Archiv der Kategorie: Belletristik

Ulrich, Stefan – Quattro Stagioni. Ein Jahr in Rom

Den Traum vom Aussteigen, vom Leben im sonnigen und vielleicht sorgenlosen Ausland hegt wohl jeder einmal. Doch Träume können manchmal auch zu Schäumen werden und sich schlimmstenfalls in Alpträume verwandeln. Leben und Arbeiten in einer kulturellen Metropole wie beispielsweise Rom versprechen viel Sonne, eine hervorragende Gastronomie und nette Menschen. Doch vergessen wir oftmals, dass es auch bürokratische Hürden gibt und dass Nationen in ganz natürlicher Weise eine andere Mentalität haben, die wir erst dann begreifen, wenn wir uns anpassen müssen oder resigniert umkehren und uns geschlagen geben.

Man kann nicht überall und zu allem eine |bella figura| abgeben, jedenfalls könnte es manchmal schwerfallen. Es gibt unzählige Einzelschicksale von Menschen, die um ihren Traum gekämpft und verloren haben, andere hingegen waren entweder intelligenter oder einfach praktischer veranlagt, sie passten sich der Mentalität, der Lebensart, der Sprache an und fanden neue Wurzeln in einem fernen Land.

Rom ist nicht nur die Zentrale des katholischen Glaubens sondern hat natürlich geschichtlich und kulturell mehr aufzubieten als jede andere Hauptstadt Europas. Insbesondere für Menschen, die im Journalismus und Kulturbereich tätig sind, ist diese Stadt wohl die Perle eines jeden Reporters.

Der Autor Stefan Ulrich ist mit seiner Frau und seinen beiden Kindern als Journalist einer großen Münchner Tageszeitung auf Bitten und Drängen nach Rom gezogen. In seinem Roman „Quattro Stagioni. Ein Jahr in Rom“ erzählt er von den ersten Schritten auf römischem Boden und allerhand Schwierigkeiten, aber auch von herzlichen Begegnungen mit Menschen und urkomischen Alltagssituationen.

_Story_

„Habt ihr’s gut“, hört Familie Ulrich von ihren Freunden ständig, als diese erfahren, dass die vierköpfige Familie in die italienische Hauptstadt Rom zieht. Stefan Ulrich wird dort als Korrespondent für seine Münchner Tageszeitung tätig sein. Ein Jugendtraum wird wahr: Dolce Vita in Bella Italia.

Doch schon die Anreise ist per Auto über den Brenner ein kleines Abenteuer für sich, und bereits das angemietete Haus im Zentrum der ewigen Stadt überrascht die freiwilligen Emigranten: ein kleiner Vorgeschmack auf das Leben in Rom. Der Palazzo der Familie Ulrich liegt in Prati, einem Stadtviertel am Tiberufer unweit des Vatikans; ein schmuckes Mehrfamilienhaus, das im römischen Hochsommer von einem Hausmeisterehepaar behütet und gewartet wird.

Zwar werden die Ulrichs herzlich und liebevoll empfangen, doch die geräumige Wohnung kommt den neuen Römern eher vor wie eine altägyptische Grabkammer: Fehlendes warmes Wasser und Strom sind nur die ersten Willkommensgeschenke. Doch auch das wird mit Hilfe des netten Hausmeisters Filippo fürs Erste geregelt. Der Bürokratismus ist in der Stadt, die diese Organisationsform praktischg erfunden hat, vielfältiger als in Deutschland, und so gibt es für die junge Familie noch vieles zu meistern.

Stefan und Antonia Ulrich fühlen sich unter den Römern wie Exoten, und teilweise werden sie auch so behandelt, aber das nur im positiven Sinne. Die Deutschen haben eher eine ruhigere Mentalität gegenüber den impulsiven, aber immer lebensfrohen Italiener. Schnell finden Sie Freunde und Anschluss, und auch die |bambini| haben alles andere als Kommunikationsschwierigkeiten und entwickeln sich prächtig zwischen den Welten. Die Ulrichs überleben einen italienischen Kindergeburtstag, der ein klein wenig ausartet, wobei die italienischen Freunde auf dem Schlachtfeld eher noch begeistert in die Hände klatschen.

Als die junge Tochter Bernadette sich ein Meerschweinchen als Haustier halten möchte, wird der notwendige Besuch bei einem Tierarzt zur einer Expedition ins Tierreich. Es wird nicht nur teuer, sondern die Operation verläuft auch alles andere als erfolgreich, und wenig später gibt es deswegen eben nicht nur ein Meerschweinchen bei den Ulrichs. Also, da hilft nur eines: Der Dottore wird wohl drumherum kommen, Alimente zahlen zu müssen. Schlimm genug, dass dieser promovierte Tierarzt zu allem Überfluss auch noch das Meerschweinchen für eine Ratte hält.

Aber das römische Leben ist auch anderweitig vielseitig. Zum Schlemmen fährt man in die romantische Toskana, und wenn man Skifahren möchte, so fegt man in den Abruzzen über die Pisten. Selbst an den römischen Stadtverkehr gewöhnt man sich schnell, wenn man begreift, dass ein Auto nur das Mittel zum Zweck ist, um möglichst schnell sein Ziel zu erreichen.

Stefan Ulrich erzählt von Ertruskerschätzen und zugleich von archäologischer Grabschändung; er verherrlicht die Metropole Rom und seine Erlebnisse in ihr nicht nur, sondern schildert die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn zwei unterschiedliche Mentalitäten wie die deutsche und die italienische auf aufeinandertreffen. Es gibt mit Sicherheit viele Reibungspunkte und Meinungsverschiedenheiten, doch augenzwinkernd verrät der Autor, wie man sich in der Großstadt Rom verhält und lebt und was das Leben in der Traumstadt so einmalig schön macht.

_Kritik_

„Quattro Stagioni. Ein Jahr in Rom“ ist ein autobiografischer Roman. Mit viel tiefgründigem Humor fängt die Erzählung bei der Anreise und den ersten Schwierigkeiten und Anforderungen an. Wer schon einmal längere Zeit im Ausland gelebt und gearbeitet hat, wird sich in manchen Situationen, lustigen wie nervenaufreibenden, wiederfinden. Wenn wir so über die Bürokratie auf deutschen Ämtern nachdenken und schließlich diejenige unserer südeuropäischen Nachbarn kennenlernen, so werden wir herbe Unterschiede erkennen, wie wir sie uns in unseren schlimmsten Träumen nicht vorstellen könnten.

Der Roman bietet witzige und unterhaltsame Lektüre und gibt sogar nützliche Tipps für neurömische Bürger – ein hilfreicher Insiderbericht, der augenzwinkernd warnt und Hilfestellung gibt. Stefan Ulrich übernimmt aber in keinem Kapitel jeweils die Pro- oder Kontraposition. Er überlässt es schlauerweise dem Leser, sich ein Bild vom Leben in Rom zu machen. Von allen Daheimgebliebenen beneidet – sicherlich auch von manchem Leser -, erleben die Ulrichs eine wahre, amüsante, aber auch ernsthafte Odyssee.

_Fazit_

„Quattro Stagioni. Ein Jahr in Rom“ eignet sich hervorragend für den nächsten Sommerurlaub in „Bella Italia“. Es ist ein angenehmer, unterhaltsamer Roman, erzählt in abwechslungsreichen Passagen, und die Protagonisten agieren zweifelsfrei glaubwürdig, doch viel mehr ist das Buch nicht. Oberflächliche Erzählungen in einzelnen Momentaufnahmen werden zwar witzig geschildert, aber so amüsant dieser Roman auch ist, so schnell wird der Leser ihn wieder vergessen haben.

_Der Autor_

Stefan Ulrich wurde 1963 in Starnberg geboren. Im August 2005 zog er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern von München nach Rom um. Von dort berichtet er als Korrespondent der |Süddeutschen Zeitung| über Rom, Italien und den Vatikan.

|297 Seiten|
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McCrea, Barry – Poeten der Nacht, Die

Bücher über die Leidenschaft zu Büchern sind stets ein besonderer Genuss für den wahren Bücherfreund. Auf fantasievolle Art und mit einem Blick für die tiefe Verbundenheit dem Medium Buch gegenüber hat schon so mancher Autor es geschafft, den Leser mitten ins Herz zu treffen – manifestiert sich in der Lektüre doch stets auch die eigene Leidenschaft des Lesers für das gedruckte Wort. Zwei passende Beispiele wären hier „Das Papierhaus“ von Carlos Maria Domínguez oder [„Der Schatten des Windes“ 2184 von Carlos Ruiz Zafón. Ein Buch, das sich anschickt, sich in diese Galerie einzureihen, ist der Debütroman „Die Poeten der Nacht“ des irischen Autors Barry McCrea.

Auch „Die Poeten der Nacht“ handelt von der Leidenschaft zu Büchern. Eine Leidenschaft, die im Fall des jungen Studenten Niall ein dunkler Sog wird, der ihn wie ein schwarzes Loch zu verschlingen droht und ähnlich absurd-sonderbare Ausmaße annimmt, wie es z. B. in Domínguez‘ Roman [„Das Papierhaus“ 2814 geschieht.

Doch von all dem ahnt Niall noch nichts, als er sein Studium am altehrwürdigen Trinity College in Dublin antritt. Zunächst genießt er einfach nur das Studentenleben, zieht abends mit seinen Kommilitonen durch die Pubs von Dublin, schließt neue Freundschaften und hat außerhalb seines Elternhauses erstmals auch die Gelegenheit, seine homosexuelle Seite zu erforschen und auszuleben.

Doch auch das wird zunehmend bedeutungslos, als Niall im Nachklang einer Party erstmals mit den „Sortes“ in Berührung kommt. Das Prinzip der „Sortes“ funktioniert folgendermaßen: Man stelle eine Frage, dann nehme man blindlings und rein intuitiv ein Buch aus einem Bücherregal, schlage es ebenso blindlings auf und lese eine intuitiv gewählte Textpassage. In dieser Textpassage steckt die Antwort auf die gestellte Frage – natürlich nicht wortwörtlich und oft rein metaphorisch. Lässt sich zwischen Textpassage und Frage keinerlei Verbindung herstellen, war die Frage nicht präzise genug formuliert.

All das sieht nach einem harmlosen literarischen Partyspiel aus, wenngleich die „Sortes“ eine uralte Tradition darstellen, derer man sich schon im alten Rom bedient hat. Schon von Anfang an ist Niall fasziniert von der Stimmigkeit der Antworten, und insgeheim lässt ihn dieses Thema nicht mehr los. Während seine beste Freundin Fionnuala die „Sortes“ schon längst wieder vergessen hat, versucht Niall auch nach der Party immer wieder, mit Sarah und John in Kontakt zu kommen, den beiden, die ihn auf der Party an die „Sortes“ herangeführt haben.

Er fängt an, den beiden mit Hilfe der Bücher hinterherzuspionieren. Er missachtet Johns stetige Warnungen sich zurückzuhalten und nervt ihn so lange, bis der ihn in weitere Geheimnisse einweiht. So erfährt Niall von „Pour Mieux Vivre“, einem Geheimbund, der neben den „Sortes“ noch weitere Praktiken anwendet, die allesamt mit Büchern zu tun haben.

Widerwillig nehmen Sarah und John Niall in ihre kleine Gemeinschaft auf, und schon bald ist Niall hoffnungslos den „Sortes“ verfallen. Er trifft keine Entscheidung mehr, ohne vorher die Bücher zu befragen. Studium, Freundschaften und der Kontakt zur Familie – alles bleibt auf der Strecke, während Niall wie ein einsamer Wanderer, stets begleitet von einem Stapel Bücher, durch Dublin streift und nach Antworten sucht. Zu spät merkt Niall, mit welcher intensiven Macht die Bücher ihn zu verschlingen drohen …

Zugegeben, der Plot mutet bei näherer Betrachtung schon etwas bizarr an. Niall, der Bücherjunkie, der ganz und gar abhängig von Büchern ist, der keine Entscheidung mehr fällt, ohne vorher die Bücher zu befragen. Zu beobachten, wie er durch die Straßen von Dublin wandelt, sich durch die Bücher den Weg weisen lässt und dabei doch keinen Schimmer hat, wohin der Weg ihn eigentlich führt. Das Ganze mutet irgendwie surreal an, und es braucht unbestreitbar schon ein gewisses Erzähltalent, damit der Leser diesem skurrilen Spiel folgen mag.

Und so ist es eben auch Barry McCreas wunderbare Art zu erzählen und plastische Bilder in den Kopf den Lesers zu projizieren, die dem Roman seinen besonderen Glanz verleiht. Die Figuren wirken durch seine Beschreibungen außerordentlich lebensnah. Man hat das Gefühl, wirklich direkt neben ihnen zu stehen und sie zu beobachten. McCrea entwirft sympathische Figuren, in denen man sich wiederfinden kann. Ganz alltägliche Menschen, in die er sich gekonnt einfühlt.

Ein wichtiger Hauptdarsteller des Romans ist die Stadt Dublin. Niall ist täglich in den Straßen der Stadt unterwegs, lässt sich durch Pubs und Clubs treiben, durchstreift Parks und Shoppingmeilen und beobachtet die Menschen, die unterwegs zur Arbeit und zum Einkaufen sind.

Und so ist „Die Poeten der Nacht“ eben auch ein Dublin-Roman, eine kleine Huldigung an die Stadt und ihre Einwohner und eine treffsichere Bestandsaufnahme, die mit geschultem Blick Irlands Verwandlung vom ehemaligen Armenhaus Europas zum „keltischen Tiger“ begleitet. War sonst immer „Ulysses“ von James Joyce der klassische Dublin-Roman, so hat McCrea mit „Die Poeten der Nacht“ ein zeitnahes, modernes Gegenstück geschaffen.

Sprachlich ist „Die Poeten der Nacht“ ein wirklich gelungener Roman. Es ist McCreas Sprache, die Grundlage seiner wohlakzentuierten Figurenskizzierung und seiner Beobachtungen Dublins ist. Treffende Beschreibungen, ein kontinuierlich aufstrebender Spannungsbogen und ein flüssiger Erzählstil sorgen dafür, dass „Die Poeten der Nacht“ wirklich angenehm zu lesende Lektüre ist.

So gelingt McCrea es eben auch, eine so bizarre Geschichte wie Nialls Besessenheit von den „Sortes“ und das stetig voranschreitende Entgleisen seines Lebens zu dokumentieren – zumal das Ganze stets auch von einem etwas mystischen Nebel umgeben wird. Niall trifft immer wieder die ominöse Figur des Pablo Virgomare, von dem nie weiß, ob er wirklich existiert oder vielleicht nur ein Produkt von Nialls Fantasie ist. Je mehr Niall sein Leben entgleitet, desto sonderbarere Züge nimmt auch der Plot an. Das ist einerseits faszinierend, aber andererseits eben auch nicht wenig verwirrend. Man weiß nicht, was man davon halten soll. So wie Niall offenbar immer wieder von seiner Wahrnehmung an der Nase herumgeführt wird, scheint auch McCrea den Leser an der Nase herumzuführen.

Und so bleibt der Roman eben bis zum Ende hin von einer unergründlichen und rätselhaften Ader durchzogen. Das mag manchen Leser faszinieren und sorgt dafür, dass „Die Poeten der Nacht“ ein Buch ist, dass auch bei zweimaliger Lektüre noch seinen Reiz haben dürfte – wer jedoch am Ende eine klare Auflösung und ein erklärendes Ende erwartet, der dürfte etwas enttäuscht sein. McCrea lüftet den Schleier des Rätselhaften nicht wirklich, und so bleibt einem auch Niall trotz der gelungenen Figurenskizzierung am Ende immer noch ein wenig fremd, weil man nicht ganz nachvollziehen kann, was in ihm vorgeht.

So ist „Die Poeten der Nacht“ unterm Strich ein Buch, das gleichermaßen rätselhaft wie faszinierend ist. McCrea offenbart ein wunderbares Erzähltalent, fühlt sich sehr gut in seine Figuren ein und hat einen lesenswerten Dublin-Roman abgeliefert. Doch mit der mystischen, rätselhaften Art des Romans muss man erst einmal warmwerden. Vieles bleibt auch am Ende immer noch offen und mysteriös. Dadurch klingt der Roman im Kopf zwar noch lange nach, bleibt aber eben auch ein etwas unbefriedigendes Lesevergnügen, da man auf viele Antworten vergebens wartet.

