühen Kindheitstagen schon viele Seiten aus Büchern der Philosophie, der Linguistik, Astronomie und Astrologie ebenso verschlungen wie abscheuliche Gräueltaten, Bekenntnisse, Geständnisse und Apologien.

Im Verlauf seines Heranwachsens ist die ‚Beschäftigung‘ mit der Literatur eine prägende Phase seiner Bildungsbiographie, und Firmins absonderliche Essgewohnheiten beginnen sich zu wandeln. Er nutzt die vielen Bücher nun nicht für seine Gier nach Essbarem, sondern beginnt diese auch zu lesen. Zudem weitet er langsam seine Expeditionen aus und erforscht die Räume und Ecken der Buchhandlung. Er beobachtet die Menschen dabei, wie sie gleich der Suche nach einem Schatz die Regale voller Bücher sichten, und verfolgt, wie Norman, der Besitzer des Bücherladens namens „Pembroke Books“, routiniert seinem Tagesablauf nachgeht.

Firmin lernt neben der Literatur auch das Lichtspielhaus „Rialto“ kennen und lieben. Seine Helden sind neben Charlie Chan und Gene Autry auch Western, Krimis, Musicals und Filme mit Joan Fontaine, Abbott und Costello. Fred Astaire entwickelt sich ebenso zu einem Vorbild wie wenig später Ginger Rogers.

Firmin wird zu einem Einzelgänger und lebt seine gelesenen und gesehenen Helden nach. Seine Welt verwandelt sich ein Universum von Gefühlsstürmen und miterlebten Schicksalsschlägen, mit Augenblicken dramatischer Gewalt und unerfüllten Liebesbekenntnissen. Zu Norman Pembroke entwickelt die kleine Ratte eine tiefgehende Zuneigung; schon am Frühstückstisch nimmt Firmin die stille Rolle eines Voyeurs ein, der aus einem Loch in der Decke die morgendliche Zeitung mitliest und sich so über das politische Geschehen, den Sport und natürlich auch den Klatsch und Tratsch informiert.

Eines Tages aber wird Firmin von Norman entdeckt, was Firmin nichtsahnend fast zum Verhängnis wird. Das Rattengift hält Firmin für ein Geschenk und fällt naiv und unbedarft darauf herein. Firmin überlebt jedoch den feigen Mordanschlag und will nun seinen eigenen Weg gehen …

_Kritik _

Sam Savage versteht es gekonnt, in seinem Debütroman „Firmin – Ein Rattenleben“ eine philosophische Geschichte zu erzählen. Firmin ist kein typischer Roman, der eine offensichtliche Botschaft präsentiert. Bei Firmin muß man viel zwischen den Zeilen lesen, um zu verstehen, was der Autor uns zu sagen hat. Man merkt, dass Sam Savage selbst ein Literat ist. Unzählige Zitate finden sich in seinem Roman wieder, und das überhaupt nicht deplatziert oder aufdringlich, sondern ausgesprochen gut eingesetzt.

Firmins Geschichte ist im Grunde eine ernste und traurige, zugleich berührt sie aber und lädt uns dazu ein, vielleicht das Leben ein wenig ernster und zugleich freundlicher anzunehmen. Zudem wird klar: Die „Realität“ ist für jeden individuell und jeder schafft sie sich ähnlich wie unser Protagonist „Firmin“ selbst.

Die Grundstimmung des Romans ist melancholisch und Firmin als „Leseratte“ in diesem Rahmen formidabel konzipiert. Seine Bestrebungen und Hoffnungen, etwas anderes sein zu wollen als eine kleine unscheinbare Ratte, an die er sich verzweifelt klammert, sind rührend. Sein Schicksal ist eher tragisch; er ähnelt darin Don Quichotte, dem Ritter von der traurigen Gestalt. Seine ganze Motivation, geliebt, geachtet und wahrgenommen zu werden, führt letztlich zu nichts anderem als der Einsicht, dass man nicht aus seiner eigenen Haut kann.

_Fazit_

„Firmin“ ist ein philosophischer Exot für Querdenker mit einer außergewöhnlichen dichten Sprache. Für Leser, die aufgrund der Aufmachung vermuten, dass „Firmin“ ein eher witziges Buch wäre, wird die Lektüre möglicherweise eine Enttäuschung sein. Wer sich aber Zeit nimmt und das Buch, wenn es denn geht, in einem Stück durchliest, wird schnell erkennen, dass es darin weit mehr zu entdecken gibt als vielleicht ursprünglich gedacht.

Der Roman ist auch äußerlich wunderbar gestaltet. Das Cover zeigt eine traurige, mit nach unten sinkenden Mundwinkeln über einem Buch sitzende Ratte. Die Buchseiten sind etwas vergilbt und nicht gleichmäßig geschnitten, wodurch das Buch angenagt wirkt. Das passt natürlich zu Firmin, und auch sicher zu Sam Savage, der ein großartiges, dezent augenzwinkerndes Werk geschaffen hat. Es gibt noch eine kleine Besonderheit bei „Firmin“: Es wurde in drei Teilen von verschiedenen Personen übersetzt, jede Passage in ihrem ganz eigenen Stil.

„Firmin – Ein Rattenleben“ ist empfehlenswert für Menschen stillen und melancholischen Gemütes, für neugierige Leser, die gern Träumen hinterherjagen und den einen oder anderen auch wirklich einfangen können, für Menschen, die es verstehen, ihr Dasein zu akzeptieren, aber trotzdem dafür kämpfen, etwas erreichen zu wollen.