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John Niven – Kill Your Friends

Darum geht’s:

Nur Erfolg zählt im Musikbusiness. Als ein bisher erfolgreicher Manager nicht mehr mithalten kann, bringt er einen Konkurrenten um. Was zunächst funktioniert, entwickelt eine verhängnisvolle Eigendynamik mit verheerenden Folgen … – Eher Gesellschafts-Komödie als Krimi, besticht „Kill Your Friends“ durch das Insiderwissen des Verfassers und die brutale Konsequenz der Handlung, die sich bar jeglicher Illusionen in nackter Gier und Bösartigkeit wälzt: eine Lektüre, die man einfach nicht aus der Hand legt. John Niven – Kill Your Friends weiterlesen

Smith, Zadie – Autogrammhändler, Der

Zadie Smith wurde nach Erscheinen ihres Debütromans „Zähne zeigen“ als die literarische Sensation Englands gefeiert. Mit „Der Autogrammhändler“ legte sie ihr zweites Buch vor, das nicht weniger Kritikerlob einheimste. Doch ist der Hype um die junge Engländerin gerechtfertigt?

Der unbedarfte Leser wird sich vermutlich zuerst einmal fragen, was er sich unter dem Beruf des Autogrammhändlers vorzustellen hat. Ob man Alex-Li Tandems Beschäftigung tatsächlich als Beruf bezeichnen kann, sei dabei dahingestellt. Der Endzwanziger mit chinesischen und jüdischen Wurzeln, der in Mountjoy, einer englischen Kleinstadt, lebt, kauft und verkauft die Autogramme von berühmten oder manchmal auch weniger berühmten Personen. Dabei ist er mehr oder minder erfolgreich, nur bei seiner heimlichen Obsession hat er bislang keinen Erfolg gehabt: einer Autogrammkarte des früheren B-Movie-Stars Kitty Alexander.

Nach einer durchzechten Nacht, während der er sein Auto zu Schrott gefahren und seine Beziehung zu Esther beendet hat, hält er plötzlich ein Stück Papier mit einer Unterschrift in der Hand, von der er glaubt, dass sie von Kitty Alexander ist. Da ist er allerdings auch der Einzige. Seine besten Freunde, der gottbeseelte Kiffer Adam, der Versicherungsvertreter Joseph und der Rabbiner Rubinfine, glauben das nicht und Alex kennt aufgrund eines Filmrisses die Herkunft des Papiers nicht. Als er zu einer Auktion nach New York fliegt, versucht er, die mittlerweile hochbetagte Kitty Alexander zu finden, um zu klären, ob das Autogramm echt ist. Als er die Frau trifft, die er seit seiner Jugend vergöttert, laufen die Dinge allerdings etwas aus dem Ruder …

Zadie Smith ist Geschmacksache. In „Der Autogrammhändler“ stehen vor allem die skurrilen Charaktere und Smiths frecher Schreibstil im Vordergrund. Auf Gedanken und Gefühle, pseudophilosophische Überlegungen und Wortwitz legt die junge Autorin mehr Wert als auf eine spannende und schlüssige Handlung. Ihr Buch ist weder ein Krimi noch ein Thriller noch leichte Lektüre für ein paar vergnügsame Stunden. Sie verbringt viel Zeit damit, ihre Personen, vor allem Alex-Li, und deren Beziehungen untereinander darzustellen sowie deren Lebensgefühl und Grundeinstellung mit einer großen Portion Jugendlichkeit einzufangen.

Alex-Li und seine Freunde sind Menschen, die nicht richtig erwachsen werden wollen. Sie gehören zu der Art schnoddriger Singles, die ihre Kindheit noch nicht völlig hinter sich gelassen haben und ihre Tage mit sinnlosen Gedanken und Kiffen zu verbringen scheinen. Smiths Charaktere haben Loserqualitäten und das macht ihren Charme aus. Sie nehmen das Leben nicht sonderlich ernst und haben immer einen guten Witz auf den Lippen und pflegen das, was man vermutlich als „Männerfreundschaft“ bezeichnet. Einige Nebencharaktere wie beispielsweise Adam oder Esther stechen aus den Ensemble positiv heraus, da ihre Eigenheiten sehr detailliert und kontrastreich dargestellt werden. Andere dagegen sind zwar mit dem Humor der Autorin getränkt, für den Leser aber nicht so einfach greifbar. Alex-Li, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird, wirkt häufig ein wenig beliebig und zu uninteressant. Am Anfang wird er zwar gut dargestellt und kann Originalität vorweisen, doch Smith führt dies nicht kontinuierlich fort.

Ein Problem, das sich auch an anderen Stellen findet. Der Schreibstil wirkt anfangs interessant, aber nicht besonders originell. Es gibt viele junge Autoren, die ähnlich locker und flapsig schreiben. Erst zur Mitte hin kristallisiert sich das heraus, was Zadie Smith ausmacht: ihr unerwarteter Humor und ihre Vorliebe für bildhafte, bewegliche Sprache. Die Bilder finden sich dabei nicht in zeilenlangen Metaphern, sondern werden wie selbstverständlich in einfache, trockene Sätze eingefügt. Diese Selbstverständlichkeit und die anarchische Art zu schreiben sorgen immer wieder für Überraschungen und Lacher, genau wie der Humor, der in den Dialogen zum Ausdruck kommt. Dabei geht es häufig derbe, manchmal beinahe pubertär zu. Obwohl eine Frau, trifft Zadie Smith den männlichen Witz sehr gut. Überhaupt vergisst man gerne, dass hier eine AutorIN am Werke ist. Ihr Stil erinnert dafür zu stark an ähnliche, witzige Autoren wie DBC Pierre oder Dave Eggers, ohne dabei ein bloßer Abklatsch zu sein. Schade ist nur, dass „Der Autogrammhändler“ erst in Schwung kommen muss. Bei über 400 Seiten wird das den einen oder anderen Leser möglicherweise abschrecken.

Bücher, die ihre Besonderheit hauptsächlich aus seltsamen Charakteren und einem kunstvollen Schreibstil beziehen, schwächeln häufig bei der Handlung. Das ist in diesem Fall nicht anders, auch wenn die witzigen Begebenheiten und verschwurbelten Gedanken über Leben und Leute häufig Lücken auffüllen können. Trotzdem weist die Geschichte Längen auf. Wirkliche Aktion findet sich erst gegen Ende der Erzählung, was nicht unbedingt eine ruhmreiche Leistung ist. Lobenswert ist allerdings, dass Zadie Smith dem Leser die Zeit bis dorthin angenehm zu versüßen weiß. Trotzdem wäre es gut gewesen, etwas mehr Schwung in die Angelegenheit zu bringen. Es muss ja nicht gleich eine actionreiche Verfolgungsjagd sein, aber die eine oder andere Kürzung hätte dem Buch vielleicht ganz gutgetan.

In der Summe ist „Der Autogrammhändler“ ein unterhaltsames Buch, das seinen Charme aber erst ab der Mitte wirklich entfalten kann. Zadie Smith schafft es, das Leben ihres Protagonisten anschaulich und humorvoll darzustellen, doch fehlt es der Handlung manchmal an Substanz und an Zielgerichtetheit.

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Markus Zusak – Die Bücherdiebin

Der Tod ist uns bereits in vielen literarischen Werken begegnet, so zum Beispiel als bedrohliche Gestalt im „Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal oder in seiner wohl kuriosesten Form in Terry Pratchetts |Scheibenwelt|. Doch vermutlich haben wir den Tod noch nie so gut kennen gelernt wie in Markus Zusaks „Bücherdiebin“, nie sind wir ihm und seinen Gedanken so nahe gekommen und nie konnten wir ihn so menschlich erleben wie hier. Zusaks Tod möchte dem Sterben eine fröhliche Seite verleihen, sein Tod ist amüsant, achtsam und andächtig, und das sind nur seine guten Eigenschaften mit dem Buchstaben A. Nur ’nett‘, das ist ihm völlig fremd. Hier lohnt sich also ein genauerer Blick …

_“Nett“ ist dem Tod völlig fremd_

Ihre erste Begegnung mit dem Tod hat Liesel im Jahr 1939 im Alter von neun Jahren, als sie zusammen mit ihrem Bruder mit dem Zug nach Molching reist, um dort bei Pflegeeltern zu wohnen. Doch ihr Bruder überlebt die Fahrt nicht und stirbt unterwegs. An den Gleisen begegnet er dem Tod, der seinerseits sogleich von Liesel fasziniert ist. Das junge Mädchen stiehlt in dieser Situation ihr erstes Buch, und zwar das „Handbuch für Totengräber“, anhand dessen sie lesen lernt. Liesel Meminger ist allerdings keine gewöhnliche Diebin, sie stiehlt nicht jedes Buch, sondern sie nimmt sich Bücher nur in bestimmten Situationen und nur, wenn es für sie nicht anders geht. So sind es nur wenige Bücher, die sie im Laufe der Jahre ansammelt, und es sind schlechte Jahre – es ist der Zweite Weltkrieg und die Bomben fallen auf Deutschland und später auch auf die bayrische Stadt Molching.

Der Tod hat uns eine faszinierende Geschichte zu erzählen, nämlich die von Liesel Meminger, die ihm nicht aus dem Kopf gehen will, seit er sie an den Gleisen stehen gesehen hat, als er sich die Seele ihres toten Bruders geholt hat. Liesel wächst bei ihren Pflegeeltern Rosa und Hans Hubermann auf, die fortan ihre Familie bilden. Rosa wirkt nach außen hin sehr schroff und betitelt geliebte Menschen nur mit den Worten „Saumensch“, dennoch gleicht es einer besonderen Auszeichnung, von Rosa diesen Namen zu erhalten, denn nur ihr liebe Menschen nennt sie so. Hans Hubermann ist praktisch das Gegenteil seiner Frau, er ist stets freundlich und hilfsbereit und wird für Liesel eine der wichtigsten Bezugspersonen überhaupt. Er hat bereits eine bewegte Vergangenheit hinter sich, deren wesentliche Ereignisse wir im Laufe der Geschichte kennen lernen. So erfahren wir, wie er einem Juden sein Leben verdankt – und auch ein Akkordeon, das Hans allerdings während des Zweiten Weltkrieges nur noch selten spielt. Eines Tages soll ihn seine Vergangenheit einholen, als nämlich der Sohn von Hans‘ Lebensretter vor der Tür steht und um Zuflucht vor den Nazis bittet.

Liesel freundet sich immer mehr mit Max an, dem Juden, der sich im Keller der Hubermanns versteckt. Immer mehr Zeit verbringt sie bei Max, statt mit ihrem guten Freund Rudi beim Fußball spielen. Dennoch nimmt auch Rudi in Liesels Leben eine ganz wichtige Rolle ein; die beiden verbindet trotz ihres jungen Alters eine tiefe Liebe, die sich Liesel allerdings lange nicht eingestehen kann.

All diese Ereignisse werden überschattet von den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges, die zunächst kaum nach Molching vordringen, später allerdings dafür umso schrecklicher. Und zwischendurch muss der Tod immer häufiger loseilen, um die Seelen der Toten einzusammeln. In diesen Jahren hat er viel zu tun, dennoch hat er stets ein Auge auf Liesel, der er gar nicht allzu früh wiederbegegnen möchte …

_Tod auf Abwegen_

Markus Zusak hat sich für seine Erzählerrolle eine ganz besondere Figur herausgesucht, und zwar eine der im zweiten Weltkrieg vermutlich am meist Beschäftigten – den Tod. Doch dieser gerät ein wenig auf Abwege, als er die junge Liesel Meminger das erste Mal sieht. Obwohl er ihr nur dreimal begegnet, weiß der Tod erstaunlich gut über Liesel Bescheid. Das hat er dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass er bei der dritten Begegnung Liesels Buch aufsammeln kann, in welchem sie ihre kurze Lebensgeschichte aufgeschrieben hat. Während um sie herum die ganze Welt zusammenbrach, hat Liesel jede Nacht stundenlang geschrieben – eine Geschichte, die nicht nur den Tod fasziniert, sondern auch den Leser. Liesel ist eine Überlebende, oft genug schaut der Tod in ihrer Nachbarschaft, in der Familie und im Freundeskreis vorbei, Liesels Seele jedoch holt der Tod sich erst ganz zum Schluss. Und erst dann kommt es zum ersten kurzen Gespräch zwischen den beiden.

Neben dem Tod ist Liesel die zweite Hauptfigur der Erzählung. Als wir ihr das erste Mal begegnen, ist sie erst neun Jahre alt, dennoch hat sie schon schwere Schicksalsschläge einstecken müssen. Sie wächst bei Pflegeeltern auf – ohne ihren Bruder, der bereits am Anfang des Buches stirbt. Liesel wird schneller erwachsen, als man es ihr wünschen mag. Sie erlebt die Kriegsgräuel hautnah mit, muss geliebten Menschen beim Sterben zusehen und verliert nach und nach viele geliebte Menschen. Als ihre Eltern einen Juden bei sich im Keller verstecken, kümmert sich Liesel nicht nur liebevoll um ihn, sondern sie versteht auch gleich trotz ihres jungen Alters die Schwere dieser Situation und vertraut sich nicht einmal ihrem besten Freund Rudi an. Sie wird erfinderisch, als die Nazis die Häuser auf der Suche nach geeigneten Luftschutzkellern durchkämmen, und rettet Max damit das Leben.

Ihre Liebe zu Büchern, in denen sie sich vollkommen verlieren kann und die es ihr erlauben, in eine andere, faszinierende Welt einzutauchen, macht Liesel noch sympathischer. Und obwohl Liesel eine erstaunliche Entwicklung durchmacht, bleibt sie doch stets glaubwürdig, denn es sind meist einschneidende Erlebnisse, die sie einen Schritt nach vorne in Richtung Erwachsenendasein tun lassen.

_Nicht noch ein solches Buch?!_

„Die Bücherdiebin“ mag das x-te Buch in einer Reihe voller Romane über die NS-Zeit sein, dennoch hebt es sich von der Masse ab. Markus Zusak schreibt frei von Kitsch und berührt dennoch die Herzen seiner Leser – und das, obwohl er selbst keine eigenen Erinnerungen an diese Zeit hat, sondern auf den Erfahrungsschatz seiner Eltern zurückgreifen musste.

Obwohl das Buch direkt im Jahr 1939 zu Beginn des zweiten Weltkrieges einsteigt, bleiben die Kriegserlebnisse längere Zeit eher im Hintergrund. Der Tod bekommt immer mehr zu tun, dennoch stehen weiterhin Liesel Meminger und Rudi Steiner sowie ihre Freundschaft im Vordergrund der Erzählung. Die beiden gehen auf Diebestour, denn der Hunger ist groß. Ein paar Äpfel als Diebesgut sind Belohnung genug für die beiden, auch wenn Liesels ausgehungerter Magen die Nahrungsaufnahme gar nicht verträgt. In die Geschichte eingewoben, klingt also das Elend durch, in dem die Menschen damals gelebt haben. Auch dass Rosa Hubermann die Kunden davonlaufen, weil die meisten Menschen es sich nicht mehr leisten können, sich von ihr die Wäsche waschen zu lassen, ist Zeichen genug. Dennoch geht es vordergründig weiterhin um Liesel, denn der Tod will eigentlich gar nicht so sehr die Geschichte des Krieges erzählen, sondern die der Bücherdiebin, die ihre Zuflucht in den Büchern findet. Lesen ist für sie die Flucht vor Albträumen oder schlimmen Gedanken. Auch im Luftschutzraum während eines Bombenalarms ist es ein Buch, das nicht nur Liesel von der elenden Warterei ablenkt, sondern auch ihre Freunde und Nachbarn. So liest Liesel Kapitel um Kapitel, während die Menschen fürchten müssen, dass währenddessen ihr Hab und Gut weggebombt wird. Doch Liesels Worte lassen die Menschen kurzzeitig in eine fremde Welt flüchten.

„Die Bücherdiebin“ ist nicht einfach nur ein Buch über die NS-Zeit, es ist ein mitreißendes Portrait einer ganz besonderen Buchliebhaberin, die schnell die Herzen aller Leser erobert. Stilistisch ist das vorliegende Werk allerdings oftmals gewöhnungsbedürftig. Einen Einstieg habe ich lange nicht gefunden, weil ich nicht wusste, worauf Markus Zusak hinaus will. Zu kurz waren die ersten Kapitel, als dass ich mich schnell hätte einlesen können. Oftmals sind es mehrere zusammenhanglose Absätze, die auf einer Seite aneinander gereiht sind. Auch die vielen fettgedruckten Passagen, die Randbemerkungen, nähere Erläuterungen oder Personenvorstellungen darstellen bzw. etwas besonders hervorheben sollen, unterbrechen häufig den Lesefluss. Darüber hinaus sind viele Sätze arg knapp geraten, sodass die Sprache teils abgehackt anmutet. Lange braucht es daher, bis das Buch seine volle Faszination entfaltet und man tatsächlich in der Geschichte versinken kann. Dann allerdings sind viele schöne Schätze zu entdecken. Besonders berührt hat mich die Geschichte, die Max für Liesel geschrieben hat. Keinen Zugang habe ich allerdings zu seinen Skizzen gefunden. Ich bin etwas zwiegespalten bei diesem Buch, denn die Grundgeschichte, die Charaktere und viele von Zusaks Erzählungen sind einfach nur schön, doch manche Stilmittel empfand ich bis zum Schluss als störend. So bin ich durchgehend zusammengezuckt, wenn Rosa ihre Pflegetochter mit „Saumensch“ anredet. Die fettgedruckten Absätze sehen zwar durchaus hübsch aus, sie stören aber immer wieder den Lesefluss, zumal sie oftmals inhaltlich wenig zu sagen haben.

Unter dem Strich bleibt dennoch ein überaus positiver Eindruck zurück, obwohl ich denke, dass das Buch eher für Erwachsene und Jugendliche ab etwa 14 Jahren geschrieben ist. Viele Details dürften zu jungen Lesern womöglich verborgen bleiben, zumal sich das Buch nicht immer ganz ‚unanstrengend‘ liest. Wenn man sich aber erst mal auf das Buch eingelassen hat, entdeckt man das ganz Besondere an der „Bücherdiebin“. Markus Zusak ist hier sicher ein ganz großer Wurf gelungen. Nachdem ich das Buch ausgelesen hatte, blieben bei mir ein wenig Trauer zurück, weil ich eine liebgewonnene Freundin verlassen musste, und der Wunsch, noch mehr über Liesel zu erfahren und über die Jahre zwischen ihrer dritten Begegnung mit dem Tod und dem schlussendlich letzten Zusammentreffen, aber das werden wir vermutlich nie erfahren – schade.

|Originaltitel: The Book Thief
Originalverlag: Random House US/UK
Aus dem Englischen von Alexandra Ernst
Ab 12 Jahren
Gebundenes Buch, 592 Seiten|
[Homepage des Autors]http://www.randomhouse.com/features/markuszusak/
[Verlagsspezial]http://www.randomhouse.de/webarticle/webarticle.jsp?aid=10217

Sabottka, Thomas / Maler, Butow – Was bleibt. Mit Fotografien von Butow Maler

„Was bleibt“ ist ein wunderschön aufgemachter kleiner Band mit 18 Shorties von Thomas Sabottka, die mit Fotografien des Künstlers Butow Maler verziert wurden – eine grandiose Verquickung von Bildband und Kurzgeschichtensammlung rund um den Tod. Ein zentrales Motiv ist darüber hinaus die Donau, deren tückische Strömungen im Laufe der Zeit unzähligen Menschen den Tod brachten. Thomas Sabottka hat auf knapp 100 Seiten viele Schicksale von Menschen geschildert, die in den Fluten oder an dessen Ufern umkamen.

Das bizarre Erlebnis eines Taxifahrers, der mysteriöse Leichenfund eines toten Kindes im Jahr 1840, ein kleiner Junge, der für eine heiße Brühe sein Leben in den kalten Wassern der Donau aushaucht. Die Geschichten, die Thomas Sabottka hier erzählt, sind kurz, aber eindringlich und schaffen auf wenigen Seiten etwas, das vielen Autoren mit dicken Wälzern nicht gelingen will: Sie berühren den Leser. Oftmals beinhalten die Zeilen eine große Traurigkeit und Wehmut; berichten davon, wie schnell eine Existenz, eben noch von ungebändigter Lebenslust erfüllt, enden kann.

Da wird von einem Mann erzählt, der Zeit seines Lebens sein Geld als Clown in einem Zirkus verdiente, wo ihn die Leute nur als lebensfrohen, lustigen Menschen kannten und der sein Dasein durch einen Sprung von der Brücke beendet. Ein Fotomodel leidet unter der Anonymität ihrer Schönheit und sucht die Flucht in den Tod. Bei diesen Geschichten beweist Sabottka seine Vielseitigkeit und beschreibt einfühlsam, wie tröstend für einige Menschen die Erlösung sein kann.

Düster bedrohlich geht es in den Erzählungen „Hafensanierung“, „Memorial“ und „Am Ende der Nacht“ zu, die einen morbiden und surrealen Touch aufweisen, der an Erzählungen von Edgar Allan Poe erinnert. Zugleich greifen einige der Geschichten auf faszinierende Art und Weise ineinander, es empfiehlt sich also, das Buch der Reihe nach zu lesen und nicht querbeet, auch wenn dies nicht heißen soll, dass man nicht einen zweiten oder dritten Blick auf besonders einprägsame Storys werfen kann.

Nur über eines sollte man sich im Klaren sein: Obwohl die Texte sehr kurz sind und das Buch insgesamt sehr dünn ist, kann man es nicht „mal eben zwischendurch“ lesen. Die Geschichten ziehen den Leser unweigerlich in ihren Bann und beschäftigen ihn noch lange nach der Lektüre. Daher ist dieses Werk ein Buch, das man in angemessener Atmosphäre und in nicht allzu trübsinniger Stimmung genießen sollte.

Die Bilder von Butow Maler sind einfach grandios und passen in ihrer Eigenwilligkeit und Melancholie ebenso treffend zu den Texten wie in der Wahl ihrer Motive.

_Fazit:_ „Was bleibt“ ist ein nachdenklich stimmender, wunderschön aufgemachter Band mit einfühlsamen Erzählungen von Thomas Sabottka und kunstvollen Schwarzweiß-Fotografien von Butow Maler. Das Thema Tod wird hier in seinen unterschiedlichsten Facetten behandelt, und trotz seines stattlichen Preises von 15 Euro ist das Buch jeden Cent wert.

http://www.teamofdestruction.de

_Florian Hilleberg_

Irtenkauf, Dominik – Worträtsel. Aufgabe in Mensch und Wort

_Inhalt:_

|… Wie gerne würde ich diese Fahrt in wundersame, weil schöne Sprache kleiden, doch versagt mir der Charakter, dies eigene Wesen von Grausamkeit, ein solches Ansinnen. Der Rückzug in Geisteshüllen, die uns lieblich drücken – ans Herz oder sonstwo -, bleibt mir ein Übel, das ich im Folgenden zu besiegen habe. Man möge mir deshalb stets eng folgen, mich auf Strich und Faden begleiten, wenn ich nichtsdestotrotz meine Erinnerung entspinne, sie aufspüre.|

_Storys:_

Byzantinischer Schlaf
Abziehbild eines Ausgangs
Kubbeln
Nur ein Flügel hat gestreift
Sternenhagel
Jenseitsraum
Rasender Schwund
Rabenwetter
Nachwort: Rätsel in Wort und Mensch

_Meinung:_

Texte von Dominik Irtenkauf spalten mit Sicherheit die (Lese-)Nation. Sein Stil, der jenseits des Mainstreams liegt und sich dem modernen Sprachbild entzieht, mutet wie aus einer anderen Wirklichkeit an – und gerade das zeichnet ihn aus, macht ihn anspruchsvoll und fordert dem Leser ab, sich auf ihn einzulassen. Auch die Plots sind keine Einheitskost, sondern allesamt „eigen“ bis „surrealistisch“ – aber genau aus diesem Grund bleiben sie länger als manch andere Texte im Kopf des Lesers haften.

Man merkt dem Autor seine Belesenheit an; seine Wortkreationen sind oft durchwirkt von klassischen Elementen, aber immer nur in exakt der Prise erkennbar, um den neuen Inhalt, das neue Gewand nicht zu überlagern, so wie das Gewürz eine Speise abrundet, ihr den letzten Pfiff gibt, aber nur zart zu erschmecken sein sollte.

Dominik Irtenkauf vermag es mit wenigen Worten, den Leser nach Istanbul zu entführen, zaubert ihm orientalische Bilder vor das geistige Auge. Man riecht fast die süßlichen Düfte exotischer Gewürze. Dann ist man direkt dabei, wenn es um das formbare Land der Seele des „Namenlosen“ geht. Nichts ist uns fremd an den Worten des Autors, an seinen Erkenntnissen – wie: |Wäre uns der Tod nicht ein ernster Feind, so könnten wir uns einfach ergeben in unser Schicksal.|

In „Nur ein Flügel hat gestreift“ rühren Dominik Irtenkaufs einfühlsam erzählte Kindheitserinnerungen eines Mannes und wie sie in sein Erwachsenendasein greifen. Die besondere Beziehung seiner Eltern, die „über das Jahr nicht viel miteinander sprachen, sondern es bei innigen Blicken beließen“. Man spürt sie fast, die Intensität dieser Blicke, die tiefer geht als jedes gesprochene Wort, es somit überflüssig macht. Umso weniger sind es die geschriebenen von Dominik Irtenkauf, denn sie bringen Menschen, ihre Gefühle, ihre Seelenbrandung, ihre Zwänge und Entgleisungen näher. So auch in dieser Geschichte, die zeigt, wie zerbrechlich Harmonie ist, wie kostbar Bindungen von Menschen sind und schmerzend, wenn einem bewusst wird, dass sie zerbrochen sind.

Der vorliegende Kurzgeschichtenband ist eine Crossoversammlung, ein Kaleidoskop verschiedener erzählerischer Sichtweisen, ein Wort-Experiment, ein teilweise literarisches Aufbegehren – Texte mit Profil, die in kein Schema passen. Und das ist gut so! Der Autor gibt in seinem Nachwort an, dass seine Absicht in der Bewusstmachung der verschrobenen Wege im eigenen Kopf liegt, denn keiner könne sich von Prägungen und auch Bequemlichkeiten freisprechen. Wohl wahr, wohl wahr. Besonders Letztere stehen oft der Entwicklung und dem persönlichen Glück, der Entfaltung im Wege. Bequemlichkeit ist ein Joch der Zeit, und somit ein Joch der Menschen.

Dominik Irtenkauf spricht auch die Vorschriften an, denen wir uns alle zu beugen und unterzuordnen haben. Auch die Literatur gehört dazu – und eben jenem Diktat entzieht sich der Autor dankenswerterweise, scheint somit nicht in unsere Zeit zu passen, ein junger Klassiker zu sein – und genau von eben jenen kann es nicht genug geben. Sie sind der Anker dessen, was wir Wortkunst nennen, was die Texte lebendig werden lässt, ihnen einen Odem einhaucht und sie aus der Masse hervorstechen lässt.

Es ist schwierig, über einen Band mit kurzen Texten nicht zu viel zu verraten, denn das wäre besonders im Fall von „Worträtseln“ ein fataler Fehler, nähme man ihnen doch damit die Wirkung. Daher sei über den Inhalt der Geschichten nichts verraten. Doch sei so viel erwähnt, dass mich „Verunglückung“ besonders nachhaltig erreicht hat. Der Text weckte Gefühle und Affinität in mir, über die Existenz, verlorene Existenz, wie schnell einem das Leben entgleitet, man sprachlos wird, besonders in der Zweisamkeit. Wie schwer es ist, Frieden zu erlangen. In sich selbst und mit anderen. Vorrangig in sich selbst. Wie die Ohnmacht greift, wenn sich das Leben schon zu Lebzeiten von einem verabschiedet und man wie ein Statist danebensteht.

Domini Irtenkauf sagt: |“Leser hin oder her – man muss den Mut aufbringen, von Zeit zu Zeit das geheime Wort auszusprechen, es einzugestehen. Der geheimnisvolle Weg geht nach innen!, meint Novalis, und ich schließe mich dem an.“| Ich wiederum schließe mich Dominik Irtenkauf an und wünsche mir mehr Autoren, die diesen Mut besitzen. Die Leser mögen es ihnen danken!

Ein kleines Härchen in der schmackhaften Suppe gibt es jedoch, und es sei nicht unerwähnt: Was die textliche Besonderheit des Bandes abgerundet hätte, wäre ein sorgfältigeres Lektorat, das Ungereimtheiten wie „und scharte um sich eine kleine Schar“ ausbügelt – zum Wohle des Autors und des Textes. Doch ist es Kleinverlagen wie diesem oftmals nicht gegeben, gute und somit teure Lektoren zu verdingen. Und schließlich sind es solche Verlage, die den Leser überhaupt in den Genuss solcher Texte und Autoren bringen, vor denen sich der Mainstream verschließt. Daher sei dieses einzige Manko zwar erwähnt, aber es ist dennoch nicht ausschlaggebend für die Güteklasse dieses kleinen, feinen Bandes.

_Fazit:_ Eine kleine literarische Besonderheit, die Beachtung verdient. Mehr davon!

|Mischwesen Autorenverlag, 2007
Kurzgeschichtensammlung
ISBN 978-3-938313-09-1
Linolschnitte: Fabian Oettel
Titelbild, Gestaltung und Satz: Bernhard Straßer
Paperback DIN A5, 142 Seiten|
http://www.mischwesen-av.de

_Dominik Irtenkauf auf |Buchwurm.info|:_
[„Subkultur und Subversion. Wanderer zwischen Zeichen, Zeiten und Zeilen“ 2656
[„Teufel in der Tasche, Der. Ein Reisebegleiter in seine Welt“ 2657

Niven, John – Kill Your Friends

Dass die Musikbranche nicht unbedingt das Paradies auf Erden ist, sollte jeder wissen, der sich ein wenig intensiver mit dem ‚Business‘ auseinandersetzt. Viele Künstler verlieren trotz treuer Fangemeinde ihre Plattenverträge, weil sie nicht genug verkaufen. Nicht immer ist dabei der Künstler selbst schuld. Häufig liegt der Fehler in der Promotionabteilung, die das Produkt nicht entsprechend in der Medien- oder Clubwelt platzieren konnte. Miese Verkaufszahlen sind aber nicht nur für die SängerInnen oder Gruppen gefährlich. So genannte |A & R|-Leute, die für das Auffinden neuer Musikacts oder Trends zuständig sind, dürfen sich nicht zu viele Fehltritte, sprich gescheiterte Projekte leisten, wenn sie nicht vor die Tür gesetzt werden wollen.