_Der Autor_

Sam Savage wurde in South Carolina geboren und lebt heute in Madison, Wisconsin. Er promovierte in Philosophie, unterrichtete kurzzeitig arbeitete als Tischler, Fischer, Drucker und reparierte Fahrräder. „Firmin – Ein Rattenleben“ ist sein erster Roman.

|Originaltitel: Firmin. Adventures of a Metropolitan Lowlife
Deutsch von Susanne Aeckerle, Marion Balkenhol und Hermann Gieselbusch
213 Seiten, gebunden, Buchschnitt mit Rattenzahnung|
http://www.ullsteinbuchverlage.de/ullsteinhc/

Dury, Tom – Traumjäger, Die

_Moderner amerikanischer Klassiker erstmals auf Deutsch_

Der Klempner Charles Darling – der sich gerade nichts sehnlicher wünscht als das Gewehr seines Stiefvaters zurückzuerhalten, welches dieser vor Jahren gegen ein Pfand verliehen hatte – lebt mit seiner kleinen Familie auf einer recht abgewrackten Farm in der Nähe einer Kleinstadt in New Hampshire. Mit diesem Hof weiß er im Grunde nicht viel anzufangen. Er betreibt keinen Gartenbau und die Scheune ist in ihrer Baufälligkeit für Viehhaltung ungeeignet. Mit ihm leben dort seine scheinbar bodenständige Frau Joan, ihr gemeinsamer Sohn Micah und seit einiger Zeit auch Lyris, die Tochter von Joan, welche 16 Jahre in verschiedenen Pflegefamilien verbracht hat und von einem Verein für Familienzusammenführungen zu ihr zurückgebracht wurde. Der Leser begleitet das Leben dieses zusammengewürfelten Haufens für ein verlängertes Wochenende (Freitag bis Montag), an dem die Weichen für die weitere Existenz der Familie gestellt werden.

Der Journalist und Autor Tom Drury hat mit den Darlings eine moderne Patchworkfamilie geschaffen, in der die traditionellen Rollenmodelle nicht länger funktionieren, sondern nach dem Auftauchen von Lyris jedes Mitglied erst wieder seinen Platz im Familiensystem und einen neuen Lebensentwurf finden muss. Eine besonders tragende Rolle kommt dabei der ehrenamtlich im Tierschutz tätigen Joan zu, die für ein Wochenende in die Stadt zu einem Kongress fahren muss. Die ehemalige Schauspielerin hatte spätestens mit ihrer Hochzeit und dem Umzug in diese verlassene Gegend ihre Träume von einer Schauspielkarriere aufgegeben. Ähnlich der weiblichen Hauptperson in Tschechows „Die Möwe“, die sie einmal in einer Aufführung gespielt hat, langweilt sie sich jedoch in ihrem Landleben. Ihren Traum von der Schauspielerei hält sie für gescheitert, aber mit der Rolle einer unglücklichen Ehefrau wie in Lord Tennysons Poem „Locksley Hall“, aus dem der Doktor zitiert, mit dem sie in der Stadt eine Nacht verbringt, kann sie sich ebenso wenig anfreunden. Sein Vergleich mit dem Poem hinkt dann auch insofern als sowohl Charles als auch Joan nicht nur in ihren Träumen jagen bzw. ihren Träumen hinterherjagen, sondern ihr Leben an diesem Wochenende unabhängig voneinander zu verändern beginnen.

Vor allem Micah zuliebe, der als siebenjähriger Junge auf der Suche nach einer Aufgabe im Leben ist, kauft Charles eine Ziege. Dann beginnt er mit der Reparatur der Scheune und – nachdem ihm seine Frau telefonisch mitgeteilt hat, dass sie für sehr lange Zeit nicht zur ihm zurückkehren wird – auch damit, aktiv Verantwortung für die Kinder zu übernehmen sowie sich mit deren Problemen zu beschäftigen. Lyris zeigt große Stärke beim neuerlichen Verlassenwerden, da sie nicht nach einer Mutter, sondern nach einer Heimat und nach Sicherheit gesucht hat, die ihr die Familie Darling noch immer bieten kann. Sie beherrscht die Situation, denn sie profitiert von ihren Erfahrungen und kann somit für ihren Bruder da sein, wo die Erfahrungen des Vaters an Grenzen stoßen. Im Gegensatz zu scheinbar nebensächlichen Gegenständen wie einem Schweizer Taschenmesser beschreibt der Autor seine Helden kaum. Die Charaktere bleiben äußerlich blass, können aber aufgrund ihrer Handlungsweisen psychologisch gut ausgedeutet werden.

In „Die Traumjäger“ geht es nicht um Liebe. Die einzige Romanze findet zwischen Charles‘ Bruder Jerry und der wesentlich jüngeren Schülerin Octavia statt. Sie ist geprägt von der romantischen ersten Liebe, die bedingungslos gegen alle Regeln verstößt, und der Unsicherheit eines Mannes, der den Schritt mit einer wesentlich jüngeren Frau wagt, obwohl er ahnt, dass die Liebe der jungen Frau keinen Bestand haben wird: |“‚Wie wird das, wenn sie mal vierzig ist und du bist dann so ein Tattergreis, den sie im Rollstuhl herumschieben muss?‘ ‚Darüber habe ich auch schon nachgedacht‘, sagte Jerry. ‚Aber vielleicht geht das Ganze ja nur ein paar Jahre lang. Wir singen zusammen im Sonnenschein, und dann kriegt sie sich wieder ein und geht aufs College. Ich würde mich nicht beklagen …'“| Momentane Erfüllung wird so zum zentralen Thema in Drurys komplexer Erzählung. Das Eheversprechen erscheint wie die Pfarrerswitwe in dem kleinen Ort als Relikt aus einer vergangenen Zeit. Auch die Bibel, die von den Protagonisten vielfach zitiert wird, bietet wie ihre Kirchenvertreter keinen Halt mehr. Stattdessen muss man sich des steten Wandels und Umbruchs bewusst werden, dem die niedergehende Region einen traurigen Rahmen bietet.