John Niven hat als |A & R|-Manager gearbeitet. Er weiß also, worüber er in „Kill Your Friends“ schreibt, auch wenn zu hoffen ist, dass die Erlebnisse von Protagonist Steven Stelfox so wenig biografische Züge wie möglich tragen. Stelfox ist nämlich nicht unbedingt ein Sympathieträger. Er ist drogenabhängig, misanthrop, und wenn es um die Karriere geht, greift er auch einmal zu unsauberen Mitteln. Die Bezeichnung ‚Arschloch‘ ist vermutlich noch milde für den |A & R|-Manager einer großen Plattenfirma, der nur wenige wirkliche Erfolge in letzter Zeit verbuchen konnte. Im Gegenteil hat er solche Rohrkrepierer unter Vertrag genommen wie beispielsweise den schwarzen Drum-’n‘-Base-Produzenten Rage, der Unmengen von Vorschüssen verschlingt, aber entweder gar nichts oder nur schlechte Musik abliefert. Ohne Frage braucht Steven mal wieder einen Hit, doch zwischen all den Orgien, die er mit seinen Kollegen in England, Nizza oder Amerika feiert, bleiben ihm nur wenige klare Minuten, die zudem häufig für die Konkurrenzkämpfe mit anderen |A & R|s draufgehen. Als Kollegen, die der Egozentriker als Loser wahrnimmt, karrieretechnisch an ihm vorbeiziehen, während seine eigene Laufbahn den Bach hinuntergeht, greift Steven zu radikalen Mitteln …

Die Taschenbuchreihe |Heyne Hardcore| hat es sich auf die Fahnen geschrieben, Literatur, die nicht unbedingt brav ist, eine Heimat zu geben. „Kill Your Friends“ ist dementsprechend nichts für Zartbesaitete. Niven beschönigt nichts und macht sich noch nicht mal die Mühe, einen moralisch integeren Protagonisten zu entwerfen. Steven Stelfox, der aus der Ich-Perspektive erzählt, ist boshaft, zynisch und nimmt kein Blatt vor den Mund. Er lästert schamlos über seine Kollegen, über Frauen im Allgemeinen und all die Indiebands, die von den |A & R|-Managern tagtäglich hinters Licht geführt werden. Er bemerkt dabei nicht, dass er nach den zahllosen Drogen- und Alkoholexzessen ein ziemliches Wrack ist, doch der Autor schafft es, die Verzweiflung des jungen Mannes zwischen den Zeilen zu transportieren. Der Leser sieht folglich recht gut, was in Wirklichkeit passiert, während Stelfox weiterhin seiner hedonistischen Illusionen aufsitzt.

In diesem Zusammenhang spielt der Schreibstil eine wichtige Rolle, denn er muss auf der einen Seite Steven so authentisch wie möglich darstellen und auf der anderen seine Verzweiflung durchschimmern lassen. John Niven meistert dies grandios. Bereits nach wenigen Zeilen fühlt man sich als Leser so, als ob man Stelfox schon sehr lange kennen würde – vielleicht nicht unbedingt persönlich, aber als Romanfigur. Der flüssige Schreibstil mit Wiedererkennungswert korrespondiert gut mit Stelfox‘ Gedankenwelt und bietet eine durchaus interessante Sichtweise auf das Leben. Diese ist selten politisch korrekt. Zugegeben sind einige der Erniedrigungen und Bezeichnungen für Frauen oder Ausländer ziemlich grenzwertig. Der kalte, abschätzige Erzählstil hebt sich aber nicht nur dadurch hervor, sexuelle Kontakte mit möglichst kreativen Begriffen zu umschreiben oder eine möglichst hohe Anzahl von Fäkalausdrucken auf jeder Seite vorzuweisen. Des Weiteren kann Niven auch mit seinem Wortschatz, der eben nicht nur aus ordinären Begriffen besteht, und seinen gelungenen Bildern und Metaphern glänzen. Es bleibt zotig, aber Niven vergisst darüber nicht, wie man ein gutes, eindringliches Buch schreibt.

Wenn ein Roman derart auf eine Hauptperson und ihre Gedankenwelt fixiert ist, hat die Handlung es häufig schwer. Das gilt auch für „Kill Your Friends“. Man darf keinen von vorne bis hinten durchkonstruierten Plot erwarten. Gerade am Anfang wird viel Nebensächliches erzählt, und manch einer wird gerade die detaillierten Beschreibungen von Stelfox‘ Exzessen etwas überzogen finden. Niven gelingt es allerdings trotzdem, Substanz in seine Geschichte zu bringen. Er übertreibt es nicht, die unehrliche und selten erfolgreiche Arbeit des |A & R| Steven Stelfox in aller Länge und Breite zu schildern, da es ihm nicht um ein Konterfei der Musikindustrie zu gehen scheint. Stattdessen bringt er auf halber Strecke tatsächlich noch etwas wie eine ‚echte‘ Handlung unter, die sich trotz gegenläufiger Erwartungen als solide und passend herausstellt.

Für Freunde der etwas derberen Unterhaltung ist „Kill Your Friends“ eine gute Adresse. Das Buch vereint einen hassenswerten Protagonisten mit Wortwitz, Zynismus und Boshaftigkeit und überzeugt auch handwerklich auf ganzer Linie. Der Schreibstil, so politisch unkorrekt er auch anmutet, ist für Leute, die derartige Bücher gerne lesen, ein Fest.

http://www.heyne-hardcore.de

Jonquet, Thierry – Haut, in der ich wohne; Die

Man nehme drei Personen, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben, mische das Ganze mit Ereignissen aus Gegenwart und Vergangenheit und heraus kommen einige spannende Stunden Lektüre. Genau das hat der Franzose Thierry Jonquet in seinem Roman „Die Haut, in der ich wohne“ getan. Auf dem Klappentext wird nicht nur die Verfilmung von Pedro Almodóvar mit Penelope Cruz und Antonio Banderas angepriesen, sondern auch auf die außerordentliche Spannung des Buches hingewiesen. Anfangs irritiert das ein wenig, denn das Buch ist eher ein Büchlein. Mit nur 141 Seiten ist es nämlich nicht unbedingt umfangreich. Wie man bei der Lektüre schnell merkt, ist es aber nicht immer nur die Länge eines Buches, die über seine Qualität entscheidet.

„Die Haut, in der ich wohne“ hat einen beinahe kammerspielhaften Charakter. Nur wenige Personen treten auf. Genauer gesagt sind es drei, die sich dem Leser in drei Perspektiven präsentieren. Auffällig ist dabei, dass man zuerst keinen Zusammenhang zwischen dem flüchtigen Bankräuber Alex, dem Schönheitschirurgen Lafargue und der namenlosen Person herstellen kann. Sie scheinen sich nicht zu kennen und ihre Wege führen in scheinbar unterschiedliche Richtungen. Alex überlegt fieberhaft, wie er sich nach dem Bankraub der Verfolgung durch die Polizei entziehen soll. Aus Versehen hat er dabei nämlich einen Mann – und dann auch noch einen Polizisten – erschossen. Bis jetzt hat er sich verstecken können, aber wie soll es weitergehen? Und was soll er mit der Beute machen, ohne mit dem gestohlenen Bargeld aufzufallen?

Der Schönheitschirurg Lafargue hat ganz andere Probleme. Anfangs ist er dem Leser ein Rätsel. Ist er vielleicht nur ein alter Perverser, der sich daran aufgeilt, eine junge Frau zur Prostitution zu zwingen und ihr dabei durch ein verspiegeltes Fenster zuzusehen? Mysteriös ist, dass er Ève in seiner großen Villa einsperrt, ihr ansonsten aber ein sehr großzügiges Leben ermöglicht. Und auch die junge Frau scheint nicht ganz unzufrieden mit dem Arrangement, auch wenn sie Lafargue immer wieder sabotiert. Was steckt hinter dem Paar? Wie ist seine Vorgeschichte? Und wie lässt sich dieses komische Pärchen mit Alex und dem anonymen, dritten Charakter, der aus einer unheimlichen Gefangenschaft heraus erzählt, verbinden?

Jonquet schafft es auf grandiose Art, diese unterschiedlichen Menschen zusammenzuführen. Überraschend ist dabei vor allem, dass ihm dies auf eine glaubwürdige und spannende Weise gelingt. Das ist schließlich nicht selbstverständlich bei Geschichten mit diesem Aufbau, doch der Franzose meistert diese Hürde souverän. Ihm gelingt eine bemerkenswerte Erzählung, die mehr als eine überraschende Wendung nimmt und den Leser wortwörtlich in Atem hält. Daneben muss man Jonquets Fähigkeit zum Geschichtenspinnen einfach bewundern. Geradezu virtuos lässt er die verschiedenen Charaktere, ihre Perspektiven, die Gegenwart und Vergangenheit ineinander übergehen, und er benötigt noch nicht mal viele Seiten, um dies zu tun. Er verzichtet auf nebensächliche Handlungen, alles scheint auf das grandiose Ende ausgerichtet, und trotz dieser deutlichen Konstruiertheit pulsiert die Geschichte vor Leben und wirkt – trotz ihrer Skurrilität – authentisch.

Dazu trägt sicherlich der düstere Ton der Geschichte bei, der das Hauptaugenmerk auf die dunkle Seite der Charaktere legt und für beklemmende Gefühle sorgt. Der Tonfall wird von einer teilweise poetischen, stimmigen Sprache transportiert. Jonquet benutzt viele Beschreibungen von Schauplätzen, aber auch Gefühlen oder körperlichen Zuständen, um dem Leser in knappen, aber ausdrucksstarken Worten ein plastisches Bild zu vermitteln. Besonders gut gelingt ihm dies bei der Perspektive, die durch ein kursives Schriftbild hervorgehoben wird. Dabei wird nicht aus der Perspektive der ersten oder dritten Person geschrieben, sondern der Erzähler spricht den lange Zeit anonym bleibenden Charakter mit einem persönlichen „Du“ an und erzählt ihm quasi, was er gerade erlebt. Dadurch wird diese Person nicht nur sehr stark hervorgehoben, sondern auch eine sehr eindringliche und interessante Schilderung der bizarren Situation und der Gefühle ermöglicht.

Die Figuren, auf denen eine Menge Aufmerksamkeit ruht, sind stark am Schreibstil ausgerichtet. Da ihre Gefühle und Gedanken darüber transportiert werden, lernt der Leser sie durch die eindringlichen und gleichzeitig nüchternen Worte sehr gut kennen. Sie scheinen perfekt ausgelotet und sind dabei alles andere als die netten Nachbarn von nebenan. Ihr auf den ersten Blick abstrus wirkendes Handeln wird durch Emotionen geleitet, die Jonquet realistisch darstellt. Die Personen werden dadurch sehr tiefgängig, und auch wenn der Leser kaum etwas mit ihnen gemeinsam hat, kann er sich mit ihren Schmerzen und Problemen in gewissem Maß identifizieren.

Thierry Jonquets „Die Haut, in der ich wohne“ stellt sich letztendlich als ein sehr interessantes, spannendes und großartig geschriebenes Büchlein heraus. Der Franzose holt aus einer geringen Anzahl von Schauplätzen, Personen und Ereignissen das Beste heraus. Ganz wie der französische Originaltitel „Mygale“ (dt.: Vogelspinne) andeutet, webt er ein dichtes Netz, bestehend aus einer klaren Sprache, überraschenden Handlungselementen und düsteren Charakteren, das den anspruchsvolleren Leser sicher einwickeln wird.

_Thierry Jonquet bei |Buchwurm.info|:_
[„Die Unsterblichen“ 930

http://www.hoca.de

David Nicholls – Ewig Zweiter

Bereits in seinem ersten Roman [„Keine weiteren Fragen“ 3258 hat der Brite David Nicholls bewiesen, dass er sich auf sympathischen Losertypen versteht. Der Titel hat sich gut verkauft und die Filmrechte wurden bereits an Tom Hanks‘ Produktionsfirma |Playtone| abgetreten. Man darf also zu Recht erwarten, dass sich Nicholls auch mit seinem zweiten Roman „Ewig Zweiter“ gut schlägt – vor allem auch deswegen, weil es diesmal um eine Thematik geht, die auch Parallelen zu seiner eigenen Biographie offenbart – Nicholls hat jahrelang als Schauspieler gearbeitet, bevor er sich aufs Schreiben verlegte.

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Graeff, Alexander – Gedanken aus Schwerkraftland

Alexander Graeff hat ein schönes Büchlein mit kurzen Prosastücken vorgelegt, die leicht zu lesen sind und zugleich in die Tiefe gehen. Eine echte Bereicherung sind auch die Illustrationen von Guglielmo Manenti, bei deren Betrachtung sich ähnlich vielfältige Assoziationsräume öffnen wie beim Lesen der Texte.

Lesend und schauend tun sich Welten auf, die sonst unter der Alltagsoberfläche verborgen liegen oder gar ein noch heimlicheres Dasein in tieferen Schichten des Ichs führen. Alexander Graeff spielt mit Assoziationen und Erinnerungseinbrüchen, welche die „Realität“ für die Dauer der Geschichte an den Rand drängen, ohne jedoch das „Alltägliche“ gänzlich aus den Augen zu verlieren. Zuweilen erscheinen die geschilderten Begegnungen und Begebenheiten seltsam zeitlos, losgelöst von konkreten Orten und aktuellem Tagesgeschäft. Dann wieder liest man, leichthin eingestreut, von vertrauten Straßennamen, bekannten Plätzen, Café-Besuchen, U-Bahn-Fahrten und all jenen Dingen, die bei einem Spaziergang durch die Großstadt mit wachem Blick erfahrbar sind. Gerade dieses Wiedererkennen alltäglicher „Rituale“ trägt dazu bei, dass der Leser auch vor abstrakteren Gedankengängen nicht zurückschreckt.

Ein besonders gelungenes Beispiel für das locker verwobene Netz von Alltag und Transzendenz, Exotik und allzu Vertrautem stellt für mich die Geschichte „Die Kunstmaler“ dar: Ein Kaleidoskop an „Parallelwelten“ eröffnet sich, in dem die Bewohner einer Künstlerkolonie mit den Meistern, deren Werke sie kopieren, verschwimmen, der Erzähler sich von einem Unbekannten verfolgt glaubt und der verzweifelte Kinderwunsch eines jungen Paares in der Errichtung einer unheimlichen, halborganischen Skulptur gipfelt.

Nach dem Zuschlagen des Büchleins liegen unzählige Fragen auf der Zunge, hängen unzählige Bilder im Kopf.

Wie schon in den Worten zum Geleit dem Leser mitgegeben, sind die Texte essentiell „unabgeschlossen“, die Gedanken, die Alexander Graeff vor dem Leser ausbreitet, „in Schleifen gebettete Fragmente“. Darauf kann sich sicherlich nicht jede/r Leser/in in jeder Situation einlassen, trotz der Kürze der Texte. Mehr als intellektuelle Konzentration erfordert das Lesen eine beinahe meditative Herangehensweise. Wer sich die Zeit und Ruhe nimmt, sich auf die literarischen Kontrapunkt zur hektischen, reizüberfluteten Alltagswelt einzulassen, dem werden flüchtige Blicke hinüber in jene verschollenen „Parallelwelten“ gewährt, ähnlich jenen Erinnerungsfetzen aus der Kindheit, die überreich an Sinneseindrücken, aber aus jeglichem „vernünftigen“ Kontext gerissen, uns ein Leben lang begleiten. In diesen Erinnerungen gibt es kein klar voneinander abgegrenztes „Gut“ und „Böse“, sie sind intensiv und wunderschön und zugleich oftmals verstörend.

Mancher Leser wird sich von den hingestreuten Hinweisen, den aufgenommenen und wieder fallen gelassenen Fäden, den kurz geöffneten und wieder zugeschlagenen Falltüren sicherlich irritiert fühlen. Zu sehr sind wir darauf trainiert, Antworten auf unsere Fragen zu verlangen, und werden leicht ungehalten, wenn wir sie nicht unmittelbar und in mundgerechten Stücken serviert bekommen. Jedoch schafft es das Buch durch seine spielerische Leichtigkeit im Umgang auch mit philosophischen, metaphysischen Fragen, den Leser aus den alltäglichen Erwartungen herauszureißen und zum Versinken in eine andere Welt einzuladen.