Eindrucksvoll beschreibt Tom Drury die gewöhnlichen Dinge des amerikanischen Alltags, welche diesen jedoch durch ironische Wendungen plötzlich absurd und weniger alltäglich erscheinen lassen. Da sind Teenager, die sich schlau dünken und nachts mit einem Fass Bier eine Party in einem abgelegenen Wäldchen feiern wollen. Sie werden ihrerseits von Charles und Jerry übertölpelt, die ihnen das Fass wieder abnehmen. Da ist der Penner am Straßenrand, der zur einzigen Person wird, mit der Joan über ihre Situation reden kann. Da sind die Nachbarn, die alles von ihren Mitmenschen zu wissen glauben und damit beinahe eine Katastrophe auslösen, die durch ihre absurde Verhinderung schon wieder lächerlich gemacht wird. Unvermeidlich für das amerikanische Leben, spielt auch der Waffenbesitz eine Rolle. Waffen und Gewalt sind allgegenwärtig – angefangen vom Gewehr des Stiefvaters über die nachts herumziehenden Jäger bis zur Beinahe-Vergewaltigung von Lyris, Charles Selbstjustiz und Follards Racheversuch.

Die Menschen dieses Romans sind wenig sensibel. Doch können sie einander scheinbar nicht verletzen oder in ein Gefühlschaos stürzen. Ohne Reflektion werden Ereignisse hingenommen und so ausgelegt, dass sie das gewohnte Leben nicht durcheinanderbringen. In einer ländlichen Kleinstadtumgebung jagt man nicht seinen Träumen nach, sondern nimmt Geschehnisse hin. Auch damit tut man einen Schritt, der unvermeidlich einen weiteren Schritt nach sich zieht; so wie auf den Freitag der Samstag folgt und auf den Samstag der Sonntag. Große Gefühle – Glück, Liebe, Hass – von außen betrachtet sind sie weniger dramatisch denn banal und wie bei Tom Drury in ihrer Einfachheit fast schon wieder komisch.

Tom Drury gilt als moderner Klassiker der amerikanischen Literatur. Mit „Die Traumjäger“ macht es |Klett-Cotta| den deutschen Lesern acht Jahre nach Erscheinen des Romans jetzt möglich, in das Werk dieses bemerkenswerten Schriftstellers einzusteigen. Diese Chance sollte man nutzen, denn seine Romane „The End of Vandalism“ (1994), „The Black Brook“ (1998) und „The Driftless Area“ (2006) sind bisher nicht auf Deutsch erschienen.

|Originaltitel: Hunts in Dreams (2000)
Aus dem Amerikanischen von Gerhard Falkner und Nora Matocza
250 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN-13: 978-3-608-93607-0|
http://www.klett-cotta.de

Hilbk, Merle – Sibirski Punk. Eine Reise in das Herz des wilden Ostens

_Zwischen den Welten_

Von einem „Roadmovie aus dem wilden Osten“ – so die Ankündigung auf dem Buchrücken – erwartet man, dass sich jemand in ein Auto setzt und damit sowohl nach als auch durch den wilden Osten fährt. Doch bereits die Tatsachen, dass ein relativ komfortabler Flug Merle Hilbk nach Sibirien bringt, wo sie zudem die erste Hälfte der Beschreibung ihrer Suche nach der russischen Seele, welche sich jedoch vielmehr als Suche nach sich selbst herausstellt, als Gast des erfolgreichen Geschäftsmannes Grigorij verbringt, machen recht schnell deutlich, dass es sich hier um ein eher punktuelles Eintauchen in die russische Gesellschaft denn um eine Reise durch ein Land handelt.

Doch das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Mit sensibel gewählten Worten schildert die Autorin die Menschen, zu denen sie Kontakt aufbaut, plaudert von deren ungewöhnlichen bis absurden Lebensgeschichten und spinnt den roten Faden durch ihren Sommer in Russland. Neben Ausflügen in die nähere und fernere Umgebung des Städtchens Akademgorodok spielt der zweite Teil nach einer Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn in Ulan-Uhde, einer Stadt am Baikalsee. In Akademgorodok wie auch in Ulan-Uhde ist die Journalistin auf der Suche nach interessanten Menschen und ihren Geschichten, die sie dem Leser mit Hilfe ihrer sehr direkten und persönlichen Erzählweise so nahe bringt, dass man am Ende fast glaubt, man kenne die Baikal-Amazonen, den mürrischen Grigorij oder den Sänger der Punkband „Orgasmus Nostradamus“ persönlich.

Ihnen allen ist eigen, dass sie ihr Schicksal auf bewundernswerte Art selbst in die Hand genommen haben, um trotz aller Ergebenheit in ein oftmals nur im Rausch erträgliches Leben das Beste daraus zu machen. Sie schreibt von angesehenen Professoren, deren Leistungen nach dem Zerfall der UdSSR vergessen worden sind, von Menschen, die zwar ihr Erspartes, nicht jedoch ihren Lebensmut und die Lebensfreude in einer Bankenkrise verloren haben, aber auch von den Gewinnern der wirtschaftlichen Entwicklung in Russland, die täglich für ihr Geld arbeiten, jedoch statt mit mehreren Familien in einer großen Wohnung (Kommunalka) zu leben, eigene Häuser besitzen sowie alle Annehmlichkeiten der westlichen Welt bis hin zum täglichen Schwelgen in Champagner und Kaviar genießen. Stolz sind sie allesamt, gastfreundlich, offen und sehr darauf bedacht, dass Ausländer neben aller Nostalgie auch den Fortschritt im Land zu würdigen wissen.