Mehr als die Tür einen Spalt weit aufstoßen kann der Autor nicht tun. Hindurchgehen muss jeder Leser allein.

http://www.alexander-graeff.de/

_Anja Kümmel_

E.-E., Marc-Alastor – Maliziöse Märchen

|Wenn ein klassischer Traum an einer Zaunpassage steht und mit braunem Blatt beantwortet wird, wenn die Erinnerung jemanden in die Verfremdung schiebt, oder wenn die Noten verhohlen über jemanden zu sprechen scheinen, wenn ein Widergänger wieder zu gehen versucht, eine Melancholistin einen Kobold namens Freudlos trifft, einem Prediger von allen Predigern gepredigt wird oder wenn einem venezianischem Glasbläser nur noch die Liebe zu einem gläsernen Ebenbild verbleibt, dann ist Dunkles am Werk gewesen, dann ist die Moral eher eine arge Entstellung ihrer Selbst und, würde der Teufel lesen, so wären ihm diese Märchen gerade recht …|

_Inhalt_

1. Braune Blätter und eine Zaunpassage
2. Erinnerungsschub
3. Das Notengespräch
4. Der Widergänger
5. Die Melancholistin und ein Kobold namens Freudlos
6. Prediger
7. Der Glasbläser

_Erinnerungen, Kopfkino und verbale Melancholie – ein Buch, dessen Texte in das Innerste des Lesers dringt._

Marc-Alastor E.-E. schrieb mir einmal: „Jedes Buch hat seine Zeit!“, und ich kann dem nur zustimmen. Sowohl, es zu schreiben, als auch, es zu lesen! Ich hatte mit Letzterem das Vergnügen, und noch nach Wochen wirkt die verbale Melancholie, die den Seiten des Buches entströmt, in mir nach. Immer noch formieren sich neue Bilder vor meinem geistigen Auge. Wie eine Abfolge einzelner Fragmente, die nach und nach das Gesamte ausmachen.

Zeit ist wesentlich, was diese Texte angeht. Man muss sie ihnen schenken, sie sich für sie nehmen – sie fordern sie dem Leser geradezu ab. Zu Recht, wie ich betonen möchte. Denn sie verdienen sie, weil ihre Besonderheit dem |flüchtigen| Leser verborgen bliebe. Lässt man sich aber auf sie ein, folgt man ihrem speziellen Sprachrhythmus, ihrem düsteren Pfad und huldigt ihnen, treffen sie Nerven, die man längst taub und gekappt wähnte.

_Braune Blätter und eine Zaunpassage_ mag auf den ersten Blick wie ein klassisches Märchen anmuten, sieht man einmal von dem Ausgang ab. Liebe – und was daraus werden kann – ist der augenscheinliche Plot dieser Kurzgeschichte. Und dennoch beinhaltet sie all das, was damit zusammenhängt. Was Liebe auszuhalten vermag, was sie bewirkt, wie sie das Leben bestimmen kann, welche ungeahnten Facetten sie in uns zum Leben erweckt.

Aber da ist auch wie immer die Kehrseite der Medaille, über die ich nichts verraten will, die aber wie der Fluss dieser Märchen natürlich ist. Womit ich bei einem Punkt bin, der ebenfalls anspricht: die Liebe zur Natur, die nicht nur in diesem Märchen erkennbar wird und die meist auch einen Bezug zur Handlung hat.

So hier: Man tanzt mit der Prinzessin durch die hohen Süßgräser der Ebene und trägt somit wie sie die Freude im Herzen, und wenn sich dann die grauen Wolken über dem diesigen Himmel verdichten, begleiten wir die bekümmerte Prinzessin zu ihrem Lieblingsbaum – dem Lorbeer. Eben jenem, der mit ihr leidet, als die Schatten der Liebe über sie fallen, und sein Grün verliert.

_Erinnerungsschub_ lautet der Titel des zweiten Märchens, wie er nicht passender sein könnte, denn es ist eine der sieben Fabeln, die in vielen Lesern wohl eben jenen hervorrufen kann. Es ist auch der surrealistischste Text dieses Buches – und hat vielleicht gerade aus dem Grund die Bezeichnung Erinnerungs|schub| am trefflichsten verdient. Weil die Gesamtheit am nachdenklichsten stimmt und somit besonders in die Tiefe geht. Es lässt einen nicht los, und man fragt sich: warum spricht mich diese Geschichte so an?

Und dann beginnt man sich zu erinnern. An die vermeintlich kleinen Dinge, die man längst aus der Realität der Erwachsenenwelt verdrängt hat. Dank Hinrich, dem Zwölfjährigen, der gegen manche Unbillen ankämpfen muss, die so vertraut anmuten: der Spott der Gleichaltrigen, die blonde Marguerite, die Hinrich für eine falsche Prophetin hält, deren tänzelnden Schritt er aber ebenso bewundert wie ihre schon damenhafte Haltung.

Der Autor vermag es, auf präzise Weise Gefühle zu wecken, die gerade wegen ihrer Widersprüchlichkeit nicht unverfälschter sein könnten. Man leidet mit Hinrich, aber man lacht (ich sogar einige Male laut und wie befreit und frage mich, wann das ein Text das letzte Mal vermocht hat, finde darauf keine Antwort, somit muss es lange her sein) auch über ihn – man lacht nicht herabwürdigend oder schadenfroh, sondern liebevoll vertraut und menschlich erheitert (wenn Hinrich nach einer Demütigung mit seinen Hosen kämpft, die dank Nässe nicht der Erdanziehung trotzen wollen).

Und schon deutet die Gefühlsnadel des Märchenkompasses voll auf mich! Ich kann mich ihnen nicht mehr entziehen – und will es auch nicht. Womit ich wieder bei Hinrich bin. Auf der einen Seite verspürt man Mitgefühl für ihn, mehr noch, man teilt mit ihm seine Tränen über die Schande, die ihm widerfährt und möchte mit ihm zusammen seinen Widersachern das trotzige „Euch komme ich noch!“ entgegenschleudern, auf der anderen erheitert sein Missgeschick, wenn er dasteht in seiner weißen, gerippten Unterhose, der Häme der Anderen ausgesetzt.

Kindheitserinnerungen werden wach, wenn man die kleinen, liebevollen „Nebenbilder“ wahrnimmt, wie sie sich beispielsweise in der Person des Jakob Fälbling darstellen, dem es obliegt, den Kindern zu später Stunde Sand in die Augen zu streuen, damit sie einschlafen. Und man verspürt beim Lesen Wärme in sich aufsteigen, wenn man erfährt, dass Hinrich bemerkt, dass eben jener Jakob Fälbling, |“sicherlich von der Bedeutsamkeit seines Berufsstandes beflügelt, es zuweilen übertrieb. Man konnte mitunter einen Herdbesen gebrauchen, um den Sand aus den Augen zu kehren“.|

Noch etwas wird den Lesern von Marc-Alastor E.-E.s Texten gewahr – auch in diesem Märchen -: (Robert W. Chambers) „Der gelbe König“, lässt ihn nicht los (wie sehr mir das doch aus der Seele spricht!), begleitet ihn imaginär auch in anderen Texten. So schenkt mir dieses Märchen nicht nur Erinnerungs|schübe|, sondern auch das Gefühl literarischer Verbundenheit. Hier ist einer, der schreibt, wie es aus mir herausflösse, wenn es mir vergönnt wäre, ebenso schreiben zu können.

_Das Notengespräch_ ist der weitere Beweis dafür, eine literarische Besonderheit in Händen zu halten. Da ist Cathérine Montvoisin, die Pianistin aus wohlhabendem Hause, von Geburt an mit Ansehen gesegnet: Schon von Kindesbeinen an singt sie mit ihrem zarten Stimmchen, startet ihre ersten musischen Versuche an ihrem Clavichord, die ihre Eltern und deren Gäste immer mehr erfreuen. Doch ebenso eigenwillig, wie Cathérine zur jungen Frau heranreift, so kapriziös ist auch ihre Musik, als ginge das eine nicht ohne das andere.

Bis sich durch einen Schicksalsschlag alles ändert und nach und nach alles in Cathérine „verstummt“. Als sie sich nach Monaten der musischen Enthaltsamkeit wieder in die Welt der Klanggebilde begibt, begreift sie plötzlich, was die Menschen bisher an ihren nonkonformistischen Interpretationen störte, und sie beschließt, ihren inneren Klangwelten einen Rahmen zu geben, der jene auch für andere Menschen erfassbar macht … Alles scheint von dem Moment an einen guten Verlauf zu nehmen, bis Godfrey Frow die Pianistin hofiert.

Mehr möchte ich über dieses Märchen, das einen dramatischen Verlauf nimmt, nicht verraten, aber ein Punkt muss nicht nur wegen des Titels Erwähnung finden, und das sind die Szenen, in denen die Noten vor den Augen der Pianistin „lebendig“ werden, wo sie den Dialog zu ihr suchen, sich neu formieren, aufbegehren, aufdiktieren. Für mich eine der Stellen, die mir ein besonders deutliches „Bild“ schenkte. Ich sehe es vor mir, wie das |es| mit seinem Notenhals das vorlaute |d| umschlingt, höre es förmlich, wie es Einspruch erhebt, sehe, wie sich das |d| mit wild entbranntem Notenfähnchen losreißt, höre es schnauben und lausche ihnen in der nächsten Szene, wie sie über „Vivaldi“ streiten, freue mich förmlich, als sich nun auch das |a|, das |g| und das |f| einmischen.

Was mich an diesem Märchen auch erneut beeindruckt, ist die Recherche, die den Autor in allen seinen Werken auszeichnet und die seine Texten über das persönliche Herzblut hinaus mit zusätzlichem Leben erfüllt. So ist Cathérine Montvoisin keine rein fiktive Person, sondern war eine Hebamme und die Frau eines Handwerkers, die 1680 in Paris auf dem Scheiterhaufen endete, nachdem sie in die Ermittlungen anlässlich einiger Giftmorde im Umkreis des Sonnenkönigs Ludwig XIV geriet. Hier mag es nur die Namensgleichheit sein, dort mögen andere kleine Details einfließen, es mögen nur winzige Prisen sein, aber sie würzen die Texte zu einer raffinierten Komposition.

_Der Widergänger_ ist einer der beiden Texte, die mich am persönlichsten ansprachen. Weniger, weil man in die „Person“ des Widergängers mehrere Charaktere hineininterpretieren kann und sie die Phantasie dankenswerterweise mehrdimensional anregt, sondern weil er Einblick in die menschliche Psyche gewährt – und darin, wie wenig sich Menschen und Gemeinschaften verändern, wenn sie kleingeistig und zögerlich sind.

Der Widergänger bietet vielen Fragen Raum. Wer ist dieser Mann, der nach „langer Reise“ einem Zug entsteigt, in seine Heimatstadt und in die Wohnung seiner Familie zurückkehrt? Der vornehme Herr Oswald von Argtiuw, dessen penetranter Geruch den Taxifahrer, der ihn vom Bahnhof bringt, ebenso entsetzt wie sein monströses Äußeres, das an eine halb verweste Leiche erinnert.

Das Märchen lebt weniger durch die Rückblicke in das Leben des Widergängers, die angesichts der Rückkehr in seine Wohnung in ihm wach werden und somit neue Bilder vor das geistige Auge des Lesers schicken, sondern mehr von der Stimmung, in welcher der Text geschrieben zu sein scheint, die – selbst wenn Vorheriges reine Interpretation ist – er aber an den Leser weitergibt. Bedeutung erhält in der Wohnung die Tafel, an der er so manches Mal den Ärger statt eines guten Mahles in sich hineingefressen hatte – aufgrund der taktlosen und gedankenlosen Reden der Anwesenden (wer kennt |das| nicht?).

Mich sprach jedoch eine andere „Erinnerung“ des Widergängers an, die ich zum Abschluss kommentarlos wiedergeben möchte, weil sie in meinen Augen für sich steht und spricht:

|“Drum zupften seine Finger behutsam an der Vergangenheit und schufen einen kleinen, klaffenden Spalt, durch den er hinunter sehen konnte. Dort lag die Wiese, der Gehweg und die Vorwelt. Es höhlte ihn aus, danieden den Menschen gehen zu sehen. Ein letztes Mal … schwarzes Beinkleid, grauer Mantel, rotes Haar, die Geste, sich eine Haarsträhne mit schief gelegtem Haupt aus dem Gesicht zu streifen, ein herzloser, unbewusster Abschiedswink. Auf diese Weise nahm man alles mit und hinterließ nichts, worüber sich zu denken lohne. Dass es so enden würde, hatte er nie für angängig gehalten, und doch war es womöglich Zeit, gehen zu lassen. Womöglich …“|

Wenn Sie mich fragen könnten und würden: „Welches Märchen ist für Sie das beste?“, wäre ich nicht in der Lage, darauf eine klare Antwort zu geben, da für mich jedes eine eigenständige Note besitzt und andersartige Bilder in mir wachrief. Ich könnte allenfalls sagen, welches der Märchen den nachhaltigsten Eindruck in mir hinterlassen hat.

Und das ist das folgende:

_Die Melancholistin und ein Kobold namens Freudlos_

Der Beginn des Märchens bringt bereits das auf den Punkt, was Larissas Wesenheit ausmacht: |“Es war einmal eine junge Frau, die allen anderen Menschen auf eine abnorme Art und Weise sonderlich erschien, denn sie war bereits zu Kindestagen eine betrübte, kleine Person gewesen, deren Antlitz nie von einem freudigen Lachen oder einem munteren Strahlen erfüllt wurde. Ihr liebenswertes Gesicht war von jeher ein Ebenbild innerer Zufriedenheit und vollkommener Ausgeglichenheit gewesen, doch nimmer sah man Heiterkeit darauf. Natürlich sorgte man sich zunächst um die kleine Dame, die dem Lachen nichts abzugewinnen schien.“|

Doch da ist Adolina, die einzige Freundin Larissas und ihr genaues Gegenteil: |“ein frischer Springinsfeld mit stetiger Ausgelassenheit und bar jeden Ernstes“.| Wie ein Negativ – oder Positiv? – zu Larissa? Das ist eine der Fragen, die das Märchen aufwirft. Ist das Melancholische, wirklich das Beschwerliche? Das Fröhliche, das wahrlich Beschwingte? Was ist hier das Positiv, was das Negativ? Oder liegt die Wahrheit, wie so oft gepriesen, tatsächlich in der Mitte? Larissa lehnt das Glücklichsein ab, flieht vor ihm, und so nimmt ihr Leben seine Entwicklung, mit einem Ende, das es nehmen musste? Entscheiden Sie selbst!

Larissas Wesen war für mich wie ein Blick in den Spiegel; ich ertappte mich dabei, wie ich mit ihr in den Garten stolzierte, um im Schatten der Ulme (da sind sie wieder, die Liebe und der Nähewunsch zur Natur) der stetigen Melancholie zu frönen. Ich blicke ihr über die Schulter, wenn sie Schopenhauer und Nietzsche liest, und fühle eine Wesensverwandtschaft mit ihr.

Wie schon beim „Widergänger“ möchte ich Sie für den weiteren Verlauf in die Obhut des Märchens geben, weil sie am tiefsten ergreifen und aufwühlen, wenn man sich ihnen „überlässt“, und zitiere die Melancholistin in ihrer Sicht über das Glück: |“Glück ist der Moment, in dem du dich in dich selbst einfindest, um aufatmen zu können. Glück ist wie ein Rhythmus, der das Erdenfell und alle Bodenständigen darauf mit ihm vibrieren lässt Glück ist ein Lachen, in das selbst Götter einstimmen würden, weil es so reich, so wahr und so unteilbar rein ist, dass die meisten ihm nur selten teilhaftig werden. Ich kenne das Glück, da ich es oft vorübergehen sah, doch besser noch als das Glück kenne ich die Leere, die danach gekommen ist, das Unverständnis über ihre Verteilung oder den Geiz ihrer Äußerung. Und indem ich dem Glück entsage, bin ich nicht mehr, allein auch nicht weniger als zufrieden. Und diese Zufriedenheit bezieht ihre Kraft aus der Melancholie …“|

_Prediger_

Das Märchen über Tadeusz Spindelsinn, der als Junge von seiner Tante in die Kunst der Photographie eingewiesen wurde, hat erneut eine Parallele zur Natur darin, wie ein Mensch durch sie sensibilisiert und zusammen mit ihr erblühen kann, aber auch den Bezug durch „menschliche Zivilisation“ und „gesellschaftliche Zwänge“ verliert und somit auch immer mehr sich selbst.

Natürlich, das wird keinen Leser erstaunen, der bis zu diesem – dem vorletzten – Märchen vorgedrungen ist, steckt in der Geschichte über Tadeusz viel mehr. Da ist zum Beispiel Vira Dochiella, der er eine besondere Liebeserklärung macht, über deren Ausgang ich schweigen will, ebenso über das Ende des „Predigers“. Es sei nur so viel verraten: Letzteres wird Sie überraschen!