Dabei findet sich die Autorin in Ortschaften wieder, die ihre durch Bauweise und fortschreitenden Verfall geprägte sozialistische Vergangenheit nicht verleugnen können, aber auf der anderen Seite bereits so von den Neuerungen der westlichen Welt wie Internetcafés (Computerclubs), Supermärkten mit europäischen Marken oder Häusern in westeuropäischen Baustilen durchdrungen sind, dass sie eine extrem widersprüchliche Welt bilden. Häufig sind die Gegensätze zwischen Alt und Neu sowie Arm und Reich nur schwer zu ertragen – am besten unter Zuhilfenahme starkalkoholischer Getränke wie den unvermeidlichen Wodka. Doch nicht nur mit dessen Hilfe, sondern auch auf einem abenteuerlichen Betriebsausflug ins Altai-Gebirge lösen sich solche Gegensätze unvermittelt im Nichts auf; und dann findet Merle Hilbk, was sie die russische Seele nennt, und etwas, das ihr auch in anderen Momenten urplötzlich wieder begegnet: eine Stimmung aus Melancholie, Erinnerungsfluten, Wärme …

|“Mein Herz zieht sich zusammen vor Sehnsucht, und dann kommt plötzlich Sascha, stellt sich neben mich und deutet auf den Himmel. Ein helles Licht, heller als alle anderen Sterne, stürzt vom Himmel herab, fällt und fällt, bis es mit einem letzten Glimmen im See versinkt. Eine Sternschnuppe! ‚Das heißt, du darfst dir was wünschen!‘ ‚Hast du dir auch etwas gewünscht? ‚Hab gerade vor mich hin geträumt.‘ ‚Wovon?‘ ‚Von einem anderen Land.‘ ‚Was für einem Land?‘ ‚In dem das Leben leichter ist.'“|

Was ist nun dieses vorgebliche Roadmovie aus dem wilden Osten? Auf jeden Fall ein sehr unterhaltsames Buch, das mit einigen Vorurteilen aufräumt, andere bestätigt, interessante Einblicke in bizarre russische Verhältnisse gewährt und einen Aufenthalt schildert, der nicht immer leicht oder ungefährlich war.

|255 Seiten, mit 9 Fotos
ISBN-13: 978-3-7466-2439-6|
http://www.aufbauverlag.de

Duve, Karen – Taxi

Manch einer mag noch immer das Vorurteil hegen, dass es nicht gutgehen kann, wenn eine Frau am Steuer sitzt. Die Protagonistin von Karen Duves neuestem Roman „Taxi“ dürfte sich noch des Öfteren mit diesem Vorurteil konfrontiert gesehen haben. Schließlich spielt „Taxi“ mitten in den Achtzigerjahren. Taxifahren war hier noch stärker eine Männerdomäne als heute, auch wenn die Anzeige, auf die Protagonistin Alex sich bewirbt, ausdrücklich auch an Frauen gerichtet ist – allerdings wohl mehr aus der Verzweifelung heraus, dass man so gut wie jeden einstellen würde …

Für Alex beginnt mit dieser Anzeige eine Ära als Taxifahrerin auf den Straßen Hamburgs. Das bedeutet für Alex Herwig gleichzeitig den lang ersehnten Aufbruch zu neuen Ufern. Hockte sie vorher noch mit ihrem Bruder zusammen in der unbeheizten Gartenlaube ihrer Eltern, als schwarzes Schaf in einer spießigen, langweiligen Familie, scheint ihre ziellose Jugend beendet, deren bisheriger Tiefpunkt wohl die abgebrochene Ausbildung im Versicherungswesen darstellte. Nun startet sie in die Freiheit – zumindest glaubt sie das.

Nachdem sie wochenlang Straßennamen gebüffelt hat, hält Alex, nicht zuletzt dank eines gnädigen Prüfers, endlich den Taxischein in Händen. Vom ersten selbstverdienten Geld folgt schon bald die eigene Wohnung, doch vom Leben hat sie eigentlich nicht sonderlich viel. Nacht für Nacht ist sie auf den Straßen Hamburgs unterwegs, verschläft dadurch die Tage und fängt, ohne es eigentlich zu wollen, eine Beziehung mit Taxi-Kollege Dietrich an.

Bei den übrigen Kollegen hat sie keinen leichten Stand: verklemmte Frauenhasser, Scheinstudenten, Möchtegernschriftsteller und Halbintellektuelle – das ist grob betrachtet das Umfeld, mit dem Alex irgendwie tagein, tagaus klarkommen muss. Dietrich ist da auch nicht immer hilfreich, hat sie doch den größten Zwist stets mit Dietrichs bestem Freund Rüdiger, der ein pseudointellektueller Frauenhasser ist. Doch Alex hinterfragt all das nicht, ist Nacht für Nacht viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Fahrgäste zu hassen, als dass sie etwas an ihrem Leben ändern würde.

Und so wird es eine sehr lange und beschwerliche Reise, die Alex aufnehmen muss, um irgendwann sich selbst zu finden. Ihr Weg ist gepflastert mit unheilvollen Männerbekanntschaften, kleinwüchsigen Psychologiestudenten und haarsträubenden und bizarren Erlebnissen auf den nächtlichen Taxitouren.