Kommen wir (leider schon) zum letzten Märchen: _Der Glasbläser_, über den ich das Wenigste verraten möchte, vor allem nicht, wie es ihm gelingt, künstlerische Perfektion zu erreichen, weil das – für mich – in einer derart düsteren Reinheit (nein, nein, das widerspricht sich nicht!) erzählt wird, die mir ebenso die Tränen in die Augen trieb wie dem Verblühen der „Königin der Nacht“ beizuwohnen. Was mich an dem Ende des Märchens so sehr fasziniert hat, kann ich leider nicht schildern, das nähme alles vorweg, auch wenn es mich nicht zufrieden stimmt, mir in dem Fall Verschwiegenheit auferlegen zu müssen.

Somit beende ich meine kleine verbale Reise durch die „Maliziösen Märchen“ und hoffe, auch Sie fühlen sich angesprochen, sich oder einem besonderen Menschen dieses außergewöhnliche Buch zuteil werden zu lassen.

Ich habe zu Marc-Alastor E.-E,. nachdem mich seine Märchen wieder „aus ihrer verbalen Wortgewalt ließen“, gesagt, wie sehr ich es bedaure, nicht „mehr“ davon lesen zu können, und er antwortete sinngemäß und auf den Punkt gebracht, dass es dann |des Guten zu viel| gewesen wäre. Zuerst wollte ich – wie es „manchmal“ meine Art ist – protestieren, doch ich spürte zeitgleich zu meinem spontanen Widerspruch, dass er mit seiner Aussage völlig Recht hatte. Weniger ist auch hier auf jeden Fall mehr.

Wenn ich es jedoch recht betrachte, ist „weniger“, im Falle der „Maliziösen Märchen“ selbst in der zutreffenden Aussage unpassend, denn selten haben es Texte vermocht, so viele Erinnerungen in mir wachzurufen, so viele Bilder in meinen Kopf zu schicken und mich so viel Lebendigkeit und dennoch Melancholie „atmen“ zu lassen. Es ist wohl genau das, was an Marc-Alastor E.-E.s Texten so „ergreift“: dieses vermeintlich schwer Verständliche, aber auch die spezielle bildhafte Ausdrucksform, mit der auch jede kleinste Geste, Mimik oder Bewegung bedacht wird und die den Charakteren Leben einhaucht (|Ihr Lachen klang wie das Geläut der Feuerglocke im Spritzenhaus|), und die erkennen lässt, dass hier ein Autor schreibt, genau so, wie es aus ihm herausfließt, genau in der Stimmung, in der er sich selbst befindet, genau |das| sagt, was er zu sagen gedenkt und was von ihm gesagt werden muss – und nicht, was und wie es – dem Zeitgeist unterworfen – gerade „en voque“ ist. Und genau das macht die Texte authentisch, macht sie glaubwürdig und lässt in ihnen „Wertigkeit“ erkennen. Eine Wertigkeit, die auch in ihren dunkelsten Stunden und Szenen „richtig“ ist, selbst wenn sie von Tod oder Schmerz zeugt, weil gerade sie das Leben bedingen.

Und endlich vermochte ich es wieder, Literatur zu lesen. Düstere Phantastik auf hohem Niveau und einem Sprachbild, das Hermann Hesse zur Ehre gereicht hätte. Lässt man sich darauf ein, entsteht ein Magnetismus zwischen Leser und Text, wie der zweier Pole, die sich anziehen und nicht voneinander lassen können. Es ist wie eine Zugfahrt, man steigt ein, und jede Zeile, jedes Bild, das diese Texte in den Kopf zaubern, ist wie eine Station, die einen näher bringt – zu sich selbst!

Man spürt darüber hinaus wieder Freude am Lesen und Dankbarkeit über die geschenkten Stunden, die einen erfüllen, noch lange, nachdem man das Buch zugeklappt, versonnen dagesessen, über den wunderschönen Einband gestrichen und es wieder an einen besonderen Platz gestellt hat. Die Literatur braucht mehr dieser Autoren, dieser Bücher, die Schwingungen erzeugen, die nachhaltig erreichen und Verlage – wie der von Gerhard Lindenstruth -, die sich nicht scheuen, jenseits des Mainstreams Texte zu veröffentlichen, die das sind, was jeder Leser als Kleinod empfinden wird.

Als ich mich von den „Maliziösen Märchen“ löse – bedächtig, beinahe ehrfürchtig -, fühle ich mich so wie der Widergänger – |ich bin wieder draußen, hinausgeflogen aus dem Paradies der schönen Bilder.|

|Verlag Lindenstruth
Düstere Phantastik
Fester Einband, 203 Seiten
ISBN: 9783934273283
Okt. 2006, limitierte Auflage

7 Märchen für Erwachsene,
fulminant illustriert in 7 S/w-Bildern
und mit 7 höchstzweifelhaften Moralen versehen

Limitierte Vorzugsausgabe,
offenes Leinen m. Prägedruck,
4-Farb-Schutzumschlag,
S/w-Illustrationen|

http://www.verlag-lindenstruth.de/

Stott, Rebecca – Und Blut soll dich verfolgen

Isaac Newton ist einer der bekanntesten Wissenschaftler, selbst Laien kennen die Geschichte von dem Apfel, der Newton angeblich auf den Kopf gefallen sein soll und der dann zur Idee der Gravitation geführt hat. Aber Newton umranken noch andere Geschichten; so fand sein Aufstieg am Trinity College in Cambridge unter mysteriösen Umständen statt. Was ist damals wirklich passiert und hatte Newton womöglich seine Finger im Spiel in der Reihe ungeklärter Todesfälle, die seine Berufung erst ermöglichten? Rebecca Stott geht in ihrem Erstlingswerk „Und Blut soll dich verfolgen“ dieser Frage nach.

_Wenn die Vergangenheit dich einholt_

Die bekannte Elizabeth Vogelsang wird tot aufgefunden, leblos treibt sie im Wasser und niemand kann sich ihren Tod erklären. Hat sie etwa Selbstmord begangen? Doch dies ist kaum vorstellbar, hat Elizabeth doch gerade an ihrem größten Werk gearbeitet – einer Biografie über Isaac Newton, welche die gesamte Wissenschaftswelt auf den Kopf stellen sollte. Nur ein einziges Kapitel fehlte noch, und dieses sollte sich Newtons Berufung als Fellow an das Trinity College widmen. Diese Berufung kam damals mehr als überraschend, denn Newton stand nicht wirklich weit oben in der Wunschliste damaliger Wissenschaftler. Eine Reihe ungeklärter Todesfälle am Trinity College hatte den Weg freigemacht für Newton. Hatte er etwa seine Finger im Spiel? Elizabeth Vogelsang hat es herausgefunden, denn sie war die Erste, die auch das letzte Geheimdossier Newtons entschlüsseln konnte.

Ihr Sohn Cameron Brown vertraut die Arbeit an Elizabeth‘ Opus Magnum der Schriftstellerin Lydia Brooke an, mit der er einst eine Affäre hatte. Lydia ist Expertin für das 17. Jahrhundert und stürzt sich sogleich in die Arbeit, da sie eine tiefe Freundschaft mit Elizabeth Vogelsang verbindet und sie die Person Newton ebenfalls reizt. Zunächst kämpft sie sich durch Elizabeth‘ bisherige Kapitel, die sich Newtons Forschung widmen und von seinen Experimenten mit dem Prisma erzählen. Diese Passagen berichten detailreich, wie Newton sich eine Nadel ins Auge geschoben hat, um Farberscheinungen zu untersuchen. Je weiter Lydia vordringt in die Geschichte, umso mehr unerklärliche Dinge geschehen um sie herum. Elizabeth‘ Aufzeichnungen scheinen verschwunden zu sein, auch sieht Lydia immer wieder eine Gestalt in roter Robe. Wer verfolgt sie in Cambridge?

Auch Cameron Brown wird verfolgt und bedroht. Er experimentiert mit Tieren und sieht sich bedroht von einer Tierschutzorganisation mit dem merkwürdigen Namen NABED. Selbst die Haustiere seiner Kinder sind nicht mehr sicher, eines muss sein Leben lassen, was Camerons Frau dazu bewegt, sich mit den gemeinsamen Kindern in Sicherheit zu bringen. Doch NABED ist nicht nur der Name der Tierschutzorganisation, dieses Wort taucht auch in Newtons verschlüsselten Schriften auf. Was verbirgt sich dahinter? Und wer will verhindern, dass Elizabeth Vogelsangs Newton-Biografie veröffentlicht wird? Irgendwann wird Lydia es herausfinden, aber vielleicht ist es dann schon zu spät für sie …

_Dieses Buch wird dich nicht weiter verfolgen_

Rebecca Stott, die als Professorin für Englische Literatur an der Universität tätig ist, hat sich für ihren ersten Roman eine faszinierende historische Figur herausgegriffen. Isaac Newton kennen nicht nur Wissenschaftler, sondern auch wissenschaftlich Interessierte; seine Person umgibt ein großes Geheimnis, dem Stott hier auf die Spur kommen möchte. Im Anhang macht sie schließlich auch deutlich, wo die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit in ihrem Roman liegen, was reine Spekulation ist und wo wir die historischen Fakten finden.

Hauptfigur im Roman ist Lydia Brooke, die Elizabeth Vogelsangs Opus Magnum redigieren und vervollständigen soll. Mit viel Eifer und Neugierde stürzt sie sich in die Arbeit, pendelt zwischen Bibliothek und Elizabeth‘ Haus, wo sie die Biografie beenden möchte. Doch schnell merkt sie, dass es eine Macht gibt, welche die Veröffentlichung des Buches verhindern möchte. Elizabeth‘ Haustier wird ebenso brutal ermordet wie das Haustier von Cameron Browns Kindern, doch um Cameron diesen weiteren Verlust zu ersparen, verschweigt Lydia ihm, was wirklich vorgefallen ist. Auch als sie selbst Opfer eines Angriffs wird, erzählt sie ihm nichts davon. Dass dies ein großer Fehler ist, der ihre Feinde schützt, merkt sie allerdings zu spät.

Wer wirklich zu den Guten und wer zu den Bösen gehört, das lässt Rebecca Stott lange Zeit im Dunkeln. Sie sät Misstrauen und beleuchtet ihre Charaktere von unterschiedlichen Seiten, doch erst spät offenbart sie ihren Lesern die wahren Zusammenhänge.

_Brieftagebuch_

Schon früh deutet Stott an, dass unheimliche Mächte am Werkeln sind, dass Lydia und Elizabeth mächtige Gegner haben, welche die Veröffentlichung der Biografie verhindern wollen, und früh wird auch klar, dass Cameron Brown dieses Buch nicht überleben wird. Denn das gesamte Buch ist in einer Art Briefform aus Sicht Lydias geschrieben. Sie erzählt in der Ich-Form von ihren Erlebnissen, von den mysteriösen Erscheinungen in Elizabeth Vogelsangs Haus und von ihren Ängsten, die sie anfangs noch versucht zu unterdrücken.

Rebecca Stotts Schreibstil ist gelinde gesagt gewöhnungsbedürftig, da das Buch einem Brieftagebuch von Lydia an Cameron gleicht. Alles ist in der Vergangenheitsform geschrieben, was darauf hindeutet, dass zumindest Lydia die Gefahren offensichtlich überstehen wird. Auch ist wörtliche Rede nicht so häufig zu finden, da Lydia die Gespräche oftmals in der Passivform wiedergibt. Hinzu kommt Rebecca Stotts bemüht poetischer und ausschmückender Schreibstil, der die wahren Geschehnisse oftmals in einer Flut von Adjektiven und Umschreibungen verschwinden lässt. Ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel:

S. 235: |“Ich stellte mir vor, wie du deine SMS an mich poliertest, sie auf der Zunge schmecktest, den Text löschtest und noch einmal von vorn anfingst. Die Kurzmitteilungen gingen zwischen uns hin und her, durchzogen die Tage und Nächte. Assoziationen, Fragmente, Verszeilen. Ob auch du in diesem heiklen Austausch das Mahlen der Steine, die Auflösung von Stein zu Pulver hörtest, die Anfänge jenes über Jahrhunderte in den heißen italienischen Glashütten betriebenen, immer weiter verfeinerten, vervollkommneten Verfahrens spürtest? Ich meinte, das weiße Pulver an den Händen zu fühlen, Soda und Quarzsand zu riechen, als ich in jener Nacht, in den vielen langen Nächten danach zu dir ins Bett kam.“|

Derartig lange Sätze und schwülstige Beschreibungen sind im vorliegenden Buch an der Tagesordnung. Hinzu kommen die permanenten Andeutungen von Beginn an, dass etwas Schlimmes passieren würde. Bis es tatsächlich aber mal so weit kommt, dass außer den Angriffen der Tierschützer etwas passiert, dauert es (zu) lange.

_Gepflegte Langeweile_

Über rund 400 Seiten zieht sich Rebecca Stotts Newton-Thriller, der stets krampfhaft bemüht ist, ein wenig Spannung aufzubauen. Wahrscheinlich aus diesem Grund schreibt Lydia von Anfang an, dass sie durch ihr Handeln das Böse erst beschworen hat, dass sie durch ihr Schweigen Schlimmeres ermöglicht hat und dass sie all dies hätte verhindern können. Doch was sie hätte verhindern können, welches Blut sie verfolgt und wer der Mann in der roten Robe ist, von dem Lydia sich verfolgt fühlt, das erfahren wir erst sehr spät. Rebecca Stott belässt es lange Zeit bei inhaltslosen Ankündigungen, sie wirft uns auch kaum Hinweise hin, die zu eigenen Spekulationen hätten animieren können. Über mehr als 300 Seiten tappen wir im Dunkeln und verheddern uns in Stotts überfrachteten Wortkonstrukten. Von Spannungsbogen kann hier keine Rede sein, zumindest mich konnte Rebecca Stott kaum bei der Stange halten.

Nur um endlich zu erfahren, wie die Geschichte ausgeht, ob Newton wirklich an den mysteriösen Todesfällen beteiligt war und welche gefährliche Macht hinter Elizabeth her war und nun Lydia verfolgt, habe ich mich durch 400 schwerfällig zu lesende Seiten gekämpft. Doch am Ende blieb Ernüchterung, Stotts Finale verpufft und hinterlässt gähnende Leere. Natürlich hat sie keine erschütternden neuen Erkenntnisse über Isaac Newton zutage gefördert und natürlich blieb der große Knall am Ende aus. Auch die Geisterbeschwörung und das Auftauchen einer mysteriösen Gestalt aus Newtons Zeit trugen nicht gerade dazu bei, mir das Buch schmackhaft zu machen.

Rebecca Stotts Debütroman ist eine misslungene Mischung aus Historien- und Mysterythriller, die zwar beide Genres bedient, aber historisch wenig Neues zu berichten hat, kaum Spannung aufbaut und insbesondere sprachlich absolut fehlgeschlagen ist.

http://www.blessing-verlag.de

Sniadanko, Natalka – Sammlung der Leidenschaften

Was darf man von einem Buch erwarten, das den Titel „Sammlung der Leidenschaften“ trägt? Einen Porno? Leidenschaften in Form von bizarren Hobbies wie dem Sammeln von Totenköpfen? Eine Antwort erhält man, wenn man das Buch der ukrainischen Autorin Natalka Sniadanko liest.

An dieser Stelle kann eine Entwarnung gegeben werden: „Sammlung der Leidenschaften“ ist ein regelrecht keusches Buch. Sniadanko geht es weniger um aufmerksamkeitsheischende Darstellungen von Geschlechtsverkehr, vielmehr zeichnet sie im Plauderton ein unterhaltsames Portrait von Ich-Erzählerin Olessja und ihren Erfahrungen mit der Liebe. Das beginnt bereits im Grundschulalter mit Tolja, dem dicklichen Mitschüler mit einer Vorliebe für Bücher. Diese teilt er mit Olessja, aber es bringt die beiden einander nicht näher. Tolja ist einfach zu dickfellig, um Olessjas (in ihren Augen) gewitzte Anmachversuche zu verstehen. Anders sieht es da mit dem Mathematikdozenten Kostja aus, der trotz mittleren Alters noch stolz bei seinen Eltern wohnt und in Olessja die Frau seines Lebens sieht – egal, ob sie auch dieser Meinung ist oder nicht.