Nachdem [„Die entführte Prinzessin“ 1085 eine faszinierende, wenngleich auch sehr ungewöhnliche Leseerfahrung für einen Duve-Roman war, geht es mit „Taxi“ wieder mehr zurück zu den Wurzeln. Sogar ziemlich direkt zurück zu den Wurzeln, denn „Taxi“ hat stärkere autobiographische Züge als irgendein anderer Duve-Roman zuvor. Karen Duve ist selbst jahrelang in Hamburg Taxi gefahren. Ihre Protagonistin lässt sie mit genau jenem Taxi der Nummer „Zwodoppelvier“ fahren, in dem auch sie in den Achtzigern durch Hamburgs Straßen gekurvt ist.

Dennoch ist „Taxi“ alles andere als eine Autobiographie. Es mag Parallelen geben, und wie weit die genau reichen, vermag wohl nur die Autorin selbst zu sagen, dennoch ist der Roman ein fiktionales Werk. Alles in allem klingt das im ersten Moment noch sehr unspektakulär. Eine Frau, die Nacht für Nacht Taxi fährt und von ihren Erlebnissen mit ihren verkorksten Fahrgästen berichtet, um sich dann nach Feierabend ihrer noch viel verkorksteren Beziehung zu ihrem Freund Dietrich zu widmen – klingt bei bloßer Betrachtung des Inhalts wenig unterhaltsam.

Aber wir haben es hier schließlich mit Karen Duve zu tun. Wenn der Verlag im Klappentext schreibt |“Taxi fahren können viele – doch grandios darüber schreiben kann nur Karen Duve“|, dann ist das keinesfalls bloß Lobhudelei zum Zwecke der Verkaufsförderung. Es steckt ein wahrer Kern in diesem Satz, denn Karen Duve ist in der Tat das große Kunststück geglückt, einen wunderbar unterhaltsamen Roman über etwas so alltägliches wie das Taxifahren zu schreiben.

Und das liegt allem voran an Duves eingängigem Erzählstil. Es braucht nicht viel Handlung, um von Karen Duves Romanen gefangen genommen zu werden, egal, ob man sich wie im Fall des [„Regenromans“ 1954 in der ostdeutschen Einöde befindet oder ob man wie bei „Taxi“ mit der Protagonistin durch die einsamen, nächtlichen Straßen Hamburgs düst.

Karen Duve ist eben eine großartige Erzählerin und eine äußerst genaue Beobachterin, die auch die alltäglichsten Dinge herrlichen treffend und pointiert zu erzählen weiß. Dabei springt sie nicht immer sanft mit ihren Figuren um. Auch Alex hat einiges zu erdulden, bis sie nach so mancher qualvollen Erfahrung irgendwann doch auf dem Weg zu sich selbst ist. Aber das ist ein harter und schmerzvoller Prozess, den Karen Duve schonungslos ehrlich und unbarmherzig dokumentiert.

Das zu lesen und den Entwicklungsprozess der Protagonistin nachzuvollziehen, ist dank Karen Duves erzählerischer Raffinesse ein echtes Vergnügen. Man kann zwar einiges an Alex oft nicht so ganz nachvollziehen, denn warum nimmt sie ihr Leben denn nicht mal endlich in die Hand, anstatt sich weiter jeden Tag über die frauenfeindlichen Sprüche der Kollegen, ihre Beziehungskatastrophe mit Dietrich und die Unerträglichkeit ihrer Fahrgäste zu mokieren. Man möchte Alex am liebsten einmal kräftig in den Hintern und damit aus ihrem trägen Trott heraus treten. Aber Karen Duve lässt Alex durch einen harten Lernprozess langsam reifen – und das auf äußerst lesenswerte Art.

Bleibt unterm Strich ein sehr positiver Eindruck zurück. Karen Duve hat mit „Taxi“ einmal mehr ihr großartiges Talent unter Beweis gestellt, und manch einer mag erleichtert darüber sein, dass sie nach ihrem Ausflug in fantastische Gefilde nun wieder in gewohnt belletristisches Fahrwasser eingeschwenkt ist. „Taxi“ ist in jedem Fall eine Empfehlung wert; ein äußerst lesenswerter Roman, der sehr stark von der pointierten und wohlakzentuierten Erzählweise der Autorin lebt. Wer Karen Duve noch nicht kennt, der sollte das schleunigst nachholen, denn sonst läuft er Gefahr eine der aktuell besten deutschen Autorinnen zu verpassen …

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Katie MacAlister – Blind Date mit einem Vampir

Joy und ihre beste Freundin Roxy sind jung, hübsch und – leider – ledig. Nun ja, so ganz ledig ist Joy, die Heldin in Katie MacAlisters Romanze „Blind Date mit einem Vampir“, doch nicht. Es gibt da Bradley, der offensichtlich genauso langweilig ist wie sein Name klingt und von dem sich Joy ständig trennt, nur um ihn dann doch wieder in ihr Bett zu lassen. Roxy dagegen ist überzeugte Jungfrau und wartet auf den Richtigen. Der könnte nun aber langsam vorbeikommen, findet sie, und deswegen haben sich Joy und Roxy mit ihrer Freundin Miranda verabredet. Diese ist Hexe und hat den beiden versprochen, ihnen männertechnisch die Zukunft vorherzusagen. Glücklicherweise hat Miranda nur Gutes zu berichten: Sowohl Joy als auch Roxy werden demnächst den Mann ihres Lebens kennenlernen – und zwar während ihres Urlaubs in Tschechien.