Wie man sieht, geht es in Olessjas Liebesleben auf und ab. Die Sammlung ihrer Leidenschaften reicht von Rockmusikern bis zu deutschen Adligen, von schwulen Sängern bis zu skurrilen Vermietern – Sniadanko lässt sich etwas für ihre Ich-Erzählerin einfallen, ohne dabei unrealistisch zu werden. Sie bleibt stets auf dem Boden der Tatsachen und zieht die Ereignisse trotz ihres feinen Sinnes für Humor niemals ins Lächerliche. Allerdings fehlt es der „Sammlung der Leidenschaften“ an manchen Stellen an Relevanz: Olessjas Erlebnisse sind ganz interessant, aber es fehlen der Schwung oder ein übergreifendes Thema, ein roter Faden, der die Kapitel verbindet. Dadurch kommt es immer wieder zu Längen und man hat keine große Lust weiterzulesen, da sich nichts Großes ankündigt und auch der Schreibstil an solchen Stellen nicht immer genug Zugkraft entwickelt.

Insgesamt kann Sniadankos Erzählweise jedoch überzeugen. Das hängt vor allem mit der sympathischen Olessja zusammen, die offen und in gehobenem Plaudertonfall berichtet. Sie ist eine sehr angenehme Erzählerin, die sich nie zu sehr in den Vordergrund drängt, mit ihrer Meinung aber auch nicht hinter dem Berg hält. Das ganze Buch ist von einem (selbst-)ironischen Tonfall durchzogen und reitet gerne auf verschiedenen Klischees, vornehmlich die der Ukraine und Deutschlands, herum. Teils gelingt dies, teils wird es aber auch zu einseitig, und nicht immer lässt sich das Augenzwinkern erkennen.

Natalka Sniadanko, die als Journalistin unter anderem auch für die |Süddeutsche Zeitung| geschrieben hat, legt trotzdem einen sehr reifen, durchdachten Schreibstil an den Tag, dem man die Übung anmerkt. Sie benutzt ein gehobenes, sehr vielfältiges Vokabular und drückt sich häufig humorvoll aus. Außerdem weiß sie Stilmittel wie Metaphern und Vergleiche in ihre Geschichte einfließen zu lassen, ohne dass sie diese beschweren.

In der Summe ist „Sammlung der Leidenschaften“ kein schlechtes Buch. Die Idee dahinter ist interessant, aber die Ausarbeitung nicht immer sauber. An einigen Stellen gibt es Längen und auch der Schreibstil hätte manchmal ein wenig flotter sein können. Dennoch sollte man Natalka Sniadanko im Auge behalten, denn ihr Roman verspricht definitiv einiges.

http://www.dtv.de

Anne Fine – Schwesternliebe

So verschieden sie auch sind, die vier Schwestern Liddy, Heather, Stella und Bridie, alle um die vierzig, halten seit ihrer Kindheit zusammen wie Pech und Schwefel. Fast jedes Wochenende verbringen sie gemeinsam. Die sensible, grundehrliche Liddy ist geschieden und hat zwei kleine Kinder, Bridie ist verheiratet und engagierte Sozialarbeiterin, Heather ist der unterkühlte Single und Stella die brave Harmoniesüchtige, die in ihrem Mann Neil das perfekte Gegenstück gefunden hat. Als Liddy den netten George kennenlernt und eine Beziehung eingeht, freuen sich ihre Schwestern für ihr neues Glück.

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Hein, Corinna – Jules Suche

Jule braucht nicht viel zum Leben. Alvus ist ihr Zuhause, ein kleines gottverlassenes Dorf irgendwo im Nichts. Das zumindest glaubt Jule, denn für sie existiert nur das: der kleine Teich, die Ziegen, mit denen sie den Stall teilt, die Dorfbewohner, die Mücken, die ihr den Arm zerstechen. Ihre Welt ist klein, sie reicht nur so weit, wie Jule blicken kann, und doch führt sie ein überaus zufriedenes Leben.

Im Dorf dagegen hält man sie für verrückt. Ist einfach eines Tages aufgetaucht, mit dieser riesigen Narbe am Kopf, und kann sich an nichts erinnern. Trotzdem scheint niemand beunruhigt genug, die Polizei zu rufen. Man kümmert sich um sein eigenes Leben, Jule wird geduldet, und keiner kommt auf die Idee, dass jemand sie vermissen könnte. Am allerwenigsten Jule selbst.

Jule könnte bis an ihr Lebensende so weiterleben, in ihrem eigenen kleinen Paradies, in dem sich alles fügt und die Dinge ihren Platz haben. Wäre da nicht … natürlich ein Mann. Wostok kommt aus dem Wald, aus diesem dunklen Nichts, direkt auf Jule zu. Sie verbringen eine gemeinsame Nacht und am nächsten Morgen schnappt er sich sein Moped und verschwindet wieder. Ohne ein Wort.

Doch Jule ist erwacht. Sie will diesen Wostok wiederfinden, will wissen, woher er gekommen ist, was sich hinter dem Wald befindet. Und so beginnt sie zu laufen. Der Waldweg wird bald zu einer asphaltierten Straße, die asphaltierte Straße führt in eine Stadt und als der LKW-Fahrer, der sie freundlicherweise mitgenommen hat, sie in diesem Betondschungel ausspuckt, weiß sie zunächst nicht, wohin sich wenden.

Jule jedoch ist ein Glückskind. Ihr scheint das Schicksal immer hold. Und so landet sie zunächst bei einer Gruppe Hausbesetzern, später dann bei einem Schnellimbiss. Die Jahre vergehen und aus dem Schnellimbiss wird ein Restaurant. Sie versteckt ihr verdientes Geld in einer Keksdose, weil sie nicht weiß, was damit anfangen, aber sie vergisst nie ihre Suche.

„Jules Suche“, der Debütroman einer jungen Schriftstellerin aus dem allertiefsten Osten, ist auf nur reichlich hundert Seiten vieles auf einmal, ohne je überfrachtet zu wirken. Er ist Entwicklungsroman, verfolgt er doch das Erwachsenwerden dieser geheimnisvollen Jule. Er ist Wenderoman, spielt sich doch die Handlung in den frühen 90er Jahren ab. Da sind die Anklänge des magischen Realismus, die Jules Geschichte zuweilen fast märchenhaft wirken lassen. Selbst einige versteckte religiöse Motive sind zu finden, wenn Jule zu Anfang des Buches in diesem paradiesischen Zustand von gleichzeitiger Ahnungslosigkeit und völliger Zufriedenheit lebt. Doch wie in der Bibel auch, kann es so nicht bleiben. Bei Jule zerstört der Einbruch von außen, nämlich Wostoks plötzliches Auftauchen, das Gleichgewicht ihres Lebens. Das Ereignis lässt sie erwachen – Wostoks Gegenwart erweckt ihren Geist, seine Berührung ihren Körper – und schickt sie auf die Suche.

Diese Suche scheint zunächst etwas diffus – sie sucht nach diesem Mann und nach dem, was sich außer ihrem Dorf in der Welt befindet –, doch wird bald klar, dass der Sinn ihrer Suche ein ganz anderer ist. Sie sucht ihren Platz und letztendlich sich selbst. Denn was ihr nicht bewusst war, ist die Tatsache, dass sie selbst verloren war.

Die Autorin erzählt die Geschichte einer jungen Frau vor dem Hintergrund der Wendezeit. Vieles ist mittlerweile über die DDR und über den Fall der Mauer geschrieben worden. Im Vergleich mit all den kuriosen, kritischen, reflektierenden, erschöpfenden Ansichten über die DDR und die Wendezeit wirkt „Jules Suche“ geradezu zurückhaltend. Die deutsch-deutsche Geschichte drängt sich nie in den Vordergrund, gleichzeitig fungiert sie aber auch nicht nur als Schablone, vor der die Charaktere agieren sollen. Die Wende ist etwas, das einfach passiert, das die Menschen überrollt, an Jule jedoch vorbeirollt. Für sie finden Politik und gesellschaftliches Leben nicht statt, und so nimmt sie zwar Veränderungen wahr, kann sie auch benennen, sie ist jedoch nicht fähig, diese Veränderungen bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen.

Ungemein knapp und ökonomisch werden Prozesse nachgezeichnet, die in den Jahren nach der Wende überall in Ostdeutschland zu beobachten waren: der rückkehrende Wessi, der die unbedarften Zonis übers Ohr hauen und den großen Schnitt machen will, der ABV, der plötzlich nichts mehr zu beobachten hat, der Aufsteiger, der die Gunst der Stunde nutzt. Sie alle sind versammelt und der Leser darf ihren Aufstieg (und Niedergang) verfolgen. Geradezu als Überdosis gestaltet Corinna Hein hier den ganzen Wahnsinn der 90er Jahre, konzentriert auf ein unbedeutendes Dorf irgendwo in Ostdeutschland.

Corinna Hein, Jahrgang 1977, hat einige Veröffentlichungen im Kurzgeschichten- und Lyrikbereich vorzuweisen. Ihr erster Roman, „Jules Suche“, hat im |Ronald Hande|-Verlag ein Zuhause gefunden, der einige Titel zum Thema DDR-Geschichte im Programm hat. Wie so oft bei kleinen Verlagen, darf man auch vom RH-Verlag keine Perfektion verlangen. Ein fähiger Lektor hätte den Text sicherlich noch an der ein oder anderen Stelle abrunden und schlichte Satzfehler korrigieren können. Trotzdem vermag das schmale Bändchen den Leser zu fesseln. Sprachlich einfach traumhaft, spickt Corinna Hein ihren Text mit Bildern, die erst im Kopf des Lesers ihre ganze Farbenpracht entfalten werden. Fast meint man, der Nebel der Geschichte würde schon über Jule und ihrem Dorf Alvus hängen, so verträumt und märchenhaft kommen manche Passagen daher. Doch dann werden lakonisch und mit messerscharfer Zunge Lebensschicksale rezitiert und man realisiert, dass man sich doch fast noch im Hier und Heute befindet.

Jule hat ihre Unschuld verloren, und diesen Riss kann auch alles spätere Glück nicht kitten. Ihre Reise ist exemplarisch für eine ganze Generation, und doch bleibt sie als Einzelschicksal märchenhaft schön. Definitive Leseempfehlung!

http://www.rh-verlag.de
http://www.corinnahein.net

Moehringer, J. R. – Tender Bar

Der siebenjährige JR lebt mit seiner Mutter in Manhasset auf Long Island im Haus seines Großvaters, einem meist mürrischen alten Mann, mit dem schwer auszukommen ist. JRs Mutter versucht immer wieder, sich und ihren Sohn alleine zu versorgen und auszuziehen, kehrt jedoch früher oder später aus Geldmangel zurück. Seinen Vater, einen Radio-Moderator aus New York, hat sie wegen dessen Gewalttätigkeiten bereits kurz nach seiner Geburt verlassen. JRs Vater weigert sich, Unterhalt zu zahlen und nimmt keinen Anteil an seinem Sohn. Dafür verfolgt JR seine Radiosendungen als Ersatz für die väterliche Zuwendung.

Ein wichtiger Punkt in JRs Leben ist sein Onkel Charlie. Nachdem Charlie als junger Mann durch eine Krankheit sämtliche Kopf- und Körperhaare verloren hat, zieht er sich in die Bar zurück, in der er hinter der Theke arbeitet. Im „Dickens“ treffen sich Männer, um über bei Alkohol über Frauen, Wetten, Sport und das Leben an sich zu reden. Bereits als Kind ist JR fasziniert von diesem Ort. Mit neun wird sein Traum war und er darf das „Dickens“ betreten und wird sofort von der Atmosphäre gefangen genommen. Später nimmt ihn sein Onkel regelmäßig mit seinen Kumpels zu Ausflügen an den Strand und zu Baseballspielen ins Stadion mit.

Während JRs Mutter zum Geldverdienen nach Arizona zieht, um sich endlich ein wenig Unabhängigkeit zu verschaffen, besucht er die High School und arbeitet nebenbei in einem Buchladen. Die skurrilen Betreiber, Bud und Bill, unterstützen JRs Wunsch, an der Universität von Yale zu studieren. Wider Erwarten wird JR angenommen, die Freude durch die harte Arbeit in Yale aber gedämpft. JR begegnet hier seiner ersten Liebe und dem ersten Liebeskummer. Nach dem College zieht es ihn als Journalist zur Zeitung. Und immer wieder findet er Halt im „Dickens“, wo er sein erstes Bier trinkt, sein erstes Baseballspiel sieht, Sinatra hört und die Gesellschaft der Männer sucht, die ihm wie Ersatzväter sind …

Ein Junge und kein Vater, dafür eine gemütliche Bar und ein Haufen trinkfester Männer, welche die Vaterrolle gerne übernehmen – das ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Werkes, das in den USA wie mittlerweile auch in Deutschland gefeiert wird und bereits zu einem der am höchsten gelobten Werke des frühen Jahrhunderts aufgestiegen ist.

|Eindrucksvolle Charaktere|

JR berichtet von seinem Leben, angefangen von seiner Kinderzeit bis er Mitte zwanzig ist und New York verlässt. In kleinen Episoden erzählt er von den Menschen, die ihn auf diesem Weg umgeben. Da ist sein knurriger Opa, der sein Vermögen gekonnt hinter seinem reparaturbedürftigen Haus und schmuddeliger Kleidung verbirgt und nur selten mal Anwandlungen von Zärtlichkeit für JR zeigt, die sich ihm dafür intensiver einprägen. Da ist Onkel Charlie, ein kahlköpfiges Abbild von Humphrey Bogart, mit Sonnenbrille und Hut vermummt, der sich in Opas Haus krankhaft zurückzieht und erst abends aufblüht, wenn er seiner Arbeit im Dickens nachgeht, den Gästen vorsingt, ihnen Spitznamen verpasst und lakonische Bemerkungen abgibt.

Da ist Joey D, ein liebenswerter Riese mit Muppet-Gesicht, der seine Worte in Hochgeschwindigkeit stets an seine Brusttasche zu richten scheint, was JR als Kind zur Überzeugung bringt, dass dort eine kleine Schmusemaus wohnt, mit der er sich unterhält; der Hausmeister „Fuckembabe“, der eben jenen Ausdruck bei jeder Gelegenheit in sein Kauderwelsch einflechtet; der Vietman-Veteran Cager, der vom Schrecken des Krieges erzählt; Bob the Cop, der Polizist mit dem dunklen Geheimnis, das er JR eines Tages anvertraut, und nicht zuletzt Steve, der rotgesichtige Besitzer der Bar, der jedem Gast sein herzliches Lächeln schenkt und dem „Dickens“ sein Herzblut opfert.

JR wird früh zu einer Sympathie- und Identifikationsfigur für den Leser. Durch sein ganzes Leben zieht sich ein permanenter Wechsel von Licht und Schatten. Wünsche, Hoffnungen und Träume wechseln sich mit Erfolgen und schmerzlichen Niederlagen ab. Mit dem Studiumsplatz in Yale scheint JR zunächst das Glück gepachtet zu haben, bis er feststellt, dass er weder zu den elitären Kreisen seiner Kommilitonen gehört noch die Professoren mit seinen Arbeiten beeindrucken kann. In Yale begegnet JR der bildhübschen Sidney, einer reichen Oberschichtstochter mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein, die ihn gekonnt um den Finger wickelt und ihm den Kosenamen „Trouble“ verpasst – mit Recht, denn Sidney verschafft JR den ersten ernsthaften Schmerz und Kummer in seinem Leben, und wieder ist es das Dickens mit den Männern darin, das er als Zuflucht wählt. In Yale trifft er auch auf seinen verehrten Frank Sinatra, der einen Vortrag über Kunst hält und plötzlich so viel greifbarer und menschlicher erscheint als auf Plattencovern und im Fernsehen und gleichzeitig nichts von seinem Charisma einbüßt. JRs Bewunderung für den Sänger ergibt sich fast von selbst, denn seine eigene Geschichte gleicht den melancholischen Sinatra-Songs, die von Liebe und Leid erzählen, ohne sich dabei in Selbstmitleid zu suhlen, sondern Würde und Haltung bewahren.

Mehr schlecht als recht quält sich JR durch das Studium, ohne sich darüber im Klaren zu werden, welchen Beruf er wählen soll. Schreiben möchte er, beschließt er schließlich, aber keine Gedichte oder Belletristik, sondern als Journalist arbeiten. Wieder scheint ihm das Glück zu winken, als er für ein Volontariat bei der |New York Times| genommen wird. Monatelang besteht sein Leben, abgesehen von den unvermeidlichen Ausflügen ins „Dickens“, aus Sandwichholen für die Reporter und kleinen Büroarbeiten. Seine erste Story wird ein blamabler Reinfall, der sich als Ente entpuppt, und auch in seiner Probe-Reporterzeit leistet er sich einen kapitalen Ausrutscher, der an seinem Selbstbewusstsein nagt. JR ist beileibe kein Gewinner, aber auch kein blasser Verlierer, sondern ein Kämpfer, der sich immer wieder aufrappelt, wenn alles verloren zu sein scheint.

Ein besonderes Schmankerl ist das Nachwort, in dem Moehringer eine kurze Bilanz seines Lebens nach seiner Zeit in New York zieht und den 11. September als traurigen Aufriss wählt, denn bei den Anschlägen starben auch Menschen, die er aus seiner Zeit im „Dickens“ kannte. Der Leser erfährt die weiteren Schicksale der Figuren, die er zuvor begleitet hat, manche stimmen froh, andere fanden leider kein glückliches Ende, aber in jedem Fall ist es schön zu erfahren, dass hier keine Romanfiguren, sondern echte Charaktere agierten. Erfreulich ist auch das anhängende Glossar, das die wichtigsten Namen und Anspielungen kurz erläutert, manche wie „Popey“ sicher populär genug, um nicht notwendig zu sein, andere dagegen eine nette Bereicherung.

|Kleine Längen|

„Tender Bar“ ist ein autobiographischer Roman, was in der deutschen Ausgabe, die auf die Originalbeigabe „A Memoir“ verzichtet, nicht sogleich offensichtlich ist. Moehringer gibt an, nichts als die nackte Wahrheit aufgeschrieben zu haben, sogar nur drei Namen wurden geändert, wie er im Epilog erklärt. Darin liegt einerseits der Reiz des Buches, die besondere Zusatzfreude, wenn man weiß, dass es all diese originellen Figuren tatsächlich gab und überwiegend heute noch gibt. Allerdings ist der autobiographische Stil auch dafür verantwortlich, dass „Tender Bar“ nicht frei von Längen ist. Manche Episoden sprühen vor Charme und leisem Humor, andere bewegen und berühren, aber manchmal ziehen sich belanglose Schilderungen allzu zäh über die Seiten und man wünscht, Moehringer würde der Lesefreundlichkeit zuliebe ein wenig straffen, denn nicht alle eigenen Erlebnisse sind für den Leser genauso interessant wie für den Autobiographen. Vor allem zu Beginn ist Geduld gefordert, denn Moheringer ist ein sehr gemächlicher Erzähler, der sich Zeit für seine Schilderungen nimmt, so unspektakulär sie manchmal auch daherkommen.

_Als Fazit_ bleibt ein ruhiger und bewegender autobiographischer Entwicklungsroman und zugleich eine liebevolle, nostalgisch-verklärte Hommage an die Bar, die den Erzähler von klein auf durch sein Leben begleitet. Vor allem die Vielfalt der faszinierenden Charaktere vermag zu überzeugen, ebenso wie die gelungene Mischung aus Humor und Melancholie. Kleine Abstriche gibt es für die manchmal ausufernden Abschweifungen und Längen, denen ein paar Straffungen gutgetan hätten.

_Der Autor_ J. R. Moehringer wurde 1964 in New York geboren, studierte in Yale und arbeitete als Reporter für die |Rocky Mountain News| und die |New York Times|. Heute schreibt er für die |Los Angeles Times|. 2000 wurde er für eine Reportage mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Sein autobiographisches Werk „Tender Bar“, der 2005 erschien, ist sein erster Roman.

http://www.tenderbar.com
http://www.fischerverlage.de

Kümmel, Anja – weiße Korsett, Das

In der klassischen Gothic Novel werden Geistergeschichten erzählt. Der Verlauf ist einfach, zumeist tragen sich an geheimnisumwitterten Orten unfassbare Ereignisse zu: der Poltergeist im Gemäuer, die weiße Frau im Garten oder das Gespenst im Schrank.

Anja Kümmels Buch handelt von einer jungen Ausländerin in Amerika. Kein einfacher Verlauf: abgebrochenes Studium, notorischer Geldmangel, unstetes Leben und mancher Ausflug in die subkulturelle Musikszene der Stadt. Doch damit nicht genug. Überdies wird die Protagonistin von einer mysteriösen Erscheinung heimgesucht. Ein Alp, der ihrer eigenen Vergangenheit entsprungen scheint, an die sie sich nur bruchstückhaft erinnern kann.

„Das weiße Korsett“ ist eine moderne Gothic Novel. Hier lebt die Protagonistin im Schrank, nicht der Geist; und doch knüpft Anja Kümmel – klischeefrei – bei den Geisternovellen des 19. Jahrhunderts an: „Dabei hätte ich es wissen müssen – körperlose Seelen fristen zumeist nur ein begrenztes Erdendasein, bevor sie verblassen …“ (S. 203). Sprache und Stilistik sind aber die eines zeitgenössischen Romans.

Anja Kümmel versteht es, dem Leser die Geheimnisse, die eine geisterhafte Erscheinung wohl unweigerlich umranken (heute wie im 19. Jahrhundert), portionsweise zu verabreichen. Die Gedanken und Erinnerungen der Protagonistin bauen spannend aufeinander auf, eine Andeutung verschachtelt sich in der nächsten; so entsteht ein fast abstrakt anmutender Handlungsstrang.

Leider nicht immer plattitüdenfrei beschreibt Anja Kümmel das von Orientierung und Abgrenzung geprägte junge Leben der Protagonistin. Der Gebrauch szenetypischer Kodierung, welche die Autorin einsetzt, steht der intelligent-abstrakten Handlung und der originellen Beschreibung des Geistes hier und da im Wege. Am Ende des Buches wird aber deutlich, warum Anja Kümmel manche Gothic-Szenefloskel verwendet: Sie stellt auf der Metaebene den selbst gewählten Entwicklungsweg durch eine ambivalente Jugendkultur in Frage. „Auch hier sind es die Ideen, Auswüchse der Fantasien von Kindern, die sich langweilen – Kinder, die vergessen haben, dass sie längst erwachsen sind – …“ (S. 205). Die Protagonistin reift an ihrer Erinnerung, an einer unglaublichen Begegnung genauso wie an der Verarbeitung eines „sehr realen“ Geheimnisses.

http://www.teamofdestruction.de/

Lewycka, Marina – Caravan

Nachdem Marina Lewycka mit ihrem Debütroman [„Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ 2970 einen großartigen Erfolg gelandet hat, der mittlerweile schon in 33 Sprachen übersetzt wurde, hat sie nun mit „Caravan“ ihren zweiten Roman abgeliefert. Die Thematik ist eine ganz ähnliche wie schon in ihrem Erstlingswerk. Es geht wieder einmal um ukrainische Einwanderer und ihren Lebensalltag in England – ein Themenkomplex, der Marina Lewycka schon aufgrund ihrer eigenen Biographie am Herzen liegen dürfte. Sie ist selbst Kind ukrainischer Flüchtlinge, in einem Flüchtlingslager in Kiel geboren und in England aufgewachsen.

Auch die Protagonisten ihres aktuellen Romans sind nach England gekommen, weil sie sich dort ein besseres Leben erhoffen. Irina möchte eigentlich Schriftstellerin werden, verdient ihren Unterhalt aber mehr schlecht als recht zusammen mit anderen Leidensgenossen auf den Erdbeerfeldern des skrupellosen Bauern Leapish. Für einen ausbeuterischen Lohn, für die Unterbringung in einem heruntergekommenen Wohnwagen am Rand des Erdbeerfeldes und die ziemlich magere Versorgung mit Lebensmitteln schuftet sie mit anderen Ukrainern, Polen, Chinesen und einem Afrikaner von früh bis spät auf den Feldern.

Dabei hatte sich Irina ihr Leben in England doch ganz anders erträumt: Sie wollte ihr Englisch verbessern und sich verlieben – in einen romantischen Engländer. Auch Andrij hatte sich das Leben in England irgendwie besser vorgestellt. Er hat die Ukraine verlassen, um auf keinen Fall als Bergmann in den Stollen des Donbass zu enden, wie sein Vater, und natürlich auch, um die große Liebe zu finden: seine „Angliska rosa“. Dann wären da noch der alternde polnische Hippietyp Tomasz, die erfahrene polnische Erdbeerpflückerin Jola mit ihrer frommen Nichte Marta, die der Truppe mit ihren Kochkünsten aus wenigen Zutaten so manches Festmahl bereitet, zwei asiatische Mädchen, von denen eines aus Malaysia kommt, und der gottesfürchtige Teenager Emanuel aus Malawi.

Als ihr ausbeuterischer Arbeitgeber Bauer Leapish eines Tages überfahren wird, ergreifen sie zusammen die Flucht – in einem klapprigen Wohnwagen. Doch das Leben in England ist nicht einfach und die Verwirklichung ihrer Träume scheint in immer weitere Ferne zu rücken. Überall lauern ausbeuterische Arbeitgeber, maßregelnde Behörden und zwielichtige, bewaffnete Gangster, und so wird die Flucht der Erdbeerpflücker durch England zu einem aufregenden Abenteuer …

Was Marina Lewyckas Debütroman „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ so liebenswürdig macht, ist Lewyckas gelungene Verquickung aus einer ironischen Betrachtungsweise ihrer Protagonisten und der Ernsthaftigkeit des Alltags. Auch in ihrem aktuellen Roman sind genau das wieder die Zutaten, die die Lektüre so interessant machen.

Etwas naiv betrachten die Erdbeerpflücker ihr Leben in England und die Möglichkeit, dort ihre Träume zu verwirklichen, ohne zu sehen, dass sie nie eine Chance darauf haben, wirklich Teil der Gesellschaft zu werden. Sie fallen auf dubiose Jobangebote herein, glauben „Jobvermittlern“, die ihnen das Blaue vom Himmel herunterlügen, und wundern sich dann, dass die versprochene Luxusunterkunft eine billige, überfüllte Absteige ist.

Eine traurige Ironie zieht sich durch das ganze Buch, wenn man sieht, wie blind die Erdbeerpflücker sich auf solche Offerten einlassen und es dabei schaffen, sich ihre Träume von einem besseren Leben zu bewahren, während sie in Wahrheit von Gangstern ausgenommen werden. Dennoch schafft Lewycka den Balanceakt, dass nicht der Eindruck entsteht, sie würde sich über die Naivität der Einwanderer lustig machen.

Diese Perspektive der außenstehenden, ausländischen Arbeitskräfte, die sämtliche Arbeiten verrichten, für die sich kein Engländer mehr opfern würde, ermöglicht Lewycka auch einen kritischen Blick auf die westliche Konsumgesellschaft, der sich vor allem in der Familie der MacKenzies manifestiert. Die MacKenzies sind reiche Leute, mit deren Sohn Emanuel während dessen freiwilligem Sozialdienst in Malawi Freundschaft geschlossen hat. Eine reiche Familie, im Luxus lebend, aber unglücklich, erzeugt bei Andrij nur ein müdes Kopfschütteln. Dennoch sind auch die Erdbeerpflücker voller naiver Bewunderung für die westlichen Konsumgüter.

Die Art der Jobs, die die Erdbeerpflücker im Laufe ihrer Reise durch England verrichten, ist ein nächster Ansatzpunkt für unterschwellige Gesellschaftskritik. Tomasz‘ Erlebnisse auf der Hühnerfarm und später auch im Schlachthof können einem schon gehörig den Appetit verderben. Lewycka gelingt es mit spielerischer Leichtigkeit, in einem unterhaltsamen und teilweise humorvollen Roman immer wieder ernsthafte Untertöne anklingen zu lassen. All das meistert Lewycka mit einem so lockeren Plauderton, dass man an manchen Stellen über den unverhofften Tiefgang der Geschichte staunt.

„Caravan“ ist ein Roman, der sich in viele einzelne Handlungsstränge gliedert. Mal beobachtet man die eine Figur, mal steht eine andere im Mittelpunkt. Jeder geht mit der Zeit seine eigenen Wege, jeder versucht auf eigene Art in England glücklich zu werden. Nett ist dabei auch immer wieder, wie die gleiche Situation aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben und jeweils anders beurteilt wird. Die Erlebnisse der Erdbeerpflücker muten teilweise schon recht skurril an und sie begegnen allerhand interessanten Figuren. Ein Leckerbissen für alle, die schon den Vorgängerroman „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ mochten, ist das unverhoffte Wiedersehen mit Nicolai Majevski – mittlerweile ein paar Jahre älter, aber noch genauso herrlich schräg.

Trotz aller positiven Aspekte bleiben an „Caravan“ aber auch ein paar vereinzelte Schwachpunkte festzuhalten. Da wäre zum einen der plötzliche Wandel von Vittali. An einem Tag noch Erdbeerpflücker, am nächsten Tag geschniegelter „Mobilfon-Mann“. Der Wandel geht derart schnell, dass man geneigt ist, prompt noch mal zurückzublättern, weil man glaubt, man hätte einen größeren zeitlichen Sprung übersehen, aber den gibt es nicht.

Dann wäre da der Hund, der der Truppe zuläuft und fortan mitreist. Auch dessen Gedanken werden dem Leser offenbart, aber das ist oft wenig relevant und in abgehacktem Stil in Großbuchstaben geschrieben und stört somit irgendwie den Lesefluss. Und zu guter Letzt wären da die vielen Zufälle. Immer wieder laufen die Protagonisten den gleichen Figuren über den Weg, was bei einer Reise quer durch England irgendwie eigenartig anmutet. Diese Schwachpunkte tragen dazu bei, dass „Caravan“ nicht ganz so ein hochkarätiger Lesegenuss ist wie die „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“.

Bleibt unterm Strich ein positiver, wenn auch schwächerer Eindruck zurück, als es noch beim Debütroman von Marina Lewycka der Fall war. Sie erzählt zwar eine unterhaltsame Geschichte, die gleichermaßen mit ernsten und traurigen wie mit humorvollen und ironischen Momenten gespickt ist, dennoch ist die „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ insgesamt noch etwas besser.

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Michal Zamir – Das Mädchenschiff

Der Wehrdienst für Frauen ist in Deutschland erst seit einigen Jahren ein Thema und im Gegensatz zu den Männern, die verpflichtet sind, dem Vaterland in irgendeiner Form zu dienen, steht es den Frauen frei, ob sie zur Bundeswehr gehen möchten oder nicht. In Israel ist das anders. Dort müssen beide Geschlechter jeweils zwei Jahre Dienst ableisten.

So auch die achtzehnjährige Ich-Erzählerin, die ihrer Verpflichtung als Bürokraft auf einem Fortbildungsstützpunkt nachkommt. Sie ist nicht besonders motiviert, obwohl sie sich vorstellen könnte, später Medizin zu studieren. Doch ihre Zukunft interessiert sie nicht sonderlich. Ihr Leben spielt sich momentan in einem kleinen Büro ab, wo sie Kaffee kocht und Gläser spült. Zwischendurch gibt sie sich den Offizieren hin, was in schöner Regelmäßigkeit in Schwangerschaften endet, da sie die Pille nicht verträgt. Nicht immer ist sie dabei mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden, aber so läuft das nun mal bei der Armee.

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