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Ulrich, Stefan – Quattro Stagioni. Ein Jahr in Rom

Den Traum vom Aussteigen, vom Leben im sonnigen und vielleicht sorgenlosen Ausland hegt wohl jeder einmal. Doch Träume können manchmal auch zu Schäumen werden und sich schlimmstenfalls in Alpträume verwandeln. Leben und Arbeiten in einer kulturellen Metropole wie beispielsweise Rom versprechen viel Sonne, eine hervorragende Gastronomie und nette Menschen. Doch vergessen wir oftmals, dass es auch bürokratische Hürden gibt und dass Nationen in ganz natürlicher Weise eine andere Mentalität haben, die wir erst dann begreifen, wenn wir uns anpassen müssen oder resigniert umkehren und uns geschlagen geben.

Man kann nicht überall und zu allem eine |bella figura| abgeben, jedenfalls könnte es manchmal schwerfallen. Es gibt unzählige Einzelschicksale von Menschen, die um ihren Traum gekämpft und verloren haben, andere hingegen waren entweder intelligenter oder einfach praktischer veranlagt, sie passten sich der Mentalität, der Lebensart, der Sprache an und fanden neue Wurzeln in einem fernen Land.

Rom ist nicht nur die Zentrale des katholischen Glaubens sondern hat natürlich geschichtlich und kulturell mehr aufzubieten als jede andere Hauptstadt Europas. Insbesondere für Menschen, die im Journalismus und Kulturbereich tätig sind, ist diese Stadt wohl die Perle eines jeden Reporters.

Der Autor Stefan Ulrich ist mit seiner Frau und seinen beiden Kindern als Journalist einer großen Münchner Tageszeitung auf Bitten und Drängen nach Rom gezogen. In seinem Roman „Quattro Stagioni. Ein Jahr in Rom“ erzählt er von den ersten Schritten auf römischem Boden und allerhand Schwierigkeiten, aber auch von herzlichen Begegnungen mit Menschen und urkomischen Alltagssituationen.

_Story_

„Habt ihr’s gut“, hört Familie Ulrich von ihren Freunden ständig, als diese erfahren, dass die vierköpfige Familie in die italienische Hauptstadt Rom zieht. Stefan Ulrich wird dort als Korrespondent für seine Münchner Tageszeitung tätig sein. Ein Jugendtraum wird wahr: Dolce Vita in Bella Italia.

Doch schon die Anreise ist per Auto über den Brenner ein kleines Abenteuer für sich, und bereits das angemietete Haus im Zentrum der ewigen Stadt überrascht die freiwilligen Emigranten: ein kleiner Vorgeschmack auf das Leben in Rom. Der Palazzo der Familie Ulrich liegt in Prati, einem Stadtviertel am Tiberufer unweit des Vatikans; ein schmuckes Mehrfamilienhaus, das im römischen Hochsommer von einem Hausmeisterehepaar behütet und gewartet wird.

Zwar werden die Ulrichs herzlich und liebevoll empfangen, doch die geräumige Wohnung kommt den neuen Römern eher vor wie eine altägyptische Grabkammer: Fehlendes warmes Wasser und Strom sind nur die ersten Willkommensgeschenke. Doch auch das wird mit Hilfe des netten Hausmeisters Filippo fürs Erste geregelt. Der Bürokratismus ist in der Stadt, die diese Organisationsform praktischg erfunden hat, vielfältiger als in Deutschland, und so gibt es für die junge Familie noch vieles zu meistern.

Stefan und Antonia Ulrich fühlen sich unter den Römern wie Exoten, und teilweise werden sie auch so behandelt, aber das nur im positiven Sinne. Die Deutschen haben eher eine ruhigere Mentalität gegenüber den impulsiven, aber immer lebensfrohen Italiener. Schnell finden Sie Freunde und Anschluss, und auch die |bambini| haben alles andere als Kommunikationsschwierigkeiten und entwickeln sich prächtig zwischen den Welten. Die Ulrichs überleben einen italienischen Kindergeburtstag, der ein klein wenig ausartet, wobei die italienischen Freunde auf dem Schlachtfeld eher noch begeistert in die Hände klatschen.

Als die junge Tochter Bernadette sich ein Meerschweinchen als Haustier halten möchte, wird der notwendige Besuch bei einem Tierarzt zur einer Expedition ins Tierreich. Es wird nicht nur teuer, sondern die Operation verläuft auch alles andere als erfolgreich, und wenig später gibt es deswegen eben nicht nur ein Meerschweinchen bei den Ulrichs. Also, da hilft nur eines: Der Dottore wird wohl drumherum kommen, Alimente zahlen zu müssen. Schlimm genug, dass dieser promovierte Tierarzt zu allem Überfluss auch noch das Meerschweinchen für eine Ratte hält.

Aber das römische Leben ist auch anderweitig vielseitig. Zum Schlemmen fährt man in die romantische Toskana, und wenn man Skifahren möchte, so fegt man in den Abruzzen über die Pisten. Selbst an den römischen Stadtverkehr gewöhnt man sich schnell, wenn man begreift, dass ein Auto nur das Mittel zum Zweck ist, um möglichst schnell sein Ziel zu erreichen.

Stefan Ulrich erzählt von Ertruskerschätzen und zugleich von archäologischer Grabschändung; er verherrlicht die Metropole Rom und seine Erlebnisse in ihr nicht nur, sondern schildert die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn zwei unterschiedliche Mentalitäten wie die deutsche und die italienische auf aufeinandertreffen. Es gibt mit Sicherheit viele Reibungspunkte und Meinungsverschiedenheiten, doch augenzwinkernd verrät der Autor, wie man sich in der Großstadt Rom verhält und lebt und was das Leben in der Traumstadt so einmalig schön macht.

_Kritik_

„Quattro Stagioni. Ein Jahr in Rom“ ist ein autobiografischer Roman. Mit viel tiefgründigem Humor fängt die Erzählung bei der Anreise und den ersten Schwierigkeiten und Anforderungen an. Wer schon einmal längere Zeit im Ausland gelebt und gearbeitet hat, wird sich in manchen Situationen, lustigen wie nervenaufreibenden, wiederfinden. Wenn wir so über die Bürokratie auf deutschen Ämtern nachdenken und schließlich diejenige unserer südeuropäischen Nachbarn kennenlernen, so werden wir herbe Unterschiede erkennen, wie wir sie uns in unseren schlimmsten Träumen nicht vorstellen könnten.

Der Roman bietet witzige und unterhaltsame Lektüre und gibt sogar nützliche Tipps für neurömische Bürger – ein hilfreicher Insiderbericht, der augenzwinkernd warnt und Hilfestellung gibt. Stefan Ulrich übernimmt aber in keinem Kapitel jeweils die Pro- oder Kontraposition. Er überlässt es schlauerweise dem Leser, sich ein Bild vom Leben in Rom zu machen. Von allen Daheimgebliebenen beneidet – sicherlich auch von manchem Leser -, erleben die Ulrichs eine wahre, amüsante, aber auch ernsthafte Odyssee.

_Fazit_

„Quattro Stagioni. Ein Jahr in Rom“ eignet sich hervorragend für den nächsten Sommerurlaub in „Bella Italia“. Es ist ein angenehmer, unterhaltsamer Roman, erzählt in abwechslungsreichen Passagen, und die Protagonisten agieren zweifelsfrei glaubwürdig, doch viel mehr ist das Buch nicht. Oberflächliche Erzählungen in einzelnen Momentaufnahmen werden zwar witzig geschildert, aber so amüsant dieser Roman auch ist, so schnell wird der Leser ihn wieder vergessen haben.

_Der Autor_

Stefan Ulrich wurde 1963 in Starnberg geboren. Im August 2005 zog er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern von München nach Rom um. Von dort berichtet er als Korrespondent der |Süddeutschen Zeitung| über Rom, Italien und den Vatikan.

|297 Seiten|
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McCrea, Barry – Poeten der Nacht, Die

Bücher über die Leidenschaft zu Büchern sind stets ein besonderer Genuss für den wahren Bücherfreund. Auf fantasievolle Art und mit einem Blick für die tiefe Verbundenheit dem Medium Buch gegenüber hat schon so mancher Autor es geschafft, den Leser mitten ins Herz zu treffen – manifestiert sich in der Lektüre doch stets auch die eigene Leidenschaft des Lesers für das gedruckte Wort. Zwei passende Beispiele wären hier „Das Papierhaus“ von Carlos Maria Domínguez oder [„Der Schatten des Windes“ 2184 von Carlos Ruiz Zafón. Ein Buch, das sich anschickt, sich in diese Galerie einzureihen, ist der Debütroman „Die Poeten der Nacht“ des irischen Autors Barry McCrea.

Auch „Die Poeten der Nacht“ handelt von der Leidenschaft zu Büchern. Eine Leidenschaft, die im Fall des jungen Studenten Niall ein dunkler Sog wird, der ihn wie ein schwarzes Loch zu verschlingen droht und ähnlich absurd-sonderbare Ausmaße annimmt, wie es z. B. in Domínguez‘ Roman [„Das Papierhaus“ 2814 geschieht.

Doch von all dem ahnt Niall noch nichts, als er sein Studium am altehrwürdigen Trinity College in Dublin antritt. Zunächst genießt er einfach nur das Studentenleben, zieht abends mit seinen Kommilitonen durch die Pubs von Dublin, schließt neue Freundschaften und hat außerhalb seines Elternhauses erstmals auch die Gelegenheit, seine homosexuelle Seite zu erforschen und auszuleben.

Doch auch das wird zunehmend bedeutungslos, als Niall im Nachklang einer Party erstmals mit den „Sortes“ in Berührung kommt. Das Prinzip der „Sortes“ funktioniert folgendermaßen: Man stelle eine Frage, dann nehme man blindlings und rein intuitiv ein Buch aus einem Bücherregal, schlage es ebenso blindlings auf und lese eine intuitiv gewählte Textpassage. In dieser Textpassage steckt die Antwort auf die gestellte Frage – natürlich nicht wortwörtlich und oft rein metaphorisch. Lässt sich zwischen Textpassage und Frage keinerlei Verbindung herstellen, war die Frage nicht präzise genug formuliert.

All das sieht nach einem harmlosen literarischen Partyspiel aus, wenngleich die „Sortes“ eine uralte Tradition darstellen, derer man sich schon im alten Rom bedient hat. Schon von Anfang an ist Niall fasziniert von der Stimmigkeit der Antworten, und insgeheim lässt ihn dieses Thema nicht mehr los. Während seine beste Freundin Fionnuala die „Sortes“ schon längst wieder vergessen hat, versucht Niall auch nach der Party immer wieder, mit Sarah und John in Kontakt zu kommen, den beiden, die ihn auf der Party an die „Sortes“ herangeführt haben.

Er fängt an, den beiden mit Hilfe der Bücher hinterherzuspionieren. Er missachtet Johns stetige Warnungen sich zurückzuhalten und nervt ihn so lange, bis der ihn in weitere Geheimnisse einweiht. So erfährt Niall von „Pour Mieux Vivre“, einem Geheimbund, der neben den „Sortes“ noch weitere Praktiken anwendet, die allesamt mit Büchern zu tun haben.

Widerwillig nehmen Sarah und John Niall in ihre kleine Gemeinschaft auf, und schon bald ist Niall hoffnungslos den „Sortes“ verfallen. Er trifft keine Entscheidung mehr, ohne vorher die Bücher zu befragen. Studium, Freundschaften und der Kontakt zur Familie – alles bleibt auf der Strecke, während Niall wie ein einsamer Wanderer, stets begleitet von einem Stapel Bücher, durch Dublin streift und nach Antworten sucht. Zu spät merkt Niall, mit welcher intensiven Macht die Bücher ihn zu verschlingen drohen …

Zugegeben, der Plot mutet bei näherer Betrachtung schon etwas bizarr an. Niall, der Bücherjunkie, der ganz und gar abhängig von Büchern ist, der keine Entscheidung mehr fällt, ohne vorher die Bücher zu befragen. Zu beobachten, wie er durch die Straßen von Dublin wandelt, sich durch die Bücher den Weg weisen lässt und dabei doch keinen Schimmer hat, wohin der Weg ihn eigentlich führt. Das Ganze mutet irgendwie surreal an, und es braucht unbestreitbar schon ein gewisses Erzähltalent, damit der Leser diesem skurrilen Spiel folgen mag.

Und so ist es eben auch Barry McCreas wunderbare Art zu erzählen und plastische Bilder in den Kopf den Lesers zu projizieren, die dem Roman seinen besonderen Glanz verleiht. Die Figuren wirken durch seine Beschreibungen außerordentlich lebensnah. Man hat das Gefühl, wirklich direkt neben ihnen zu stehen und sie zu beobachten. McCrea entwirft sympathische Figuren, in denen man sich wiederfinden kann. Ganz alltägliche Menschen, in die er sich gekonnt einfühlt.

Ein wichtiger Hauptdarsteller des Romans ist die Stadt Dublin. Niall ist täglich in den Straßen der Stadt unterwegs, lässt sich durch Pubs und Clubs treiben, durchstreift Parks und Shoppingmeilen und beobachtet die Menschen, die unterwegs zur Arbeit und zum Einkaufen sind.

Und so ist „Die Poeten der Nacht“ eben auch ein Dublin-Roman, eine kleine Huldigung an die Stadt und ihre Einwohner und eine treffsichere Bestandsaufnahme, die mit geschultem Blick Irlands Verwandlung vom ehemaligen Armenhaus Europas zum „keltischen Tiger“ begleitet. War sonst immer „Ulysses“ von James Joyce der klassische Dublin-Roman, so hat McCrea mit „Die Poeten der Nacht“ ein zeitnahes, modernes Gegenstück geschaffen.

Sprachlich ist „Die Poeten der Nacht“ ein wirklich gelungener Roman. Es ist McCreas Sprache, die Grundlage seiner wohlakzentuierten Figurenskizzierung und seiner Beobachtungen Dublins ist. Treffende Beschreibungen, ein kontinuierlich aufstrebender Spannungsbogen und ein flüssiger Erzählstil sorgen dafür, dass „Die Poeten der Nacht“ wirklich angenehm zu lesende Lektüre ist.

So gelingt McCrea es eben auch, eine so bizarre Geschichte wie Nialls Besessenheit von den „Sortes“ und das stetig voranschreitende Entgleisen seines Lebens zu dokumentieren – zumal das Ganze stets auch von einem etwas mystischen Nebel umgeben wird. Niall trifft immer wieder die ominöse Figur des Pablo Virgomare, von dem nie weiß, ob er wirklich existiert oder vielleicht nur ein Produkt von Nialls Fantasie ist. Je mehr Niall sein Leben entgleitet, desto sonderbarere Züge nimmt auch der Plot an. Das ist einerseits faszinierend, aber andererseits eben auch nicht wenig verwirrend. Man weiß nicht, was man davon halten soll. So wie Niall offenbar immer wieder von seiner Wahrnehmung an der Nase herumgeführt wird, scheint auch McCrea den Leser an der Nase herumzuführen.

Und so bleibt der Roman eben bis zum Ende hin von einer unergründlichen und rätselhaften Ader durchzogen. Das mag manchen Leser faszinieren und sorgt dafür, dass „Die Poeten der Nacht“ ein Buch ist, dass auch bei zweimaliger Lektüre noch seinen Reiz haben dürfte – wer jedoch am Ende eine klare Auflösung und ein erklärendes Ende erwartet, der dürfte etwas enttäuscht sein. McCrea lüftet den Schleier des Rätselhaften nicht wirklich, und so bleibt einem auch Niall trotz der gelungenen Figurenskizzierung am Ende immer noch ein wenig fremd, weil man nicht ganz nachvollziehen kann, was in ihm vorgeht.

So ist „Die Poeten der Nacht“ unterm Strich ein Buch, das gleichermaßen rätselhaft wie faszinierend ist. McCrea offenbart ein wunderbares Erzähltalent, fühlt sich sehr gut in seine Figuren ein und hat einen lesenswerten Dublin-Roman abgeliefert. Doch mit der mystischen, rätselhaften Art des Romans muss man erst einmal warmwerden. Vieles bleibt auch am Ende immer noch offen und mysteriös. Dadurch klingt der Roman im Kopf zwar noch lange nach, bleibt aber eben auch ein etwas unbefriedigendes Lesevergnügen, da man auf viele Antworten vergebens wartet.

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